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Wladimir I. Lenin 19041000 Der diensteifrige Liberale

Wladimir I. Lenin: Der diensteifrige Liberale1

[Geschrieben in der zweiten Oktoberhälfte 1904. Zum ersten Mal veröffentlicht als Flugblatt im November 1904, im Verlag der sozialdemokratischen Parteiliteratur W. Bontsch-Brujewitschs und N. Lenins.. Nach Sämtliche Werke, Band 6. Wien-Berlin 1930, S. 490-493]

Wohl ist ein guter Dienst willkommen in der Not,

Doch will nicht jeder sich auf solchen Dienst verstehen,

Und einen Struve gar in unserm Dienst zu sehen,

Ist mehr Gefahr, als uns vom Feinde droht.2

In der letzten Nummer (Nr. 57) des Struveschen „Oswoboschdenije" sind folgende lehrreiche Zeilen zu lesen:

Der Prozess der unaufhörlichen Differenzierung innerhalb der sogenannten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ist in eine neue Phase eingetreten. Die extremen Zentralisten (die „Leninisten", die „Entschiedenen", die „Bolschewisten") beginnen den Boden unter den Füßen zu verlieren, während die Stellung ihrer Gegner – wenigstens in den Auslands„kolonien" – immer stärker wird. Die „Menschewisten" (Martowisten) erhalten fast überall das Übergewicht, sie ergreifen Besitz von einer immer größeren Zahl der Parteiorgane, während sich von den „Bolschewisten" Gruppen und Personen abspalten, die, wenn sie auch die „Plattform" der Minderheit nicht endgültig annehmen, doch gegen sie nicht kämpfen wollen und danach streben, in der bisher noch hin- und hergerissenen Partei den Frieden herzustellen. Auf der Bildfläche erscheinen die sogenannten „Versöhnler", die dem widerlichen Gezänk, in dem die Leute nicht nur die andern, sondern auch sich selber zu verstehen aufgehört haben, ein Ende setzen wollen. Das Auftreten dieser „Versöhnler" zwingt die unversöhnlichen Zentralisten, an die „Herausgabe einer sozialdemokratischen Parteiliteratur" heranzugehen, „die der Verteidigung der prinzipiellen Stellung der Mehrheit des zweiten Parteitages gewidmet ist" (Mitteilung W. Bontsch-Brujewitschs und N. Lenins). Vor uns liegen drei Erzeugnisse dieser neuen Publikationstätigkeit: 1. „An die Partei." Genf 1904, 16 Seiten, Preis 20 cts., 15 Pf.; 2. Galorka: „Nieder mit dem Bonapartismus." Genf 1904. 23 Seiten, Preis 25 cts., 20 Pf.; 3. Galorka und Rjadоwоi: „Unsere Missverständnisse". Genf 1904. Preis 50 cts., 40 Pf. Der Hauptinhalt dieser drei Broschüren besteht in der kritischen Beleuchtung einiger tatsächlich nicht ganz einwandfreier Methoden des „menschewistischen" Kampfes gegen die „Mehrheit" und in der Verfechtung der These, dass die Einberufung des 3. Parteitages zur Regelung der Parteireibungen nicht nur möglich, sondern auch notwendig sei.

Die „Bolschewisten", die fоrmell, vom Standpunkte der Parteiloyalität eine solidere Stellung einnehmen, sind in sachlicher Hinsicht ihren Gegnern nicht gewachsen. Sachlich vertreten diese jetzt etwas Lebensfähigeres und Tatkräftigeres als die „Bolschewisten". Leider tun sie das aber nicht ganz korrekt, oder vielmehr ganz unkorrekt, wobei sie sich oft in der Wahl der Mittel bis zu offener Unanständigkeit versteigen. Als Beispiel einer solchen unkorrekten Verteidigung können die zahllosen Artikel der letzten Zeit in der „Iskra" dienen, ferner die in diesen Tagen erschienene Broschüre N. Trotzkis: „Unsere politischen Aufgaben" (Fragen der Taktik und der Organisation). Genf 1904. 107 Seiten. Preis 75 cts. Diese Broschüre, die sich an vielen Stellen durch leere Redensarten auszeichnet, nimmt jedoch mit Recht verschiedene Ideen unter ihren Schutz, die alle, die sich für die sozialdemokratische Literatur interessieren, bereits aus den Schriften der Herren Akimow, Martynow, Kritschewski und anderer sogenannten „Ökonomisten" kennen. Es ist nur schade, dass der Verfasser die Ansicht der Ökonomisten stellenweise bis zur Karikatur übertreibt."

Wie viel Schadenfreude über die Heimsuchungen unserer Partei ist hierin enthalten! Denn der Liberale kann seiner politischen Natur nach der Schwächung und Zersetzung in der Sozialdemokratie nicht ohne Schadenfreude gegenüberstehen.

Wie tief überlegt und empfunden ist hier die Sympathie für das Wesen der Akimowschen Ansichten der Minderheit. In der Tat, besteht denn nicht die einzige Hoffnung auf die Lebensfähigkeit, die ideologische Lebensfähigkeit des russischen Liberalismus in der Lebensfähigkeit des sozialdemokratischen Opportunismus?

Die neue „Iskra" hat kein Glück mit ihren Anhängern.

Man erinnere sich des berühmten, bemerkenswerten, epochemachenden Plechanowschen „Was sollen wir nicht tun?" Wie fein eingefädelt war diese Politik der Überlistung und der persönlichen Zugeständnisse und wie sehr ist unser Diplomat in Ungelegenheiten geraten. Wie richtig hat der konsequente Opportunist, Herr Struve, die „bedeutsame Wendung" in der neuen „Iskra" erfasst. Den „Abgrund" zwischen der alten und der neuen „Iskra" erkennen jetzt die Führer der neuen „Iskra" selber an.

Man erinnere sich der selbstzufriedenen Behauptung Plechanows in Nr. 65 der „Iskra", „Akimow schrecke niemanden, jetzt könne man mit ihm sogar den Spatzen im Gemüsegarten keinen Schrecken einjagen". Plechanow sagte diese Worte, die keine besondere Milde und Nachgiebigkeit den Leuten vom „Rabotscheje Djelo" gegenüber offenbaren, und erklärte gleichzeitig, auf unserm Parteitage habe „vielleicht nur irgendein Akimow gegen den orthodoxen Marxismus gesprochen". Und gleich nach diesen selbstzufriedenen Erklärungen wird das Flugblatt des Woronescher Komitees ungekürzt veröffentlicht, das sich, wie alle wissen, mit den Genossen Akimow und Bruker einverstanden erklärt, wobei es sich erweist, dass die Redaktion der neuen „Iskra" in Nr. 61 den ganzen prinzipiellen Teil des Flugblatts, in dem der neuen „Iskra" die Sympathie bekundet wird, vor der Öffentlichkeit verheimlicht hat. Wer hat sich als Spatz herausgestellt? Welche Parteikörperschaft kann jetzt mit dem Gemüsegarten verglichen werden?

Man erinnere sich des Verfassers des Aufsatzes „Es ist Zeit!" in der Beilage zu Nr. 73/74 der „Iskra".3 Als offener und ehrlicher Vertreter der Auffassungen, die auf unserm ganzen Parteitag von allen Delegierten des „Sumpfes" vertreten wurden, erklärte dieser Genosse offen, dass er mit Plechanow nicht einverstanden sei, er brachte offen seine Meinung zum Ausdruck, „Akimow hat auf dem Parteitag eher die Rolle eines Gespenstes des Opportunismus, als seines wirklichen Vertreters gespielt". Und die arme Redaktion musste sich wiederum einer gewissen Unteroffiziersoperation4 unterziehen. Die Redaktion versah die Behauptung des Verfassers des Aufsatzes „Es ist Zeit!" mit folgender Anmerkung:

Mit dieser Meinung kann man nicht einverstanden sein. Die Programmauffassungen des Genossen Akimow tragen das offene Gepräge des Opportunismus, was auch der Kritiker des ,Oswoboschdenije' in einer seiner letzten Nummern anerkennt, indem er feststellt, dass Genosse Akimow der ,realistischen' – lies: revisionistischen – Richtung angehört."

Das ist nett, nicht wahr? In den Programmauffassungen des Genossen Akimow, mit dem in der Diskussion über das Programm die Genossen Martynow, Bruker und die Bundisten fast immer und sehr oft auch die Delegierten vom „Sumpf" zusammen gestimmt haben, ist Opportunismus enthalten. Und in seinen taktischen und organisatorischen Auffassungen ist kein Opportunismus enthalten – so ist es wohl, ihr Herren? Schweigt ihr nicht darum über diese Auffassungen, weil die neue „Iskra" mit Pomp neue Meinungsverschiedenheiten in organisatorischen Fragen aufgetischt hat und eben das und nur das sagt, was Martynow und Akimow längst gegen die alte „Iskra" sagten? Wie nützlich wäre es jetzt, Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo" neu herauszugeben!5

Und wen führt die Redaktion der neuen „Iskra" selber als Richter und Zeugen gegen den Genossen Akimow an? – Herrn Struve. Der Richter ist gut, das ist wirklich ein Fachmann, ein Kenner, ein Champignon6 und Sachverständiger in Fragen des Opportunismus. Um so bedeutsamer ist die Äußerung dieses von der Redaktion selber berufenen Zeugen über den Inhalt der Ansichten Trotzkis. Die Broschüre Trotzkis ist aber, das vergesse man nicht, unter der Redaktion der „Iskra", Nr. 72, Seite 10, Spalte 3, erschienen. Die „neuen" Ansichten Trotzkis sind die von Plechanow, Axelrod, Sassulitsch, Starowjer und Martow gebilligten Ansichten der Redaktion.

Leere Redensarten und Akimowismus, letzterer leider in der Form einer Karikatur – das ist der Wahrspruch des mit der neuen „Iskra" sympathisierenden und von ihr berufenen Richters.

Der diensteifrige Liberale hat diesmal, ohne es zu wollen, die echte Wahrheit gesagt.

1 Das Flugblatt „Der diensteifrige Liberale" erschien im „Verlag für sozialdemokratische Parteiliteratur von W. Bontsch-Brujewitsch und N. Lenin", der für die Herausgabe der Literatur der Mehrheit gegründet wurde. Nachdem der Verlag die erste Broschüre von Galorka (Olminski) „Nieder mit dem Bonapartismus!" herausgegeben hatte, erschien in Nr. 73 der „Iskra" vom 1. September 1904 folgende „Erklärung" des Parteirats: „Der Parteirat teilt den Genossen mit, dass nur eine solche Literatur als Parteiliteratur gilt, die unter Verantwortung und im Namen einer der Parteiorganisationen herausgegeben ist. Darum darf auch die Überschrift SDAPR nicht auf Schriften stehen, die von einzelnen Parteimitgliedern herausgegeben werden. Der Parteirat bittet – angesichts der mehrfachen Verletzung dieser in jeder Partei selbstverständlichen Regel – alle Genossen, seinem Beschluss Rechnung zu tragen." Die Mehrheit nahm natürlich von dieser Erklärung des menschewistischen Parteirats keine Notiz.

2 Variante auf eine Strophe aus der Krylowschen Fabel „Der Wanderer der Bär“ Die Red.

3 In dem Artikel „Es ist Zeit! (Brief an die Genossen)", der für die „versöhnlerischen Stimmungen charakteristisch ist, trat S. Rostowjez (Pseudonym), der seinen Brief als „einfaches" Parteimitglied noch vor Veröffentlichung der Juli-Deklaration des Zentralkomitees geschrieben hatte, für eine prinzipienlose und formlose Vereinigung und Aussöhnung der „Mehrheit", der „Minderheit" und des „Sumpfes" ein. Der Verfasser wandte sich entschieden gegen die Einberufung des 3. Parteitags, der, wie er meinte, nur ein „Parteitag der Leiter", der „Führer" sein würde, „die für ihre Handlungen der Gesamtpartei nicht verantwortlich sind"; „wer da weiß, wie die gute Hälfte dieser ,Führer' nach ,Kampf und nach ,Spaltung' geradezu lechzt, der kann mit Gewissheit sagen, dass von einem solchen Parteitag die Herstellung des Friedens in der Partei nicht zu erwarten ist". Rostowjez, der die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten übersah und im Namen des Kampfes gegen den Zarismus auf einer Vereinigung um jeden Preis bestand („einen schlechten Frieden, aber unbedingt einen Frieden!"), schrieb: „Nicht von ,Parteidisziplin', nicht von der Notwendigkeit der ,Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit', nicht von ,Anarchismus' und nicht von schädlichen ,Desorganisatoren', die ,sich vor der Arbeit drücken', müssen wir in unseren Resolutionen sprechen … Es ist Zeit, dass man aufhört, von der Vernichtung der ,Desorganisatoren' zu sprechen – solche Desorganisatoren sind die Hälfte aller Parteimitglieder, die von der Diskussion etwas verstanden haben. Es ist Zeit, zu begreifen, dass wir durch unsere Kriegshandlungen im Kampf gegen den ,inneren Feind' nur unsere Kräfte im Kampf gegen den ,äußeren Feind' lähmen! … Friede mit den ,Anarchisten' und den ,Opportunisten in Organisationsfragen', aber nicht Machtlosigkeit im Kampf gegen den Zarismus!" („Fragen des Parteilebens", Sonderbeilage zu Nr. 73 u. 74 der „Iskra" vom 1. und 20. September 1904).

4 Anspielung auf die Unteroffizierswitwe in Gogols „Revisor“, von der es heißt, sie habe sich selbst durchgeprügelt. Die Red.

5 Die Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo", die am Vorabend der sogenannten Einigungskonferenz (4. bis 5. Oktober 1901) erschien, brachte Artikel von A. Martynow, „Die Enthüllungsliteratur und der proletarische Kampf", und B. Kritschewskis, „Prinzipien, Taktik und Kampf". Diese Artikel, die einen ausgesprochen „ökonomistischen" Charakter trugen, hat Lenin in „Was tun?" einer Analyse unterzogen.

6 In Werke, Band 7, Berlin 1956, S. 495 steht „Champion“

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