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Wladimir I. Lenin 19140905 Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege

Wladimir I. Lenin: Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie

im europäischen Kriege1

Resolution einer Gruppe von Sozialdemokraten)

    [Erstveröffentlichung Wiedergegeben nach einer von N. K. Krupskaja handschriftlich verfertigten Kopie. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 58-61]

    1. Der europäische, die ganze Welt erfassende Krieg trägt den scharf ausgeprägten Charakter eines bürgerlichen, imperialistischen, dynastischen Kriegs. Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie innerhalb der Länder aus der Welt zu schaffen, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zum Narren zu machen, zu spalten, abzuschlachten, indem man die Lohnsklaven der einen Nation im Interesse der Bourgeoisie gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt, – das ist der einzige reale Inhalt des Kriegs und seine Bedeutung.

    2. Das Verhalten der Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei – der stärksten und einflussreichsten Partei in der II. Internationale (1889-1914) –, die für das Kriegsbudget gestimmt hat und sich die bürgerlich-chauvinistischen Phrasen der preußischen Junker und der Bourgeoisie zu eigen macht, ist direkter Verrat am Sozialismus. In keinem Falle kann das Verhalten der Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei gerechtfertigt werden, auch dann nicht, wenn absolute Schwäche dieser Partei und die Notwendigkeit einer zeitweiligen Unterwerfung unter den Willen einer bürgerlichen Mehrheit der Nation als Voraussetzung zu gelten hätte. In Wirklichkeit treibt diese Partei nunmehr eine national-liberale Politik.

    3. Die gleiche Verurteilung verdient das Verhalten der Führer der belgischen und der französischen sozialdemokratischen Partei, die den Sozialismus verrieten, indem sie in die bürgerlichen Ministerien eintraten.

    4. Der Verrat am Sozialismus, begangen durch die Mehrheit der Führer der II. Internationale (1889-1914), bedeutet ideell-politisch den Zusammenbruch dieser Internationale. Die Hauptursache dieses Zusammenbruches ist in dem faktisch in ihr bestehenden Übergewicht des kleinbürgerlichen Opportunismus zu suchen, auf dessen bürgerlichen Charakter und auf dessen Gefährlichkeit die besten Vertreter des revolutionären Proletariats in allen Ländern schon längst hingewiesen haben. Die Opportunisten haben den Zusammenbruch der II. Internationale schon seit langem vorbereitet, indem sie die sozialistische Revolution verneinten und sie durch bürgerlichen Reformismus ersetzten; indem sie den Klassenkampf samt seinem in bestimmten Momenten notwendigen Umschlagen in den Bürgerkrieg verneinten und die Arbeitsgemeinschaft der Klassen predigten; indem sie den bürgerlichen Chauvinismus predigten unter dem Namen des Patriotismus und der Vaterlandsverteidigung und die bereits im „Kommunistischen Manifest“ dargestellte Grundwahrheit des Sozialismus: die Arbeiter haben kein Vaterland, ignorierten oder verneinten; indem sie sich im Kampf gegen den Militarismus auf einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt beschränkten, statt den revolutionären Krieg der Proletarier aller Länder als Notwendigkeit anzuerkennen; indem sie die notwendige Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Legalität in einen Fetisch-Dienst vor dieser Legalität verwandelten und zugleich damit die unumgängliche Notwendigkeit von illegalen Formen der Organisation und Agitation in Krisenepochen in Vergessenheit geraten ließen. Eines der internationalen Organe des Opportunismus, die längst auf national-liberalem Boden stehenden „Sozialistischen Monatshefte“, feiern jetzt vollkommen zu Recht ihren Sieg über den europäischen Sozialismus. Das sogenannte „Zentrum“ der deutschen Sozialdemokratie und der anderen sozialdemokratischen Parteien hat in der Tat vor den Opportunisten feige kapituliert. Aufgabe der künftigen Internationale muss es sein, sich dieser bürgerlichen Richtung im Sozialismus unwiderruflich und entschieden zu entledigen.

    5. Von den bürgerlichen und chauvinistischen Sophismen, mit deren Hilfe die bürgerlichen Parteien und Regierungen der beiden wichtigsten miteinander ringenden Nationen des Kontinents – der deutschen und der französischen – die Massen insbesondere zum Narren halten und welche die sklavisch hinter der Bourgeoisie her trottenden sozialistischen Opportunisten, ob Offenherzige oder Scheinheilige, nachschwätzen, – hat man insbesondere die folgenden zu vermerken und festzunageln: wenn die deutschen Bourgeois die Verteidigung der Heimat, den Kampf gegen den Zarismus, die Beschützung der freien kulturellen und nationalen Entwicklung vorschieben, so lügen sie, denn das preußische Junkertum mit Wilhelm an der Spitze und die deutsche Großbourgeoisie haben in ihrer Politik stets den Schutz der Zarenmonarchie bezweckt und werden nicht zögern, ohne Rücksicht auf den Ausgang des Kriegs, ihre Anstrengungen auf die Stützung dieser Monarchie zu richten; sie lügen, denn in Wirklichkeit hat die österreichische Bourgeoisie gegen Serbien einen Räuberfeldzug eröffnet, die deutsche Bourgeoisie unterdrückt Dänen, Polen und Franzosen (in Elsass-Lothringen), führt gegen Belgien und Frankreich einen Offensivkrieg zum Zwecke der Plünderung reicherer und freierer Länder, organisiert den Angriff in dem Moment, der ihr für die Ausnutzung ihrer letzten Errungenschaften in der Kriegstechnik am besten geeignet schien, und zugleich am Vorabend vor der Durchführung des sogenannten großen Militärprogramms in Russland. Wenn ganz genau so die französischen Bourgeois sich auf die Verteidigung der Heimat usw. berufen, so lügen sie ebenso, denn in Wirklichkeit verteidigen sie in der kapitalistischen Technik rückständiger gebliebene, sich langsamer entwickelnde Länder, sie dingen für ihre Milliarden die Schwarzhundert-Banden des russischen Zarismus zum Zwecke des Angriffskriegs, der dem Raub österreichischer und deutscher Gebiete gilt. Die beiden kriegführenden Gruppen von Nationen stehen an Grausamkeit und Barbarei in der Kriegführung einander nicht nach.

    6. Aufgabe der Sozialdemokratie Russlands ist in Sonderheit und in erster Linie der schonungslose und unbedingte Kampf gegen den großrussischen und zaristisch-monarchistischen Chauvinismus und gegen seine sophistische Verteidigung durch die russischen Liberalen, die Kadetten, durch einen Teil der Narodniki und durch andere bürgerliche Parteien.

    Vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Russlands wäre die Niederlage der Zarenmonarchie und ihrer Armeen das geringere Übel, – dieser Monarchie, die Polen, die Ukraine und eine ganze Reihe anderer Völker Russlands unterjocht hält und die ständig den Nationalhass schürt mit dem Zweck, die Herrschaft der Großrussen über die anderen Nationalitäten noch zu verschärfen und die reaktionäre und barbarische Regierungsgewalt der Zarenmonarchie zu stärken.

    7. Die Sozialdemokratie muss gegenwärtig folgende Losungen haben: erstens, im Heere und auf den Kriegsschauplätzen allseitig betriebene Propaganda für die sozialistische Revolution und für das Gebot, nicht gegen die eigenen Brüder, die Lohnsklaven der anderen Länder, die Waffe zu richten, sondern gegen die reaktionären und bürgerlichen Regierungen und Parteien in allen Ländern. Unbedingte Notwendigkeit, zum Zwecke einer derartigen Propaganda in allen Sprachen illegale Zellen und Gruppen in den Armeen aller Nationen zu organisieren. Schonungsloser Kampf gegen den Chauvinismus und „Patriotismus“ der Spießbürger und Bourgeois ausnahmslos in allen Ländern. Gegen die Führer der gegenwärtigen Internationale, die den Sozialismus verraten haben, ist unbedingt zu appellieren an das revolutionäre Klassenbewusstsein der Arbeitermassen, auf denen die ganze Last des Krieges liegt und die in der Mehrzahl der Fälle dem Chauvinismus und Opportunismus feind sind; zweitens, Propaganda für die deutsche, die polnische, die russische usw. Republik – dies als eine der nächsten Losungen – bei gleichzeitiger Umwandlung aller besonderen Staaten Europas in die Republikanischen Vereinigten Staaten von Europa; drittens, Kampf insbesondere gegen die Zarenmonarchie und gegen den großrussischen, panslawistischen Chauvinismus und Propaganda für die Revolution in Russland, desgleichen für die Befreiung und Selbstbestimmung der von Russland unterdrückten Völker, und zwar mit den nächsten Losungen: demokratische Republik, Konfiskation der Gutsbesitzer-Ländereien und achtstündiger Arbeitstag.

Eine Gruppe von Sozialdemokraten, Mitgliedern der SDAPR.

1 Die Thesen über den Krieg („Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege“) wurden von Lenin in den ersten Tagen des September 1914 niedergeschrieben. Am 5. September, nach seiner Entlassung aus dem galizischen Gefängnis traf Lenin in der Schweiz, in Bern, ein. Am 6. und 7. September trat er mit den Thesen in einer Versammlung der in Bern befindlichen bolschewistischen Gruppe auf. Unter den Versammlungsteilnehmern befanden sich: N. Krupskaja , G. Sinowjew , F. Samoilow (Mitglied der bolschewistischen Fünfer-Gruppe der Duma), G. Schklowskij , G. Safarow und noch zwei – drei Genossen. In dieser kleinen Versammlung wurden die Thesen in vollem Umfang angenommen und danach mit der Unterschrift „Eine Gruppe von Sozialdemokraten, Mitgliedern der SDAPR.“ an die einzelnen ausländischen bolschewistischen Sektionen versandt. Das Exemplar, das für die Lenin-Ausgabe als Unterlage diente (eine von Krupskaja angefertigte Kopie) war von Lenin aus konspirativen Gründen mit der Aufschrift versehen: „Kopie eines in Dänemark veröffentlichten Aufrufs.“ Einige Tage später wurden diese Thesen von F. Samoilow nach Russland mitgenommen, wo sie den russischen Organisationen, dem russischen Teil des ZK und der Duma-Fraktion zur Erörterung vorgelegt werden sollten. Mitte Oktober, nach der Ankunft A. Schljapnikows im Ausland, erfuhr man dann, dass der russische Teil des ZK und die Duma-Fraktion sich den Thesen angeschlossen hatten, obwohl in Russland einige wesentliche Abänderungen an den Thesen vorgenommen worden waren. Die Thesen wurden auch in einigen der größten Petrograder Betriebe besprochen. Sie wurden ferner auch der Italienischen Sozialistischen Partei zugesandt, waren Gegenstand von Erörterungen auf der italienisch-schweizerischen Konferenz in Lugano am 27. September 1914 und wurden zum Teil in die Resolutionen dieser Konferenz aufgenommen.

Die ursprüngliche Absicht war gewesen, auf Grund der Thesen zu größerer Verbreitung ein Manifest des ZK mit Darlegung der Stellung der Bolschewiki zum Kriege als Einzelausgabe erscheinen zu lassen. Ein Entwurf des Manifests lag bereits vor. Nach Eintreffen der von der Duma-Fraktion auf den Aufruf Vanderveldes erteilten Antwort wurde der Text des Manifests etwas abgeändert und es wurde beschlossen, ihn in der eben für den Druck vorbereiteten Nummer 33 des „Sozialdemokrat“ (des Zentralorgans der Bolschewiki) zu veröffentlichen. So erschienen die „Thesen“ erstmals in der Form eines politischen Manifests des ZK: „Der Krieg und die russische Sozialdemokratie“. Im vorliegenden Band geben wir die Thesen in ihrer ursprünglichen Form wieder.

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