Glossar‎ > ‎

Einigungskonferenz 1901

Die sogenannte „Einigungskonferenz", an der 16 Mitglieder des „Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten" – B. Kritschewski, A. Martynow, W. Akimow, Kruglow-Grinewitsch, W. Iwanjschin, Somow-Peskin Bisk-Pawlow u. a. (darunter 5 Vertreter des Auslandskomitees des ,Bund" – A. Kremer-Wolf, W. Kossowski, Grischin-Kopelson, Mutnik-Gleb, Josef Mall-John), ferner 8 Mitglieder der revolutionären Organisation „Sozialdemokrat" – D. Kolzow, Lindow, L. Axelrod-Orthodox u. a (darunter 3 Mitglieder der Grupppe Befreiung der ArbeitPlechanow, Axelrod, Sassulitsch), 6 Mitglieder der Auslandsorganisation der „Iskra-Sarja" (Lenin, Martow,Krupskaja, Dan u. a.) und 3 Mitglieder der Gruppe „Borjba" (Rjasanow, Steklow, Gurewitsch-Danewitsch) – teilnahmen, fand am 4. und 5. Oktober 1901 in Zürich statt. Ein oder zwei Tage vor Eröffnung der Konferenz fand eine Beratung der Gruppe „Befreiung der Arbeit" und der „Iskra" statt, auf der Lenin als Referent der „Iskra"-Gruppe für die Konferenz bestimmt wurde. Über die Beratung der Iskraleute und die Konferenz sind die Erinnerungen der L. I. Axelrod-Orthodox, die an der Konferenz teilgenommen hat, erhalten (mit Ausnahme einiger Zeilen von N. K. Krupskaja und von J. Steklow sind sonst keine Erinnerungen an die Konferenz vorhanden). L. I. Axelrod-Orthodox erzählt folgendes über diese Episode in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie:

Die Unterhaltung (die Beratung der „Iskra"-Leute. Die Red.) wurde ohne Vorsitzenden und ohne Sekretär in kameradschaftlicher Form und ohne irgendwelche Formalitäten geführt.

Es handelte sich um das Programm der Konferenz, um die Stellung, die wir revolutionäre Sozialdemokraten auf dieser Tagung einnehmen sollten. Lenin trat für den endgültigen Bruch mit den ,Ökonomisten' ein. Nach seiner festen Überzeugung hatten die ,Ökonomisten' den Weg des Revisionismus beschritten und er hielt eine gemeinsame Arbeit mit ihnen für völlig unmöglich. Er stützte sich bei seinen Behauptungen auf die Leitartikel des ,Rabotscheje Djelo'. Der Opportunismus der ,Rabotscheje-Djelo'-Richtung habe jetzt eine theoretische Beleuchtung erhalten, darum sei ein entschiedener Kampf gegen ihn eine dringende Notwendigkeit. Den Standpunkt Lenins teilten P. B. Axelrod und V. I. Sassulitsch. Einen entgegengesetzten Standpunkt entwickelte Plechanow. Er befürwortete eine Vereinigung mit den ,Ökonomisten', und wies dabei hin auf die Notwendigkeit einer solchen Vereinigung zum Kampfe gegen die drohende Gefahr einer wieder auferstehenden volkstümlerischen Bewegung. Von solchen Erwägungen ausgehend, riet er zu Kompromissen, natürlich nicht prinzipiellen Charakters. Plechanow wurde von Martow und mir unterstützt. Diese Meinungsverschiedenheiten riefen jedoch bei den Anwesenden keine Gereiztheit hervor. Die ganze Unterhaltung verlief außerordentlich friedlich, ein endgültiger Beschluss jedoch wurde, soweit ich mich erinnere, nicht gefasst.

Ferner wurde die Frage aufgeworfen, wer damit beauftragt werden soll, auf der Konferenz mit einer Kritik des ,Ökonomismus' aufzutreten. Es verstand sich ganz von selbst, dass diese Aufgabe Plechanow zufallen musste, und alle Anwesenden traten einstimmig dafür ein. Plechanow aber lehnte ab mit der Begründung, dass es zweckmäßiger sei, wenn irgend jemand anders gegen den Opportunismus spreche, denn seine, Plechanows, Stellung zum Revisionismus sei ja hinlänglich bekannt. Zum Schluss seiner Ausführungen schlug Plechanow sehr dringend Lenin vor. Lenin war etwas betroffen und lehnte zunächst ab. Der Gedanke, einen so klassischen Redner und glänzenden Dialektiker, wie Plechanow, zu ersetzen, schien ihn etwas verlegen zu machen. Plechanow aber bestand auf seinen Vorschlag und von den Anwesenden sprach niemand dagegen. Nachdem Lenin sich damit einverstanden erklärt hatte, wandte er sich sofort an Pawel Borrissowitsch (Axelrod. Die Red.) mit der Frage, ob er über das gesamte erforderliche Material verfüge und wann er es erhalten könne. Nachdem er die Auskunft erhalten hatte, erhob er sich und ging sofort weg. Offenbar war er schon in Gedanken mit der Rede, die er am nächsten Tage halten sollte, beschäftigt …

Am nächsten Morgen (4. Oktober) wurde die Konferenz eröffnet. Das Wort wurde Lenin erteilt; sein Referat war sorgfältig und gut überlegt; die Sätze folgten logisch aufeinander: er hatte Material und Tatsachen von schlagender Beweiskraft gesammelt. Er sprach mit großem Temperament, frei, aber beherrscht, überzeugt und sachlich, hier und da einige bedeutsame Worte wiederholend und betonend. Er wirkte offensichtlich auf die Zuhörerschaft, riss sie mit und hatte sie völlig in seinem Bann. Die Gegner wurden immer wütender. Das war an dem Gesichtsausdruck ihrer Führer zu sehen. Unsere Anhänger dagegen hörten mit voller Befriedigung und großer Begeisterung zu. Besonders begeistert aber waren die ,Alten': Axelrod, Sassulitsch und Plechanow.

Zur Antwort nahm einer der Redakteure des ,Rabotscheje Djelo', der Theoretiker dieser Richtung, der bekannte Emigrant B. N. Kritschewski, das Wort. Kritschewski war im allgemeinen kein schlechter Redner. Er sprach klar, energisch und eindringlich und verfügte über viel Tatsachenmaterial. Der offenkundig große Erfolg Lenins aber brachte ihn aus dem Konzept, und zerschlug die von ihm vorbereitete Rede. Kritschewski sprach bald ganz ohne Schwung, bald mit übertriebenem, unnatürlichem Pathos, und trieb schließlich seinen revisionistischen Standpunkt ins Extrem. Er fiel, wie man so sagt, durch. Der Erfolg auf der einen und der Misserfolg auf der anderen Seite steigerte noch die Gereiztheit der Leute vom ,Auslandsbund'. Schon in dieser ersten Sitzung entstand eine äußerst gespannte Atmosphäre: sichtlich reifte die unvermeidliche Spaltung heran. Die weiteren Sitzungen besserten die Lage nicht, im Gegenteil, sie verstärkten noch den Antagonismus zwischen den beiden Richtungen. Von den Reden nach dem Referat Lenins zeichnete sich nur eine mit Leidenschaft gehaltene Rede Martows aus. G. V. Plechanow und P. B. Axelrod beschränkten sich auf kurze Bemerkungen, und enthielten sich ausführlicher Reden, weil sie es für zweckmäßig hielten, den Kampf gegen die ,Ökonomisten' Genossen zu überlassen, die vor kurzem aus Russland gekommen waren; beschuldigten doch die Ökonomisten die Gruppe ,Befreiung der Arbeit' unaufhörlich des Dogmatismus, den sie aus ihrer Isolierung von der russischen Wirklichkeit erklärten".

Die Rede Lenins, die er am 4. Oktober auf der Einigungskonferenz gehalten hat, ist nicht erhalten. In den „Dokumenten" der Konferenz wird über die Rede Lenins nur folgendes gesagt: Nachdem die Juniresolution verlesen war, setzte „der erste Redner, Genosse Frei, ausführlich den unversöhnlichen Widerspruch zwischen der prinzipiellen Vereinbarung und den Artikeln Kritschewskis und Martynows in Nr. 10 des ,Rabotscheje Djelo' auseinander und legte dann dem Büro im Namen der Auslandsabteilung der Organisation ,Sarja und Iskra' und der Organisation ,Sozialdemokrat' folgende Fragen vor: (…)" Die Debatten drehten sich hauptsächlich um die Artikel in Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo", die von den auf der Junikonferenz ausgearbeiteten Leitsätzen stark abwichen. Nachdem am zweiten Tag der Konferenz die Anhänger des „Rabotscheje Djelo" opportunistische Abänderungen und Ergänzungen zur Juniresolution beantragt hatten, verlangten die „Iskra"-Leute eine Unterbrechung für eine Beratung. Nach ihrer Rückkehr in den Sitzungssaal verlas Dan im Namen der „Iskra-Sarja" und des „Sozialdemokrat" eine Erklärung, worauf die Anhänger der revolutionären Sozialdemokratie die Tagung verließen.

Kommentare