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Wladimir I. Lenin 19150600 Das Hauptwerk des deutschen Opportunismus über den Krieg

Wladimir I. Lenin: Das Hauptwerk

des deutschen Opportunismus über den Krieg

[Geschrieben im Mai-Juni 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht am 27. Juli 1924 in der „Prawda“ Nr. 469. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 209-214]

Eduard Davids Buch: „Die Sozialdemokratie im Weltkrieg“ (Berlin, Verlag „Vorwärts“, 1915) gibt eine gute Zusammenfassung des Tatsachen- und Beweismaterials zur Taktik der offiziellen deutschen sozialdemokratischen Partei im gegenwärtigen Kriege. Es enthält nichts Neues für Leute, die die opportunistische und überhaupt die deutsche sozialdemokratische Literatur verfolgt haben. Dessen ungeachtet ist dies Buch sehr nützlich, und nicht nur als Nachschlagewerk. Wer sich in den weltgeschichtlichen Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie ernstlich hineindenken will, wer wirklich begreifen möchte, wie und weshalb aus der führenden Partei der Sozialdemokratie „plötzlich“ (scheinbar plötzlich) eine Partei von Lakaien der deutschen Bourgeoisie und Junker geworden ist, wer die Bedeutung der abgedroschenen Sophismen, die zur Rechtfertigung und Beschönigung dieses Zusammenbruches dienen, aufmerksam studieren möchte, – dem wird E. Davids langweiliges Buch nicht langweilig scheinen. Im Grunde genommen gibt es bei David eine gewisse Geschlossenheit der Ansichten und die Überzeugung eines liberalen Arbeiterpolitikers, wovon z. B. bei dem heuchlerischen, „den Mantel nach dem Wind hängenden“ Kautsky nicht eine Spur zu finden ist.

David ist durch und durch Opportunist, alter Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte“, also der deutschen Ausgabe des Blattes „Nasche Djelo, Verfasser eines dicken Buches über die Agrarfrage, das kein Gran Sozialismus und Marxismus enthält. Dass ein solches Subjekt, dessen ganzes Leben der bürgerlichen Korrumpierung der Arbeiterbewegung gilt, zu einem der vielen, ebenso opportunistischen Führer der Partei, dass er Abgeordneter, ja sogar Vorstandsmitglied der deutschen sozialdemokratischen Parlamentsfraktion werden konnte, dies allein schon zwingt zu ernstem Nachdenken darüber, wie lange schon, wie tief und wie mächtig der Fäulnisprozess in der deutschen Sozialdemokratie sich vollzogen hat.

Wissenschaftliche Bedeutung besitzt Davids Buch nicht, da der Verfasser zu der bloßen Stellung der Frage entweder nicht die Fähigkeit oder aber nicht den Wunsch hat – der Frage nämlich: wie die Hauptklassen der modernen Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte ihre gegenwärtige Stellung zum Krieg vorbereitet, herausgebildet, produziert haben, und zwar durch eine so oder so bestimmte, in diesen oder jenen Klasseninteressen wurzelnde Politik. David weiß nichts davon – schon der bloße Gedanke daran ist ihm vollkommen fremd –, dass ohne eine derartige Untersuchung von einer marxistischen Stellungnahme zum Kriege keine Rede sein kann und dass nur eine solche Untersuchung als Basis dienen kann für das Studium der Ideologie der verschiedenen Klassen in ihrer Haltung zum Kriege. David ist ein Advokat der liberalen Arbeiterpolitik, seine ganze Darstellung und alle seine Argumente sind dazu bestimmt, das Arbeiter-Auditorium zu beeinflussen, die schwachen Punkte seiner Position vor ihm zu verbergen, die liberale Taktik für die Arbeiter annehmbar zu machen und die proletarisch-revolutionären Instinkte einzuschläfern durch Heranziehung einer möglichst großen Anzahl von autoritativen Beispielen aus der „Stellungnahme der Sozialisten in den Weststaaten“ (Überschrift des VII. Kapitels in Davids Buch) usw. usw.

Das ganze ideelle Interesse, das Davids Buch darbietet, reduziert sich daher auf Analyse des Problems, wie die Bourgeoisie mit den Arbeitern reden soll, um sie zu beeinflussen. Die ideelle Position E. Davids reduziert sich unter diesem (einzig richtigen) Gesichtswinkel im Wesentlichen auf seinen Satz: „Bedeutung unserer Abstimmung“ (für die Kriegskredite): „Nicht für den Krieg, sondern gegen die Niederlage“ (S. 3, Inhaltsverzeichnis, dazu zahlreiche einzelne Stellen im Buche). Das ist das Leitmotiv des ganzen Davidschen Buches. Zu diesem Zwecke werden Beispiele „hergerichtet“, die Haltung betreffend, die Marx, Engels, Lassalle zu den nationalen Kriegen Deutschlands eingenommen haben (Kapitel II), zum selben Zwecke Angaben über die „gigantische Eroberungspolitik der Ententemächte“ (Kapitel IV), zum selben Zweck eine diplomatische Geschichte des Kriegs (Kapitel V), die Deutschland auf Grund des lächerlich geringfügigen und ebenso lächerlich bedeutungslosen offiziellen Telegrammaustauschs am Vorabend des Kriegs usw. reinwaschen soll. Ein besonderes Kapitel (VI), „Die Größe der Gefahr“, bringt Betrachtungen und Angaben über das Kräfteübergewicht bei der Triple-Entente, über den reaktionären Charakter des Zarismus usw. David ist selbstverständlich durchaus für den Frieden. Das seinem Buche beigegebene Vorwort vom 1. März 1915 schließt der Verfasser mit der Losung: „Friede auf Erden!“ David ist selbstverständlich Internationalist: die deutsche Sozialdemokratie, seht ihr, hat den „Geist der Internationale nicht verleugnet“ (S. 8), sie „hat die Giftsaat des Hasses zwischen den Völkern bekämpft“ (S. 8), „vom ersten Tage des Krieges ab hat sie ihre grundsätzliche Friedensbereitschaft nach erreichter Sicherung des eigenen Landes bekundet“ (S. 8).

Davids Buch erweist mit besonderer Anschaulichkeit, dass die liberalen Bourgeois (und ihre Agenten in der Arbeiterbewegung, d. h. die Opportunisten) zur Sicherung ihres Einflusses auf die Arbeiter und auf die Massen überhaupt bereit sind, ihren Internationalismus, das Einverständnis mit der Losung des Friedens, den Verzicht auf annexionistische Ziele, die Verurteilung des Chauvinismus usw. usw. zu unterschreiben, so oft man nur wolle. Kurz alles, was beliebt, nur nicht revolutionäre Aktionen gegen die eigene Regierung; alles, was beliebt, – nur unter der Voraussetzung, dass es „gegen die Niederlage“ ist. Und in der Tat, diese Ideologie ist, mathematisch gesprochen, gerade notwendig und hinreichend, um die Arbeiter zu beschwindeln: ihnen weniger anzubieten wäre unmöglich, denn man kann die Massen nicht hinter sich haben, wenn man ihnen nicht einen gerechten Frieden verspricht, wenn man sie nicht mit der Gefahr einer feindlichen Invasion schreckt, wenn man nicht seine Treue zum Internationalismus beschwört; mehr braucht man nicht in Vorschlag zu bringen, denn was mehr ist – d. h. Eroberung von Kolonien, Annexion fremder Länder, Plünderung besiegter Länder, Abschluss vorteilhafter Handelsverträge usw. – das wird nicht die liberale Bourgeoisie unmittelbar, das wird vielmehr die imperialistisch-militaristische, die Armee- und Regierungsclique nach dem Krieg durchführen.

Die Rollen sind richtig verteilt: die Regierung und die Militärclique führt den Krieg, gestützt auf die Milliardäre, auf die ganze bürgerliche „Geschäftswelt“, – und die Liberalen beschwichtigen und beschwindeln die Massen mit der Ideologie der Vaterlandsverteidigung, mit Zusicherungen eines demokratischen Friedens usw. Die Ideologie der liberalen, humanen, pazifistischen Bourgeois ist auch E. Davids Ideologie, wie sie auch die der russischen Opportunisten aus dem Organisationskomitee ist, welch letztere die Auffassung, dass die Niederlage, dass der Zerfall Russlands gewünscht werden müsse, bekämpfen und für die Friedenslosung sind, usw.

Die prinzipiell andersartige, nicht liberale Taktik beginnt erst da, wo der entschiedene Bruch mit jeder Rechtfertigung der Kriegsbeteiligung, mit allen Formen dieser Rechtfertigung, beginnt, wo in der Tat die Propaganda und Vorbereitung revolutionärer Aktionen gegen die eigene Regierung während des Kriegs und unter Ausnutzung der durch den Krieg geschaffenen Schwierigkeiten die politische Linie darstellt. David tritt heran an diese Scheidelinie, diese wahre Scheidelinie zwischen bürgerlicher und proletarischer Politik, aber er tut das nur, um über dieses unangenehme Thema hinwegzukommen. Er gedenkt einige Male des Baseler Manifests, umgeht aber sorgfältig alle darin enthaltenen revolutionären Stellen, er erinnert sich daran, wie Vaillant in Basel „den Militärstreik und die soziale Revolution angekündigt hatte“ (S. 119), aber nur zu dem Zweck, um sich selbst mit dem Beispiel des Chauvinisten Vaillant zu verteidigen, und keineswegs dazu, um die in der Resolution des Baseler Kongresses selbst enthaltenen revolutionären Anweisungen zu zitieren und zu analysieren.

David druckt aus dem Manifest unseres ZK einen ziemlich großen Teil ab, darunter auch die Hauptlosung: Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg; er tut dies aber nur, um diese „russische“ Taktik für „Wahnsinn“ und „gröblichste Vergewaltigung der Beschlüsse der Internationale“ zu erklären (S. 169 u. 172). Das sei, wie man sehe, Hervéismus (S. 176): in Hervés Buch „findet sich die ganze Theorie der Lenin, Luxemburg, Radek, Pannekoek usw.“ Ist denn, wertester David, in den revolutionären Stellen der Baseler Resolution und des „Kommunistischen Manifests“ nicht auch „Hervéismus“? Die Erinnerung an das „Kommunistische Manifest“ ist für David ebenso unangenehm wie für Sjemkowski der gleichfalls daran erinnernde Titel unserer Zeitschrift. Dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“, ist eine These des „Kommunistischen Manifests“, das nach Davids Überzeugung „längst überwunden“ ist (S. 176 u. a.). Zur Nationalitätsfrage präsentiert David in einem ganzen abschließenden Kapitel den abgeschmackten bürgerlichen Unsinn von einem „biologischen Differenzierungsgesetz“ (!!) usw.

International heißt nicht antinational, wir sind für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, wir sind gegen die Vergewaltigung schwacher Nationen – versichert David und begreift nicht (oder richtiger: tut, als ob er nicht begreife), dass man nicht nur ein antisozialistischer, sondern auch ein antinationaler Politiker ist, gerade wenn man die Beteiligung am imperialistischen Kriege rechtfertigt, gerade wenn man in diesem Krieg die Losung „Gegen die Niederlage“ ausgibt. Denn der gegenwärtige imperialistische Krieg ist ein Krieg der Großmacht-Nationen (d. h. derer, die eine ganze Reihe anderer Völker unterdrücken) zum Zwecke der Unterwerfung neuer Nationen. Man kann im imperialistischen Kriege „nationaler“ Politiker nur sein, wenn man sozialistischer Politiker ist, d. h. nur, wenn man das Recht der unterdrückten Nationen auf ihre Befreiung, auf ihre Loslösung von den sie unterdrückenden Großmächten anerkennt. In der Epoche des Imperialismus gibt es für die Mehrzahl der Nationen der Welt keine andere Rettung als die revolutionäre Aktion des Proletariats der Großmacht-Nationen, die über die Schranken der Nationalität hinausgeht, diese Schranken sprengt, die internationale Bourgeoisie stürzt. Kommt es nicht zu diesem Sturze, so bleiben die Großmacht-Nationen weiter bestehen, das heißt, es bleibt die Unterdrückung von neun Zehnteln aller Nationen auf der Welt weiter bestehen. Kommt es aber zu diesem Sturz, so beschleunigt er in gewaltigem Ausmaß den Fall aller und jeder nationalen Scheidewände, ohne dadurch die „Differenzierung“ der Menschheit abzuschwächen; diese wird im Gegenteil millionenfach gesteigert im Sinne des Reichtums und der Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens und der ideellen Strömungen, Bestrebungen und Variationen.

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