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Wladimir I. Lenin 19050712 Brief an das Zentralkomitee der SDAPR

Wladimir I. Lenin: Brief an das Zentralkomitee der SDAPR1

[Geschrieben am 29. Juni/12. Juli 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 6-8]

Liebe Freunde! Zu Euren letzten Briefen habe ich zu sagen, dass ich mit allen Beschlüssen einverstanden bin, außer zweien: 1. gegen die Ernennung von Matrjona als Vertrauensperson protestiere ich entschieden und bitte eindringlich, sie zu überprüfen 2. Was Plechanow anbelangt, bin ich äußerst erstaunt, dass ihr die Frage, die schon mit Winter hier bei uns aufgerollt wurde, mit Schweigen übergeht. Haben wir das Recht, jemanden, der nicht in die Partei einzutreten und den 3. Parteitag nicht anzuerkennen wünscht, als Vertreter der Partei zu bestimmen? Hat er doch jetzt schriftlich erklärt, dass er den 3. Parteitag als nicht rechtmäßig betrachtet und Vertreter nur von beiden Fraktionen sein werde. Hier haben schon damals, als Winter hier war, verschiedene Genossen darauf hingewiesen, dass wir Plechanow, wenn wir ihn ernennen, nur verwöhnen und endgültig verderben. Ich war zuerst für Plechanow, doch jetzt sehe ich ein, dass es nicht angeht, ihn zu ernennen, ohne Bedingungen zu stellen. Stellt Euch nur konkret vor, was es bedeutet, im Büro einen Menschen als Vertreter zu haben, mit dem niemand spricht, den man unmöglich zwingen kann, tatsächlich das ZK und nicht sich selbst zu „vertreten"! Wir haben jetzt erreicht, dass das Büro (das Internationale Sozialistische Büro) mit uns in direkten Beziehungen steht, und wir sehen, dass da nicht wenig Angelegenheiten zu erledigen sind, sowohl finanzielle als auch andere (Aufrufe im Namen Russlands und über Russland, worüber ich ihnen kürzlich schrieb: der Vertretungsmodus, worüber sie mich unlängst befragten, usw.). Das Büro schrieb, dass wieder irgendein „Vorschlag Bebels" vorliege (der noch nicht zu uns gelangt ist); der Alte hat sich wohl wieder einmal aufgemacht, „Frieden zu stiften" (Kautsky brachte einen äußerst niederträchtigen Artikel über die deutsche Ausgabe des „Berichtes"). Stellt Euch einmal vor, in welche Lage wir geraten, wenn Plechanow unser Vertreter ist und Plechanow mit Bebel über die Frage des „Friedens" zu verhandeln hat!?? Ich verstehe sehr gut, was für schwerwiegende Gründe uns alle und insbesondere Euch veranlassen, „Frieden" zu wünschen, die Ernennung Plechanows zu wünschen, aber ich habe mich überzeugt, dass solche Schritte, ohne reale Sicherung des Friedens, nur verfehlte Schritte sein werden, dass sie die Sache noch mehr verwirren, neue Spaltungen, Vertragsbrüche, gegenseitige Vorwürfe, neue Erbitterungen hervorrufen und das Werk der Vereinigung nur hinausschieben werden. Nach meinem Dafürhalten wird alles Gerede über die Vereinigung eine hohle Phrase bleiben, solange nicht auf Grund der Erfahrung ein durchführbarer Plan der Vereinigung ausgearbeitet wird: die Dinge entwickeln sich nach dieser Richtung, es gilt, einige Monate zu warten. Mögen sich alle über die Unsinnigkeit der Konferenzbeschlüsse klar werden, möge die Erfahrung ihr idiotisches „Organisationsstatut" erledigen, möge die Erfahrung ihre Ansprüche ein wenig herabsetzen (denn im Allgemeinen stehen die Dinge bei uns besser, und wir schreiten offensichtlich dem Siege entgegen) – dann werden direkte Verhandlungen, ohne Vermittler, zwischen den Zentralen beginnen, dann werden wir einen modus vivendi2 ausarbeiten (ob auf einmal oder nach zwei-, dreimaligem Versuch, kann ich natürlich nicht sagen). Aber jetzt heißt es kämpfen.

Mein Vorschlag ist: Plechanow einen „Vorschlag" in Eurem Sinne zu machen, aber unter der Bedingung, dass er bereit ist, den 3. Parteitag anzuerkennen, in die Partei einzutreten und sich ihren Beschlüssen zu fügen. Durch einen solchen Schritt würden wir sowohl die äußere Form wahren als auch jeder möglichen Verwirrung vorbeugen.

Bis zum Empfang Eurer Antwort werde ich Plechanow keinerlei Vorschläge machen. Ich bitte sehr, die Entscheidung bis zu unserer Zusammenkunft im September aufzuschieben.

Ich bin äußerst erstaunt, dass Ihr auch nicht ein Wort über den „Offenen Brief"3 schreibt, der mir zugesandt wurde und der von Reinerts Hand geschrieben ist. Was? Wie? Ich verstehe nicht. Weshalb steht in den Beschlüssen nicht ein Wort davon?? Schreibt baldigst, ob man ihn im Zentralorgan drucken soll. Wenn ja, so möchte ich sehr um eine kleine Abänderung in Bezug auf die taktischen Meinungsverschiedenheiten bitten, um nicht mit meiner Broschüre, über die Euch Ljubitsch berichten wird, in Widerspruch zu geraten. Ich hoffe wir gehen hier nicht auseinander, und würde bitten, mir womöglich zu erlauben, diese Änderung vorzunehmen.

Ich bin äußerst erstaunt, dass der „Bericht" in Russland nicht vollständig erscheint. Das ist ein Skandal!! Treibt doch um Himmelswillen alle Techniker in dieser Sache zur Eile an!!

Für die Zusendung der ausführlichen Beschlüsse, der Briefe der Parteikomitees und der Flugblätter sind wir außerordentlich dankbar. Es kommt nun endlich zwischen uns so etwas wie eine regelmäßige Verbindung in Gang! Verlasst diese Gepflogenheit, bitte, nicht und sucht einen guten Sekretär für Petersburg. Wir brauchen äußerst dringend Nachrichten aus Petersburg über Parteiangelegenheiten, über die Liberalen, über die Fragen des Parteilebens, die in den Zirkeln behandelt werden usw. usw. Vergesst nicht, dass der Bund und die Menschewiki besser informiert sind als wir hier.

Mit festem Händedruck

N. Lenin

1 Die Beschlüsse des ZK waren Lenin durch E. D. Stassowa in zwei Briefen mitgeteilt worden. Auf Lenins Brief antwortete Stassowa u. a.: „Wegen Matrjona wurde entschieden, dass der Beschluss doch in Kraft bleiben soll, da derselbe mit Mehrheit gefasst worden ist."

2 Verkehrsfuß, leidliches Verhältnis. Die Red.

3 Der offene Brief des ZK der SDAPR an die Organisationskommission war von A. A. Bogdanow geschrieben und zum ersten Mal in den „Flugschriften des ZK" abgedruckt. Dann wurde er in Nr. 11 des „Proletarij" vom 27. Juli/9. August 1905 und in der Beilage zur Broschüre „Arbeiter über die Parteispaltung" abgedruckt.

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