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Leo Trotzki 19190118 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Leo Trotzki: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

Rede auf der Sitzung des Petrograder Sowjets am 18. Januar 1919.

[Archiv von 1919, eigene Übersetzung nach dem russischenText in Л. Троцкий. Сочинения. Том 8. Перед историческим рубежом. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 82-91, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Wir erlitten gleichzeitig zwei schwere Verluste, die zu einem großen Verlust verschmelzen. Aus unseren Reihen wurden zwei Führer herausgeschlagen, deren Namen für immer in das große Buch der proletarischen Revolution aufgenommen sind: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Sie sind gestorben. Sie wurden getötet. Sie sind nicht mehr unter uns!

Der Name Karl Liebknecht, der auch vorher schon bekannt war, erlangte in den ersten Monaten des schrecklichen europäischen Gemetzels weltweite Bedeutung. Er klang wie der Name der revolutionären Ehre, wie das Versprechen des kommenden Sieges. In diesen ersten Wochen, in denen der deutsche Militarismus seine ersten Orgien feierte, als er seine ersten wilden Siege feierte; in diesen Wochen, in denen die deutschen Regimenter durch Belgien vorrückten und die belgischen Festungen wie Kartenhäuser wegfegten; als deutsche 420-Millimetern-Geschütze drohten, ganz Europa zu versklaven und Wilhelm unterzuordnen; in jenen Tagen und Wochen, als die offizielle deutsche Sozialdemokratie, angeführt von ihrem Scheidemann und ihrem Ebert, patriotisch die Knie vor dem deutschen Militarismus beugte, dem sich – so schien es – alles unterwarf: sowohl die äußere Welt – das niedergetrampelte Belgien, Frankreich mit seinem von den Deutschen eroberten Norden – als auch die innere Welt: nicht nur die deutschen Junker, nicht nur die deutsche Bourgeoisie, nicht nur das chauvinistische Spießertum, sondern auch die offiziell anerkannte Partei der deutschen Arbeiterklasse – in jenen schwarzen, schrecklichen, niederträchtigen Tagen gab es in Deutschland eine rebellische Stimme des Protests, der Wut, der Verdammung – das war die Stimme Karl Liebknechts. Und sie erklang über die ganze Welt!

In Frankreich, wo die Stimmung der breiten Masse damals unter dem Joch der deutschen Invasion stand; wo die Regierungspartei der französischen Sozialpatrioten dem Proletariat die Notwendigkeit eines Kampfes nicht auf Leben, sondern auf Tod verkündete – wie auch anders, wenn in Deutschland „das ganze Volk" bestrebt ist, Paris einzunehmen! – selbst in Frankreich klang Liebknechts Stimme warnend und ernüchternd und durchbrach die Barrieren von Lüge, Verleumdung und Panik. Es war zu spüren, dass der einsame Liebknecht eine erdrosselte Masse widerspiegelte.

Er war in der Tat schon damals nicht allein, denn Hand in Hand mit ihm war vom ersten Tag des Krieges an die mutige, unerschütterliche, heldenhafte Rosa Luxemburg tätig. Die Rechtlosigkeit des deutschen bürgerlichen Parlamentarismus hinderte sie daran, ihren Protest von der Parlamentstribüne zu schleudern, wie es Liebknecht tat, weshalb sie weniger hörbar war. Aber ihr Anteil am Erwecken der besten Elemente der deutschen Arbeiterklasse ist nicht kleiner als der Anteil ihres Gefährten im Kampf und im Tod, Karl Liebknecht. Diese beiden Streiter, so unterschiedlich in ihrer Natur und zur gleichen Zeit einander so nah, ergänzten sich, bewegten sich stetig auf das gemeinsame Ziel zu, fanden zur gleichen Zeit den Tod und gingen gemeinsam in die Geschichte ein.

Karl Liebknecht stellte eine wahre und vollständige Verkörperung eines unbeugsamen Revolutionärs dar. Um seinen Namen entstanden in den letzten Tagen und Monaten seines Lebens unzählige Legenden, sinnlos boshafte durch die bürgerliche Presse, heroische im Gemunkel der Arbeitermassen.

In seinem Privatleben war – leider, inzwischen: war! – Karl Liebknecht die Verkörperung von Freundlichkeit, Einfachheit und Brüderlichkeit. Zum ersten Mal traf ich ihn vor über fünfzehn Jahren. Er war ein charmanter Mensch, aufmerksam und warmherzig. Man kann sagen, dass seinem Charakter eine fast weibliche Weichheit im besten Sinne des Wortes eigen war. Und neben dieser weiblichen Sanftmut zeichnete ihn eine außergewöhnliches Härtung des revolutionären Willens aus, die Fähigkeit, für das, was er für richtig und wahr hielt, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Seine geistige Selbständigkeit kam bereits in seiner Jugend zum Ausdruck, als er mehr als einmal wagte, seine Meinung gegen die unbestrittene Bebelsche Autorität zu verteidigen. Großer Mut zeichnete seine Arbeit unter der Jugend, sein Kampf gegen das Hohenzollernmilitär aus. Schließlich entdeckte er sein wahres Maß, als er seine Stimme gegen die geschlossene angriffslüsterne Bourgeoisie und verräterische Sozialdemokratie im Deutschen Reichstag erhob, wo die ganze Atmosphäre von den Fieberdünsten des Chauvinismus durchdrungen war. Das volle Maß seiner Persönlichkeit fand er als Soldat, als er auf dem Potsdamer Platz in Berlin die Fahne des offenen Aufstandes gegen die Bourgeoisie und ihren Militarismus erhob. Liebknecht wurde arretiert. Gefängnis und Zwangsarbeit haben seinen Geist nicht gebrochen. In seiner Zelle wartete er und sah selbstbewusst voraus. Durch die Revolution im vergangenen November befreit, wurde Liebknecht sofort zum Kopf der besten und entschlossensten Elemente der deutschen Arbeiterklasse. Spartakus fand sich in den Reihen der Spartakisten und wurde mit ihrem Banner in der Hand getötet.

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Der Name Rosa Luxemburg ist in anderen Ländern weniger bekannt als bei uns in Russland. Aber wir können mit absoluter Sicherheit sagen, dass ihre Person keineswegs geringer war als die von Karl Liebknecht. Klein gewachsen, gebrechlich, kränklich, mit edlen Gesichtszügen, mit wunderschönen Augen, die ihren Geist ausstrahlten, schlug sie mit dem Mut ihres Denkens zu. Die Methode des Marxismus beherrschte sie wie die Organe ihres Körpers. Man kann sagen, dass der Marxismus ihr ins Blut übergegangen ist.

Ich sagte, dass diese beiden so unterschiedlichen Führer sich gegenseitig ergänzen. Ich möchte dies betonen und erklären. Wenn den unbeugsamen Revolutionär Liebknecht weibliche Sanftheit im persönlichen Umgang charakterisierte, dann charakterisierte diese gebrechliche Frau männliche Kraft des Denkens. Ferdinand Lassalle sprach einmal von der physischen Kraft des Denkens, von jener gebieterischen Anspannung, mit der es sozusagen die materiellen Hindernisse auf seinem Weg überwindet. Das ist genau der Eindruck, den man hat, wenn man mit Rosa sprach, ihre Artikel liest oder ihr zuhörte, wenn sie von der Tribüne aus gegen ihre Feinde sprach. Und sie hatte viele Feinde! Ich erinnere mich, wie auf einem Parteitag, wohl in Jena, ihre hohe, wie eine Saite gespannte Stimme die stürmischen Proteste der Bayern, Badener und anderer Opportunisten durchschnitt. Wie sie sie hassten! Und wie sie sie verachtete! Mit kleinem Wuchs und zerbrechlicher Gestalt ragte sie auf der Tribüne des Kongresses empor wie der verkörperte Gedanke1 der proletarischen Revolution. Mit der Kraft ihrer Logik, mit der Macht ihres Sarkasmus, brachte sie die geschworensten Gegner zum Schweigen. Rosa wusste die Feinde des Proletariats zu hassen, und deshalb wusste sie ihren Hass gegen sich selbst zu wecken. Sie war bei ihnen vorgemerkt.

Vom ersten Tag an, nein, von der ersten Stunde des Krieges an, eröffnete Rosa Luxemburg eine Kampagne gegen den Chauvinismus, gegen die patriotische Unzucht, gegen die Schwankungen von Kautsky und Haase, gegen die zentristische Formlosigkeit – für die revolutionäre Unabhängigkeit des Proletariats, für den Internationalismus, für die proletarische Revolution.

Ja, sie ergänzten sich gegenseitig!

Mit der Kraft des theoretischen Denkens, der Fähigkeit zur Verallgemeinerung, überragte Rosa Luxemburg nicht nur Gegner, sondern auch Mitstreiter um einen ganzen Kopf. Sie war eine geniale Frau. Ihr Stil – angespannt, präzise, funkelnd, unerbittlich – war und bleibt ein treuer Spiegel ihres Denkens.

Liebknecht war kein Theoretiker. Er war ein Mensch der direkten Aktion. Von Natur impulsiv, leidenschaftlich, besaß er eine außergewöhnliche politische Intuition, ein Gespür für die Massen und die Lage und schließlich einen unvergleichlichen Mut zur revolutionären Initiative.

Eine Analyse der inneren und internationalen Lage, in der sich Deutschland nach dem 9. November 1918 zeigte, sowie die revolutionäre Prognose konnte und sollte vor allem von Rosa Luxemburg erwartet werden. Der Ruf zum sofortigem Handeln und – zu einem bestimmten Zeitpunkt – zum bewaffnete Aufstand würde wahrscheinlich zuerst von Liebknecht ausgehen. Sie, diese beiden Streiter, ergänzten sich so gut wie möglich.

Sobald Luxemburg und Liebknecht aus dem Gefängnis kamen, nahmen sie einander an der Hand, dieser unermüdliche Revolutionär und diese unermüdliche Revolutionärin, und traten gemeinsam an die Spitze der besten Elemente der deutschen Arbeiterklasse, um neue Schlachten und Prüfungen der proletarischen Revolution zu schlagen. Und bei den ersten Schritten dieses Weges traf beide am selben Tag ein tückischer Schlag.

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Wirklich, die Reaktion könnte keine würdigeren Opfer wählen. Was für ein harter Schlag! Kein Wunder: Reaktion und Revolution kannten sich gut, denn die Reaktion war diesmal verkörpert in der Person der ehemaligen Führer der ehemaligen Arbeiterpartei, Scheidemann und Ebert, deren Namen für immer in das schwarze Buch der Geschichte als die berüchtigten Namen der verantwortlichen Organisatoren dieses verräterischen Mordes eingetragen sein werden.

Es stimmt, wir erhielten die offizielle deutsche Mitteilung, die den Mord an Liebknecht und Luxemburg als einen Unfall, als ein Straßen-„Missverständnis" darstellt, vielleicht wegen der unzureichenden Wachsamkeit der Wache angesichts einer rasenden Menschenmenge. Festgelegt wurde aus diesem Anlass sogar eine gerichtliche Untersuchung. Aber wir wissen nur allzu gut, wie die Reaktion diesen „spontanen" Ansturm gegen revolutionäre Führer erzeugt; wir erinnern uns gut an die Julitage, die wir hier in den Mauern von Petrograd erlebten; wir erinnern uns zu gut daran, wie die von Kerenski und Zereteli zur Bekämpfung der Bolschewiki gerufenen Schwarzhunderter-Banden uns bekämpften, systematisch die Arbeiter terrorisierten, ihre Führer verprügelten, mit einzelnen Arbeitern auf der Straße abrechneten. Der Name des Arbeiters Woinow, der infolge eines „Missverständnisses" getötet wurde, ist den meisten von euch im Gedächtnis. Wenn wir Lenin damals gerettet haben, dann nur, weil er sich nicht in den Händen von wütenden Schwarzhunderter-Banden befand. Damals befanden sich fromme Menschen unter den Menschewiki und Sozialrevolutionären, die sich empörten, dass Lenin und Sinowjew, die beschuldigt wurden, deutsche Spione zu sein, nicht vor Gericht erschienen, um die Verleumdungen zu widerlegen. Sie haben ihm daraus einen speziellen Vorwurf gemacht. Vor welchem Gericht? Vor dem Gericht, auf dem Weg zu dem Lenins „Flucht" inszeniert worden wäre, wie es mit Liebknecht inszeniert wurde, und wenn Lenin erschossen oder erstochen worden wäre, hätte die offizielle Mitteilung von Kerenski und Zereteli besagt, dass der Führer der Bolschewiki, als er versuchte zu fliehen, von der Wache getötet wurde. Nein, jetzt, nach der schrecklichen Berliner Erfahrung, haben wir einen zehnfachen Grund, zufrieden zu sein, dass Lenin sich damals nicht dem Schemjakinschen Gericht und mehr noch – dem außergerichtlichen Massaker stellte.

Aber Rosa und Karl haben sich nicht versteckt. Die Hand des Feindes hielt sie fest. Und diese Hand erwürgte sie. Was für ein Schlag! Was für eine Trauer! Und was für ein Verrat! Die besten Führer der Kommunistischen Partei Deutschlands sind nicht mehr, unsere großen Mitstreiter sind tot. Und ihre Mörder stehen unter dem Banner der Sozialdemokratischen Partei, die die Frechheit hat, ihre Abkunft von niemand anderem als von Karl Marx herzuleiten! Was für eine Perversion! Was für ein Hohn! Man denke nur daran, Genossen, dass die „marxistische" deutsche Sozialdemokratie, die Führerin der Zweiten Internationale, die Partei ist, die die Interessen der Arbeiterklasse seit den ersten Kriegstagen2 verraten hat, die den ungezügelten deutschen Militarismus in den Tagen der Niederlage Belgiens und der Eroberung der nördlichen Provinzen Frankreichs unterstützte; die Partei, die in den Tagen des Brester Friedens die Oktoberrevolution an den deutschen Militarismus verriet; diese Partei, deren Führer, Scheidemann und Ebert, jetzt die schwarzen Banden für den Mord an den Helden der Internationale, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, organisieren!

Was für eine ungeheure historische Perversion! Wenn man tief in die Jahrhunderte zurückblickt, findet man eine gewisse Ähnlichkeit mit dem historischen Schicksal des Christentums. Die Evangelienlehre von Sklaven, Fischern, Werktätigen, Unterdrückten, die alle von der Sklavengesellschaft zu Boden gedrückt wurden, wurde dann von den Monopolisten des Reichtums, von Königen, Aristokraten, Metropoliten, Geldverleihern, Patriarchen, Bankiers, dem römischen Papst an sich gerissen – und wurde zur ideologischen Deckung ihrer Verbrechen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass zwischen der Lehre des Urchristentums, wie sie aus dem Bewusstsein der unteren Klassen hervorgegangen ist, und dem offiziellen Katholizismus und orthodoxen Christentum bei weitem kein solcher Abgrund klafft, wie zwischen der Lehre von Marx, die ein Konzentrat revolutionären Denkens und revolutionären Wollens ist, und dem schmählichen Abfall bürgerlicher Ideen, die die Scheidemanns und Eberts aller Länder heute leben und feilbieten. Durch die Vermittlung der Führer der Sozialdemokratie machte die Bourgeoisie, den Versuch, den geistigen Besitz des Proletariats zu rauben und seine Räuberarbeit mit dem Banner des Marxismus zu vertuschen. Aber ich will hoffen, Genossen, dass dieses niederträchtige Verbrechen das letzte auf dem Konto der Scheidemanns und Eberts sein wird. Vieles hat das Proletariat Deutschlands von denen erduldet, die ihm an die Spitze gesetzt wurden; aber dieses Faktum wird nicht spurlos vorübergehen. Das Blut von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg schreit. Dieses Blut wird die Brücken Berlins, die Steine des selben Potsdamer Platzes, wo Liebknecht zum ersten Mal das Banner des Aufstandes gegen Krieg und Kapital erhob, zum Reden bringen. Und eines Tages werden in den Straßen Berlins aus diesen Steinen früher oder später Barrikaden gegen die getreuen Knechte und Kettenhunde der bürgerlichen Gesellschaft, gegen die Scheidemanns und Eberts errichtet werden!

Jetzt erdrückten in Berlin die Henker die Bewegung der Spartakisten, der deutschen Kommunisten. Sie ermordeten die beiden besten Anreger dieser Bewegung, und vielleicht feiern sie auch heute noch den Sieg. Aber ein wirklicher Sieg war das nicht, weil es kein direkter, offener und vollständiger Kampf war; es war noch kein Aufstand des deutschen Proletariats im Namen der Eroberung der politischen Macht. Es war nur eine mächtige Rekogniszierung, eine tiefe Erkundung in das Lager der feindlichen Aufstellung. Aufklärung geht der Schlacht voraus, aber sie ist noch keine Schlacht. Für das deutsche Proletariat war diese tiefe Erkundung notwendig, wie sie für uns in den Julitagen notwendig war. Das Unglück ist, dass zwei der besten Feldherren bei der Erkundung gefallen sind. Das ist ein brutaler Verlust, aber keine Niederlage. Die Schlacht steht noch bevor.

Die Bedeutung dessen, was in Deutschland geschieht, werden wir besser verstehen, wenn wir auf unseren eigenen gestrigen Tag zurückblicken. Ihr erinnert euch an den Lauf der Ereignisse und ihre innere Logik. Ende Februar, nach dem alten Stil, stürzten die Volksmassen den Zarenthron. In den ersten Wochen war die Stimmung so, als wäre die Hauptsache schon vollendet. Neue Leute, die aus den Oppositionsparteien vorrückten, die bei uns nie an der Macht gewesen waren, genossen zunächst das Vertrauen oder das halbe Vertrauen der Volksmassen. Aber dieses Vertrauen fing bald an, Risse und Sprünge zu bekommen. Petrograd erwies sich auch in der zweiten Etappe der Revolution als an der Spitze, wie es ihm geziemte. Im Juli, wie im Februar, war es die weit vorgerückte erste Avantgarde der Revolution. Und diese Avantgarde, die die Massen aufforderte, offen gegen die Bourgeoisie und die Kompromissler zu kämpfen, zahlte einen hohen Preis für die vollbrachte tiefe Erkundung.

In den Julitagen kollidierte die Petrograder Avantgarde mit der Kerenski-Regierung. Es war noch kein Aufstand, wie wir ihn bei uns im Oktober machten. Es handelte sich um einen Vorhutzusammenstoß, über dessen historischen Sinn sich die breite Masse der Provinz noch nicht vollständig Rechenschaft ablegte. Die Petrograder Arbeiter entdeckten in diesem Kampf vor den Volksmassen nicht nur Russlands, sondern auch aller Länder, dass hinter Kerenski keine unabhängige Armee steht, dass die Kräfte, die hinter ihm stehen, die Kräfte der Bourgeoisie, der Weißgardisten, der Konterrevolution sind.

Damals, im Juli, erlitten wir eine Niederlage. Genosse Lenin musste sich verstecken. Einige von uns waren im Gefängnis. Unsere Zeitungen wurden erdrosselt. Der Petrograder Sowjet wurde in einen Schraubstock gespannt. Die Druckereien der Partei und des Sowjets wurden zerschlagen, die Gebäude und Räumlichkeiten der Arbeiter wurden versiegelt, überall herrschte die Raserei der Schwarzhunderter. Es geschah – mit anderen Worten – dasselbe, was jetzt in den Straßen Berlins geschieht. Und nichtsdestotrotz hatte keiner der echten Revolutionäre auch nur den geringsten Zweifel, dass die Julitage nur eine Einleitung zu unserem Triumph sind.

Eine ähnliche Lage hat sich in den letzten Tagen in Deutschland entwickelt. Wie bei uns Petrograd ist Berlin den übrigen Volksmassen voraus; wie bei uns schrien alle Feinde des deutschen Proletariats: „Man kann nicht unter der Diktatur Berlins bleiben; das spartakistische Berlin ist isoliert; man muss eine konstituierende Versammlung einberufen und sie in eine gesündere Provinzstadt Deutschlands verlegen aus dem roten Berlin, das durch die Propaganda von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verdorben ist!“ Alles, was unsere Feinde bei uns getan haben, all die böswillige Agitation, all die niederträchtigen Verleumdungen, die wir hier gehört haben, all das – in Übersetzung in die deutsche Sprache – fabrizierten und verbreiteten die Scheidemanns und Eberts in Deutschland an die Adresse des Berliner Proletariats und seiner Führer – Liebknecht und Luxemburg. Es stimmt, dass sich die Erkundung des Berliner Proletariats weiter und tiefer entfaltet hat als im Juli, es gibt dort mehr Opfer, die Verluste sind größer – all das ist wahr. Aber das erklärt sich damit, dass die Deutschen eine Geschichte ausführen, die wir schon einmal ausgeführt haben; ihre Bourgeoisie und ihr Militarismus sind durch unsere Erfahrungen im Juli und Oktober klüger geworden. Und am wichtigsten ist, dass bei ihnen die Klassenverhältnisse unvergleichlich bestimmter sind als bei uns; Die besitzenden Klassen sind unvergleichlich geschlossener, klüger, aktiver und daher rücksichtsloser.

Bei uns, Genossen, vergingen zwischen der Februarrevolution und den Julitagen vier Monate Zeit; ein Vierteljahr war dem Proletariat von Petrograd nötig, bis es das unwiderstehliche Bedürfnis verspürte, hinauszugehen und zu versuchen, die Säulen, auf die sich der Staatstempel Kerenskis und Zeretelis stützte, zu erschüttern. Nach der Niederlage der Julitage vergingen wieder vier Monate, während die schweren Reserven der Provinz nach Petrograd gezogen wurden, und wir konnten im Oktober 1917 mit Zuversicht die direkte Offensive gegen die Festungen des Privateigentums erklären.

In Deutschland, wo die erste Revolution, die die Monarchie zu Fall brachte, sich erst Anfang November abspielte, folgten unsere Juli-Tage bereits Anfang Januar. Bedeutet dies, dass das deutsche Proletariat in seiner Revolution nach einem verkürzten Kalender lebt? Wo uns vier Monate nötig waren, sind ihnen zwei nötig. Und wir können hoffen, dass sich dieser Maßstab fortsetzt. Vielleicht vergehen von den deutschen Julitagen bis zum deutschen Oktober nicht vier Monate, wie wir es haben, sondern weniger – vielleicht reichen zwei Monate und noch weniger. Doch wie auch immer die Ereignisse verlaufen, eines ist sicher: Die Schüsse, die Karl Liebknecht in den Rücken geschickt wurden, fanden in ganz Deutschland ein Echo. Und dieses Echo ertönte als Begräbnisglocke in den Ohren der deutschen und anderen Scheidemanns und Eberts.

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Hier, jetzt, sangen wir das Requiem für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Führer sind umgekommen. Wir werden sie nie mehr lebendig sehen. Aber wie viele von euch, Genossen, haben sie je lebendig gesehen? Eine unbedeutende Minderheit. Und doch lebten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in den letzten Monaten und Jahren immer unter euch. Ihr habt Karl Liebknecht in Versammlungen, auf Kongressen zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Er selbst war nicht hier, er hat es nicht geschafft, nach Russland zu kommen – und doch war er in eurer Umgebung anwesend, er saß wie ein Ehrengast an eurem Tisch, wie einer von uns, wie ein Nahestehender, wie ein Verwandter, – denn sein Name war nicht nur der Name eines Einzelmenschen – nein, es war für uns die Bezeichnung alles Besten, Mutigen, Edlen, was in der Arbeiterklasse ist. Wenn sich jemand von uns einen Menschen vorstellen musste, der sich den Unterdrückten restlos widmete, von Kopf bis Fuß gehärtet, der das Banner nie vor dem Feind senkte, nannten wir sofort Karl Liebknecht. Er ging durch das Heldentum des Handelns für immer in das Bewusstsein und die Erinnerung der Völker ein. Im wütenden Lager der Feinde, als der siegreiche Militarismus alles zerstörte und unterdrückte, als alle, die protestieren mussten, still waren, als es nirgendwo ein Ventil zu geben schien – erhob er, Liebknecht, seine Stimme als Streiter. Er sagte: Ihr, herrschende Gewalttäter, militärische Metzger, Invasoren, ihr, dienstbare Lakaien, Kompromissler, ihr zertrampelt Belgien, ihr zerstört Frankreich, ihr wollt die ganze Welt zerstören, ihr denkst, ihr schuldet niemandem Rechenschaft – und ich sage euch: Wir, wenige, wir haben keine Angst vor euch, wir erklären euch den Krieg, und nachdem wir die Massen geweckt haben, wir werden diesen Krieg zu Ende führen!“ Hier dieser Mut der Entschlossenheit, hier dieser Heroismus des Handelns macht das Bild Liebknechts für das Weltproletariat unvergesslich.

Und neben ihm steht Rosa, die ihm im Geiste gleiche Kriegerin des Weltproletariats. Ihr tragischer Tod – auf dem Kampfposten – verbindet ihre Namen mit einer besonderen, für immer unzerstörbaren Verbindung. Von nun an werden sie immer zusammen genannt: Karl und Rosa, Liebknecht und Luxemburg!

Wisst ihr, worauf Heiligenlegenden beruhen, ihr ewiges Leben? Auf den Bedürfnissen der Menschen, die Erinnerung an diejenigen zu bewahren, die an ihrer Spitze standen, die sie so oder anders geführt haben; auf dem Wunsch, die Persönlichkeit der Führer mit einer Aureole der Heiligkeit zu verewigen. Wir, Genossen, brauchen keine Legenden, wir brauchen keine Verwandlung unserer Heroen in Heilige. Uns genügt die Wirklichkeit, in der wir jetzt leben, denn diese Wirklichkeit ist an sich schon legendär. Sie weckt wunderbare Kräfte in der Seele der Massen und ihrer Führer, sie schafft schöne Bilder, die über die gesamte Menschheit hinausragen.

Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sind solche ewigen Bilder. Wir spüren ihre Präsenz unter uns mit einer erstaunlichen, fast physischen Unmittelbarkeit. In dieser tragischen Stunde schließen wir uns im Geiste mit den besten Arbeitern Deutschlands und der ganzen Welt zusammen, überwältigt von der schrecklichen Nachricht von Gram und Trauer. Wir erleben hier die Schärfe und Bitterkeit des Schlages ebenso wie unsere deutschen Brüder. In Gram und Trauer sind wir genauso international wie in unserem gesamten Kampf.

Liebknecht ist für uns nicht nur ein deutscher Führer. Rosa Luxemburg ist für uns nicht nur eine polnische Sozialistin, die die Führung der deutschen Arbeiter übernommen hat. Nein, sie sind beide für das Weltproletariat die ihren, sind Angehörige, mit ihnen sind wir alle durch geistige, unauflösliche Bande verknüpft. Sie gehörten bis zum letzten Atemzug nicht einer Nation, sondern der Internationalen!

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Den russischen Arbeitern und Arbeiterinnen muss gesagt werden, dass Liebknecht und Luxemburg dem russischen revolutionären Proletariat besonders nahe standen, und obendrein in den schwierigsten Zeiten. Liebknechts Wohnung war das Stabsquartier der russischen Emigranten in Berlin. Wenn es notwendig war, im deutschen Parlament oder in der deutschen Presse die Stimme gegen die Dienste zu erheben, die die deutschen Herrschenden der russischen Reaktion gegeben hatten, wandten wir uns in erster Linie an Karl Liebknecht, und er klopfte an alle Türen und alle Schädel, einschließlich Scheidemanns und Eberts Schädel, um sie zu zwingen, gegen die Verbrechen der deutschen Regierung zu protestieren. Und wir wandten uns ständig an Liebknecht, wenn es notwendig war, einem der Genossen materielle Unterstützung zu leisten. Liebknecht war unermüdlich im Dienste des Roten Kreuzes der Russischen Revolution.

Auf dem bereits erwähnten Kongress der deutschen Sozialdemokratie in Jena, an dem ich als Gast teilnahm, wurde mir auf Initiative Liebknechts vom Präsidium vorgeschlagen, aus Anlass der von demselben Liebknecht eingebrachten Resolution zu sprechen, die die Gewalt der zaristischen Regierung gegen Finnland brandmarkte. Liebknecht bereitete mit größter Sorgfalt seine eigene Rede vor, sammelte Zahlen und Fakten und fragte mich ausführlich nach den Zollbeziehungen zwischen dem zaristischen Russland und Finnland. Aber bevor es zum Auftritt kam (ich sollte nach Liebknecht sprechen), erhielten wir die telegrafische Nachricht über den Kiewer Anschlag auf Stolypin. Dieses Telegramm machte auf dem Kongress einen sehr großen Eindruck. Die erste Frage, die sich unter den Führern stellte, war diese: Ist es für einen russischen Revolutionär angemessen, auf einem deutschen Kongress zu sprechen, während irgendein anderer russischer Revolutionär einen Anschlag auf den russischen Ministerpräsidenten verübt hat? Dieser Gedanke bemächtigte sich selbst Bebels: Der alte Mann, der um drei Köpfe die anderen Mitgliedern des Vorstands (Zentralkomitees) überragte, liebte „unnötige" Schwierigkeiten nicht. Er fand mich sofort und fragte mich: „Was bedeutet der Anschlag? Welche Partei kann für ihn verantwortlich sein?“ Ob ich nicht denke, dass ich unter diesen Umständen mit meinem Auftreten die Aufmerksamkeit der deutschen Polizei auf mich lenken werde? „Sie haben Angst“, fragte ich den alten Mann vorsichtig, „dass mein Auftreten gewisse Schwierigkeiten bereiten könnte?“ „Ja“, antwortete Bebel, „ich gebe zu, ich würde es vorziehen, wenn Sie nicht reden. „Natürlich“, antwortete ich, „in diesem Fall kann keine Rede von meinem Auftreten sein.“ Hierauf haben wir uns getrennt.

Eine Minute später rannte Liebknecht buchstäblich zu mir hin. Er war im höchsten Grade aufgeregt. „Ist es wahr, dass sie Sie gebeten haben, nicht zu sprechen?“ fragte er mich. „Ja," antwortete ich, „ich habe das gerade mit Bebel abgesprochen." „Und Sie haben zugestimmt?" „Wie könnte ich widersprechen", antwortete ich mich rechtfertigend, „denn ich bin hier nicht Hausherr, sondern Gast." „Das ist empörend von unserem Präsidium, das ist beschämend, das ist ein unerhörter Skandal, das ist abscheuliche Feigheit!" usw. usf. Seiner Entrüstung gab Liebknecht in seiner Rede ein Ventil, in der er die zaristische Regierung gnadenlos vernichtete, trotz der Mahnung des Präsidiums hinter den Kulissen, er solle keine „überflüssigen" Komplikationen in Form einer Beleidigung der Majestät des Zaren schaffen.

Rosa Luxemburg stand seit ihren jungen Jahren an der Spitze jener polnischen Sozialdemokratie, die sich nun zusammen mit der sogenannten Lewica, d.h. des revolutionären Teil der Polnischen Sozialistischen Partei in der Kommunistischen Partei vereinigt hat. Rosa Luxemburg sprach gut Russisch, sie kannte die russische Literatur sehr gut, verfolgte das russische politische Leben Tag für Tag, war eng mit den russischen Revolutionären verbunden und beleuchtete liebevoll die revolutionären Schritte des russischen Proletariats in der deutschen Presse. In ihrer zweiten Heimat, Deutschland, beherrschte Rosa Luxemburg mit dem ihr eigenen Talent nicht nur die deutsche Sprache, sondern hatte auch vollständige Kenntnis des gesamten deutschen politischen Leben und nahm einen der prominentesten Plätze in der alten, Bebelschen Sozialdemokratie ein. Dort blieb sie immer auf dem linken Flügel.

1905 durchlebten Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im wahrsten Sinne des Wortes die Ereignisse der russischen Revolution. Rosa Luxemburg verließ Berlin 1905 in Richtung Warschau, nicht als Polin, sondern als Revolutionärin. Auf Kaution aus der Warschauer Zitadelle entlassen, kam sie 1906 illegal nach Petrograd, wo sie unter falschem Namen einige ihrer Freunde im Gefängnis besuchte. Nach Berlin zurückgekehrt verdoppelte sie den Kampf gegen den Opportunismus und stellte ihm die Wege und Methoden der russischen Revolution entgegen.

Zusammen mit Rosa erlebten wir das größte Unglück, das über die Arbeiterklasse hereinbrach: Ich spreche vom schändlichen Bankrott der Zweiten Internationale im August 1914. Zusammen mit ihr haben wir das Banner der Dritten Internationale gehisst. Und jetzt, Genossen, bleiben wir bei unserer tagtäglichen Arbeit dem Vermächtnis von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg treu; wenn wir hier, im immer noch kalten und hungrigen Petrograd, den sozialistischen Staat aufbauen handeln wir im Geiste von Liebknecht und Luxemburg; wenn unsere Armee an der Front voranschreitet schützt sie das Vermächtnis von Liebknecht und Luxemburg mit ihrem eigenen Blut. Wie bitter, dass sie sich selbst nicht schützen konnten!

In Deutschland gibt es keine Rote Armee, denn die Macht liegt immer noch in den Händen der Feinde. Bei uns gibt es bereits eine Armee, die erstarkt und gedeiht. Und in Erwartung dessen, dass sich unter den Bannern von Karl und Rosa die Armee des deutschen Proletariats sammeln wird, wird jeder von uns es als seine Pflicht betrachten, unserer Roten Armee darüber Nachricht zu bringen, wer Liebknecht und Luxemburg waren, wofür sie starben, warum ihr Andenken jedem Rotarmisten, jedem Arbeiter und Bauern heilig bleiben muss.

Ein unerträglich schwerer Schlag für uns. Aber wir schauen nicht nur mit Hoffnung, sondern auch mit Zuversicht in die Zukunft. Obwohl es in Deutschland eine Flut der Reaktion gibt, verlieren wir nicht eine Minute lang das Vertrauen, dass der Rote Oktober nahe ist. Die großen Kämpfer sind nicht umsonst verloren. Ihr Tod wird gerächt werden. Ihre Geister werden Genugtuung erhalten. Wenn wir uns diesen teuren Geistern zuwenden, können wir sagen: „Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, ihr seid nicht mehr im Kreis der Lebenden, aber ihr seid anwesend unter uns, wir spüren euren mächtigen Geist, wir werden unter eurem Banner kämpfen, in unseren Kampfreihen weht eure moralische Größe und jeder von uns schwört, wenn die Stunde kommt, und die Revolution es verlangt – ohne zurückzuschrecken unter demselben Banner zu sterben, unter dem ihr, Freunde und Mitkämpfer, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht getötet wurdet!"

1In der englischen Übersetzung: „Verkörperung“

2 In der englischen Übersetzung: „Mutter der Arbeiterklasse seit den ersten Kriegstagen“ statt „Führerin der Zweiten Internationale, die Partei ist, die die Interessen der Arbeiterklasse seit den ersten Kriegstagen“ [wohl ein Scan- oder Druckfehler]

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