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Leo Trotzki 19170914 Wann endet der verdammte Krieg?

Leo Trotzki: Wann endet der verdammte Krieg?1

[L. Trotzki „Wann endet der verdamme Krieg?", Ed. „Priboj", Petersburg, 1917. Eigene Übersetzung nach Л. Троцкий. Сочинения. Том 3, часть 1. Москва-Ленинград, 1924]

Der vierte Kriegsherbst kommt auf Russland zu. Es regnet, der Herbstwind pfeift an den Straßenkreuzungen und auf den Feldern. In den Städten unserer Heimat ist es düster und befrohlich, in ihren armen Dörfern nicht glücklich. Und dort, an der Front, entlang unserer schwarzen Grenze, kommen unsere Brüder, russische Arbeiter, russische Bauern um. Der Boden wird mit Regen und Blut getränkt. Die Artillerie donnert höllisch. Die Menschen greifen an, brüllen wie wahnsinnig, fliehen in Verzweiflung, werden ohnmächtig, sterben. Sie sterben ungezählt und unregistriert ...

Und das ist das vierte Jahr. Und das Ende ist nicht sichtbar. Es ist unmöglich, auf halbem Weg stehen zu bleiben – sagen die Herrscher aller Länder. „Wir müssen den Krieg bis zum Ende bringen." - „Wir müssen die Flügel des räuberischen deutschen Drachens ein für allemal stutzen!“ - sagen „Patrioten" von Russland, Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. „Hörst ihr, meine deutschen Untertanen?" Der abgedeckte [?] deutsche Kaiser leckt Blut: „Unsere Feinde wollen uns mit Pulver vernichten. Näher an meinem Thron, deutsche Arbeiter und Bauern: es ist notwendig, den Krieg zum Ende zu bringen, um den Sieg zu vollenden!“ So beziehen sich die Herrscher beider Lager aufeinander und beantworten die Offensive mit einem Angriff, die Zerstörung mit Verwüstung und den Tod mit Tod. „Wir müssen den Krieg bis zu Ende führen.“ Und wo liegt das? Der vierte Herbst verschlingt schon den kalten Regen des Schlachtfeldes, aber es gibt kein Ende.

Sieben Millionen Menschen wurden während des Krieges in Europa getötet; Sechstausend Menschen werden durchschnittlich pro Tag getötet. Ja, fünf Millionen Krüppel erzeugte das Gemetzel in allen kriegführenden Ländern. Es gibt noch einen Winterfeldzug. Und bald wird jedes Volk von den Herrschern seines Landes hören: „Im nächsten Frühjahr werden wir eine große, entscheidende Offensive beginnen ... Es ist notwendig, den Krieg bis zu Ende zu führen!"

Seit langer Zeit sind Generäle, Diplomaten, Politiker aller Länder überzeugt, dass in diesem Krieg keine der Parteien einen vollständigen Sieg erringen wird. Deutschland hat einen großen Vorteil zu Lande, aber es ist von allen Meeren abgeschnitten. Und die Hauptsache ist, dass keine Seite den Feind zwingen kann, den Frieden aus den Händen des Siegers zu nehmen. Nun nahmen die Deutschen Riga, die Front bewegte sich ein paar Dutzend Werst entlang der Knochen der gefallenen Soldaten, aber der Krieg näherte sich dem Frieden nicht um einen einzigen Zoll. Die Italiener sind um den Preis schrecklicher Anstrengungen hier und da vorgerückt. Die französische Front wurde um den Preis unzähliger Opfer auf beiden Seiten fast an der gleichen Stelle gehalten. Krieg ohne Sinn und ohne Ergebnis. Wie ein blindes Pferd, das zum Antreiben einer Mühle im Kreis läuft, sich mit aller Kraft anstrengt, und doch am selben Platz bleibt, so verbluten die viele Millionen starken Armeen Europas, unfähig, mit all den Toten den toten Punkt des Krieges zu verlassen.

Und alle Regierungen sehen, verstehen das. Aber sie sind ohnmächtig, Frieden zu schließen. Die Regierungen haben Angst vor Frieden. Sie erwarten, dass der erste Tag des Friedens ein Tag der Abrechnung sein wird.

Die erschöpften Soldaten aus den blutigen Gruben, die Schützengräben genannt werden, werden sich in den verarmten verlassenen Städten und Dörfern und zusammen mit Millionen von Krüppeln, mit Millionen Witwen und Waisen, mit Millionen von alten Männern und alten Frauen, die ihre letzte Unterstützung verloren haben, umsehen, sie werden gegen die Regierungen mit einem Fluch und Drohungen ihre Hände heben: „Ihr seid Schuld an allem, ihr Kaiser und Könige, Präsidenten und Minister, bürgerliche Abgeordnete, Bankiers, Kapitalisten, ihr falschen Zeitungen, ihr Bischöfe, Priester, Rabbiner und Pastoren! Ihr habt den Krieg veranlasst, den blutigsten und verabscheuungswürdigsten von allem. Zu eurer immerwährenden Schande wart ihr es, die den Krieg vorbereitet und gepredigt haben, den ihr mit dem Segen des Gotteshauses, der Kirche, der Synagoge und der Moschee gesegnet habt! Sie haben uns und unseren Brüdern alles weggenommen: Leben, Gesundheit, die Früchte unserer Arbeit, und im Gegenzug haben Sie Armut und neue Ketten gegeben!“ Und unter dem Joch ihrer eigenen Verbrechen kümmern sich die Regierungen aller kriegführenden Länder nun um eine Sache: die schreckliche Stunde der Abrechnung fernzuhalten. Aus Angst, für die letzten drei Winterkampagnen geradezustehen, bereiten sich die Regierungen auf die vierte vor, so wie ein verlierender Spieler das Spiel verschleppt, um die Stunde des Konkurses zu verschieben.

Deutsche Mütter und Frauen gehen auf die Straßen der Städte und fordern Frieden und Brot. Ängstliche Unzufriedenheit erfasst die verhungernden Massen Deutschlands. Und jetzt zwingt der Kaiser seine Armee, neue Anstrengungen zu unternehmen. Statt Brot und Frieden erhält das deutsche Volk ein Telegramm über die Einnahme von Riga. Hindenburg gibt den deutschen Arbeitern und Bauern die Nachricht, dass die Leichen ihrer Brüder bald auf den Straßen nach Petersburg liegen werden. „Vorwärts Soldaten", drängt der Hohenzoller, „dort, unter den Mauern der Peter-und-Paul-Festung, findet ihr den gewünschten Frieden!"

Und zur gleichen Zeit erklärt die russische Regierung: Jetzt, da die deutschen Truppen uns wieder angreifen, können wir weniger über den Frieden sprechen als je zuvor. „Verflucht sei, wer jetzt vom Frieden spricht!" rief der Ministerpräsident Kerenski beim Treffen in Moskau aus. Wir können nur dann über Frieden reden, erklären die sogenannten „Patrioten“ wenn wir den Feind aus Russland verjagen.

Mehr als drei Jahre hat es gedauert, bis die deutsche Armee durch Offensiven und Rückzüge ihre gegenwärtigen Positionen erreicht hat. Haben wir Grund zu der Annahme, dass wir die Deutschen in weniger als drei Jahren zu den Grenzen von 1914 zurückwerfen werden? Und wenn unsere Offensive erfolgreich ist, wird die deutsche Regierung nicht sagen: Jetzt, da die russischen Truppen wieder die Grenzen Deutschlands bedrohen, muss der Gedanke an den Frieden fallen gelassen werden!

Und wenn in diesem Winter und im nächsten Frühjahr militärische Aktionen für uns ungünstig sind? Was dann? Wo und wann wird der Frieden geschlossen? Auf was können das russische Volk und die arbeitenden Massen der ganzen Welt hoffen? Oder ist Europa und mit ihm Russland verurteilt zu verbluten? Die Völker verklammerten sich ineinander, peinigten sich gegenseitig, heulten vor unerträglichen Schmerzen und fanden keine Rettung. Und jene, die über den Völkern stehen, ihre Regierungen, monarchische und republikanische, betäuben immer noch mit all ihrer Macht das Bewusstsein und das Gewissen ihrer Untertanen – mit Kriegspredigten und Disziplinknuten. Wir sehen, wie im Interesse des Krieges die kaum abgeschaffte Todesstrafe an der Front wieder eingeführt wird. Und nun, nach dem Fall von Riga, wird die Frage der Einführung der Todesstrafe im Hinterland plötzlich aufgeworfen. Der Krieg verschlingt nicht nur menschliches Leben und Eigentum, sondern auch unsere ganze Revolution, zusammen mit den großen Hoffnungen, die von ihr geweckt wurden.

Der langgezogene Krieg ist der Untergang für Europa und vor allem für Russland. Alle kriegführenden Länder werden durch den Krieg verwüstet. Ein Jahrzehnt wird es dauern, das wiederherzustellen, was jetzt zerstört wird. Aber reichere Länder, wie Deutschland und England, werden sich früher erholen. Und unser rückständiges Russland, das durch einen unerträglichen Krieg völlig verwüstet ist, kann die Beute der ausländischen – deutschen, britischen oder amerikanischen – Kapitalisten werden? Unabhängig vom Verlauf der militärischen Operationen an der Kriegsfront selbst, je länger es dauert, desto sicherer wird Russland zu einer Kolonie ... Frieden und nur Frieden kann die Revolution, Russland, ganz Europa retten!

Also uns vor Wilhelm verbeugen, ihm alles geben, was er sich unter den Nagel reißen konnte?"

Nein, wir appellieren nicht an Wilhelm. Wir suchen nicht nach den Gefälligkeiten oder der Freundschaft des Berliner Henkers. Aber wir erwarten nichts Gutes von allen anderen Regierungen, die bis zur Taille im Blut ihres eigenen Volkes waten. Und wir haben kein Vertrauen in unsere eigene Regierung, die aus der Revolution erwachsen ist, aber auf die Seite ihrer schlimmsten Feinde getreten ist. Wir wenden uns nicht mit mahnenden Worten an die Regierungen und wir erflehen nicht die Gnade von den Feinden. Nein, wir wenden uns an das Volk, an Arbeiter, Arbeiterinnen, Soldaten, Bauern mit einem Appell, ihre Bemühungen im Kampf um den Frieden zu verdoppeln und zu verdreifachen.

Regierungen kommen und gehen wie Schaum auf einer Welle. Und hier wird das Schicksal von Hunderten von Millionen Menschen entschieden, das Schicksal künftiger Generationen, das Schicksal der ganzen Menschheit. Räuberische Wahnsinnige und kopflose Feiglinge, die an der Spitze der kriegführenden Staaten stehen, wiederholen mit der Sturheit von Verrückten: „Krieg bis zum Schluss!". Schlagen wir diesen Verbrechern mit einem nationalen Schrei auf den Kopf: „Schluss mit dem Krieg!"

Lügen und Wahrheit

In allen kriegführenden Ländern leiden die Volksmassen gleichermaßen und vergehen im Krieg. Und überall werden sie von oben getäuscht. Ihnen wird gesagt, dass dies ein Krieg für das Recht, für die Unabhängigkeit, für die Freiheit sei. Uns wird gesagt, dass dies ein Krieg für die Revolution sei. Unwahrheit! Betrug! Die Völker wurden nicht für ihre Freiheit in den Schlachthof gestürzt, sondern für die Interessen ihrer Versklaver. Und jetzt bluten die Völker weiter, weil einige Kapitalisten immer noch hoffen, die Oberhand zu erlangen, während andere, die ihre Ziele nicht erreicht haben, den Frieden fürchten als eine schreckliche Prüfung. Wenn wir, die Russen, wirklich für die Revolution kämpften, wie konnten wir Hand in Hand mit den britischen Imperialisten, amerikanische Börsenmakler, französische Geldverleiher handeln, geschworenen Feinde der russischen Revolution? Hätten unsere eigenen Purischkewitsche, Rodsjankos, Miljukows, Gutschkows, Kornilows und Alexejews die Fortsetzung des Krieges gefordert, wenn der Krieg wirklich die Revolution stärkte und sie nicht zerstörte? Unwahrheit! Betrug! Wir kämpfen nicht um der Idee willen, nicht um der Interessen des Volkes willen, sondern unter dem Stock, auf Befehl der Imperialisten, der russischen und verbündeten, wie die Soldaten von Deutschland und Österreich unter dem Stock ihrer Dynastien, ihres Adel und ihrer Bourgeoisie töten und sterben. Dieser Krieg ist die gegenseitige Zerstörung der kapitalistischen Sklaven, die von den Sklavenhaltern ins Feuer getrieben werden. Das ist die lautere Wahrheit über den Krieg!

Falsche „Sozialisten“

Die besitzenden Klassen und ihre Diener verbergen diese Wahrheit sorgfältig vor dem Gewissen des Volkes. In allen Ländern haben sich viele „Sozialisten" losgesagt, die ihrer Bourgeoisie helfen, Sand in die Augen der arbeitenden Massen zu streuen. Diese „Sozialpatrioten" in Deutschland unterstützen die Blutarbeit von Hindenburg. In Frankreich und England sitzen sie in den Ministerien zusammen mit den Kapitalisten und fordern die Arbeiter auf, unterwürfig das Blut zu vergießen. Schließlich scheinen in Russland diese „Sozialisten", die in Wirklichkeit auf den Sozialismus verzichten, die größere Hälfte der Regierungsgewalt in der Hand zu halten. Kerenski, Sawinkow, Tschernow, Awksentjew, Skobelew, Prokopowitsch ... das sind alles Minister von zwei „sozialistischen" Parteien: Sozialrevolutionären und Menschewiki. Und diese patriotischen Sozialisten verbreiten nicht nur im Volk falsche Vorstellungen über den Krieg, sondern bestrafen auch die mit Tod und Zwangsarbeit, die den Krieg bekämpfen. Das sind nicht unsere Leute, nicht Freunde des Volkes. Nein, das sind Deserteure, Überläufer in das Lager der Bourgeoisie.

Internationalisten

Aber es gibt noch andere Sozialisten in allen Ländern, treue und ehrliche Kämpfer für die Interessen der arbeitenden Menschen, unversöhnliche Feinde der Ausbeuter und ihres schändlichen Kriegs. Das sind die internationalistischen Sozialisten. Sie sagen den Menschen die Wahrheit. Sie nennen die Dinge bei ihrem eigenen Namen: ein feiges Gemetzel wird nicht in einer revolutionären Farbe neu gestrichen, Raubtiere werden Raubtiere und Raub wird Raub genannt. Sie wollen keinen Schacher mit ihrem eigenen Gewissen oder der Schamlosigkeit der besitzenden Klassen. Die Internationalisten rufen die arbeitenden Massen aller Länder zu einem unversöhnlichen Kampf gegen den Krieg und die imperialistischen Regierungen auf.

Der Hauptfeind des Volkes steht in seinem eigenen Land!" rief der revolutionäre Führer des deutschen Proletariats Karl Liebknecht aus. Je entschlossener, härter, mutiger die Arbeiterklasse in jedem Lande gegen ihre eigene Bourgeoisie, gegen ihre kriegerischen Pläne und diplomatischen Machenschaften kämpfen wird, desto eher wird die Stunde des Friedens schlagen! Der gleiche Schrei wurde an die österreichischen Arbeiter von Friedrich Adler gerichtet, einem heroischen Kämpfer gegen die Habsburger Monarchie und die ihr dienenden Verbrecher. In allen kriegführenden Ländern haben die Internationalisten in diesen drei Jahren Zugang zur Seele der Massen gefunden, die von der Bourgeoisie getäuscht wurden. Der unglückliche Soldat, der in den Schützengräben sitzt, hungrig, mit Läusen bedeckt, unter seinem eigenen Unrat und auf den Tod durch Eisensplitter oder Giftgase wartet, dieser Soldat fühlt die Wahrheit in der revolutionären Predigt der Internationalisten.

Denke, Soldat, und verstehe!

Die gegenwärtige Gesellschaft ist so gebaut, dass eine unbedeutende Minderheit sowohl über die Arbeit als auch über das Leben der überwiegenden Mehrheit verfügt. Die Bourgeoisie, stark mit ihrem Kapital, ihrem Wissen und ihrer List, befiehlt in allen Ländern. Sie ist es, die um ihrer Interessen willen Armeen zum Schlachten schickt. Sie ist es, die viele der einstigen „Sozialisten" zähmt, sie zu ihren gehorsamen Dienern macht und mit ihrer Hilfe das Volk täuscht. Nur ein Kampf gegen die Bourgeoisie und das bürgerliche System kann den Völkern Frieden geben. Die Arbeiterklasse muss die Bourgeoisie von der Macht entfernen und die Verwaltung der Staatsangelegenheiten in die eigenen Hände nehmen, um vor allem den Krieg und dann das gesamte bürgerliche System zu beenden.

Die Bourgeoisie aller Länder geht davon aus, dass die Rechnung für ihre unzähligen Verbrechen präsentiert wird. Deshalb hasst sie jetzt die Führer des Volkes, die revolutionären Sozialdemokraten, mit zehnfachem Hass. Sie wird sie verhaften, ihnen den Prozess machen, sie in die Zwangsarbeit schicken und erschießen, wo sie es kann. Und in allen Ländern ergießt sie vergiftete Verleumdungen über sie. Über Karl Liebknecht schrieben bürgerliche deutsche Zeitungen, dass er von der britischen Regierung bestochen sei. Österreichische Patrioten erklärten Friedrich Adler für einen Vertreter des zaristischen Russlands. Der englisch Sozialist Maclean, der erst vor kurzem aus dem Zuchthaus entlassen wurde, wurde von den englischen Chauvinisten nur Söldling des Kaisers genannt. Und wir haben eine Partei von internationalistischen Sozialdemokraten (Bolschewiki), die für ihre Treue zur Sache der internationalen Arbeiterklasse, von allen reaktionären Schuften (den Miljukows, Perewersews, Alexinskis, Burzews) „germanophil" genannt wird und deren Führer der Beziehungen zur deutschen Regierung beschuldigt werden. Und Kerenski und Awksentjew und Skobelew verfolgen die Bolschewiki schamlos so wie der deutsche Kaiser die Anhänger Karl Liebknechts, unsere deutschen Freunde, verfolgt.

Sozialist und Sozialist ist zweierlei

Zuerst muss jeder Arbeiter und jeder Soldat das verstehen. Das Evangelium sagt, dass nicht jeder, der „Herr, Herr" ruft, in das Himmelreich kommen wird. Und wir können jetzt auf der Grundlage der bitteren Erfahrung sagen, dass nicht jeder, der sich einen Sozialisten nennt, ein Sozialist in Taten ist.

Die Sozialrevolutionäre gelten als „Sozialisten". Die Menschewiki nennen sich Sozialdemokraten. Aber wie Stahl auf Feuerstein getestet wird, so wird der Sozialismus im Krieg getestet. Es gibt „Sozialisten", die den Krieg unterstützen; sie sind brüderlich zur Bourgeoisie; sie verbergen vor dem Volk die Pläne und den Appetit der Bourgeoisie (ihre Geheimverträge usw.); Sie verlangen von der Armee blinde Ausführung dieser geheimen Pläne. Sie sind Sozialisten in Worten und Diener der Bourgeoisie in Taten. Das sind die Sozialrevolutionäre und Menschewiki. Ihre Minister führten die Todesstrafe und neue Strafgesetze ein. Ihre Führer stimmen, unter der Leitung von Zereteli, für die Beibehaltung der Todesstrafe. Die menschewistischen und sozialrevolutionären Minister verhaften die Bolschewiki, halten sie ohne Anklage und Untersuchung in Gefängnissen, machen die Zeitungen der Bolschewiki dicht und geben den berüchtigten bürgerlichen Verleumdungen gegen die Bolschewiki nach. Und das alles, weil unsere Partei, die Bolschewiki, kompromisslos gegen den Krieg kämpft.

Können die Kerenski, Awksentjew, Zereteli, Tschernow als Sozialisten betrachtet werden? Nie! Das sind direkte Feinde der Arbeiterklasse. Aber es gibt noch viele Sozialrevolutionäre und Menschewiki unter den Arbeitern und vor allem den Soldaten? Ganz recht. Aber das ist eine andere Sache: Der menschewistische Arbeiter oder der sozialrevolutionäre Soldat sind nicht unsere Feinde. Man muss ihnen erklären, dass sie ihr Vertrauen unzuverlässigen Parteien schenken, dass ihre Führer Verräter an der Sache der Arbeiterklasse sind. Und das müssen sie verstehen, denn die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre sind für den Krieg, und die Fortsetzung des Krieges bringt allen Völkern und vor allem den Russen, dem ärmsten und erschöpftesten Volk, einen unvermeidlichen Tod.

Verflucht sei, wer jetzt vom Frieden spricht!" rief der Sozialrevolutionär Kerenski. Nun gut, wir haben keine Angst vor Flüchen – weder von Priestern noch von Sozialrevolutionären. Wir reden nicht nur vom Frieden, sondern wir kämpfen für den Frieden. Und zusammen mit dem Volk verfluchen wir diejenigen, die diesen Krieg verursacht haben und die ihn ohne Ende hinziehen. In unserem Kampf haben wir keine Angst vor Verfolgung: wir sind sie vom Zarismus gewohnt. Und wir glauben fest an unseren Sieg. Die Welle der Revolution hob Kerenski auf die Höhen der Macht, und er bildet sich jetzt ein, dass er den Lauf der Geschichte kontrolliere und dem Proletariat befehlen könne. Eine klägliche Täuschung! Die nächste Welle, die er so ablehnt, wird ihn wegspülen und ihm zeigen, dass die Arbeiterklasse alles, und er, Kerenski, nur ein Emporkömmling ist, das heißt nichts.

Ihr ruft zum Desertieren auf!“

So verleumdet man uns oft. Sie lügen, wir würden aufrufen, das Bajonett in den Boden zu stecken und aus dem Schützengräben wegzulaufen. Was für ein Unsinn! … Natürlich ist es vielleicht passiert, dass ein unaufgeklärter Soldat, der in einer bürgerlichen Zeitung gelesen hatte, dass die Bolschewiki zum Desertieren aufforderten, das glaubte und sein Gewehr wegwarf. Aber das ist nicht unsere Propaganda, sondern die Propaganda einer unehrlichen bürgerlichen Presse, die uns ihre verfaulten Erfindungen unterzuschieben versucht. Kann das Desertieren einzelner Soldaten oder die Gehorsamsverweigerung einzelner Einheiten den Krieg zu stoppen? Die Soldaten desertieren aus Müdigkeit, Verzweiflung, Angst, aber nicht aus Bolschewismus. Nach zwei Monaten der allgemeinen Schikane und Verleumdung gegen uns, musste auch der Kommandeur des Kriegsministeriums, Sawinkow, unser Feind, zugeben, dass die bolschewistischen Regimenter, wenn sie ins Feuer geschickt werden, nicht schlechter als andere kämpfen, und einige drei Viertel ihres Bestandes auf dem Schkachtfeld lassen! … Und während unsere Soldaten in diesem ehrlosen Massaker, das sie nicht verursacht haben, sterben, ohne gezählt und registriert zu werden, lügen und verleumden die bürgerlichen Zeitungen (Rjetsch, Nowoje Wremja, Wetscherneje Wremja, Birschewka, Russkaja Wolja, Russkoje Slowo) weiterhin gegen die gekreuzigte Armee. Es gibt nichts Schlimmeres als den „Patriotismus" dieser bürgerlichen Christusverkäufer!

Aber wenn internationalistische Soldaten auch gemeinsam mit den anderen sterben, dann täuschen sie sich doch nicht. Sie wissen genau, dass dieser Krieg nicht unser Krieg ist. Sie vertrauen den herrschenden Klassen in keiner Weise, sie bereiten sich darauf vor, den Krieg zu beenden und die Täter durch die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter und Soldaten zusammen mit den Soldaten und Arbeitern von Deutschland und anderen Ländern auf die Anklagebank zu bringen.

Wir Internationalisten waren gegen die Offensive, wir zeigten andere Wege auf

Ja, am Vorabend der Offensive vom 18. Juni haben wir, die Internationalisten, offen und entschlossen davor gewarnt. Kaiser Wilhelm – sagten wir die ganze Zeit – wagte es vier Monate lang nicht, die verhasste russische Revolution anzugreifen: Er war sich seiner Truppen nicht sicher. Wir müssen diese Zeit der Ungewissheit nutzen, sagten wir. – Es ist notwendig, den deutschen, österreichischen und allen Arbeitern in der Praxis zu zeigen, dass die russische Revolution eine völlig neue, ehrliche, populäre und demokratische Außenpolitik betreibt. Dass sie Eroberung und Gewalt nicht anerkennt, dass sie die alten Raubverträge nicht anerkennt, dass sie die Revolution in jedem Lande, ob „Verbündeter" oder „Feind" unterstützen wird, dass sie allen Völkern einen sofortigen und ehrlichen Frieden gibt. Und um zu zeigen, dass es sich hier nicht um leere Worte handelt, dass die russische Revolution nicht scherzen will, so musste man sofort die Geheimverträge veröffentlichen, die bürgerlichen imperialistischen Minister aus der Provisorischen Regierung entfernen und sich weigern, vom Zarismus aufgenommene Kriegskredite zu bezahlen.

Darauf müsste eine entschlossene und mutige Innenpolitik folgen: es war notwendig, die Staatsduma und den Staatsrat aufzulösen; eine demokratische Republik auszurufen; alle Klassenunterschiede abzuschaffen; die Landgüter bäuerlichen Bodenkomitees zu übertragen; eine einmalige Grundsteuer einzuführen; alle Staats-Marodeure (Diebe von Staatsvermögen2) mit eisernen Zangen anzupacken usw. Eine solche Politik würde nicht nur die inneren Kräfte der Revolution, sondern auch ihre internationale Autorität zu einer ungeheuren Höhe heben. Die Arbeiter und die unterdrückten Massen auf der ganzen Welt wären durch die größte Sympathie für die russische Revolution und den glühenden Wunsch, sie nachzuahmen, ihren Fußstapfen zu folgen, bewegt. Auf der anderen Seite würde die russische Revolution Schrecken und Hass unter allen herrschenden Klassen auf der ganzen Welt wecken. Dadurch würden die Imperialisten und die unterdrückten Massen aller Länder sofort in zwei Lager gespalten, und unsere Revolution, die den Keil in den Krieg treibt, würde das Aufkommen der europäischen Revolution beschleunigen.

Aber der rückständige Teil unserer Arbeiter und vor allem die Soldaten und Bauern haben uns noch nicht verstanden. Vor allem Sozialrevolutionäre und Menschewiki wurden in die Sowjets geschickt. Sie vereinigten sich mit der Bourgeoisie, und die Bourgeoisie forderte und erreichte eine Offensive an der Front.

Wir, die bolschewistischen Internationalisten, sagten mündlich und schriftlich, dass diese Offensive das beste Geschenk für den Kaiser wäre. „Schau", musste er den deutschen Soldaten unvermeidlich sagen: „Die russische Provisorische Regierung greift uns zusammen mit den britischen, französischen, italienischen und amerikanischen Imperialisten an, die offen versuchen, Deutschland zu besiegen, also könnt ihr kein Vertrauen in die russische Revolution haben.“ Mit unserer Offensive erhielt Wilhelm die Möglichkeit, mit einer Gegenoffensive zu antworten. Die moralische, geistige Kraft der russischen Revolution wurde untergraben, und die materielle, physische Kraft des Kaisers war größer. Und als Ergebnis gab es kolossale Opfer, den Durchbruch der Front, den Fall von Riga und die schreckliche Gefahr für Petersburg.

Wer ist schuld?

Die Antwort ist klar: Die provisorische Regierung ist schuld, sie tanzte zur Melodie der Kadettenimperialisten. Die Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die das kriminelle Abenteuer der Offensive unterstützten, sind schuld. Es gibt keine Schuld unserer Partei. Wir waren in der Minderheit. Die Macht war nicht in unseren Händen. Wir konnten nur warnen. Das ist unsere Pflicht, und unser Gewissen ist rein. Mögen jene Soldaten, Arbeiter und Bauern, die den Sozialrevolutionären und den Menschewiki Führungspositionen und Macht gaben, dringend Rechenschaft von ihnen fordern.

Die Lage des Landes

Von Beginn an war die Lage des Landes sehr schwierig. Sie verschlechterte sich sprunghaft wegen der völligen Untätigkeit der Provisorischen Regierung, die es nicht wagte, – nicht gegen den Willen der Bourgeoisie – eine einzige ernsthafte Reform durchzuführen. Dazu kamen die Folgen der glücklosen Offensive, und die Lage wurde im höchsten Grade furchtbar. Was wird uns der morgige Tag bringen?

Die Regierung, und hinter ihr die Menschewiki und Sozialrevolutionäre schreien: „Jetzt ist nicht die Zeit für Politik, – alle Kräfte und Mittel sollten auf die Verteidigung konzentriert werden!" Das sind heuchlerische Worte, Lügenworte. Verteidigung ist ohne Politik undenkbar. Wir brauchen nur eine gute Politik. Und die Verteidigungspolitik der Provisorischen Regierung ist so schädlich, volksfeindlich wie die Politik der Offensive.

Wenn die Regierung wirklich revolutionär wäre, volks- und arbeiterfreundlich, würde sie sofort versuchen, die verlorene Autorität der Revolution wiederzuerlangen. Je furchtbarer die Lage ist, desto kühnere und entschlossenere Maßnahmen sind nötig, um aus ihr herauszukommen. Zunächst wäre es notwendig, das oben beschriebene Programm zu verwirklichen: die Imperialisten im Innern und Alliierten loszuwerden, die eigenen Bedingungen für den sofortigen Frieden zu verkünden und sie im Innern durch Maßnahmen der Agrar- und Finanzrevolution zu unterstützen. Das wäre der stärkste Schlag für Wilhelm, der einzige, den wir ihm jetzt zufügen können!

Betreibt die gegenwärtige Regierung diese Politik?

Nein! Sie befindet sich ganz in den Netzwerken von Bankern, alliierten Diplomaten, konterrevolutionären Stäben. Die Regierung fordert das Proletariat auf, an der Verteidigung teilzunehmen; Aber inzwischen hat sie selbst die Arbeiter entwaffnet und ihnen Kosaken und Junker vor die Nase gesetzt. Die Regierung fordert ein Ende der „Politik". Gleichzeitig betreibt sie selbst die Politik von Derschimorda: sie nimmt die Bolschewiki fest, schließt die Arbeiterzeitungen, dient Tyrannei, Verfolgung und Verleumdung.

Jetzt ist nicht die Zeit für die Politik", sagen Kerenski und Awksentjew, aber zur gleichen Zeit betreiben sie eine Großgrundbesitzerpolitik: Sie verhaften die Bodenkomitees vor Ort für Eingriffe in den Landbesitz der Adligen. Und diese Leute wagen es noch zu sagen, dass sie einen revolutionären Krieg führen!

Unter solchen Bedingungen liegt die Verantwortung für die Verteidigung, wie in der Vergangenheit für die Offensive, ganz bei der Regierung und den sie unterstützenden Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki.

Uns, den Parteien der revolutionären Sozialdemokratie, sind das Schicksal des Landes, die Freiheit und die Unabhängigkeit des russischen Volkes nicht weniger lieb und teuer als den Parteien von Kerenski und Zereteli. Aber darum stehen wir noch in den Tagen der größten Prüfungen in kompromissloser Opposition gegen die Politik der provisorischen Regierung, die sowohl die Revolution als auch die Verteidigung untergräbt. Die einzige Rettung, die uns bleibt, ist wie früher, der Kampf für ein frühes Ende des Krieges. Und all die Erfahrung von drei Jahren sagt uns, dass das Schlachten nur durch den Druck der anwachsenden Revolution in Europa gestoppt werden kann. Alle eure Bemühungen, Arbeiter und Soldaten, sollten auf die Unterstützung der revolutionären proletarischen Bewegung im Westen gerichtet sein, um sie zu nähren und voranzutreiben. Es ist notwendig, dass ehrliche Sozialisten, revolutionäre Arbeiter in Deutschland wissen, dass ihr den gleichen Kampf kämpft wie sie.

Der Fall von Riga ist ein grausamer Schlag. Der Fall von Petersburg wäre ein Unglück. Aber der Fall der internationalen Politik des russischen Proletariats wäre eine Katastrophe.

Arbeiter! Arbeiterinnen! Soldaten!

Wir können das Schicksal unseres Landes nicht von Kerenskis Politik und Kornilows Strategie abhängig machen. Kerenski könnte morgen das Land der Konterrevolution ausliefern, wie Kornilow gestern Riga den Deutschen auslieferte. Eine Kraft ist nötig, die in der Lage wäre, die Fehler aller Kerenskis und aller Kornilows zu korrigieren. Das ist die revolutionäre Kraft des internationalen Proletariats. Neunmalkluge, politische Feiglinge, Spießbürger wollen nicht an diese Kraft glauben. Doch für uns gibt es jenseits dieser Macht nichts Zuverlässiges und Wahres. Wenn die Hohenzollern trotz aller Verteidigungsbemühungen uns mit einer Übermacht ihrer Artillerie, ihrer Technologie, ihrer Organisation, zerschmettern, ist das wirklich der Tod des russischen Volkes? Nein, in Europa gibt es ein Gremium für alle Hohenzollern. In den unmenschlichen Prüfungen dieses Krieges sammelt sich so viel Zorn unter den arbeitenden Massen Europas, wie es in der Geschichte noch nicht zu sehen war. Karl Liebknecht und Friedrich Adler sind nur die Vorreiter der Arbeiterklasse Deutschlands und Österreichs für die gigantischen Kämpfe. Und wir müssen diesen Kämpfen entgegen gehen. Die 183.000 Arbeiter, Arbeiterinnen und Soldaten, die in Petersburg für unsere Partei bei den Wahlen zur Stadtduma gestimmt haben, sind ein zuverlässiges Bollwerk der Internationale. Die Moskauer Arbeiter, die während der „Staatsberatung" ihren Proteststreik abhielten, sind ebenfalls eine glorreiche Festung. Solange diese Festungen existieren und stärker werden, ist die Revolution nicht gestorben. Es ist nur notwendig, dass wir weiterhin unerschütterlich auf unserem Posten stehen, unter dem Banner der neuen Dritten Internationale.

Die Regierungen reden mit falscher Ruhe von der Unvermeidlichkeit des vierten Winterfeldzugs. Und wie werden die Völker darauf antworten? Wie werden die Armeen reagieren? Revolutionäre Ereignisse in Europa können sich schneller entfalten als viele Menschen denken. Wir haben kein Recht, entmutigt zu werden.

Fortschrittliche Arbeiter und Soldaten! Weckt die Rückständigen, erzieht die Unaufgeklärten. Erklärt unter dem Donner der schrecklichen Ereignisse an der Front dem Volke die Wahrheit, zeigt ihm den wahren Weg der Rettung. Es ist notwendig, dass das Volk die Macht in seine eigenen Hände nimmt. Und das Volk sind die Arbeiterklasse, die revolutionäre Armee, die Landarmut. Nur die Arbeiterregierung wird dem Krieg ein Ende setzen und unser Land vor der Zerstörung retten.

Glaubt nicht den bürgerlichen Feinden! Glaubt nicht den falschen Freunden, den Sozialrevolutionären und Menschewiki. Verlasst euch nur auf euch selbst; – hier ist eure Parole.

Vorwärts! Zum Kampf! Hoch die rote Fahne!

Der Tag kommt, an dem von der brüderlichen Umarmung der Arbeiter aller Länder nicht nur der Krieg, sondern auch der Kapitalismus, der ihn hervorgebracht hat, erwürgt wird.

1 Diese Broschüre wurde in separaten Artikeln in der Zeitung Rabotschij, Nr. 10-12 (1.-2. September) veröffentlicht. Diese Zeitung begann an Stelle des Proletarij zu erscheinen, der von der Regierung unter dem freudigen Heulen der bürgerlichen Presse verboten wurde. Um ihre Objektivität zu zeigen, schloss die Regierung die „gelbe" Zeitung Suworins am selben Tag.

2Gemeint sind z.B. Kapitalisten, die für Lieferungen an die Armee etc. Wucherpreise verlangten. [WK]

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