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N. K. Krupskaja 19281126 Lenin und Tschernyschewski

N. K. Krupskaja: Lenin und Tschernyschewski

Rede in der Festsitzung zum 100. Geburtstag N. G. Tschernyschewskis am 26. November 1928

[Zuerst veröffentlicht 1930 in der „Roman-Gaseta“ Nr, 7/61, S. 35/36. Nach N. K. Krupskaja: Das ist Lenin. Eine Sammlung ausgewählter Reden und Artikel. Berlin 1966, S. 98-103]

Genossen, ich möchte ein paar Worte über den Einfluss sagen, den Tschernyschewski auf Wladimir Iljitsch hatte. In seinen Artikeln und Büchern hat Wladimir Iljitsch nie direkt über diesen Einfluss gesprochen, jedes Mal aber, wenn er auf Tschernyschewski zu sprechen kam, waren seine Worte von Leidenschaft erfüllt. Sieht man Wladimir Iljitschs Werke durch, so erkennt man, dass die Stellen, wo er von Tschernyschewski spricht, besondere Wärme atmen. In Lenins Broschüre „Was tun?“ ist ein indirekter Hinweis auf den Einfluss Tschernyschewskis enthalten. In seinen Ausführungen über die Periode, die der Gründung der Partei vorauf ging, über die Jahre zwischen 1894 und 1898, in denen die Arbeiterbewegung sich rasch entwickelte und Massencharakter annahm, weist Lenin darauf hin, dass die Jugend, die sich dieser Bewegung anschloss, unter dem faszinierenden Eindruck der revolutionären Tätigkeit der vorangegangenen Revolutionäre herangewachsen und erzogen worden war und dass es ihr einen großen inneren Kampf kostete, sich ideologisch vom Einfluss dieser Vorgänger frei zu machen und einen anderen Weg – den Weg des Marxismus – zu gehen. In dieser Charakteristik ist ein autobiographisches Moment enthalten.

Als Persönlichkeit wirkte Tschernyschewski auf Wladimir Iljitsch durch seine Unversöhnlichkeit, seine Standhaftigkeit, durch die Würde und den Stolz, mit denen er sein unerhört schweres Schicksal trug. Aus allem, was Wladimir Iljitsch über Tschernyschewski gesagt hat, spricht besondere Achtung vor seinem Andenken. In schweren Zeiten, als in der Parteiarbeit schwierige Augenblicke zu überstehen waren, wiederholte Wladimir Iljitsch gern eine Stelle aus Tschernyschewskis Werken, wo es heißt: „Der revolutionäre Kampf ist nicht das Trottoir des Newski-Prospekts.“1 Dasselbe sagte Lenin auch 1917, als die Reaktion sich besonders stark bemerkbar machte und die Partei sich zurückziehen musste. Und auch 1918, als mit ganzer Wucht all die Schwierigkeiten in Erscheinung traten, die vor der Sowjetmacht standen, als es galt, den Brester Frieden zu schließen und den Bürgerkrieg zu führen – erinnerte Iljitsch an diese Worte Tschernyschewskis. Aus Tschernyschewskis Beispiel schöpfte er Kraft, und sehr oft wiederholte er, ein revolutionärer Marxist müsse stets auf alles gefasst sein.

Aber nicht nur als Persönlichkeit wirkte Tschernyschewski auf Lenin. Betrachten wir Wladimir Iljitschs erste illegale Schrift „Was sind die ,Volksfreunde‘...?“, so sehen wir dort mit besonderer Anschaulichkeit den Einfluss, den Tschernyschewski auf Lenin ausübte. Die Generation, von der Wladimir Iljitsch sprach – die Jugend, die sich der revolutionären Sozialdemokratie im Jahre 1894 anschloss wuchs in einer Situation auf, in der ringsum sowohl in der Literatur als auch überall sonst nur Rühmliches über die Bauernreform gesagt wurde. Tschernyschewski hatte es verstanden, sie richtig zu beurteilen – Michail Nikolajewitsch hat davon gesprochen. Und Wladimir Iljitsch sagte: Man musste Tschernyschewskis ganze Genialität haben, um bereits in der Epoche der Bauernreformen den Liberalismus so zu beurteilen, wie Tschernyschewski das getan hat, um die Verräterrolle dieses Liberalismus und seinen Klassencharakter aufzudecken.

Betrachten wir Lenins spätere Tätigkeit, so sehen wir, dass Tschernyschewski ihn mit seiner Unversöhnlichkeit gegenüber dem Liberalismus angesteckt hatte. Misstrauen gegen liberale Phrasen, gegen die ganze Haltung des Liberalismus zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Tätigkeit Lenins. Nehmen wir die sibirische Verbannung, den Protest gegen das Credo, nehmen wir seinen Bruch mit Struve und dann den unversöhnlichen Standpunkt, den Lenin gegenüber den Kadetten sowie gegenüber den liquidatorischen Menschewiki bezog, die zu einem Kuhhandel mit den Kadetten bereit waren, so sehen wir, dass Wladimir Iljitsch die gleiche unversöhnliche Linie einhielt, wie Tschernyschewski sie gegenüber den Liberalen, den Verrätern an der Bauernschaft während der Reform von 1861, eingehalten hatte. Ziehen wir jetzt das Fazit von Lenins Tätigkeit, dieser seiner unversöhnlichen Stellungnahme, so erkennen wir, dass die Partei nur dank dieser ihrer Unversöhnlichkeit zu siegen vermochte. Die Frage der Stellung zur liberalen Bourgeoisie ist untrennbar verbunden mit der Frage der Demokratie. In „Was sind die ,VoIksfreunde‘...?“ führte Lenin aus, in der Epoche Tschernyschewskis seien der Kampf um den Demokratismus und der Kampf um den Sozialismus zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen. Bei Beurteilung des bürgerlich-liberalen Demokratismus und des Demokratismus der verbürgerlichten Volkstümler der achtziger Jahre, die sich mit dem Zarismus ausgesöhnt hatten, stellte Lenin ihm den Demokratismus des revolutionären Marxismus entgegen. Tschernyschewski bot ein Beispiel unversöhnlichen Kampfes mit dem existierenden System, eines Kampfes, in dem der Demokratismus untrennbar mit dem Kampf um den Sozialismus verbunden war.

Lenin schätzte Tschernyschewskis Wirken, seinen echten Demokratismus, denn er erkannte, dass dieser Demokratismus in Übereinstimmung mit dem Verhältnis stand, das der Marxismus gegenüber den Massen einnimmt. Die Lehre des Marxismus beleuchtete nicht nur den Kampf auf ökonomischem Gebiet zwischen der Arbeiterklasse und den Kapitalisten, der Marxismus umfasste vielmehr alle Erscheinungen in ihrer Gesamtheit, er beleuchtete die ganze Gesellschaftsordnung, er analysierte sie und zeigte gleichzeitig den Weg, wie der Kampf um den Demokratismus und der Kampf um den Sozialismus miteinander zu verschmelzen sind. Wenn wir betrachten, wie Marx gegen Lassalle kämpfte, auf welchem Boden sich der Kampf zwischen beiden abspielte, wie Marx empört war, dass Lassalle die Bedeutung der revolutionären Selbsttätigkeit der Massen nicht verstand, so werden wir das sozialistische Wesen des revolutionären Marxismus begreifen. Die sogenannten „legalen Marxisten“ beispielsweise verstanden es ganz und gar nicht, denn sie ließen ständig außer Acht, dass Marx sich stets auf die Arbeiterklasse, auf die Massen orientiert hatte. Im Marxismus verschmelzen wirklich Demokratismus und Kampf um den Sozialismus zu einer unzerreißbaren Kette. Es ist daher kein Zufall, dass Wladimir Iljitsch, wo er auf Fragen des Demokratismus zu sprechen kam, sich immer Tschernyschewskis erinnerte, bei dem er zum ersten Mal gelernt hatte, den Kampf um die Demokratie mit dem Kampf um den Sozialismus zu verschmelzen. Wenn wir betrachten, was die Lehre von den Sowjets, von der Sowjetmacht ist, so erkennen wir, dass gerade in dieser Lehre von der Sowjetmacht diese Vereinigung des Kampfes um den Demokratismus und des Kampfes um den Sozialismus verwirklicht wird und am vollständigsten zum Ausdruck kommt. Ich erinnere mich, wie ich 1918 eine populäre Broschüre über die Sowjets und die Sowjetmacht schreiben wollte und wie mir Wladimir Iljitsch eines Tages einen Ausschnitt aus der französischen Zeitung „L'Humanité“ mitbrachte – ich habe den Namen des französischen Genossen, der hier schrieb, bereits vergessen –, einen Ausschnitt, in dem davon die Rede war, dass die Sowjetmacht die am tiefsten und konsequentesten demokratische Staatsmacht ist. Als Wladimir Iljitsch mir diesen Ausschnitt überreichte, sagte er, gerade dieser Seite müsse ich besondere Beachtung schenken, ich müsse in vollem Umfang jenen echten Demokratismus zeigen, der in der ganzen Struktur der Sowjetmacht beschlossen liegt, wo das Proletariat sich zu einem neuen, einem umfassenderen Demokratismus erhebt.

Marx wurde bereits in den sechziger Jahren ins Russische übersetzt. Nun galt es jedoch, Marx auch in die Sprache der russischen Tatsachen zu übersetzen. Dies tat Lenin in seinem Buch „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“. Er konnte das tun dank dem Einfluss, den Tschernyschewski auf ihn ausgeübt hatte. Wladimir Iljitsch sprach mehrmals davon, wie gut Tschernyschewski die russische Wirklichkeit, die mit dem Loskauf der Bauern zusammenhängenden Tatsachen usw. gekannt habe.

In der ersten Periode seiner revolutionären Tätigkeit schenkte Wladimir Iljitsch den philosophischen Überzeugungen Tschernyschewskis weniger Beachtung, obgleich er Plechanows Schrift über Tschernyschewski kannte, in der dieser Seite der Sache besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Doch in jener Zeit interessierte diese Frage Wladimir Iljitsch weniger. Erst 1908, als an dieser Front, an der philosophischen Front, weithin der Kampf entbrannte, erst zu jener Zeit las er Tschernyschewski wieder und sprach von Tschernyschewski als dem großen russischen Hegelianer, als dem großen russischen Materialisten. Später, als 1914 der Krieg herauf – zog und die nationale Frage höchst aktuelle Bedeutung erlangte, betonte Wladimir Iljitsch in seinem Artikel „Über nationale Selbstbestimmung“ besonders, dass Tschernyschewski ähnlich wie Marx die ganze Bedeutung des polnischen Aufstands begriffen hatte.

Betrachten wir also alle diese Momente, so erkennen wir, welch tiefen Einfluss Tschernyschewski auf Lenin, auf sein gesamtes revolutionäres Wirken hatte. Man begreift daher auch Lenins Einstellung zu Tschernyschewski. In Sibirien hatte Wladimir Iljitsch ein Album mit den Bildern derjenigen Schriftsteller, die ihn besonders stark beeinflusst hatten. Darin gab es neben Marx und Engels, neben Herzen und Pissarew auch zwei Bilder Tschernyschewskis und außerdem ein Bild Myschkins, der den Versuch gemacht hatte, Tschernyschewski zu befreien. Jahre später, bereits im Kreml, standen in Wladimir IIjitschs Arbeitszimmer unter den Werken von Autoren, die er ständig zur Hand haben wollte, neben Marx, Engels und Plechanow auch die Sämtlichen Werke Tschernyschewskis, die Wladimir Iljitsch in freien Minuten immer wieder las.

Ich möchte noch auf eine weitere kleine Einzelheit eingehen. In dem schon erwähnten Buch „Was sind die ,Volksfreunde'…?“ erklärt Wladimir Iljitsch, Kautsky habe recht gehabt, als er sagte, dass Tschernyschewski in einer Epoche lebte, in der jeder Sozialist ein Dichter und jeder Dichter ein Sozialist war. Als mir ein Zirkelgenosse zum ersten Mal von dem Neuankömmling von der Wolga, nämlich von Wladimir Iljitsch, erzählte, charakterisierte er ihn mir mit den Worten: „Er ist, sagt man, sehr gelehrt, er hat niemals auch nur einen einzigen Roman, auch nur ein einziges Gedicht gelesen.“ Ich muss gestehen, dass ich sehr erstaunt war zu hören, dass es solche Menschen gebe. Im Eifer der Arbeit aber fand ich in den ersten anderthalb Jahren niemals recht Gelegenheit, Wladimir Iljitsch zu fragen, ob er irgendwelche Romane, Gedichte usw. gelesen habe oder nicht. Und erst in der Verbannung sah ich mit großem Erstaunen, dass Wladimir Iljitsch die damalige schöne Literatur nicht nur las, sondern sie auch kannte. Ich erinnere mich, wie erstaunt ich war, dass Wladimir Iljitsch in Nekrassow und Tschernyschewski Bescheid wusste. Er kannte Tschernyschewskis „Was tun?“ bis in die kleinsten Einzelheiten, er kannte es mit solchen Feinheiten, dass ich nicht umhin konnte, alles Gerede über Wladimir Iljitsch als einen Mann, der keinen einzigen Roman gelesen habe, einfach als glatte Erfindung zu erkennen. Wladimir Iljitsch las schöne Literatur, er studierte und liebte sie. Einen Zug aber gab es bei Wladimir Iljitsch – gesellschaftliches Herangehen verschmolz bei ihm mit künstlerischer Wiedergabe der Wirklichkeit. Niemals trennte er diese beiden Dinge voneinander, und ebenso wie sich Tschernyschewskis Ideen vollständig in seinen künstlerischen Werken widerspiegelten, ebenso liebte auch Wladimir Iljitsch bei der Auswahl belletristischer Bücher besonders diejenigen, in denen diese oder jene gesellschaftlichen Ideen klaren Ausdruck fanden.

Das ist das Wenige, was ich sagen wollte. Was ich gesagt habe, trägt nicht den Charakter persönlicher Erinnerungen. An Gespräche über dieses Thema erinnere ich mich nicht. Im Laufe der Jahre schwindet vieles aus dem Gedächtnis, denn jeden Tag geschieht etwas Neues, und nicht jedes Wort bleibt im Gedächtnis, im Gedächtnis bleiben nur einzelne Umrisse und Gespräche. Mir aber scheint, dass sich in den Büchern, Artikeln und Broschüren Wladimir Iljitschs mit genügender Vollständigkeit der gewaltige Einfluss widerspiegelt, den Tschernyschewski auf ihn ausgeübt hat.

1 N. K. Krupskaja meint Tschernyschewskis Worte „Der historische Weg ist nicht das Trottoir des Newski-Prospekts“, (N. G. Tschernyschewski: Sämtliche Werke, Bd. VII, Moskau 1950, S. 923, russ.)

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