Glossar‎ > ‎

Hauptursachen des Ersten Weltkrieges

Die Hauptursachen des Weltkrieges von 1914-1918 waren der Kampf um die Weltherrschaft und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt und um die Kolonien, vor allem zwischen England an der Spitze des Dreiverbandes (Triple-Entente, kurz „Entente“ genannt, bestehend aus England, Frankreich und Russland) und Deutschland mit Österreich-Ungarn und der Türkei.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt England als das mächtigste Kolonialreich. Es verfügte über die stärkste Handelsflotte der Welt. Englische Waren und englisches Kapital herrschten überall in der Welt vor. Deutschland hatte fast keine Kolonien. Die kapitalistische Wirtschaft hatte sich aber in Deutschland in den letzten 25 Jahren vor dem Weltkriege mit einer Raschheit entwickelt, die die kapitalistische Entwicklung Englands ums Mehrfache übertraf. Auf dem europäischen Festlande, darunter auch in Russland, begannen die deutschen Waren mit den englischen erfolgreich zu konkurrieren und diese allmählich zu verdrängen. Auch der Export deutscher Waren nach England selbst stieg. Der europäische Absatzmarkt verengte sich für England immer mehr, aber auch für den rasch wachsenden Imperialismus Deutschlands genügte der innereuropäische Markt immer weniger. Der Kampf mit dem englischen Imperialismus um die Weltherrschaft und um die Kolonien wurde für den deutschen Imperialismus zur Notwendigkeit. Deutschland, das eine glänzende Armee hatte, begann in den letzten 10 bis 12 Jahren vor dem Weltkriege seine Flotte angestrengt zu entwickeln; es erreichte auf diesem Gebiete hervorragende Resultate, konnte aber England nicht einholen. Gegen England auf dem Meere zu kämpfen, war sehr schwierig. Deutschland wählte daher einen anderen Weg, um gegen den englischen Kolonialbesitz in Indien und in Ägypten vorzustoßen. Im Jahre 1908 kam Deutschland mit der Türkei endgültig über den Bau einer Eisenbahn auf türkischem Gebiet nach Bagdad überein, England erkannte sehr wohl die ganze Größe dieser Gefahr. Das Ringen der englischen und der deutschen Imperialisten um die Weltherrschaft verstärkte sich und musste unausweichlich zum offenen Konflikt führen.

Neben diesen entscheidenden Gegensätzen zwischen der englischen und der deutschen Bourgeoisie gab es ökonomische und politische Gegensätze zwischen den herrschenden Klassen Frankreichs und Deutschlands, Russlands und Deutschlands, Russlands und Österreich-Ungarns, Russlands und der Türkei. Die französische Bourgeoisie strebte schon seit langem danach, Elsass-Lothringen mit seiner Schwerindustrie, das 1871 zu Deutschland gekommen war, wieder zurückzuerhalten. Außerdem war die deutsche Kohle an der Ruhr und im Saargebiet für die weitere Entwicklung der französischen Hüttenindustrie notwendig geworden. Auch im Kampfe um die Kolonien stießen die Interessen Frankreichs und Deutschlands aufeinander. So führten z. B. Deutschland und Frankreich schon seit langem einen Kampf um Marokko.

Die Verschärfung aller dieser internationalen Gegensätze bereitete den offenen Kampf vor. Zum Zweck der militärischen „Einkreisung“ seines mächtigen Nachbars, Deutschlands, schloss Frankreich im Jahre 1892 ein Bündnis mit Russland. Die zaristische Regierung wurde finanziell stark unterstützt. Im Jahre 1913, am Vorabend des Weltkrieges, wurde Russland die Begebung von Anleihen im Betrage von 400-500 Millionen Franc jährlich an der Pariser Börse garantiert. Russland seinerseits verpflichtete sich, den Bau von strategischen Eisenbahnen zur deutschen Grenze in Angriff zu nehmen und den Friedensstand der russischen Armee zu erhöhen. Der Besuch des französischen Ministerpräsidenten Poincaré im Juli 1914 in Russland verfolgte den Zweck, ein Übereinkommen über das Vorgehen dieser beiden Verbündeten gegen Deutschland zu treffen.

Schon im Jahre 1907 war England diesem Bündnis beigetreten. So formierte sich zum Kampfe gegen Deutschland der Dreiverband England, Frankreich und Russland, die „Entente“. Die drei Staaten stellten alle strittigen Fragen, die zwischen ihnen bestanden, im Interesse der Herstellung einer Einheitsfront gegen Deutschland vorläufig zurück. Für die westeuropäischen imperialistischen Staaten war das zaristische Russland ein halbkoloniales Land, in welches sie ihre Waren ausführten und wo sie ihre Kapitalien anlegten. Der Kampf um den russischen Markt für die Waren- und Kapitalausfuhr spielte in den Beziehungen zwischen Frankreich und England einerseits und Deutschland anderseits eine sehr wesentliche Rolle. Die Einbeziehung Russlands in die Einheitsfront gegen Deutschland war auch von diesem Gesichtspunkt für England und Frankreich wichtig.

Aber auch die herrschenden Klassen Russlands waren an einem Krieg gegen Deutschland, Österreich-Ungarn und die Türkei wirtschaftlich und politisch nicht weniger interessiert als die französische und die englische Bourgeoisie. Deutschland war schon seit jeher ein ausgedehnter Markt für die Erzeugnisse der russischen Landwirtschaft. Aber schon vom Ende des 19. Jahrhunderts an begann dieser Markt für Russland infolge der deutschen Zollpolitik einzuschrumpfen. Der Kampf zwischen Russland und Deutschland um die Herabsetzung der Einfuhrzölle für Getreide nach Deutschland hatte in den letzten dreißig Jahren vor dem Weltkriege nie aufgehört. Die Einengung des deutschen Marktes schädigte nicht nur die russischen Großgrundbesitzer, sondern auch das russische Finanzkapital, denn die Getreideausfuhr erfolgte durch die Vermittlung der Banken, die mit der russischen Industrie und mit der russischen Landwirtschaft eng verbunden waren. Die russische Industrie- und Finanzbourgeoisie hatte aber an einem Kampf gegen Deutschland noch ein besonderes Interesse. Die zunehmende Einfuhr deutscher Industrieerzeugnisse nach Russland vor dem Weltkriege schädigte ernstlich sowohl die Interessen der russischen Bourgeoisie als auch die der englischen, französischen und belgischen Bourgeoisie, die ihre Kapitalien in der russischen Industrie angelegt hatten. Eine der Ursachen des heranreifenden Konflikts waren außerdem die Interessen des wachsenden russischen Imperialismus in Vorderasien. Der russische Imperialismus brauchte Absatzgebiete. Nach der Niederlage Russlands im Jahre 1905 in Ostasien im Kriege gegen Japan erschienen Persien und Türkei fast als die einzigen auswärtigen Absatzgebiete für die russische Industrie in Asien. Hier konnte die russische Industrie mit derjenigen der anderen Länder erfolgreich konkurrieren. Außerdem erstrebten die russische Bourgeoisie und die russischen Großgrundbesitzer einen freien, von der Türkei unabhängigen Ausgang aus dem Schwarzen Meere, d. h. Konstantinopel und die das Schwarze mit dem Mittelländischen Meere verbindenden Meerengen; denn im Jahre 1913 ging die Hälfte der russischen Ausfuhr durch diese Meerengen. Die Türkei war aber ein Verbündeter Deutschlands und Österreich-Ungarns, die ihrerseits an der wirtschaftlichen Beeinflussung und Beherrschung der Türkei interessiert waren. Auf diese Weise stießen die Eroberungsbestrebungen Russlands gegenüber der Türkei mit den Interessen Deutschlands und Österreich-Ungarns zusammen.

So ergab sich aus der Verschärfung der Gegensätze zwischen den zwei Ländergruppen mit England und Deutschland an der Spitze unvermeidlich der Krieg. Die Schüsse von Sarajevo (Hauptstadt der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Provinz Bosnien), durch die der österreichische Erzherzog und Thronfolger Franz Ferdinand getötet wurde, waren nur der Vorwand für den schon längst vorbereiteten Weltkrieg.

Mit den „dynastischen Interessen“ der rückständigen osteuropäischen Monarchien, von denen im Manifest des ZK gesprochen wird, sind vor allem der zaristische Absolutismus und die „Dynastie“ der Romanows gemeint. Der Absolutismus war daran interessiert, dass der Krieg dem Aufschwung der revolutionären Bewegung ein Ende mache, der 1912 begonnen und im Jahre 1914 schon zur Errichtung von Barrikaden geführt hatte. Der Absolutismus rechnete in seiner Verblendung mit der Befestigung seiner Position mit Hilfe eines siegreichen Krieges. Dieselbe Hoffnung hegte auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 18]

Kommentare