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Wladimir I. Lenin 19151000 Die wahren Internationalisten: Kautsky, Axelrod, Martow

Wladimir I. Lenin: Die wahren Internationalisten: Kautsky, Axelrod, Martow

[Geschrieben im Herbst 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija“ Nr. 3 (26). Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 405-411]

Kurz vor der Zimmerwalder Konferenz erschien in Zürich in deutscher Sprache Axelrods Broschüre: „Die Krise und die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“1. In der Züricher Zeitung „Volksrecht erschienen darauf zwei von L. Martow stammende Lobartikel über diese Broschüre. Wir wissen nicht, ob die beiden Verfasser diese Schriften in russischer Sprache herausgeben werden. Es lässt sich keine bessere Illustration finden für die Argumente, mit denen die Führer des Organisationskomitees den Opportunismus und den Sozialchauvinismus verteidigen.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die ganze Broschüre der Kampf gegen die „Gefahren“, die der „Einheit der Partei“ drohen. „Spaltungen und Wirren“ – das ist es, was Axelrod fürchtet, wovon er in unzähligen Wiederholungen bis zum Überdruss immer wieder spricht. Man denke nicht, dass ihm die gegenwärtige Lage der Sozialdemokratie, das Bündnis ihrer Führer mit der einen oder der andern nationalen Bourgeoisie als Wirren und Spaltung erscheint. Nein! Als Wirren bezeichnet Axelrod die klare Scheidung und Trennung von den Sozialchauvinisten. Kautsky wird von Axelrod zu der Kategorie von Genossen gezählt, „deren internationales Empfinden und Bewusstsein über jeglichen Zweifel erhaben sind“ (S. 21). Dabei wird 46 Seiten lang nicht der geringste Versuch gemacht, Kautskys Ansichten einheitlich zusammenzufassen, sie genau zu zitieren und zu untersuchen, ob das Bekenntnis zur Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem gegenwärtigen Kriege nicht den Chauvinismus in sich hat. Kein Wort zur Sache. Kein Laut über unsere Argumente. Hingegen „wird der Obrigkeit rapportiert“: Lenin habe in seinem Referat in Zürich Kautsky einen Chauvinisten, Philister, Verräter genannt… (S. 21). Das ist doch keine Literatur mehr, verehrter Martow und verehrter Axelrod, sondern so ein „Schriftstück“ aus dem Polizeirevier!

Im Westen fehlt … die Gattung von Übermenschen, die jede Parteikrise, jede schwierige Situation ausnutzen, um in der Rolle der einzigen Retter der Partei vor dem Verderben aufzutreten und leichten Herzens eine verwirrende und desorganisierende Innerparteipolitik zu treiben (S. 21 u. 22).

Was ist das? Literatur?

Wenn es aber „im Westen“ keine derartigen Über-Monstra gibt, die „selbst“ einen Kautsky und einen Axelrod für Chauvinisten und Opportunisten halten und über die der werte Axelrod, beim bloßen Gedanken an sie, vor Wut zittert und Ströme einer so vornehmen und wohlriechenden … „Lyrik“ ausschüttet, – wie konnte dann Axelrod zwei Seiten vorher schreiben:

Zieht man die steigende Empörung in immer weiteren Parteikreisen gegen die Durchhaltepolitik unserer verantwortlichen Parteiorgane in Betracht, namentlich in Deutschland und Frankreich, so ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die praktischen Tendenzen der Leninschen Propaganda vermittelst verschiedener Kanäle auch in die Reihen der westlichen Sozialdemokratie eindringen könnten“ (S. 20).

Es handelt sich also nicht um die echt russischen Über-Monstra, die den werten Axelrod kränken! Also der internationale Chauvinismus der offiziellen Parteien in Deutschland und in Frankreich, wie, man merke sich das, Axelrod selbst konstatierte, – er ist es, der die Empörung und den Widerstand der internationalen revolutionären Sozialdemokraten hervorruft. Wir haben es folglich mit zwei Richtungen zu tun. Beide sind international. Axelrod grollt und schimpft, weil er die Unvermeidlichkeit beider Richtungen, die Unvermeidlichkeit des entschiedenen Kampfes zwischen ihnen nicht begreift, und dann auch deshalb, weil er sich geniert, weil es für ihn peinlich und unvorteilhaft ist, offen seine eigene Stellung zu bekennen, – die aber in nichts anderem besteht als in dem Bestreben, Internationalist zu scheinen und Chauvinist zu sein.

Das Internationalisierungsproblem der Arbeiterbewegung ist mit der Frage der Revolutionierung unserer Kampfesformen und Methoden nicht identisch.“

Es ist – seht ihr – eine „ideologische Erklärung“, alles auf den Opportunismus zurückzuführen und die „ungeheure Macht“ der „patriotischen Empfindungen und Vorstellungen“ zu ignorieren, „die Produkte eines viele Jahrtausende währenden historischen Prozesses sind“ …

Man muss eben in den Rahmen dieser (der bürgerlichen) Gesellschaft eine reale Wirklichkeit (gesperrt von Axelrod), objektive Lebensbedingungen, wenigstens für die kämpfenden Arbeitermassen zu schaffen suchen, die jene Abhängigkeit immer mehr abschwächen könnten“, nämlich die „Abhängigkeit der Massen von den historisch gewordenen nationalen und territorialen Gemeinwesen“ (S. 37, 38, 39).

So müssten beispielsweise – erläutert Axelrod seinen tiefsinnigen Gedanken – die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung sowie mancherlei andere wichtige politische Forderungen, ja sogar kulturelle und Bildungsbedürfnisse und -bestrebungen der Arbeiter zum Objekt ihrer internationalen (gesperrt von Axelrod) Aktionen und Organisationen werden“ (S. 39).

Alles kommt auf die „Internationalisierung eben der alltäglichen Kämpfe für Gegenwartsforderungen an“ (S. 39).

Nun, dann ist ja alles gut! Und da haben sich nun gewisse Über-Monstra den Kampf gegen den Opportunismus ausgedacht. Der wahre Internationalismus – fett gedruckt – und der echte „Marxismus“, nicht zufrieden mit den „ideologischen“ Erklärungen, besteht in der Sorge um die Internationalisierung der Versicherungsgesetzgebung! Welch geniale Idee … ohne jeden „Kampf, ohne Spaltungen und Wirren“ – sämtliche internationalen Opportunisten, sämtliche internationalen Liberalen von Lloyd George bis Friedrich Naumann und von Leroy-Beaulieu bis Miljukow, Struve, Gutschkow werden mit beiden Händen diesen wissenschaftlichen, tiefsinnigen, objektiven „Internationalismus“ der Axelrod, Martow und Kautsky unterschreiben.

Perlen des „Internationalismus“: Kautsky – wenn ich mein Vaterland im imperialistischen Krieg verteidige, d. h. in einem um die Beraubung und Versklavung fremder Länder geführten Krieg, und wenn ich den Arbeitern der anderen kriegführenden Länder das Recht auf die Verteidigung ihres Vaterlandes zugestehe, so ist das eben der wahre Internationalismus. Axelrod – man darf sich nicht zu „ideologischen“ Angriffen auf den Opportunismus hinreißen lassen, man muss einen realen Kampf führen gegen den Jahrtausende alten Nationalismus vermittelst der (ebenfalls Jahrtausende währenden) Internationalisierung der Alltagspraxis auf dem Felde der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung. Martow ist mit Axelrod einverstanden!

Axelrods Phrasen von den Jahrtausende alten Wurzeln des Nationalismus usw. haben ganz die gleiche politische Bedeutung wie das Gerede der russischen Leibeigenschaftsverfechter vor 1861 von den Jahrtausende alten Wurzeln der Leibeigenschaft. Diese Phrasen sind Wasser auf die Mühlen der Reaktionäre und der Bourgeoisie, denn Axelrod verschweigt, verschweigt bescheidentlich, dass die Jahrzehnte der kapitalistischen Entwicklung, besonders nach 1871, gerade die objektiven internationalen Verbindungen zwischen den Proletariern aller Länder geschaffen haben, die man gerade jetzt, gerade im gegenwärtigen Augenblick, in international revolutionäre Aktionen umsetzen muss. Axelrod ist gegen derartige Aktionen. Er ist für die Berücksichtigung der Jahrtausende alten Wurzeln der Knute und ist gegen Aktionen, die auf die Abschaffung der Knute gerichtet sind!

Nun, was aber soll mit der proletarischen Revolution geschehen? Das Baseler Manifest 1912 spricht von ihr im Zusammenhang mit diesem, im Herannahen begriffenen – und zwei Jahre später ausgebrochenen – Kriege. Axelrod muss dieses Manifest ja wohl für eine leichtsinnige „Ideologie“ halten – übrigens ein recht netter Ausdruck, ganz im Geiste des Marxismus à la Struve und Cunow! – er verliert auch kein Wörtchen über das Manifest. Die Revolution tut er folgendermaßen ab:

Die Tendenz, den Hebel zur Überwindung des Nationalismus einzig und allein in stürmisch revolutionären Massenaktionen oder Erhebungen zu sehen, hätte noch eine gewisse Berechtigung, wenn wir unmittelbar am Vorabend der sozialen Revolution stünden, ähnlich wie es etwa in Russland seit den Studentendemonstrationen des Jahres 1901 der Fall war, die das Herannahen entscheidender Kämpfe gegen den Absolutismus ankündigten. Aber selbst jene Genossen, die alle ihre Hoffnungen auf das baldige Eintreten einer stürmisch revolutionären Periode bauen, riskieren es nicht, mit Sicherheit zu behaupten, dass der entscheidende Zusammenstoß zwischen Proletariat und Bourgeoisie unmittelbar bevorstehe. Vielmehr rechnen auch sie mit einer jahrzehntelang dauernden Periode“ (S. 40 u. 41).

Und weiter wird dann natürlich gegen „Utopien“ und gegen die „Bakunisten“ in der russischen Emigration gedonnert.

Aber das von Axelrod angeführte Beispiel entlarvt unseren Opportunisten auf eine unvergleichliche Weise. Konnte jemand, wenn er nicht irrsinnig war, im Jahre 1901 „mit Sicherheit behaupten“, dass der entscheidende Kampf mit dem Absolutismus in Russland „unmittelbar“ bevorstehe? Niemand konnte das tun, niemand tat es. Niemand konnte damals wissen, dass vier Jahre später eine von den entscheidendsten Schlachten geschlagen werden würde (Dezember 1905); die nächste „entscheidende“ Schlacht gegen den Absolutismus „steht bevor“, vielleicht 1915/16, vielleicht auch später.

Wenn im Jahre 1901 niemand – und zwar nicht nur nicht mit Sicherheit, sondern überhaupt nicht – die Behauptung aufstellte, dass die entscheidende Schlacht „unmittelbar“ bevorstehe, wenn wir damals behaupteten, dass das „hysterische“ Geschrei der Kritschewski, Martynow und Co. vom „unmittelbaren“ Kampf nicht ernst zu nehmen sei, so behaupteten wir revolutionären Sozialdemokraten damals mit Sicherheit etwas ganz anderes: das nämlich, dass nur hoffnungslose Opportunisten im Jahre 1901 die Notwendigkeit unmittelbarer Unterstützung für die revolutionären Demonstrationen, die Notwendigkeit des Weitertreibens, der Entwicklung dieser Demonstrationen, der Propagierung aller schärfsten revolutionären Losungen zu diesem Zwecke – nicht zu begreifen vermochten. Und die Geschichte gab uns, nur uns recht, sie sprach das Urteil über die Opportunisten und warf sie in der Tat aus der Arbeiterbewegung hinaus, obwohl eine „unmittelbare“ entscheidende Schlacht nicht bevorgestanden hatte, obwohl die erste der entscheidenden Schlachten erst vier Jahre später geschlagen wurde und trotzdem sie nicht die letzte, also auch nicht die entscheidende war.

Es ist vollkommen dasselbe, buchstäblich dasselbe, was gegenwärtig Europa durchmacht. Es kann nicht die Spur eines Zweifels bestehen, dass das Europa von 1915 sich in derselben revolutionären Situation befindet, wie das Russland von 1901. Wir können nicht wissen, ob die erste „entscheidende“ Schlacht des Proletariats gegen die Bourgeoisie in vier Jahren oder in zwei oder in zehn Jahren oder noch später stattfinden wird, – ob es zur „zweiten“ „entscheidenden“ Schlacht nach noch weiteren zehn Jahren kommen wird. Wir wissen aber genau und behaupten „mit Sicherheit“, dass es heute unsere sofortige und unmittelbare Pflicht ist, die anhebende Gärung und die Demonstrationen, die bereits eingesetzt haben, zu unterstützen. In Deutschland ist Scheidemann von der Menge ausgepfiffen worden, in vielen Ländern ist es zu Massendemonstrationen gegen die Teuerung gekommen. Einer solchen direkten und bedingungslosen Pflichterfüllung weicht der Sozialdemokrat Axelrod aus, er rät den Arbeitern von der Erfüllung dieser Pflicht ab. fasst man den politischen Sinn und das Resultat der Axelrodschen Betrachtungen ins Auge, so kann es nur eine einzige Schlussfolgerung geben: Axelrod ist gemeinsam mit den Führern des Sozialpatriotismus und Sozialchauvinismus gegen die unverzügliche Propagierung und Vorbereitung revolutionärer Aktionen. Das ist der Kern der Sache. Alles übrige sind bloße Worte.

Wir stehen unzweifelhaft am Vorabend der sozialistischen Revolution. Dies stellten noch im Jahre 1909 auch die „vorsichtigen“ Theoretiker vom Schlage eines Kautsky fest. („Der Weg zur Macht“), dies bekräftigte auch das einstimmig angenommene Baseler Manifest vom Jahre 1912. Wie wir im Jahre 1901 nicht wussten, ob der „Vorabend“ der ersten russischen Revolution von diesem Zeitpunkt ab noch vier Jahre andauern werde, so wissen wir es auch heute nicht. Die Revolution kann und wird wahrscheinlich sich in langjährigen Kämpfen vollziehen, sie wird einige Perioden des Ansturms kennen, die von konterrevolutionären Zuckungen der bürgerlichen Ordnung unterbrochen sein werden. Der ganze Witz der gegenwärtigen politischen Situation liegt, alles in allem, darin: soll man die revolutionäre Situation, die bereits vorhanden ist, ausnützen durch Unterstützung und Entfaltung der revolutionären Bewegung, – ja oder nein. In dieser Frage scheiden sich zur Zeit politisch die Sozialchauvinisten und die revolutionären Internationalisten. Und in dieser Frage sind Kautsky, Axelrod und Martow im Lager der Sozialchauvinisten, ungeachtet aller revolutionären Phrasen, die sie allesamt und ebenso auch die fünf Auslandssekretäre des Organisationskomitees Vorbringen.

Sein Eintreten für den Sozialchauvinismus verbirgt Axelrod hinter einer ungewöhnlich verschwenderischen Phraseologie. Seine Broschüre kann als ein Muster gelten – als Illustration für die Art und Weise, wie man seine Anschauungen versteckt, wie man die Sprache und das gedruckte Wort zum Verbergen seiner Gedanken benutzt. Axelrod dekliniert unzählige Male das Wort Internationalismus, er tadelt die Sozialdemokraten und ihre Freunde wegen ihrer Abneigung gegen eine Linksschwenkung, er deutet an, dass er „weiter links“ als Kautsky stehe, er spricht auch von der Notwendigkeit einer dritten Internationale, die mächtig genug sein müsse, um alle Versuche der Bourgeoisie zur Entfachung eines Weltbrandes „nicht nur mit Drohungen, sondern mit der Entfachung eines revolutionären Sturmes“ zu beantworten (S. 14) – usw. bis ins Unendliche. Mit den Lippen ist Axelrod bereit, alles mögliche, auch den revolutionären Sturm, zu akzeptieren, in der Tat aber will er die Einigkeit mit Kautsky und folglich auch mit Scheidemann in Deutschland, mit dem chauvinistischen und konterrevolutionären Blatte „Nasche Djelo und mit der Fraktion Tschcheïdse in Russland; in der Tat ist er dagegen, dass man die einsetzende revolutionäre Bewegung jetzt sofort unterstützt und weiter treibt In Worten alles, in Taten nichts. Schwüre und Beteuerungen, man sei „Internationalist“ und Revolutionär, in der Tat aber Unterstützung der Sozialchauvinisten und Opportunisten in aller Welt in ihrem Kampf gegen die revolutionären Internationalisten.

1 P. Axelrods Broschüre: „Die Krise und die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie", erschien in Zürich im August 1915.

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