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Wladimir I. Lenin 19151100 Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Wladimir I. Lenin: Das revolutionäre Proletariat und das

Selbstbestimmungsrecht der Nationen1

[Geschrieben Ende 1915 in deutscher Sprache (mit russischer Übersetzung) Erstmals deutsch und russisch veröffentlicht 1927 im russischen „Lenin-Sammelbuch“ Nr. 4 Gez. N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 425-433]

Das Zimmerwalder Manifest proklamiert ebenso wie die Mehrheit der Programme oder der taktischen Resolutionen der sozialdemokratischen Parteien das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Genosse Parabellum erklärt in Nr. 252 und 253 der Berner Tagwacht den „Kampf um das nicht existierende Selbstbestimmungsrecht“ für illusorisch und stellt demselben den „revolutionären Massenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus“ entgegen, indem er versichert, dass „wir gegen die Annexionen“ seien (dieselbe Versicherung ist fünfmal im Artikel des Genossen Parabellum wiederholt), sowie auch gegen alle „nationalen Gewaltakte“.

Die Motivierung des Standpunktes des Genossen Parabellum reduziert sich darauf, dass jetzt alle nationalen Fragen, die elsass-lothringische, die armenische usw., Fragen des Imperialismus seien; dass das Kapital über den Rahmen der nationalen Staaten hinausgewachsen sei; dass „das Rad der Geschichte zurückzuschieben“ zu dem überlebten Ideal des Nationalstaates unmöglich sei usw.

Wollen wir sehen, ob die Ausführungen des Genossen Parabellum richtig sind.

Erstens ist es gerade der Genosse Parabellum, der rückwärts und nicht vorwärts schaut, wenn er bei Eröffnung seines Feldzugs gegen die Annahme „des Ideals des Nationalstaates“ durch die Arbeiterklasse seine Blicke auf England, Frankreich, Deutschland, Italien richtet, d. h. auf Länder, in denen die nationale Befreiungsbewegung in der Vergangenheit liegt, und nicht auf den Osten, auf Asien, Afrika, auf die Kolonien, wo diese Bewegung nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und der Zukunft angehört. Es genügt, Indien, China, Persien, Ägypten zu nennen.

Weiter. Der Imperialismus bedeutet, dass das Kapital aus dem Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen ist, er bedeutet die Erweiterung und die Verschärfung des nationalen Druckes auf einer neuen historischen Basis. Daraus folgt eben – im Gegensatz zu der Auffassung des Genossen Parabellum –, dass wir den revolutionären Kampf für den Sozialismus mit einem revolutionären Programm in der nationalen Frage verbinden müssen.

Bei dem Genossen Parabellum kommt es so heraus, dass er im Namen der sozialistischen Revolution das konsequent revolutionäre Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringschätzung beiseite wirft. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollständig verwirklicht, indem es die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung mit jedem Schritt seiner Bewegung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus einer der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, entgegenzustellen. Wir müssen umgekehrt den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolutionären Programm und mit der revolutionären Taktik in Bezug auf alle demokratischen Forderungen verbinden: die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte für Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und dazu nicht vollständig, nur verstümmelt verwirklichbar. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie stützen, indem wir die Unvollständigkeit der Demokratie unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als notwendige Basis für die Abschaffung des Massenelends, ebenso wie für die volle und allseitige Durchführung aller demokratischen Umgestaltungen. Einige von diesen Maßnahmen werden begonnen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie, andere im Verlauf dieser Niederwerfung, wieder andere nach ihr. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um alle Fragen der ökonomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden können. Gerade im Namen dieses Endziels müssen wir eine konsequent revolutionäre Formulierung für jede von unseren demokratischen Forderungen geben. Es ist denkbar, dass die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, bevor sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollständig verwirklicht haben. Aber es ist ganz undenkbar, dass das Proletariat als eine geschichtliche Klasse die Bourgeoisie besiegen könnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolutionär-entschiedensten Demokratismus.

Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdrückung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Großmächte. Er ist die Epoche der Kriege zwischen ihnen um die Erweiterung und Festigung der nationalen Unterdrückung. Er ist die Epoche des Betrugs der Volksmassen durch die heuchlerischen Sozialpatrioten, d. h. durch die Leute, die unter dem Vorwände der „Freiheit der Nationen“, des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“, der „Vaterlandsverteidigung“ die Unterdrückung der Mehrheit der Nationen der Welt durch die Großmächte rechtfertigen und verteidigen.

Eben deshalb muss die Einteilung der Nationen in unterdrückende und unterdrückte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung das Wesen des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky einbegriffen, verlogenerweise umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkte des bürgerlichen Pazifismus oder der kleinbürgerlichen Utopie von einer friedlichen Konkurrenz der unabhängigen Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie ist eben das Wesentlichste vom Standpunkte des revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus. Aus dieser Einteilung folgt unsere konsequent demokratische, revolutionäre, der allgemeinen Aufgabe des sofortigen Kampfes für den Sozialismus entsprechende Auffassung des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“. Im Namen dieses Rechts, seine aufrichtige Anerkennung fordernd, müssen die Sozialdemokraten der unterdrückenden Nationen für die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Nationen eintreten, – weil widrigenfalls die Anerkennung der gleichen Rechte der Nationen und der internationalen Solidarität der Arbeiter tatsächlich nur eine hohle Phrase, nur eine Heuchelei bliebe. Die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen aber müssen die Forderung der Einheit und der Verschmelzung der Arbeiter der unterdrückten Nationen mit den Arbeitern der unterdrückenden Nationen als die Hauptsache betrachten, – weil diese Sozialdemokraten im andern Falle unwillkürlich zu Verbündeten dieser oder jener nationalen Bourgeoisie werden, die immer die Interessen des Volkes und der Demokratie verrät, die immer ihrerseits bereit ist, Annexionen zu machen und andere Nationen zu unterdrücken.

Als gutes Beispiel kann die Stellung der nationalen Frage in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts dienen. Die kleinbürgerlichen Demokraten, denen jedweder Gedanke an Klassenkampf und an sozialistische Revolution fremd blieb, malten sich die Utopie einer friedlichen Konkurrenz von freien und gleichen Nationen unter dem Kapitalismus aus. Die Proudhonisten „verneinten“ ganz und gar die nationale Frage und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, und zwar vom Standpunkte der unmittelbaren Aufgaben der sozialen Revolution. Marx verspottete den französischen Proudhonismus, zeigte seine Verwandtschaft mit dem französischen Chauvinismus („ganz Europa könne und müsse ruhig auf dem Hintern sitzen bleiben, bis die Herrschaften in Frankreich das Elend abschaffen“2 – „unter der Verneinung der nationalen Frage scheinen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, das Verschlingen der Nationen durch die französische Musternation zu verstehen“)3. Marx forderte die Abtrennung Irlands von England – „sollte es auch nach der Abtrennung zur Föderation kommen“4 –, und zwar nicht vom Standpunkte der kleinbürgerlichen Utopie des friedlichen Kapitalismus, nicht aus „Gerechtigkeit gegenüber Irland“, sondern vom Standpunkte der Interessen des revolutionären Kampfes des Proletariats der unterdrückenden, d. h. – der englischen Nation gegen den Kapitalismus. Es war eben die Freiheit dieser Nation, die durch die Unterdrückung einer fremden Nation unterbunden und verstümmelt wurde. Es war eben der Internationalismus des englischen Proletariats, der eine heuchlerische Phrase bleiben musste, wenn dieses Proletariat die Abtrennung Irlands nicht forderte. Ohne jemals Anhänger der Kleinstaaterei, der staatlichen Zerstückelung im Allgemeinen, des föderalistischen Prinzips zu sein, betrachtete Marx die Abtrennung der unterdrückten Nation als einen Schritt zur Föderation – folglich nicht zur Zerstückelung, sondern zur Konzentration, zur politischen und ökonomischen Konzentration, aber zur Konzentration auf der Basis des Demokratismus. Vom Standpunkte des Genossen Parabellum führte Marx wahrscheinlich einen „illusorischen“ Kampf, indem er die Forderung der Separation Irlands aufstellte. In der Tat aber war nur diese Forderung das konsequent revolutionäre Programm, nur sie entsprach dem Internationalismus, nur sie vertrat die Konzentration auf eine nicht imperialistische Art.

Der Imperialismus unserer Tage hat dazu geführt, dass die Unterdrückung der Nationen durch Großmächte eine allgemeine Erscheinung geworden ist. Eben der Standpunkt des Kampfes gegen die Sozialpatrioten der Großmachtnationen, die jetzt einen imperialistischen Krieg um das Befestigen der Unterdrückung der Nationen führen, – die die Mehrheit der Nationen der Welt und der Bevölkerung der Erde unterdrücken –, eben dieser Standpunkt muss der entscheidende, kardinale, grundwichtige Punkt in dem sozialdemokratischen nationalen Programm werden.

Lassen wir die heutigen Richtungen des sozialdemokratischen Gedankens in dieser Frage Revue passieren. Die kleinbürgerlichen Utopisten, die von Gleichheit und Frieden der Nationen unter dem Kapitalismus träumen, haben den Sozialpatrioten Platz gemacht. Indem der Genosse Parabellum gegen die ersteren Krieg führt, führt er Krieg gegen Windmühlen, indem er unwillkürlich den letzteren in die Hände arbeitet. Was ist das Programm der Sozialpatrioten in der nationalen Frage?

Entweder verneinen sie das Selbstbestimmungsrecht ganz und gar, indem sie Argumente in der Art von denen des Genossen Parabellum vorführen (Cunow, Parvus, die russischen Opportunisten: Sjemkowski, Liebmann u. a.). Oder sie anerkennen das Selbstbestimmungsrecht in offenbar heuchlerischer Weise, nämlich: sie wenden dieses Recht eben auf solche Nationen nicht an, die von ihrer eigenen Nation oder von deren militärischen Verbündeten unterdrückt werden (Plechanow, Hyndman, alle frankophilen Sozialpatrioten, Scheidemann und Co. usw.). Es ist aber Kautsky, der die plausibelste und eben darum die für das Proletariat schädlichste Formulierung der sozialpatriotischen Lüge gibt. In Worten ist er für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in Worten ist er dafür, dass die sozialdemokratische Partei „die Selbständigkeit der Nationen allseitig (!!) und rückhaltlos (??) (risum teneatis, amici!5) achte und fordere“ (Neue Zeit, 33, II, S. 241; 21. Mai 1915). In der Wirklichkeit aber passt er das nationale Programm an den herrschenden Sozialpatriotismus an, fälscht und verstümmelt dasselbe, ohne die Pflichten der Sozialisten der unterdrückenden Nationen genau festzustellen, ja, er falsifiziert sogar gerade das demokratische Prinzip, indem er sagt: die „staatliche Selbständigkeit“ für jede Nation verlangen hieße „zu viel“ verlangen („Neue Zeit“, 33, II, S. 77; 16. Mai 1915). Es genüge, nach seiner weisen Meinung, die „nationale Autonomie“ !! Gerade die wichtigste Frage, die die imperialistische Bourgeoisie nicht zu berühren erlaubt, die Frage nach den Grenzen des Staates, der auf der Unterdrückung von Nationen beruht, wird von Kautsky umgangen! Gerade das Wichtigste aus dem nationalen Programm der sozialdemokratischen Partei verwirft Kautsky zum Wohlgefallen dieser Bourgeoisie! Die Bourgeoisie ist bereit, jede beliebige „nationale Autonomie“ zu versprechen, damit das Proletariat nur im Rahmen der Gesetzlichkeit bleibe und sich der Bourgeoisie in der Frage der Staatsgrenzen „friedlich“ unterwerfe! Kautsky formatiert das nationale Programm der Sozialdemokratie nicht revolutionär, sondern reformistisch.

Das nationale Programm des Genossen Parabellum, oder richtiger, seine Versicherungen, wir seien „gegen die Annexionen“, unterschreiben der Parteivorstand, Kautsky, Plechanow und Co. mit beiden Händen, und das eben darum, weil durch dieses Programm die herrschenden Sozialpatrioten nicht entlarvt werden. Dieses Programm können auch die bürgerlichen Pazifisten unterschreiben. Das vortreffliche allgemeine Programm des Genossen Parabellum – „der revolutionäre Massenkampf gegen den Kapitalismus“ – dient ihm, ebenso wie den Proudhonisten der sechziger Jahre, nicht dazu, um im Zusammenhänge mit ihm, in seinem Geiste, ein ebenso unversöhnliches, ebenso revolutionäres Programm in der nationalen Frage auszuarbeiten, sondern nur dazu, um das Feld hier vor den Sozialpatrioten zu räumen! Die Mehrheit der Sozialisten der ganzen Welt gehört in unserer imperialistischen Epoche den Nationen an, die andere Nationen unterdrücken und diese Unterdrückung zu erweitern suchen. Eben deshalb wird unser „Kampf gegen die Annexionen“ inhaltslos bleiben, ein für die Sozialpatrioten gar nicht gefährlicher Kampf bleiben, wenn wir nicht erklären: der Sozialist einer unterdrückenden Nation, der im Frieden wie im Kriege die Separation der unterdrückten Nation nicht propagiert, ist kein Sozialist und kein Internationalist, sondern ein Chauvinist! Der Sozialist einer unterdrückenden Nation, der eine solche Propaganda zum Trotz gegen die Verbote der Regierungen, d. h. in einer freien, d. h. in einer illegalen Presse nicht treibt, bleibt nichts als ein heuchlerischer Anhänger der gleichen Rechte für alle Nationen.

Über Russland, das seine bürgerlich-demokratische Revolution noch nicht vollendet hat, sagt der Genosse Parabellum nur einen einzigen Satz:

Selbst das wirtschaftlich sehr zurückgebliebene Russland hat in der Haltung der polnischen, lettischen, armenischen Bourgeoisie gezeigt, dass nicht nur die militärische Bewachung es ist, die die Völker in diesem ,Zuchthaus der Völker* zusammenhält, sondern Bedürfnisse der kapitalistischen Expansion, für die das ungeheure Territorium ein glänzender Boden der Entwicklung ist.“

Das ist kein „sozialdemokratischer Standpunkt“, sondern ein liberal-bürgerlicher, kein internationalistischer, sondern ein großrussisch-chauvinistischer. Es ist zu bedauern, dass der Genosse Parabellum, der den deutschen Sozialpatriotismus so vortrefflich bekämpft, den russischen Chauvinismus augenscheinlich zu wenig kennt. Um aus seinem Satz einen sozialdemokratischen Satz zu machen und daraus sozialdemokratische Folgerungen zu ziehen, möchten wir diesen Satz etwa in folgender Weise ändern und vervollständigen:

Russland ist ein Zuchthaus der Völker nicht nur wegen des feudal-militaristischen Charakters des Zarismus, nicht nur deswegen, weil die großrussische Bourgeoisie den Zarismus unterstützt, sondern auch deshalb, weil die polnische usw. Bourgeoisie die Freiheit der Nationen wie auch den Demokratismus überhaupt den Interessen der kapitalistischen Expansion geopfert hat. Das Proletariat Russlands kann weder an der Spitze des Volkes die siegreiche demokratische Revolution vollenden (das ist seine nächste Aufgabe) noch Hand in Hand mit seinen Brüdern, den Proletariern Europas, für die sozialistische Revolution kämpfen, ohne sofort, uneingeschränkt und „rückhaltlos“ die Freiheit der Separation von Russland für alle von Russland unterdrückten Nationen zu fordern. Wir fordern das nicht unabhängig von unserem revolutionären Kampfe für den Sozialismus, sondern deswegen, weil dieser Kampf nichts als ein leeres Wort bleiben wird, wenn wir ihn nicht mit der revolutionären Stellung aller demokratischen Fragen verbinden, darunter auch der nationalen Frage. Wir fordern das Selbstbestimmungsrecht, d. h. die Unabhängigkeit, d. h. die Freiheit der Separation für die unterdrückten Nationen nicht deshalb, weil wir von der wirtschaftlichen Zerstückelung oder vom Ideale der Kleinstaaten träumen, sondern im Gegenteil, weil wir für Großstaaten und für Annäherung, ja Verschmelzung der Nationen sind, aber auf wahrhaft demokratischer, wahrhaft internationalistischer Grundlage, die ohne die Freiheit der Separation undenkbar ist. Wie Marx im Jahre 1869 die Separation Irlands forderte, nicht zur Zerstückelung, sondern für den weiteren freien Bund Irlands mit England, nicht aus „Gerechtigkeit gegenüber Irland“, sondern vom Standpunkte der Interessen des revolutionären Kampfes des englischen Proletariats, ebenso betrachten auch wir die Weigerung der Sozialisten Russlands, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen im oben entwickelten Sinne zu fordern, als einen direkten Verrat an der Demokratie, am Internationalismus, am Sozialismus.

1 Den Artikel „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ schrieb Lenin Ende 1915 (wahrscheinlich im November) in deutscher Sprache; neben dem deutschen Manuskript existiert eine von N. K. Krupskaja geschriebene Übersetzung ins Russische mit Korrekturen von der Hand Lenins.

Wir reproduzieren den Artikel mit einigen ganz geringfügigen Verbesserungen der Ausdrucksweise nach dem im russischen „Lenin-Sammelbuch“, Bd. VI (herausgegeben vom Lenin-Institut, 1927) abgedruckten deutschen Text. [Vorbemerkung, Sämtliche Werke, Band 18, S. 6]

[Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 103:] Der Artikel „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ wurde noch vor den weiter oben abgedruckten Thesen „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (November 1915) geschrieben, aber nicht veröffentlicht. Die Veröffentlichung erfolgte erst 1927 durch das Lenininstitut. Der Artikel war eine Antwort auf den mit „Parabellum“ gezeichneten Artikel Radeks „Annexionen und Sozialdemokratie“ („Berner Tagwacht“ vom 28.-29. Oktober 1915) und behandelt dieselben Hauptirrtümer der polnischen Zimmerwalder Linken, von denen auch die Thesen handeln. Außerdem beschäftigte sich der Artikel auch mit dem Verhalten der Sozialchauvinisten zur Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und zeigte, wie die „linken“ Gegner dieser Losung gegen ihren Willen auf den gefährlichen Weg der Verhüllung des Sozialchauvinismus durch linke Phrasen gelangen.

In dem Zimmerwalder Manifest, auf das zu Beginn dieses Artikels hingewiesen wird, heißt es über die Losung des Selbstbestimmungsrechtes: „Es gilt, dieses Ringen um den Frieden aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. Ein solcher Friede aber ist nur möglich unter Verurteilung jedes Gedankens an eine Vergewaltigung der Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu ihrer gewaltsamen Einverleibung führen. Keine Annexion, weder eine offene noch eine maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse der Völker sein“.

2 Vgl. „Briefwechsel“, Bd. III, S. 323. „… ganz Europa müsse und werde still auf dem Hintern sitzen, bis die Herren in Frankreich ,La misère et l’ignorance' (das Elend und die Unwissenheit) abgeschafft.“ Die Red.

3 Vgl. „Briefwechsel“, Bd. III, S. 328. „dass gänzlich unbewusst er (Lafargue) unter Negation der Nationalitäten ihre Absorption in die französische Musternation zu verstehen scheine …“ Die Red.

4 Vgl. „Briefwechsel“, Bd. III, S. 421. Die Red.

5 Lateinischer Ausdruck; wörtlich: „Verhaltet das Lachen, Freunde!“ Die Red.

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