I. Dogmatismus und „Freiheit der Kritik"

I. Dogmatismus und „Freiheit der Kritik"

a) Was heißt „Freiheit der Kritik"?

Freiheit der Kritik" ist heute entschieden die modernste, in den Diskussionen zwischen den Sozialisten und den Demokraten aller Länder am häufigsten gebrauchte Parole. Auf den ersten Blick kann man sich kaum etwas Seltsameres vorstellen als diese feierlichen Hinweise einer der streitenden Parteien auf die Freiheit der Kritik. Sind denn aus der Mitte der fortschrittlichen Parteien Stimmen laut geworden gegen jenes in den meisten europäischen Ländern bestehende konstitutionelle Gesetz, das die Freiheit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung garantiert? „Da stimmt etwas nicht!" – muss sich jeder Fernstehende sagen, der die zur Mode gewordene Parole an allen Ecken und Enden gehört hat, aber in das Wesen der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Streitenden noch nicht eingedrungen ist. „Diese Parole gehört offenbar zu jenen konventionellen Redensarten, die sich durch den Gebrauch wie Spitznamen einbürgern und fast zu Gattungsnamen werden."

In der Tat, es ist für niemand ein Geheimnis, dass in der modernen internationalenA Sozialdemokratie zwei Richtungen entstanden sind, zwischen dienen der Kampf bald entbrennt und in hellen Flammen auflodert, bald erlöscht und unter der Asche feierlicher „Waffenstillstands-Resolutionen" weiter glimmt. Worin die „neue" Richtung besteht, die dem „alten dogmatischen" Marxismus „kritisch" gegenübersteht, das hat mit genügender Klarheit Bernstein gesagt und Millerand gezeigt.

Die Sozialdemokratie muss aus einer Partei der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen werden. Diese politische Forderung hat Bernstein mit einer ganzen Batterie ziemlich gut miteinander harmonierender „neuer" Argumente und Betrachtungen umgeben. Geleugnet wurde die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen und seine Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung zu beweisen; geleugnet wurde die Tatsache der zunehmenden Verelendung, der Proletarisierung und der Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche; der Begriff des „Endzieles" selbst wurde für unhaltbar erklärt und die Idee der Diktatur des Proletariats absolut abgelehnt; geleugnet wurde der prinzipielle Gegensatz zwischen Liberalismus und Sozialismus, geleugnet die Theorie des Klassenkampfes, die angeblich unanwendbar ist auf eine streng demokratische Gesellschaft, die nach dem Willen der Mehrheit regiert werde usw.

Auf diese Weise war die Forderung einer entschiedenen Schwenkung von der revolutionären Sozialdemokratie zum bürgerlichen Sozialreformismus begleitet von einer nicht minder entschiedenen Schwenkung zur bürgerlichen Kritik an allen grundlegenden Gedanken des Marxismus. Und da eine solche Kritik am Marxismus schon seit langem geübt wurde, sowohl von der politischen Tribüne wie vom Universitätskatheder aus, in einer Unmenge von Broschüren und in einer Reihe gelehrter Abhandlungen, da die gesamte heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen im Verlaufe von Jahrzehnten systematisch in dieser Kritik erzogen wurde, ist es nicht verwunderlich, dass die „neue kritische" Richtung in der Sozialdemokratie plötzlich, fix und fertig hervorsprang, wie Minerva aus dem Kopfe Jupiters. Ihrem Inhalt nach brauchte sich diese Richtung nicht zu entwickeln und zu formen: sie wurde direkt aus der bürgerlichen Literatur in die sozialistische übertragen.

Weiter. Wenn die theoretische Kritik Bernsteins und seine politischen Wünsche noch für irgend jemanden unklar blieben, so sorgten die Franzosen für eine anschauliche Demonstration der „neuen Methode". Frankreich hat auch diesmal seinen alten Ruf gerechtfertigt als das „Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedes Mal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden" (Engels in der Vorrede zu Marx' „Der Achtzehnte Brumaire"). Die französischen Sozialisten theoretisierten nicht, sondern schritten sofort zur Tat; die in demokratischer Hinsicht entwickelteren politischen Verhältnisse Frankreichs gestatteten ihnen, sofort zum „praktischen Bernsteinianertum" mit allen seinen Konsequenzen überzugehen. Millerand hat ein glänzendes Beispiel dieses praktischen Bernsteinianertums geliefert, –- nicht umsonst beeilten sich sowohl Bernstein als auch Vollmar, Millerand so eifrig zu verteidigen und sein Lob zu singen! In der Tat: wenn die Sozialdemokratie eigentlich eine einfache Reformpartei ist und den Mut haben muss, dies offen anzuerkennen, so hat der Sozialist nicht nur das Recht, in das bürgerliche Ministerium einzutreten, sondern er muss sogar stets danach streben. Wenn die Demokratie eigentlich die Aufhebung der Klassenherrschaft bedeutet, warum sollte dann ein sozialistischer Minister nicht die ganze bürgerliche Welt mit Reden über Arbeitsgemeinschaft der Klassen in Entzücken versetzen? Warum sollte er nicht in der Regierung bleiben, selbst nachdem die Niedermetzelung von Arbeitern durch Gendarmen zum hundertsten und tausendsten Male den wahren Charakter der demokratischen Arbeitsgemeinschaft der Klassen offenbart hat? Warum sollte er nicht persönlich an der Begrüßung des Zaren teilnehmen, den die französischen Sozialisten jetzt nicht anders nennen als den Helden des Galgens, der Knute und der Verbannung (knouteur, pendeur et deportateur)? Und die Entschädigung für diese unsagbare Erniedrigung und Selbstbespeiung des Sozialismus vor der ganzen Welt, für die Korrumpierung des sozialistischen Bewusstseins der Arbeitermassen – dieser einzigen Grundlage, die uns den Sieg sichern kann –, die Entschädigung dafür sind großartige Projekte armseliger Reformen, in einem solchen Grade armselig, dass unter bürgerlichen Regierungen schon größere erreicht wurden!

Wer nicht absichtlich die Augen verschließt, der muss sehen, dass die neue „kritische" Richtung im Sozialismus nichts anderes ist als eine neue Abart des Opportunismus. Beurteilt man die Menschen nicht nach der glänzenden Uniform, die sie sich selber angezogen haben, nicht nach dem effektvollen Namen, den sie sich selber beigelegt haben, sondern nach ihren Handlungen und nach dem, was sie in Wirklichkeit propagieren, so wird es klar, dass die „Freiheit der Kritik" die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit der Kultivierung bürgerlicher Ideen und bürgerlicher Elemente im Sozialismus.

Freiheit ist ein großes Wort, aber unter dem Banner der Freiheit der Industrie wurden die räuberischsten Kriege geführt, unter dem Banner der Freiheit der Arbeit – die Werktätigen ausgeplündert. Dieselbe innere Verlogenheit liegt in der jetzigen Anwendung des Wortes „Freiheit der Kritik". Leute, die tatsächlich davon überzeugt wären, dass sie die Wissenschaft vorwärts gebracht haben, würden ncht die Freiheit der neuen Auffassungen neben den alten fordern, sondern die Ablösung der alten durch die neuen. Das moderne Geschrei „Es lebe die Freiheit der Kritik!" erinnert zu sehr an die Fabel vom leeren Fass.

Wir marschieren als kleines Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und abgründigem Wege. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast immer unter ihrem Feuer marschieren. Wir haben uns nach frei gefasstem Beschlusse zusammengetan, eben um gegen die Feinde zu kämpfen und nicht in den benachbarten Sumpf zu geraten, dessen Bewohner uns von Anfang an schalten, weil wir uns zu einer besonderen Gruppe vereinigt und den Weg des Kampfes anstatt den Weg der Versöhnung gewählt haben. Und nun beginnen einige von uns zu rufen: gehen wir in diesen Sumpf! – Wenn man sie aber eines besseren belehrt, erwidern sie: was seid ihr doch für rückständige Leute! Und wie schämt ihr euch nicht, uns das freie Recht abzusprechen, euch auf einen besseren Weg zu rufen! – O ja, ihr Herren, ihr seid frei, nicht nur zu rufen, sondern auch zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf; wir sind sogar der Meinung, dass euer wahrer Platz gerade im Sumpfe ist, und wir sind bereit, euch nach Kräften zu helfen, dorthin überzusiedeln. Aber lasst unsere Hände in Ruhe, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort Freiheit, denn wir sind ja auch „frei", zu gehen, wohin wir wollen, frei, nicht nur gegen den Sumpf zu kämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die sich dem Sumpfe zuwenden!

b) Die neuen Verteidiger der „Freiheit der Kritik"

Eben diese Losung („Freiheit der Kritik") wird in letzter Zeit vom „Rabotscheje Djelo" (Nr. 10), dem Organ des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten", nicht als theoretisches Postulat, sondern als politische Forderung aufgestellt, als Antwort auf die Frage: „Ist der Zusammenschluss der im Auslande wirkenden sozialdemokratischen Organisationen möglich?" „Für einen dauerhaften Zusammenschluss ist die Freiheit der Kritik notwendig" (S. 36).

Aus dieser Erklärung ergeben sich zwei vollkommen bestimmte Schlussfolgerungen: 1. das „Rabotscheje Djelo" nimmt die opportunistische Richtung in der internationalen Sozialdemokratie überhaupt unter seinen Schutz; 2. das „Rabotscheje Djelo" fordert die Freiheit des Opportunismus in der russischen Sozialdemokratie. Betrachten wir diese Schlussfolgerungen.

Dem „Rabotscheje Djelo" missfällt „insbesondere" „die Neigung der ,Iskra' und der ,Sarja', den Bruch zwischen der Bergpartei und der Gironde in der internationalen Sozialdemokratie zu prophezeienB".

Überhaupt scheint uns – so schreibt der Redakteur des „Rabotscheje Djelo", B. Kritschewski – das Gerede von der Bergpartei und der Gironde in den Reihen der Sozialdemokratie eine oberflächliche historische Analogie zu sein, die, wenn sie aus der Feder eines Marxisten kommt, sehr merkwürdig erscheint: Die Bergpartei und die Gironde stellten keine verschiedenen Temperamente oder geistige Richtungen dar, wie es den Ideologen der Geschichte erscheinen mag, sondern verschiedene Klassen oder Schichten – die mittlere Bourgeoisie einerseits und das Kleinbürgertum und das Proletariat anderseits. In der modernen sozialistischen Bewegung gibt es keinen Aufeinanderprall der Klasseninteressen, sie steht voll und ganz in allen (gesperrt von B. Kr.) ihren Abarten, die wütendsten Bernsteinianer mit inbegriffen, auf dem Boden der Klasseninteressen des Proletariats, seines Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung." (S. 32 u. 33.)

Eine kühne Behauptung! Hat B. Kritschewski nichts von der längst festgestellten Tatsache gehört, dass gerade die starke Beteiligung der Schicht der „Akademiker" an der sozialistischen Bewegung der letzten Jahre eine so rasche Verbreitung des Bernsteinianertums gesichert hat? Und vor allem, – worauf stützt unser Verfasser seine Meinung, dass auch „die wütendsten Bernsteinianer" auf dem Boden des Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung des Proletariats stehen? Das ist unbekannt. Die entschiedene Verteidigung der wütendsten Bernsteinianer wird durch keinerlei Argumente oder Erwägungen gestützt. Der Verfasser glaubt anscheinend, dass Beweise für seine Behauptung überflüssig seien, wenn er wiederholt, was die wütendsten Bernsteinianer vor sich selber sagen. Aber kann man sich irgend etwas „Oberflächlicheres" denken als diese Beurteilung einer ganzen Richtung auf Grund dessen, was die Vertreter dieser Richtung von sich selber sagen? Kann man sich irgend etwas Oberflächlicheres denken als die weitere „Moral" von den zwei verschiedenen und sogar diametral entgegengesetzten Typen oder Wegen der Entwicklung der Partei (S. 34 u. 35 des „Rabotscheje Djelo")? Die deutschen Sozialdemokraten erkennen die volle Freiheit der Kritik an, die Franzosen aber nicht, und gerade ihr Beispiel zeige die ganze „Schädlichkeit der Intoleranz".

Gerade das Beispiel B. Kritschewskis – antworten wir darauf – zeigt, dass manchmal Leute sich Marxisten nennen, die die Geschichte buchstäblich „nach Iloweiski"1 betrachten. Um die Einheit der deutschen und die Zersplitterung der französischen sozialistischen Parteien zu erklären, sei es absolut nicht notwendig, in den Eigenheiten der Geschichte dieses oder jenes Landes herum zu stöbern, die Verhältnisse des militärischen Halbabsolutismus und des republikanischen Parlamentarismus einander gegenüberzustellen, die Folgen der Kommune und des Sozialistengesetzes zu analysieren, das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Entwicklung zu vergleichen, daran zu erinnern, wie „das beispiellose Anwachsen der deutschen Sozialdemokratie" begleitet war von einem in der Geschichte des Sozialismus einzig dastehenden energischen Kampf nicht nur gegen die theoretischen (Mühlberger, DühringC, die Kathedersozialisten), sondern auch gegen die taktischen (Lassalle) Verirrungen usw. usw. All das sei überflüssig! Die Franzosen zanken sich, weil sie intolerant sind, die Deutschen sind einig, weil sie artige Kinder sind.

Man beachte, dass mit Hilfe dieses beispiellosen Scharfsinns die Aufmerksamkeit abgelenkt wird von einer Tatsache, die die Verteidigung der Bernsteinianer schlagend widerlegt. Ob sie tatsächlich auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes stehen, diese Frage wird endgültig und unwiderruflich erst durch die historische Erfahrung entschieden werden können. Folglich ist in dieser Beziehung gerade das Beispiel Frankreichs von größter Bedeutung, als des einzigen Landes, in dem die Bernsteinianer – unter warmem Beifall ihrer deutschen Kollegen (und zum Teil auch der russischen Opportunisten: vgl. „Rabotscheje Djelo" Nr. 2/3, S. 83 u. 84) – den Versuch gemacht haben, sich auf eigene Füße zu stellen2. Der Hinweis auf die „Unversöhnlichkeit" der Franzosen erweist sich – abgesehen von seiner „historischen" (im Nosdrewschen3 Sinne) Bedeutung – als ein einfacher Versuch, durch zürnende Worte sehr unangenehme Tatsachen zu vertuschen.

Aber w\r halben gar nicht die Absicht, B. Kritschewski und den übrigen zahlreichen Verteidigern der „Freiheit der Kritik" auch die Deutschen zu schenken. Wenn die „wütendsten Bernsteinianer" in den Beinen der deutschen Partei noch geduldet werden, so nur insofern, als sie sich sowohl der hannoverschen4 Resolution unterordnen, die die „Zusatzanträge" Bernsteins entschieden abgelehnt hat, als auch der Lübecker Resolution, die (ungeachtet aller Diplomatie) eine direkte Verwarnung an Bernstein enthält. Man mag vom Standpunkte der Interessen der deutschen Partei darüber streiten, inwieweit diese Diplomatie angebracht war, ob in diesem Falle ein schlechter Friede besser ist als ein guter Streit, man mag, mit einem Wort, nicht übereinstimmen in der Beurteilung der Zweckmäßigkeit dieser oder jener Art der Ablehnung des Bernsteinianertums, doch ist die Tatsache nicht zu übersehen, dass die deutsche Partei das Bernsteinianertum zweimal abgelehnt hat. Darum heißt es absolut missverstehen, was vor aller Augen vor sich geht, wenn man glaubt, das Beispiel der Deutschen bestätige die These: „Die wütendsten Bernsteinianer stehen auf dem Boden des Klassenkampfes des Proletariats für seine wirtschaftliche und politische Befreiung".D

Mehr als das. Das „Rabotscheje Djelo" tritt, wie wir bereits bemerkt haben, vor die russische Sozialdemokratie hin mit der Forderung der „Freiheit der Kritik" und mit der Verteidigung des Bernsteinianertums. Offenbar hat es sich davon überzeugt, dass man unsere „Kritiker" und Bernsteinianer zu Unrecht gekränkt hat. Aber welche denn? Wer? Wo? Wann? Worin bestand diese Ungerechtigkeit? – Das verschweigt das „Rabotscheje Djelo", es erwähnt kein einziges Mal irgendeinen russischen Kritiker oder Bernsteinianer! Es bleibt uns also nur übrig, eine von den beiden möglichen Annahmen zu machen. Entweder ist es niemand anders als das „Rabotscheje Djelo" selber, das zu Unrecht gekränkt worden ist (das wird dadurch bestätigt, dass in beiden Artikeln der Nummer 10 nur von den Beleidigungen die Rede ist, die die „Sarja" und die „Iskra" dem „Rabotscheje Djelo" zugefügt haben). Wie soll man dann aber die merkwürdige Tatsache erklären, dass das „Rabotscheje Djelo", das jede Solidarität mit dem Bernsteinianertum stets so hartnäckig geleugnet hatte, sich nicht zu verteidigen wusste, ohne für die „wütendsten Bernsteinianer" und für die Freiheit der Kritik ein Wort einzulegen? Oder es sind irgendwelche dritte Personen zu Unrecht gekränkt worden. Welches können dann die Gründe sein, sie nicht zu nennen?

So sehen wir, dass das „Rabotscheje Djelo" dasselbe Versteckspiel fortsetzt, das es (wie wir weiter unten nachweisen werden) von Beginn seines Bestehens an getrieben hat. Und weiter beachte man diese erste tatsächliche Anwendung der so gerühmten „Freiheit der Kritik". In Wirklichkeit hat sie nicht nur zu einem Fehlen jeder Kritik geführt, sondern auch zum Fehlen einer selbständigen Überlegung überhaupt. Dasselbe „Rabotscheje Djelo", das das russische Bernsteinianertum wie eine geheime Krankheit (nach dem treffenden Ausdruck Starowjers5) verschweigt, schlägt vor, zur Heilung dieser Krankheit das letzte deutsche Rezept gegen die deutsche Abart der Krankheit ganz einfach abzuschreiben! Anstatt der Freiheit der Kritik eine sklavische, … schlimmer: eine äffische Nachahmung! Der gleiche sozialpolitische Inhalt des modernen internationalen Opportunismus kommt in diesen oder jenen Abarten, entsprechend den nationalen Besonderheiten zum Vorschein. In dem einen Lande trat die opportunistische Gruppe seit jeher unter einer besonderen Flagge auf, in dem anderen missachteten die Opportunisten die Theorie und trieben praktisch die Politik der sozialistischen Radikalen, in dem dritten sind einige Mitglieder der revolutionären Partei ins Lager des Opportunismus übergelaufen und sind bemüht, ihre Ziele nicht in offenem Kampf um die Prinzipien und um eine neue Taktik zu erreichen, sondern durch eine allmähliche, unmerkliche und, wenn man so sagen kann, straflose Demoralisierung ihrer Partei, in dem vierten wenden ebensolche Überläufer die gleichen Methoden in der Nacht ihrer politischen Sklaverei und bei einer sehr originellen Wechselbeziehung zwischen der „legalen" und der „illegalen" Tätigkeit an, usw. Wenn man aber von der Freiheit der Kritik und des Bernsteinianertums als der Vorbedingung für die Einigung der russischen Sozialdemokraten sprechen wiU und dabei nicht auseinandersetzt, worin gerade das russische Bersteinianertum zum Ausdruck kommt und welche besonderen Früchte es getragen hat, so heißt das sprechen wollen, ohne etwas zu sagen.

Versuchen wir also selber, wenn auch nur in wenigen Worten, das zu sagen, was das „Rabotscheje Djelo" nicht zu sagen wünschte (oder vielleicht nicht einmal zu verstehen imstande war).

c) Die Kritik in Russland

Die Haupteigenart Russlands in der von uns analysierten Beziehung besteht darin, dass einerseits schon der Beginn der spontanen Arbeiterbewegung selber und anderseits die Schwenkung der fortschrittlichen öffentlichen Meinung zum Marxismus gekennzeichnet waren durch eine Vereinigung bewusst verschiedenartiger Elemente unter gemeinsamer Flagge und zum Kampfe gegen den gemeinsamen Feind (die veraltete sozialpolitische Weltanschauung). Wir sprechen vom Honigmond des „legalen Marxismus". Das war überhaupt eine außerordentlich originelle Erscheinung, an deren Möglichkeit selbst in den achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre niemand geglaubt hätte. Im Lande des Absolutismus, wo die Presse vollkommen geknebelt ist, wo eine wütende politische Reaktion herrscht, die jedes kleinste Anzeichen eines Protestes oder politischer Unzufriedenheit verfolgt, bricht sich plötzlich in der der Zensur unterworfenen Literatur die Theorie des revolutionären Marxismus Bahn, die dargestellt wird in einer allegorischen, aber für alle „Interessierten" verständlichen Sprache. Die Regierung ist gewohnt, nur die Theorie der (revolutionären) Narodnaja-Wolja-Richtung als gefährlich anzusehen, ohne, wie das so üblich ist, ihre innere Evolution zu merken und erfreut über jede gegen diese Theorie gerichtete Kritik. Bis die Regierung dahinterkam, bis die schwerfällige Armee der Zensoren und Gendarmen den neuen Feind ausfindig machte und über ihn herfiel – bis dahin war viel Zeit (mit unserem russischen Maß gemessen) vergangen. In dieser Zeit aber erschien ein marxistisches Buch nach dem andern, marxistische Zeitschriften wurden gegründet, alle Menschen ohne Ausnahme wurden Marxisten, den Marxisten wurde geschmeichelt, der Hof gemacht, die Verleger waren begeistert von dem außergewöhnlich hohen Absatz der marxistischen Bücher. Selbstverständlich fand sich unter den in einer solchen Atmosphäre ihre ersten Schritte machenden Marxisten mehr als ein „Schriftsteller, der übermütig wurde"6 ….

Heute kann von jener Zeit ganz ruhig wie von der Vergangenheit gesprochen werden. Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass die kurzfristige Blüte des Marxismus an der Oberfläche unserer Literatur hervorgerufen wurde durch das Bündnis extrem radikaler mit sehr gemäßigten Leuten. Im Grunde genommen waren diese letztgenannten bürgerliche Demokraten, und dieser Schluss (der durch ihre weitere „kritische" Entwicklung vollkommen bestätigt worden ist) drängte sich manch einem schon zu einer Zeit auf, als das „Bündnis" noch intakt war.E

Aber wenn dem so ist, fällt dann nicht die größte Verantwortung für die spätere „Verwirrung" gerade auf die revolutionären Sozialdemokraten, die dieses Bündnis mit den zukünftigen „Kritikern" eingegangen sind? Eine solche Frage und die bejahende Antwort auf sie muss man manchmal von Leuten hören, die die Sache zu gradlinig betrachten. Doch diese Leute haben absolut Unrecht. Nur wer zu sich selbst kein Vertrauen hat, kann sich vor vorübergehenden Bündnissen selbst mit unzuverlässigen Leuten fürchten, und keine einzige politische Partei könnte ohne solche Bündnisse existieren. Die Vereinigung mit den legalen Marxisten aber war in ihrer Art das erste wirklich politische Bündnis der russischen Sozialdemokratie. Dank diesem Bündnis ist ein erstaunlich rascher Sieg über die Volkstümler und eine ungeheuer starke Verbreitung der Ideen des Marxismus (wenn auch in vulgarisierter Form) erzielt worden. Dabei ist das Bündnis nicht ganz ohne „Bedingungen" abgeschlossen worden. Ein Beweis ist das im Jahre 1895 von der Zensur verbrannte marxistische Sammelbuch: „Materialien zur Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands". Wenn das literarische Übereinkommen mit den legalen Marxisten verglichen werden kann mit einem politischen Bündnis, so kann dieses Buch mit einem politischen Vertrag verglichen werden.

Der Bruch ist natürlich nicht dadurch hervorgerufen worden, dass sich die „Verbündeten" als bürgerliche Demokraten erwiesen hatten. Im Gegenteil, die Vertreter dieser letzten Richtung sind die natürlichen und erwünschten Verbündeten der Sozialdemokratie, soweit es sich um deren demokratische Aufgaben handelt, die durch die gegenwärtige Lage Russlands in den Vordergrund gerückt werden. Aber die notwendige Vorbedingung für ein solches Bündnis ist die absolute, den Sozialisten gegebene Möglichkeit, vor der Arbeiterklasse den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen ihren Interessen und den Interessen der Bourgeoisie zu enthüllen. Das Bernsteinianertum aber und die „kritische" Richtung, zu der sich die übergroße Mehrheit der legalen Marxisten vorbehaltlos bekannte, machten diese Möglichkeit zunichte und demoralisierten das sozialistische Bewusstsein, indem sie den Marxismus vulgarisierten, die Theorie der Abstumpfung der sozialen Widersprüche predigten, die Idee der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats für Unsinn erklärten, die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf auf einen engen „Trade Unionismus" und auf den „realistischen" Kampf um kleine allmähliche Reformen beschränkten. Das war vollkommen gleichbedeutend mit der Verneinung des Rechtes auf Selbständigkeit und folglich der Existenzberechtigung des Sozialismus durch die bürgerliche Demokratie; das bedeutete in der Praxis das Bestreben, die im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung in ein Anhängsel der Liberalen zu verwandeln.

Natürlich war unter solchen Umständen der Bruch notwendig. Aber die „originelle" Eigenart Russlands zeigte sich darin, dass dieser Bruch die einfache Entfernung der Sozialdemokraten aus der für alle zugänglichen und weit verbreiteten „legalen" Literatur war. In ihr setzten sich „ehemalige Marxisten" fest, die sich „unter das Zeichen der Kritik" stellten und fast ein Monopol darauf erhielten, mit dem Marxismus „hausieren zu gehen". Die Parolen: „Gegen die Orthodoxie" und „Es lebe die Freiheit der Kritik" (die das „Rabotscheje Djelo" jetzt wiederholt) wurden plötzlich zu Modeworten, und dass selbst die Zensoren und Gendarmen dieser Mode nicht widerstehen konnten, geht aus solchen Tatsachen hervor, wie z. B. das Erscheinen des Buches des berühmten (herostratisch berühmten) Bernstein in drei russischen Ausgaben7 oder wie die Empfehlung der Bücher Bernsteins, Prokopowitschs u. a. durch Subatow („Iskra" Nr. 10)8. Die Sozialdemokraten standen jetzt vor der an und

Dogmatismus und „Freiheit der Kritik' für sich sehr schwierigen und durch rein äußerliche Hindernisse noch unglaublich erschwerten Aufgabe des Kampfes gegen die neue Richtung. Diese Richtung aber beschränkte sich nicht auf das Gebiet der Literatur. Das Abschwenken zur „Kritik" traf sich hierbei mit der Vorliebe der sozialdemokratischen Praktiker für den „Ökonomismus".

Wie die Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit zwischen legaler Kritik und illegalem Ökonomismus entstand und sich entwickelte, diese interessante Frage könnte Gegenstand eines besonderen Artikels sein. Hier genügt es, die unbezweifelbare Tatsache des Bestehens einer solchen Verbindung fest-zustellen. Das berüchtigte „Credo" hat eben darum eine so verdiente Berühmtheit erlangt, weil es diese Verbindung offen formuliert und die politische Grundtendenz des „Ökonomismus" ausgeplaudert hat: mögen die Arbeiter den ökonomischen Kampf führen (genauer müsste man sagen: den trade-unionistischen Kampf, denn dieser umfasst auch die spezifische Arbeiterpolitik), die marxistische Intelligenz aber muss sich mit den Liberalen zu gemeinsamem politischen „Kampf" verschmelzen. Die trade-unionistische Arbeit „im Volke" sollte die Verwirklichung der ersten, die legale Kritik – die der zweiten Hälfte dieser Aufgabe sein. Diese Erklärung war eine so ausgezeichnete Waffe gegen den Ökonomismus, dass, wenn es kein „Credo" gegeben hätte, man es hätte erfinden müssen.

Das „Credo" wurde nicht erfunden, sondern es ist ohne die Einwilligung und vielleicht sogar gegen den Willen seiner Verfasser veröffentlicht worden. Wenigstens hat der Schreiber dieser Zeilen, der daran beteiligt war, das neue „Programm"F ans Tageslicht zu fördern, Vorwürfe und Klagen darüber hören müssen, dass man das von den Verfassern entworfene Resume ihrer Ansichten in Abschriften verbreitet, ihm das Etikett „Credo“ angehängt und es sogar zusammen mit einem Protest in der Presse veröffentlicht habe! Wir erwähnen diese Episode, weil sie einen sehr interessanten Zug unseres Ökonomismus aufdeckt: die Angst vor der Öffentlichkeit. Das eben ist das Merkmal des Ökonomismus überhaupt, und nicht nur der Verfasser des „Credo"; dieses Merkmal zeichnete auch die „Rabotschaja Mysl" aus, den aufrichtigsten und ehrlichsten Anhänger des Ökonomismus, ferner das „Rabotscheje Djelo" (das empört ist über die Veröffentlichung der „ökonomistischen" Dokumente im „Vademecum"), und das Kiewer Komitee, das vor zwei Jahren seine Einwilligung nicht geben wollte zur Veröffentlichung seiner profession de foi9 zusammen mit der gegen sie geschriebenen WiderlegungG, und viele, viele einzelne Vertreter des Ökonomismus08.

Diese Angst vor der Kritik, durch die sich die Anhänger der freien Kritik auszeichneten, kann nicht aus ihrer Schlauheit allein erklärt werden (obgleich man natürlich dann und wann ohne Schlauheit nicht auskommen kann: es ist unzweckmäßig, dem Ansturm der Gegner die noch schwachen Keime einer neuen Richtung preiszugeben!). Nein, der größte Teil der Ökonomisten blickt mit ehrlicher Abneigung (und dem Wesen des Ökonomismus nach müssen sie das tun) auf alle theoretischen Streitigkeiten, fraktionellen Meinungsverschiedenheiten, auf die großen politischen Fragen, auf die Pläne zur Organisation der Revolutionäre usw. „Man sollte das alles dem Ausland überlassen!" – sagte mir einst einer der ziemlich konsequenten Ökonomisten, und er sprach damit eine sehr verbreitete (und wiederum rein trade-unionistische) Ansicht aus: unsere Sache ist die Arbeiterbewegung, die Arbeiterorganisationen hier, wo wir leben, und alles andere ist Erfindung der Doktrinäre, ist eine „Überschätzung der Ideologie", wie sich die Verfasser des Briefes in Nr. 12 der „Iskra" in Übereinstimmung mit Nr. 10 des „Rabotscheje Djelo" ausdrückten.

Nun fragt es sich: worin musste, in Anbetracht solcher Eigenheiten der russischen „Kritik" und des russischen Bernsteinianertums die Aufgabe aller derjenigen bestehen, die in der Tat und nicht nur mit Worten Gegner des Opportunismus sein wollen? Erstens musste für die Wiederaufnahme der theoretischen Arbeit gesorgt werden, die mit der Epoche des legalen Marxismus gerade eben erst begonnen hatte und die jetzt wieder den illegalen Leuten zugefallen ist; ohne eine solche Arbeit war die erfolgreiche Entwicklung der Bewegung unmöglich. Zweitens musste ein aktiver Kampf gegen die legale „Kritik" eröffnet werden, die eine gründliche Demoralisierung in die Köpfe hineingetragen hat. Drittens musste aktiv gekämpft werden gegen die Zerfahrenheit und die Schwankungen in der praktischen Bewegung, wobei alle Versuche, bewusst oder unbewusst unser Programm und unsere Taktik auf ein niedrigeres Niveau zu bringen, entlarvt und widerlegt werden mussten.

Dass das „Rabotscheje Djelo" weder das erste noch das zweite noch das dritte getan 4hat, ist bekannt, und weiter unten werden wir diese bekannte Tatsache von den verschiedensten Seiten eingehend zu analysieren haben. Jetzt wollen wir nur zeigen, in welch schreiendem Widerspruch zu den Eigenheiten unserer einheimischen Kritik und des russischen Ökonomismus die Forderung der „Freiheit der Kritik" steht. Man betrachte in der Tat den Text der Resolution, mit der der „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten" den Standpunkt des „Rabotscheje Djelo" gebilligt hat:

Im Interesse der weiteren ideellen Entwicklung der Sozialdemokratie erkennen wir die Freiheit der Kritik an der sozialdemokratischen Theorie in der Parteiliteratur als unbedingt notwendig an, soweit die Kritik dem revolutionären Klassencharakter dieser Theorie nicht widerspricht." („Zwei Konferenzen", S. 10.)

Und die Motivierung: die Resolution „fällt in ihrem ersten Teil zusammen mit der Resolution des Lübecker Parteitages zur Frage Bernsteins …" In ihrer Einfalt sehen die „Verbündeten" nicht, welch testimonium paupertatis (Armutszeugnis) sie sich mit dieser Nachahmung ausstellen! … „aber im zweiten Teil beschränkt sie die Freiheit der Kritik auf engere Grenzen, als es der Lübecker Parteitag getan hat".

Die Resolution des „Auslandsbundes" ist also gegen die russischen Bernsteinianer gerichtet? Sonst wäre es ein absoluter Unsinn, sich auf Lübeck zu berufen! Es ist aber nicht wahr, dass sie „die Freiheit der Kritik auf engere Grenzen beschränkt". Die Deutschen haben durch ihre hannoversche Resolution gerade jene Zusatzanträge Bernsteins Punkt für Punkt abgelehnt und in der Lübecker Resolution haben sie Bernstein persönlich verwarnt, indem sie in der Resolution seinen Namen nannten. Unsere „freien" Nachahmer hingegen erwähnen mit keinem Ton auch nur irgendeine Kundgebung der speziell russischen „Kritik" und des russischen Ökonomismus; bei diesem Verschweigen lässt der bloße Hinweis auf den klassenmäßigen und revolutionären Charakter der Theorie weitaus mehr Raum für falsche Auslegungen, besonders wenn der „Auslandsbund" es ablehnt, den „sogenannten Ökonomismus" zum Opportunismus zu zählen („Zwei Konferenzen", S. 8, Punkt 1). Das aber nur nebenbei. Das Wichtigste jedoch ist, dass das Verhalten der Opportunisten zu den revolutionären Sozialdemokraten diametral entgegengesetzt ist in Deutschland und in Russland. In Deutschland treten bekanntlich die revolutionären Sozialdemokraten ein für die Aufrechterhaltung dessen, was ist: für das alte Programm und für die Taktik, die alle kennen und die durch die Erfahrung vieler Jahrzehnte in allen Einzelheiten erläutert worden ist. Die „Kritiker" aber wollen Änderungen hinein tragen, und da diese Kritiker nur in verschwindender Minderheit sind und ihre revisionistischen Bestrebungen sehr schüchtern hervortreten, so kann man die Beweggründe verstehen, die die Mehrheit veranlassten, sich auf die trockene Ablehnung der „Neuerungen" zu beschränken. Bei uns in Russland aber treten die Kritiker und Ökonomisten für die Aufrechterhaltung dessen, was ist, ein: die „Kritiker" wollen, dass man sie auch weiterhin als Marxisten betrachte und ihnen jene „Freiheit der Kritik" sichere, über die sie in jeder Weise verfügten (denn irgendeine Parteibindung haben sie eigentlich nie anerkanntH; außerdem besaßen wir gar kein allgemein anerkanntes Parteiorgan, das die Freiheit der Kritik auch nur durch einen Ratschlag hätte „beschränken" können); die Ökonomisten wollen, dass die Revolutionäre die „Vollberechtigung der Bewegung der Gegenwart" anerkennen („Rabotscheje Djelo" Nr. 10, S. 25), d. h. die „Legitimität" dessen, was besteht; dass die „Ideologen" keinen Versuch unternehmen, die Bewegung von dem Weg abzulenken, der „bestimmt wird durch die Wechselwirkung der materiellen Elemente und der materiellen Umgebung" („Brief" in Nr. 12 der „Iskra"); dass man den Kampf als wünschenswert anerkenne, „den die Arbeiter unter den gegebenen Bedingungen überhaupt zu führen imstande sind", als möglich aber – den Kampf, „den sie in Wirklichkeit im gegebenen Moment führen" (Sonderbeilage zur „Rabotschaja Mysl", S. 14). Wir revolutionäre Sozialdemokraten dagegen sind mit einer solchen Anbetung der Spontaneität, d. h. dessen, was im „gegebenen Moment" besteht, unzufrieden; wir verlangen die Änderung der in den letzten Jahren herrschenden Taktik, wir erklären, dass wir, „ehe wir uns einigen und um uns zu einigen, uns zunächst entschieden und bestimmt voneinander abgrenzen müssen" (aus der Ankündigung über das Erscheinen der „Iskra"). Mit einem Wort, die Deutschen bleiben bei den gegebenen Tatsachen und lehnen Änderungen ab; wir verlangen eine Änderung des Gegebenen und lehnen die Anbetung dieses Gegebenen und die Aussöhnung mit ihm ab.

Diesen „kleinen" Unterschied haben unsere „freien" Abschreiber der deutschen Resolutionen nicht bemerkt!

d) Engels über die Bedeutung des theoretischen Kampfes

Dogmatismus, Doktrinarismus", „Verknöcherung der Partei als unvermeidliche Strafe für die gewaltsame Abschnürung des Denkens" – das sind die Feinde, gegen die sich die Verfechter der „Freiheit der Kritik" im „Rabotscheje Djelo" ritterlich wappnen. Wir freuen uns sehr, dass diese Frage auf die Tagesordnung gestellt wird, und möchten nur vorschlagen, sie durch eine andere Frage zu ergänzen:

Und wer sind die Richter?

Zwei Ankündigungen literarischer Veröffentlichungen liegen vor uns. Die eine ist das „Programm des periodisch erscheinenden Organs des Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten, ,Rabotscheje Djelo'" (Abdruck aus Nr. 1 des „Rabotscheje Djelo"10). Die andere – die Ankündigung über das Wiedererscheinen der Publikationen der Gruppe „Befreiung der Arbeit"11. Beide tragen das Datum des Jahres 1899, einer Zeit, wo die „Krise des Marxismus" seit langem auf der Tagesordnung stand. Und was sehen wir? Im ersten Werke würde man vergeblich auch nur die Spur eines Hinweises auf diese Erscheinung oder eine bestimmte Darlegung der Position suchen, die das neue Organ zu dieser Frage einzunehmen beabsichtigt. Über die theoretische Arbeit und ihre dringendsten Aufgaben in der gegebenen Zeit steht kein Wort – weder in diesem Programm noch in jenen Ergänzungen zu ihm, die die dritte Konferenz des Auslandsbundes im Jahre 1901 angenommen hat („Zwei Konferenzen", S. 15–18). Während dieser ganzen Zeit hat die Redaktion des „Rabotscheje Djelo" theoretische Fragen beiseite gelassen, obgleich sie die Sozialdemokraten der ganzen Welt bewegten.

Die zweite Ankündigung weist hingegen vor allem auf die Verminderung des Interesses für die Theorie in den letzten Jahren hin, sie verlangt dringend „aufmerksamste Beachtung der theoretischen Seite der revolutionären Bewegung des Proletariats" und ruft zur „schonungslosen Kritik an den Bernsteinschen und anderen antirevolutionären Tendenzen" in unserer Bewegung auf. Die erschienenen Nummern der „Sarja" zeigen, wie dieses Programm durchgeführt worden ist.12

Wir sehen also, dass die hochtrabenden Phrasen gegen die Verknöcherung des Denkens usw. nur die Sorglosigkeit und die Hilflosigkeit in der Entwicklung des theoretischen Gedankens bemänteln. Das Beispiel der russischen Sozialdemokraten illustriert besonders anschaulich jene allgemein-europäische Erscheinung (die auch von den deutschen Marxisten schon seit langem festgestellt worden ist), dass die berüchtigte Freiheit der Kritik nicht die Ablösung einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern die Freiheit von jeder einheitlichen und durchdachten Theorie, dass sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet. Wer den tatsächlichen Zustand unserer Bewegung einigermaßen kennt, der muss wissen, dass die weite Verbreitung des Marxismus begleitet war von einem gewissen Sinken des theoretischen Niveaus. Der Bewegung schlossen sich, angezogen von ihrer praktischen Bedeutung und ihren praktischen Erfolgen, nicht wenig Leute an, die theoretisch sehr wenig oder gar nicht vorgebildet waren. Man kann daraus ersehen, welchen Mangel an Takt das „Rabotscheje Djelo" zeigt, wenn es mit triumphierender Miene Marx' Ausspruch wiederholt: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ Diese Worte in einer Periode der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen, ist dasselbe, als wollte man beim Anblick eines Leichenbegängnisses rufen: „Schleppt ohne End'!" Die Worte von Marx sind ja außerdem seinem Brief über das Gothaer Programm entnommen, wo er den in der Formulierung der Prinzipien zugelassenen Eklektizismus scharf verurteilt: wenn man sich schon vereinigen musste – schrieb Marx an die Führer der Partei –, so schließt Abkommen ab im Namen der Verwirklichung der praktischen Ziele der Bewegung, aber lasst den Schacher mit Prinzipien nicht zu, macht keine theoretischen „Zugeständnisse". Das war Marx' Gedanke; bei uns aber finden sich Leute, die in seinem Namen die Bedeutung der Theorie herabzusetzen bemüht sind!

Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden zu einer Zeit, wo die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engherzigsten Formen der praktischen Tätigkeit paart. Für die russische Sozialdemokratie aber wird die Bedeutung der Theorie noch durch drei Umstände verstärkt, die man oft vergisst, nämlich: erstens dadurch, dass unsere Partei eben erst im Entstehen begriffen ist, erst ihr eigenes Gesicht herausarbeitet und noch lange nicht fertig geworden ist mit den anderen Richtungen des revolutionären Denkens, die die Bewegung vom richtigen Wege abzulenken drohen. Im Gegenteil, gerade die letzte Zeit war durch eine Belebung der nichtsozialdemokratischen revolutionären Richtungen gekennzeichnet (wie es Axelrod seit langem den Ökonomisten prophezeit hatte13). Unter solchen Umständen kann ein auf den ersten Blick „unwichtiger" Irrtum die schlimmsten Folgen haben, und nur Kurzsichtige können die fraktionellen Diskussionen und das strenge Auseinanderhalten der Schattierungen für unzeitgemäß oder überflüssig halten. Von der Konsolidierung dieser oder jener „Schattierung" kann die Zukunft der russischen Sozialdemokratie für viele, viele Jahre abhängen.

Zweitens ist die sozialdemokratische Bewegung ihrem ganzen Wesen nach international. Das bedeutet nicht nur, dass wir den nationalen Chauvinismus zu bekämpfen haben. Das bedeutet auch, dass die in einem jungen Lande einsetzende Bewegung nur erfolgreich sein kann, wenn sie die Erfahrungen der anderen Länder verarbeitet. Für ein solches Verarbeiten aber genügt nicht die einfache Kenntnis dieser Erfahrungen oder das einfache Abschreiben der letzten Resolutionen. Dazu ist es notwendig, dass man versteht, diesen Erfahrungen kritisch gegenüberzustehen und sie selbständig zu überprüfen. Wer sich nur vergegenwärtigt, wie gewaltig die moderne Arbeiterbewegung angewachsen ist und sich verzweigt hat, der wird begreifen, welch ein Vorrat an theoretischen Kräften und politischen (und auch revolutionären) Erfahrungen zur Bewältigung dieser Aufgabe notwendig ist.

Drittens sind die nationalen Aufgaben der russischen Sozialdemokratie solche, wie sie noch vor keiner sozialistischen Partei der Welt gestanden haben. Wir werden weiter unten auf die politischen und organisatorischen Pflichten zu sprechen kommen, die uns diese Aufgabe der Befreiung des gesamten Volkes vom Joch des Absolutismus auferlegt. Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, dass die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortschrittlichen Theorie geleitet wird.14 Um sich auch nur einigermaßen konkret vorzustellen, was das bedeutet, möge sich der Leser an solche Vorläufer der russischen Sozialdemokratie erinnern, wie Herzen, Bjelinski, Tschernyschewski und die glänzende Schar der Revolutionäre der siebziger Jahre, möge er denken an die internationale Bedeutung, die jetzt die russische Literatur gewinnt, möge er…, aber auch das genügt ja schon!

Wir wollen Engels' Bemerkungen über die Bedeutung der Theorie in der sozialdemokratischen Bewegung anführen, die aus dem Jahre 1874 stammen. Engels lässt nicht zwei Formen des großen Kampfes der Sozialdemokratie (den politischen und den ökonomischen) gelten – wie es bei uns üblich ist –, sondern drei, indem er neben sie auch den theoretischen Kampf stellt. Seine Worte, die er der praktisch und politisch erstarkten deutschen Arbeiterbewegung mit auf den Weg gibt, sind so lehrreich vom Standpunkt der heutigen Fragen und Diskussionen, dass der Leser uns hoffentlich das lange Zitat nicht übelnehmen wird, das wir der Broschüre „Der deutsche Bauernkrieg"I entnehmen, die seit langem eine bibliographische Seltenheit geworden ist:

Die deutschen Arbeiter haben vor denen des übrigen Europas zwei wesentliche Vorteile voraus. Erstens, dass sie dem theoretischsten Volke Europas angehören und dass sie sich den theoretischen Sinn bewahrt haben, der den sogenannten ,Gebildeten' Deutschlands so gänzlich abhanden gekommen ist. Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus – der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat – nie zustande gekommen. Ohne den theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist. Und welch ein unermesslicher Vorzug dies ist, zeigt sich einerseits an der Gleichgültigkeit gegen alle Theorie, die eine der Hauptursachen ist, weshalb die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisationen der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt, und andererseits an dem Unfug und der Verwirrung, die der Proudhonismus in seiner ursprünglichen Gestalt bei Franzosen und Belgiern, in seiner durch Bakunin weiter karikierten Form bei Spaniern und Italienern angerichtet hat.

Der zweite Vorteil ist der, dass die Deutschen in der Arbeiterbewegung der Zeit nach ziemlich zuletzt gekommen sind. Wie der deutsche theoretische Sozialismus nie vergessen wird, dass er auf den Schultern Saint Simons, Fouriers und Owens steht, dreier Männer, die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen, so darf die deutsche praktische Arbeiterbewegung nie vergessen, dass sie auf den Schultern der englischen und französischen Bewegung sich entwickelt hat, ihre teuer erkauften Erfahrungen sich einfach zunutze machen, ihre damals meist unvermeidlichen Fehler jetzt vermeiden konnte. Ohne den Vorgang der englischen Trade Unions und der französischen politischen Arbeiterkämpfe, ohne den riesenhaften Anstoß, den namentlich die Pariser Kommune gegeben, wo wären wir jetzt?

Man muss den deutschen Arbeitern nachsagen, dass sie die Vorteile ihrer Lage mit seltenem Verständnis ausgebeutet haben. Zum ersten Mal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin – nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) – im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung.

Einerseits durch diese ihre vorteilhafte Stellung, andererseits durch die insularen Eigentümlichkeiten der englischen und die gewaltsame Niederhaltung der französischen Bewegung, sind die deutschen Arbeiter für den Augenblick in die Vorhut des proletarischen Kampfes gestellt worden. Wie lange die Ereignisse ihnen diesen Ehrenposten lassen werden, lässt sich nicht vorhersagen. Aber solange sie ihn einnehmen, werden sie ihn hoffentlich so ausfüllen, wie es sich gebührt. Dazu gehören verdoppelte Anstrengungen auf jedem Gebiet des Kampfes und der Agitation. Es wird namentlich die Pflicht der Führer sein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr von dem Einfluss überkommener, der alten Weltanschauung angehöriger Phrasen zu befreien, und stets im Auge zu behalten, dass der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d. h. studiert werden will. Es wird darauf ankommen, die so gewonnene, immer mehr geklärte Einsicht unter den Arbeitermassen mit gesteigertem Eifer zu verbreiten, die Organisation der Partei wie der Gewerksgenossenschaften immer fester zusammenzuschließen.

Wenn die deutschen Arbeiter so vorangehen, so werden sie nicht gerade an der Spitze der Bewegung marschieren – es ist gar nicht im Interesse der Bewegung, dass die Arbeiter irgendeiner einzelnen Nation an ihrer Spitze marschieren –, aber doch einen ehrenvollen Platz in der Schlachtlinie einnehmen; und sie werden gerüstet dastehen, wenn entweder unerwartet schwere Prüfungen oder gewaltige Ereignisse von ihnen erhöhten Mut, erhöhte Entschlossenheit und Tatkraft erheischen."

Engels' Worte haben sich als prophetisch erwiesen. Wenige Jahre später wurden die deutschen Arbeiter unerwartet vor schwere Prüfungen gestellt in Gestalt des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten. Die deutschen Arbeiter sind dieser Prüfung in voller Rüstung entgegengetreten und haben es verstanden, sie siegreich zu bestehen.

Dem russischen Proletariat stehen noch unermesslich schlimmere Prüfungen bevor, ihm steht der Kampf gegen ein Ungeheuer bevor, im Vergleich mit dem das Sozialistengesetz in einem konstitutionellen Lande als wahrer Zwerg erscheint. Die Geschichte hat uns jetzt vor eine dringende Aufgabe gestellt, die die revolutionärste aller dringenden Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Landes ist. Die Verwirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung der mächtigsten Stütze nicht nur der europäischen, sondern auch (können wir jetzt sagen) der asiatischen Reaktion würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen. Und wir haben das Recht, zu glauben, dass wir diesen Ehrennamen erringen werden, den sich schon unsere Vorgänger, die Revolutionäre der siebziger Jahre, verdient hatten, wenn wir es verstehen werden, unsere tausendmal mehr in die Tiefe und in die Breite gehende Bewegung mit ebenso bedingungsloser Entschlossenheit und Tatkraft zu erfüllen.

A A propos. In der Geschichte des neuesten Sozialismus ist es wohl eine vereinzelte und in ihrer Art außerordentlich trostreiche Erscheinung, dass der Zwist der verschiedenen Richtungen innerhalb des Sozialismus zum ersten Mal aus dem nationalen Rahmen herausgetreten und zu einem internationalen Streit geworden ist. In früheren Zeiten blieben die Streitigkeiten zwischen Lassalleanern und Eisenachern, zwischen Guesdisten und Possibilisten, zwischen Fabiern und Sozialdemokraten, zwischen der „Narodnaja Wolja" und der Sozialdemokratie auf rein nationalem Rahmen beschränkt, sie spiegelten rein nationale Eigentümlichkeiten wider, spielten sich sozusagen auf verschiedenen Ebenen ab. Gegenwärtig (jetzt ist es bereits deutlich zu erkennen) bilden die englischen Fabier, die französischen Ministerialisten, die deutschen Bernsteinianer und die russischen Kritiker eine einzige Familie, sie alle loben einander, lernen voneinander und verbinden sich zu gemeinsamem Kampf gegen den „dogmatischen" Marxismus. Vielleicht wird die internationale revolutionäre Sozialdemokratie in diesem ersten wirklich internationalen Zusammenstoß mit dem sozialistischen Opportunismus genügend erstarken, um der schon seit langem in Europa herrschenden politischen Reaktion ein Ende zu bereiten?

B Der Vergleich der beiden Strömungen im revolutionären Proletariat (der revolutionären und der opportunistischen) mit den beiden Strömungen in der revolutionären Bourgeoisie des XVIII. Jahrhunderts (Jakobiner-„Bergpartei" und Girondisten) ist im Leitartikel der Nummer 2 der „Iskra" (Februar 1901) gemacht worden. Der Verfasser dieses Artikels ist Plechanow. Bis zum heutigen Tage lieben es die Kadetten, die „Bessaglawzy" und die Menschewiki, vom „Jakobinertum" in der russischen Sozialdemokratie zu sprechen. Aber dass Plechanow zum ersten Mal diesen Begriff gegen den rechten Flügel in der Sozialdemokratie gebraucht hat, das wird heute verschwiegen oder… vergessen. (Anm. des Verfassers zur Ausgabe von 1908. D. Red.)

1 Ilowaiski – der Verfasser eines unter dem Zarismus in den russischen Schulen gebräuchlichen, äußerst primitiven Lehrbuches der Geschichte. D. Red.

C Als Engels gegen Dühring zu Felde zog, da neigten zu den Ansichten des letzteren ziemlich viele Vertreter der deutschen Sozialdemokratie, und Engels wurde sogar öffentlich auf dem Parteitag mit Vorwürfen überschüttet, zu scharf, zu intolerant, zu unkameradschaftlich in der Polemik vorgegangen zu sein. Most und Genossen beantragten (auf dem Parteitag 1877) die Beseitigung der Engelsschen Artikel aus dem „Vorwärts", weil sie „für die übergroße Mehrheit der Leser nicht von Interesse seien", und Vahlteich erklärte, dass die Veröffentlichung dieser Artikel der Partei großen Schaden zugefügt, dass Dühring der Sozialdemokratie ebenfalls Dienste erwiesen habe: „Wir müssen im Interesse der Partei alles ausnützen, und wenn die Professoren in Streit miteinander geraten, so ist der ,Vorwärts' absolut nicht der Platz für die Austragung solcher Streitigkeiten" („Vorwärts", 1877, Nr. 65 vom 6. Juni). {Gemeint ist die Notiz „Kongress der Sozialdemokraten Deutschlands" in Nr. 65 des „Vorwärts" vom 6. Juni 1877.} Man sieht, auch das ist ein Beispiel, wie die „Freiheit der Kritik" verteidigt wird, und es würde nichts schaden, wenn unsere legalen Kritiker und illegalen Opportunisten, die es so sehr lieben, sich auf die Deutschen zu berufen, über dieses Beispiel nachdenken wollten!

2 Lenin meint den Artikel B. Kritschewskis: „Unruhige Zeiten in Frankreich" („Rabotscheje Djelo", Nr. 2/3, August 1899). Kritschewski, der den Kampf der Richtungen im französischen Sozialismus aus Anlass des Eintritts des „Sozialisten" Millerand in das bürgerliche Ministerium beschreibt, schildert in einer für den rechten Flügel (die „Jaurèsisten") außerordentlich günstigen Form die Beweisführung der Reformisten zugunsten Millerands und seiner Zusammenarbeit mit dem General Gallifet, dem Henker der Pariser Kommune: „… in Anbetracht der Gefahr, die der Republik droht, muss man an die Gegenwart und an die Zukunft denken, anstatt bei Erinnerungen an die Vergangenheit zu verweilen, wie teuer und heilig sie auch sein mögen … Gallifet ist bekannt als Feind der klerikalen Bande … Überhaupt hat er sich doch stets den republikanischen Gesetzen ohne Widerspruch untergeordnet, wie es kein anderer General getan hat. Andrerseits ist die Teilnahme Millerands die beste Bürgschaft für die Politik des Ministeriums im allgemeinen und für die des Generals Gallifet insbesondere. Millerand wird sorgfältig darauf achten, dass Gallifet ein gehorsames Werkzeug ist und nur ein Werkzeug bleibt…" (Seite 83 u. 84.) Kritschewski nahm diese Argumentation der Opportunisten unter seinen Schutz, indem er behauptete, dass die Jaurèsisten unseres Erachtens durchaus richtig argumentieren.

3 Nosdrew – eine Figur aus Gogols „Tote Seelen", Typus eines feigen und prahlerischen Gutsbesitzers. D. Red.

4 Dem Hannoverschen Parteitag ward im „Rabotscheje Djelo" eine Notiz gewidmet unter dem Titel „Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Hannover".

D Es muss bemerkt werden, dass das „Rabotscheje Djelo" in der Frage des Bernsteinianertums in der deutschen Partei sich stets nur auf die nackte Wiedergabe der Tatsachen beschränkt und sich jeder eigenen Beurteilung absolut enthalten hat. Siehe z. B. Nr. 2/3, S. 66, über den Stuttgarter Parteitag; alle Meinungsverschiedenheiten werden auf die „Taktik" zurückgeführt, und es wird lediglich festgestellt, dass die übergroße Mehrheit der alten revolutionären Taktik treu geblieben sei. Oder Nr. 4/5, S. 25 und folgende: eine einfache Wiedergabe der Reden auf dem Parteitag in Hannover mit Anführung der Resolution Bebels; die Darstellung und die Kritik der Ansichten Bernsteins sind wiederum (wie in Nr. 2/3) mit dem Hinweis auf einen „besonderen Artikel" verschoben worden. Merkwürdig ist es, dass wir auf S. 33 der Nr. 4/5 lesen: „… der von Bebel auseinandergesetzte Standpunkt hat die übergroße Mehrheit des Parteitages hinter sich", und etwas weiter unten: „…David verteidigte die Ansichten Bernsteins … Vor allem bemühte er sich, nachzuweisen, dass … Bernstein und seine Freunde trotz allem (sic!) auf dem Boden des Klassenkampfes stehen…" {Dem Stuttgarter Parteitag widmete das „Rabotscheje Djelo" eine Notiz unter dem Titel: „Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" („Rabotscheje Djelo" Nr. 2/3, August 1899, S. 65–72). Die Redaktion des „Rabotscheje Djelo" äußerte sich nicht über den Kampf, der zwischen den Orthodoxen und der revisionistischen Richtung auf dem Parteitage über die Fragen der Taktik stattgefunden hatte, und beschränkte sich auf den Hinweis, dass man die Frage nur in einem besonderen Artikel ausführlich behandeln könne."} So schrieb man im Dezember 1899 {Lenin beruft sich auf eine Notiz in Nr. 4/5 des „Rabotscheje Djelo" unter dem Titel „Der Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands" (S. 25–37). Hinsichtlich der Worte Lenins: „Dies wurde im Dezember 1899 geschrieben" – muss darauf hingewiesen werden, dass Nr. 4/5 des ,Rabotscheje Djelo' zwar vom November-Dezember datiert ist, dass obenerwähnte Notiz aber das Datum des 22. (10.) Oktober des gleichen Jahres trägt.}, aber im September 1901 scheint das „Rabotscheje Djelo" nicht mehr an die Richtigkeit des Bebelschen Standpunktes zu glauben und wiederholt die Ansichten Davids als seine eigenen! (Diese Anmerkung hatte der Verfasser in der Ausgabe von 1908 weggelassen. D. Red.)

5 In dem Artikel „Was ist geschehen?" („Sarja", Nr. 1, April 1901), der der Krise der sozialen Ideen in Russland gewidmet war, fragte Starowjer (A. N. Potressow): „Wie kommt es, dass der Skeptizismus des berüchtigten ,Reformators' des Marxismus (d. h. Bernsteins. Die Red.) auf unserm heimatlichen Boden gedeihen konnte, wie sonst nirgends, und dass es in Russland so viele maskierte und so wenig offene Anhänger dieser Lehre gibt, – als ob das Bernsteinianertum eine geheime Krankheit wäre, die man nicht offen und laut zugeben kann?" (S. 48.)

6 „Der Schriftsteller, der übermütig geworden ist", ist der Titel einer der ersten Erzählungen M. Gorkis.

E Hier ist der Artikel K. Tulins gegen Struve gemeint, der die Zusammenfassung eines Referats war, das den Titel trug: „Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur". (Anmerkung des Verfassers zu der Ausgabe von 1908. D. Red.)

7 Im Jahre 1901 erschienen folgende drei russische Übersetzungen des Bernsteinschen Buches unter verschiedenen Titeln: 1. „Der historische Materialismus", übersetzt von L. Kanzel, Verlag „Snanie" (Wissen), St. Petersburg (im Laufe von einem Jahre erschienen zwei Auflagen dieser Übersetzung). 2. „Soziale Probleme", übersetzt von P. S. Kogan, Verlag Kontschalowski, Moskau. 3. „Die Probleme des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie", übersetzt von K. J. Butkowski, Verlag Jefimow, Moskau (Subatowscher Verlag).

8 Dass Subatow den Arbeitern das Bernsteinsche Buch zur Lektüre empfohlen hatte, war der „Iskra" von einem der Redaktion unbekannten Moskauer Genossen mitgeteilt worden, der einen mit „Ex-Ökonomist" gezeichneten Brief unter der Überschrift „Über das Subatow-System" eingesandt hatte. Umfangreiche Auszüge aus diesem Brief sind in dem Artikel J. Martows: „Noch einmal über die politische Korruption unserer Tage" enthalten („Iskra" Nr. 10, November 1901).

F Es handelt sich hier um den Protest der 17 gegen das „Credo". Der Schreiber dieser Zeilen hat an der Abfassung dieses Protestes (Ende 1899) teilgenommen. Der Protest ist zusammen mit dem „Credo" im Frühjahr 1900 im Auslande veröffentlicht worden. Jetzt ist aus dem Artikel der Frau Kuskowa (ich glaube, im Byloje") bereits bekannt geworden, dass sie die Verfasserin des „Credo" gewesen ist und dass im Auslande unter den „Ökonomisten" jener Zeit Herr Prokopowitsch eine sehr hervorragende Rolle gespielt hat. (Diese Anmerkung wurde vom Verfasser der Ausgabe von 1908 hinzugefügt. D. Red.)

9 Glaubensbekenntnis – Darlegung der politischen Ansichten. D. Red.

G Soweit uns bekannt ist, hat sich die Zusammensetzung des Kiewer Komitees seither geändert. (Diese Anmerkung hat der Verfasser in der Ausgabe von 1908 weggelassen. D. Red.)

H Schon dieses Fehlen einer offenen Parteibindung und einer Paiteitradition stellt einen so kardinalen Unterschied zwischen Russland und Deutschland dar, dass jeder vernünftige Sozialist vor einer blinden Nachahmung gewarnt sein müsste. Hier aber ein Beispiel dessen, wie weit die „Freiheit der Kritik" in Russland geht. Der russische Kritiker, Herr Bulgakow, macht dem österreichischen Kritiker Hertz folgenden Vorwurf: „Bei aller Unabhängigkeit seiner Schlussfolgerungen bleibt Hertz in diesem Punkte (in der Genossenschaftsfrage) doch zu sehr gebunden durch die Meinungen seiner Partei, und er wagt es nicht, obgleich er in Einzelheiten anderer Ansicht ist, sich vom allgemeinen Prinzip loszusagen". („Kapitalismus und Landwirtschaft", Bd. II, S. 287.) Der Untertan eines politisch versklavten Staates, in dem 999 von 1000 der Bevölkerung bis auf die Knochen demoralisiert sind durch politische Unterwürfigkeit und durch einen absoluten Mangel an Verständnis für Parteiehre und für Parteibindung – macht dem Bürger eines konstitutionellen Staates von oben herab den Vorwurf, dass er sich zu sehr „an die Meinungen der Partei gebunden" fühle! Unseren illegalen Organisationen bleibt scheinbar nichts anderes übrig, als Resolutionen über die Freiheit der Kritik zu verfassen …

10 Das Programm des „Rabotscheje Djelo", der periodischen Zeitschrift des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" wurde in Nr. 1 des „Rabotscheje Djelo" (April 1899) unter dem Titel „Von der Redaktion" veröffentlicht und erschien dann als Sonderdruck.

11 Die Mitteilung über die Wiederaufnahme der Verlagstätigkeit der Gruppe „Befreiung der Arbeit" wurde von P. B. Axelrod Ende des Jahres 1899 geschrieben und erschien als Sonderausgabe, mit dem Vermerk „1900"; sie ist auch abgedruckt in der Beilage zum Plechanowschen „Vademecum". Auf Grund einer Vereinbarung mit dem „Auslandsbund der russischen Sozialdemokraten", die Ende 1899 getroffen wurde, sollte die Gruppe „Befreiung der Arbeit" mit der Herausgabe einer neuen Serie von Schriften des Auslandsbundes beginnen, und zwar auf Grund eines Programms, das in der „Mitteilung" enthalten war. Der im April 1900 erfolgte vollständige Bruch der Gruppe „Befreiung der Arbeit" mit dem Auslandsbund verhinderte die Verwirklichung dieses Planes.

12 Zu der Zeit, als Lenin diese Zeilen schrieb, waren zwei Nummern der „Sarja" erschienen: Nr. 1 im April 1901 und Nr. 2/3 (eine Doppelnummer) im Dezember 1901.

13 In der Broschüre „Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokraten" (1898) schrieb P. Axelrod (Seite 27 u. 28), dass, wenn die Sozialdemokratie ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf den rein ökonomischen Kampf konzentriert, die revolutionärsten Elemente des Proletariats, die kein Betätigungsfeld für ihre politischen Bestrebungen finden, zum Terror – wie es in den siebziger Jahren geschah –, oder überhaupt zu irgendeiner Abart der bürgerlich-demokratischen revolutionären Bewegung abwandern könnten.

14 Gesperrt vom Verfasser in der Ausgabe von 1908. D. Red.

I Dritter Abdruck, Leipzig 1875. Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei. (Neu herausgegeben von H. Duncker im Internationalen Arbeiter-Verlag. Die Red.)

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