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Wladimir I. Lenin 19041212 Brief an die Genossen

Wladimir I. Lenin: Brief an die Genossen1

Zum Erscheinen des Blattes der Parteimehrheit

[Geschrieben am 12. Dezember (29. November) 1904 Gedruckt als Flugblatt im Dezember 1904 durch die Berliner Gruppe zur Unterstützung der Partei. Nach Sämtliche Werke, Band 6. Wien-Berlin 1930, S. 495-501]

Werte Genossen! Heute ist in der Sitzung eines engen Kreises von im Auslande lebenden Bolschewiki eine im Prinzip längst entschiedene Frage endgültig entschieden worden, die Frage der Gründung eines periodisch erscheinenden Parteiblattes, das der Verteidigung und Entwicklung der Prinzipien der Mehrheit im Kampf gegen die von der Minderheit in die Partei hinein getragene organisatorische und taktische Verwirrung und der Förderung der positiven Arbeit der russischen Organisationen gewidmet ist. Gegen diese Organisationen wird jetzt fast überall in Russland von den Agenten der Minderheit ein erbitterter Kampf geführt, ein Kampf, der in einem so wichtigen geschichtlichen Augenblick die Partei furchtbar desorganisiert, ein Kampf, der mit den schamlosesten Mitteln und mit Spaltungsmethoden geführt wird, wobei in dem sogenannten Zentralorgan der Partei die Spaltung heuchlerisch beweint wird. Wir haben alles getan, um den Kampf mit Parteimitteln zu führen, seit Januar kämpfen wir für die Einberufung eines Parteitages, der den einzigen der Partei würdigen Ausweg aus einer unmöglichen Lage bedeuten würde. Jetzt ist es bereits vollkommen klar geworden, dass fast die gesamte Tätigkeit des zur Minderheit übergelaufenen Zentralkomitees dem verzweifelten Kampf gegen den Parteitag gewidmet ist, dass der Parteirat die unmöglichsten und unerlaubtesten Dinge unternimmt, um den Parteitag hinauszuschieben. Der Parteirat sabotiert geradezu den Parteitag: wer sich aus der Lektüre seiner letzten Beschlüsse in der Beilage zu Nr. 73/74 der „Iskra" davon noch nicht überzeugt hat, der wird es aus unserer (dieser Tage erschienenen) Broschüre Orlowskis, „Der Parteirat gegen die Partei"2 ersehen. Jetzt ist es vollkommen klar geworden, dass die Mehrheit ohne Vereinigung und ohne Widerstand gegen unsere sogenannten zentralen Parteikörperschaften ihre Stellung, für den Parteigeist in seinem Kampf gegen den Zirkelgeist, nicht verteidigen kann. Die Vereinigung der russischen Bolschewiki ist von ihnen längst auf die Tagesordnung gestellt. Man erinnere sich der großen Sympathie, mit der die Programmresolution der 22 (als Programm unseres innerparteilichen Kampfes) aufgenommen worden ist; man erinnere sich des vom Moskauer Komitee (im Oktober 1904) gedruckt herausgegebenen Flugblattes der 193; schließlich ist fast allen Parteikomitees bekannt, dass in allerletzter Zeit eine Reihe von Privatkonferenzen der Mehrheitskomitees stattgefunden haben und zum Teil noch stattfinden4, dass die energischsten und entschiedensten Versuche einer engen Zusammenfassung der Mehrheitskomitees untereinander gemacht werden, um den Bonopartisten im Parteirat, im Zentralorgan und im Zentralkomitee Widerstand zu bieten.

Wir hoffen, dass diese Versuche (oder vielmehr diese Schritte) in sehr naher Zukunft zu allgemeiner Kenntnis gebracht werden, wenn ihre Ergebnisse eine bestimmte Äußerung darüber ermöglichen, was schon erreicht ist. Ohne eine besondere Publikationstätigkeit war die Selbstverteidigung der Mehrheit natürlich vollkommen unmöglich. Das neue Zentralkomitee hat, wie auch aus unserer Parteiliteratur vielleicht schon bekannt ist, unsere Broschüren (und sogar die Umschläge bereits gesetzter Broschüren) aus der Parteidruckerei geradezu vertrieben und die Parteidruckerei auf diese Weise zu einer Zirkeldruckerei gemacht, es hat die offene Aufforderung der Mehrheitsanhänger im Ausland und russischer Komitees, z. B. des Rigaer Komitees, die Literatur der Mehrheit nach Russland zu bringen, abgelehnt. Die Fälschung der öffentlichen Parteimeinung ist als systematische Taktik des neuen Zentralkomitees ganz klar zutage getreten. Die Notwendigkeit, unsere Publikationstätigkeit zu erweitern, den Transport der Literatur zu organisieren, ergab sich für uns unvermeidlich. Die Komitees, die ihre kameradschaftlichen Beziehungen zur Redaktion des Zentralorgans abgebrochen haben (siehe das Bekenntnis Dans im Bericht über die Versammlung in Genf am 2. September 1904 eine interessante Broschüre5), konnten und können ohne ein periodisch erscheinendes Blatt nicht auskommen. Die Partei ist ohne Organ, das Organ ohne Partei! Diese traurige Feststellung, von der Mehrheit bereits im August gemacht, führte unerbittlich zu dem einzigen Ausweg – zur Gründung eines eigenen Organs. Die jungen literarischen Kräfte, die ins Ausland gekommen sind, um die ureigenste Sache der Mehrheit der in Russland wirkenden Genossen zu verteidigen, wollen ausgenutzt werden. Eine Reihe in Russland weilender Parteiliteraten fordert ebenfalls dringend ein Organ. Indem wir ein solches Organ, wahrscheinlich unter dem Namen „Wperjod" gründen, handeln wir in vollkommener Übereinstimmung mit der Masse der russischen Bolschewiki, in vollkommener Übereinstimmung mit unserm Verhalten im Parteikampf. Wir haben zu dieser Waffe gegriffen, nachdem wir im Verlaufe eines Jahres alle, absolut alle einfacheren, für die Partei weniger kostspieligen, den Interessen der Arbeiterbewegung besser entsprechenden Wege versucht haben. Wir geben keineswegs den Kampf um den Parteitag auf, im Gegenteil, wir wollen diesen Kampf erweitern, verallgemeinern und fördern, wir wollen den Komitees helfen, die vor ihnen stehende neue Frage des Parteitages ohne den Parteirat und das Zentralkomitee – gegen den Willen des Parteirats und des Zentralkomitees – zu lösen, eine Frage, die eine allseitige ernste Erörterung erfordert. Wir treten offen für Anschauungen und Aufgaben auf, die der Partei schon lange in einer Reihe von Broschüren dargelegt worden sind. Wir kämpfen und werden kämpfen für eine konsequent revolutionäre Richtung, gegen die Verwirrung und das Schwanken in organisatorischen und taktischen Fragen (siehe den ungeheuerlich verworrenen Brief der neuen „Iskra" an die Parteiorganisationen, der nur für Parteimitglieder gedruckt ist und dem Auge der Welt verborgen blieb)6. Die Ankündigung der Herausgabe des neuen Organs wird wahrscheinlich in einer Woche oder um diese Zeit herum erfolgen. Die erste Nummer wird zwischen dem 1. und dem 10. Januar neuen Stils erscheinen. Dem Redaktionskollegium werden alle bisher hervorgetretenen Literaten der Mehrheit angehören (Rjadowoi, Galorka, Lenin, Orlowski, der an der „Iskra" von Nr. 46 bis Nr. 51, als Lenin und Plechanow sie leiteten, regelmäßig mitgearbeitet hat, und noch viele sehr wertvolle junge literarische Kräfte). Das Kollegium für die praktische Leitung und Organisierung der komplizierten Sache der Verbreitung, Agentur usw. usw. wird so zustande kommen (und ist zum Teil bereits zustande gekommen), dass eine ganze Reihe russischer Komitees (die Komitees von Odessa, Jekaterinoslaw, Nikolajew, vier kaukasische und einige nördliche Komitees, von denen Ihr bald Genaueres erfahren werdet), bestimmte Genossen mit bestimmten Funktionen betrauen. Wir wenden uns jetzt an alle Genossen mit der Bitte, uns in jeder Weise zu unterstützen. Wir werden das Organ so leiten, dass es das Organ der russischen Bewegung, auf keinen Fall aber eines Auslandszirkels sein wird. Dazu ist vor allem und am meisten die tatkräftigste „literarische" Unterstützung, richtiger, die literarische Mitarbeit von Russland aus notwendig. Ich unterstreiche das Wort „literarische" und stelle es in Anführungszeichen, um die Aufmerksamkeit sofort auf seinen besonderen Sinn zu lenken und vor einem sehr üblichen und für die Sache äußerst schädlichen Missverständnis zu warnen. Es ist das Missverständnis, dass gerade Literaten und nur Literaten (im beruflichen Sinne des Wortes) fähig seien, an dem Blatt erfolgreich mitzuarbeiten. Im Gegenteil, das Blatt wird erst dann lebendig und lebensfähig sein, wenn auf fünf führende und ständig mitarbeitende Literaten fünfhundert und fünftausend Mitarbeiter kommen werden, die keine Literaten sind. Ein Mangel der alten „Iskra", von dem ich sie immer befreien wollte (und der in der neuen „Iskra" einen ungeheuerlichen Umfang angenommen hat), ist die schwache Mitarbeit von Russland aus. Wir haben stets fast ausnahmslos alles veröffentlicht, was uns aus Russland geschickt wurde. Ein wirklich lebendiges Organ muss ein Zehntel des Zugesandten drucken und den Rest für Informationen und als Fingerzeig an die Literaten verwenden. Es ist notwendig, dass eine möglichst große Zahl von Parteiarbeitern mit uns korrespondiere, und zwar im gewöhnlichen, nicht im literarischen Sinne dieses Wortes.

Die Entfremdung von Russland, die niederdrückende Atmosphäre des verfluchten Auslandssumpfes sind hier so unerträglich, dass die einzige Rettung der lebendige Verkehr mit Russland ist. Mögen diejenigen das nicht vergessen, die nicht nur in Worten, sondern in der Tat unser Organ als das Organ der gesamten „Mehrheit", das Organ der Masse der russischen Parteiarbeiter betrachten wollen (und es dazu machen wollen). Möge jeder, der dieses Organ als das seine betrachtet und der sich der Pflichten eines sozialdemokratischen Parteimitgliedes bewusst ist, ein für allemal auf die bürgerliche Gewohnheit verzichten; so zu denken und zu handeln, wie es hinsichtlich legaler Zeitungen üblich ist: ihre Sache ist es, zu schreiben, unsere Sache – zu lesen. An der sozialdemokratischen Zeitung müssen alle Sozialdemokraten mitarbeiten. Wir bitten alle, insbesondere die Arbeiter, Korrespondenzen zu schicken. Gebt den Arbeitern die weiteste Möglichkeit, für unsere Zeitung zu schreiben, über absolut alles zu schreiben, möglichst viel über ihr tägliches Leben, ihre Interessen und ihre Arbeit zu schreiben – ohne dieses Material wird das sozialdemokratische Blatt keinen Pfifferling wert sein, wird es den Namen eines sozialdemokratischen Blattes nicht verdienen. Außerdem bitten wir, uns Briefe zu schreiben, nicht Korrespondenzen, d. h. nicht für die Veröffentlichung, sondern für den kameradschaftlichen Verkehr mit der Redaktion und zu ihrer Information, und zwar zu ihrer Information nicht nur über Tatsachen und Ereignisse, sondern auch über die Stimmung, über die tägliche „uninteressante", gewöhnliche, selbstverständliche Seite der Bewegung. Wer nicht im Auslande gewesen ist, kann sich nicht vorstellen, wie dringend wir solche Briefe brauchen (sie enthalten nichts Konspiratives, und einmal oder zweimal in der Woche kann wirklich auch der noch so sehr beschäftigte Mensch einen solchen nicht chiffrierten Brief schreiben). Schreibt uns also von den Unterhaltungen in Arbeiterzirkeln, von dem Charakter dieser Unterhaltungen, von den Fragen, die besprochen werden, von den Anfragen der Arbeiter, von der Organisation der Propaganda und Agitation, von den Verbindungen in der Gesellschaft, im Heer und in der Jugend, teilt uns vor allem mit, wenn die Arbeiter mit uns Sozialdemokraten unzufrieden sind, worüber sie Bedenken haben, gegen was sie Einspruch erheben usw. Die Fragen der praktischen Organisation sind jetzt besonders interessant, und es gibt kein anderes Mittel, die Redaktion mit diesen Fragen vertraut zu machen, als den lebhaften Briefwechsel, der nicht den Charakter einer offiziellen Korrespondenz trägt, sondern nur kameradschaftlicher Art ist; natürlich, nicht jeder versteht es oder hat Lust zu schreiben, aber … man sage nicht: ich kann nicht, man sage: ich will nicht. Wenn man nur will, kann man in jedem beliebigen Zirkel, in jeder kleinsten, sogar ganz untergeordneten Gruppe (die untergeordneten sind oft besonders interessant, denn sie leisten mitunter den wichtigsten, wenn auch unsichtbaren Teil der Arbeit) einen oder zwei Genossen finden, die zu schreiben verstehen. Hier haben wir die Sekretärarbeit gleich auf eine breite Grundlage gestellt und die Erfahrung der alten „Iskra" ausgenutzt, euch aber bitten wir, im Auge zu behalten, dass jeder, ausnahmslos jeder, der mit Geduld und Energie an die Sache herangeht, ohne viel Mühe erreichen wird, dass alle seine Briefe oder wenigstens neun Zehntel ihr Ziel erreichen. Ich sage das auf Grund der dreijährigen Erfahrung der alten „Iskra", die mehr als einen solchen Korrespondenten und Freund hatte, der uns regelmäßig Briefe schrieb (und der oft niemand von der Redaktion kannte). Die Polizei ist seit langem absolut nicht mehr imstande, alle Auslandsbriefe abzufangen (nur zufällig können sie abgefangen werden, wenn der Absender besonders nachlässig gewesen ist), und ein riesengroßer Teil des Materials der alten „Iskra" ist auf dem ganz gewöhnlichen Wege in einfachen Briefen an unsere Adressen gelangt. Besonders warnen möchten wir vor der Methode, den Briefwechsel nur in den Komitees und nur bei den Sekretären zu konzentrieren. Es gibt nichts Schädlicheres als ein solches Monopol. So unbedingt notwendig die Einheit des Handelns und der Beschlussfassung ist, so falsch ist sie in der allgemeinen Information, im Briefwechsel. Sehr oft kommt es vor, dass die Briefe verhältnismäßig „abseitsstehender" (von den Komitees entfernter) Leute, die vieles von dem frischer auffassen, woran ein erfahrener alter Parteisekretär zu sehr gewöhnt ist und das er darum nicht beachtet, besonders interessant sind. Gebt jungen Parteiarbeitern die Möglichkeit, uns zu schreiben: Jugendlichen, Arbeitern, „Zentralisten", Organisatoren und den einfachen Mitgliedern, die Flugblätter verbreiten und an Massenversammlungen teilnehmen.

Nur wenn ein so umfangreicher Briefwechsel zustande kommt, werden wir alle zusammen unsere Zeitung zu einem wirklichen Organ der Arbeiterbewegung in Russland machen. Wir bitten dringend, diesen Brief in allen Versammlungen, Zirkeln, Untergruppen usw. in möglichst breitem Kreise vorzulesen und uns mitzuteilen, wie die Arbeiter diese Aufforderung aufgenommen haben. Dem Gedanken, das („populäre") Arbeiterorgan von dem allgemeinen – führenden – Intellektuellenorgan zu trennen, stehen wir skeptisch gegenüber: wir möchten gern, dass die sozialdemokratische Zeitung das Organ der gesamten Bewegung sei, dass Arbeiterzeitung und sozialdemokratische Zeitung zu einem Organ verschmelzen. Das kann nur gelingen, wenn die Arbeiterklasse uns in aktivster Weise unterstützt.

Mit Genossengruß

N. Lenin

1 Der „Brief an die Genossen (Zum Erscheinen des Organs der Parteimehrheit)" ist in mehreren Fassungen bekannt. In der ersten (russischen) Ausgabe der Werke Lenins war er in Bd. V veröffentlicht, und zwar als „Brief an Boris" (Boris ist ein unbekannter Genosse, keineswegs Noskow-Glebow); der Brief war aus der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 4 (16) von 1923 abgedruckt. Der hier veröffentlichte Wortlaut des Briefes unterscheidet sich vom Wortlaut der ersten Ausgabe durch größere Vollständigkeit und bessere stilistische Bearbeitung. Nach Erscheinen der Zeitung „Wperjod" wurde der Brief etwas umgearbeitet und auf dem Hektographen gedruckt wieder herausgegeben (Datum: 4. Januar 1905).

2 In seiner September-Session (1904) bestimmte der Pаrteirat (Plechanow, Martow, Axelrod, Noskow-Glebow) – der nach dem Statut verpflichtet war, den Parteitag einzuberufen, wenn die Organisationen, die zusammen mehr als die Hälfte der beschließenden Stimmen haben, dafür eintreten , um die rascheste Einberufung des Parteitags zu verhindern, durch eine Schiebung vollkommen willkürlich die Zahl der Organisationen (16) und die Zahl der Stimmen (61), die für die Einberufung des Parteitags notwendig waren, wobei er auf jede Art nachzuweisen suchte, dass bis zum 1. September keine genügende Zahl von Organisationen für den Parteitag eingetreten sei und dass der Parteirat darum „keinen Grund habe, den Parteitag einzuberufen". Gleichzeitig versuchte der Parteirat die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse einer Reihe von Komitees anzufechten, die für die Einberufung des Parteitags eingetreten waren. Die gegen die Einberufung des 3. Parteitags gerichtete „Politik" des Parteirats ist von W. Worowski (Orlowski) in seiner Broschüre „Der Parteirat gegen die Partei" (1904) entlarvt worden, insbesondere in dem Kapitel, das den Titel trägt „Die Arithmetik im Dienste des Versöhnlertums".

3 Der „Aufruf der 19" ist vom Moskauer Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Oktober 1904 unter der Überschrift „An die Mitglieder der SDAPR" herausgegeben worden; er trug keine Unterschrift und begann mit den Worten: „Wir, 19 Mitglieder der SDAPR, benutzen mit Vergnügen den von 22 Mitgliedern unserer Partei erlassenen Aufruf … " Der Aufruf übt scharfe Kritik an der Stellung, die Plechanow in seinem Artikel „Was sollen wir nicht tun?" einnimmt (die Verfasser des Artikels charakterisieren Plechanow als ein „politisches Chamäleon"), ferner an der Stellung der menschewistischen „Iskra", die „durch ihre gesamte Tätigkeit in scharfem Gegensatz zu dem ganzen Kurs der alten ,Iskra' und folglich auch zu der prinzipiellen Stellung des (2.) Parteitags steht", und insbesondere an der Position des versöhnlerischen Zentralkomitees. „In dieser für die Partei schweren Zeit", heißt es in dem Aufruf, „hat leider auch unser Zentralkomitee seine volle Unfähigkeit, die Partei zu führen, offenbart. Das Zentralkomitee, das sich im Verlaufe von acht Monaten jeder Einmischung in den innerparteilichen Kampf enthielt, das den Angriffen, denen die Partei von Seiten der ,Minderheit' ausgesetzt war, keinen Widerstand leistete, hat damit der Partei einen nicht wieder gut zu machenden Schaden zugefügt und durch seine verbrecherische Passivität die Chancen der Desorganisatoren vergrößert. Während dieser ganzen Zeit hat das Zentralkomitee sich kein einziges Mal die Mühe genommen, der Partei klarzumachen, auf welchem Standpunkt es in seinem Bestreben, die beiden sich befehdenden Fraktionen miteinander auszusöhnen, steht, und vielen von uns schien es – und späterhin erwies es sich, dass diese Annahme berechtigt war –, dass seine Handlungen von vollständiger Gleichgültigkeit den prinzipiellen Fragen gegenüber und von der Bewunderung für die eng aufgefasste ,positive Arbeit' diktiert waren … Die vor kurzem erschienene Erklärung des Zentralkomitees ist nur ein Beweis für die vollständige Prinzipienlosigkeit seiner politischen Stellung und hat es wirklich verdient, ein historisches Denkmal der Kompromiss-Politik zu sein, die unser Zentralkomitee anscheinend auch in nächster Zukunft zu verfolgen gewillt ist … Unser Zentralkomitee glaubt immer noch, am Anwachsen der Meinungsverschiedenheiten seien Leidenschaftlichkeit in der Debatte und allerhand kleinliches Gezänk schuld, und dass es genüge, korrekt und nachgiebig zu sein, die Meinungsverschiedenheiten genau zu formulieren, damit in der Partei ein dauerhafter Friede hergestellt werde! … Das Zentralkomitee hat mit dem Vermächtnis des 2. Parteitags und der alten ,Iskra' endgültig gebrochen." Zum Schluss tritt der Aufruf für die Vorbereitung und Einberufung des 3. Parteitags durch die Komitees selber ein, unabhängig vom Zentralkomitee, Zentralorgan und von dem Parteirat, der nur „ein Werkzeug in Händen der jetzigen Redaktion des Zentralorgans und folglich der ,Minderheit"' ist. Der 3. Parteitag „wird die Einheit sichern, aber nicht eine mechanische Einheit, die auf dem Verleimen und dem schamhaften Verdecken der Parteirisse beruht, sondern eine Einheit, die auf der strengen und kompromisslosen Durchführung der Grundsätze der revolutionären Sozialdemokratie sowohl in der Taktik als auch in der Organisation beruht".

Der Aufruf der 19 stammte von den sozialdemokratischen Anhängern der Mehrheit, die sich im August–Oktober 1904 in Moskau befanden (Stassowa, Lengnik, Knunjanz, Baumann, Tschernomordik u. a.). Das Moskauer Komitee der SDAPR stand ebenfalls auf dem Boden der Mehrheit und unterstützte die Deklaration der 22 (sein Verhältnis zur Deklaration brachte das Moskauer Komitee in einer im August angenommenen Resolution zum Ausdruck (siehe die Broschüre N. Schachows: „Der Kampf um den Parteitag", 1904).

4 Im Oktober und November 1904 fanden drei Konferenzen von Ortskomitees, die auf dem Boden der Mehrheit standen, statt: 1. die kaukasische (vier Komitees), 2. die südliche (die Komitees von Odessa, Jekaterinoslaw, Nikolajew) und 3. die nördliche (die Komitees von Petersburg, Moskau, Twer, Riga, Nischnij Nowgorod und das Nordkomitee). Im Organ der Mehrheit „Wperjod" (Nr. 1) wurde nur die Resolution der Konferenz des Nordens veröffentlicht, die den zentralen Parteikörperschaften ihr Misstrauen aussprach, kategorisch die Einberufung des 3. Parteitags verlangte und gleichzeitig beschloss, das Zentralkomitee zu fragen, ob es endlich bereit sei, die sofortige Einberufung des Parteitags in die Hand zu nehmen. Die Konferenz erklärte sich solidarisch mit der „literarischen Gruppe, an deren Spitze Genosse Lenin steht", und schuf ein besonderes Büro für die Organisierung des Parteitags. Ähnliche Beschlüsse wurden auch von den übrigen Konferenzen gefasst. Anfang Dezember konstituierte sich das von diesen Konferenzen gewählte Büro der Mehrheitskomitees, das die unmittelbare Arbeit zur Vorbereitung und Einberufung des Parteitags auf sich nahm. Die Zusammensetzung des Büros war von Lenin in Genf in allgemeinen Zügen entworfen und dann von den Konferenzen beschlossen worden. Wie aus Erinnerungen hervorragender Parteiarbeiter jener Zeit hervorgeht, gehörten folgende Genossen dem Büro, das seinen Sitz in Petersburg hatte, an: Bogdanow (Essen), Ljadow, Rumjanzew, Semljatschka, Litwinow, Gussew, Rykow u. a. (siehe „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 11, 1924).

5 Zum Zwecke der Unterstützung der „versöhnlerischen" Juli-Deklaration des Zentralkomitees, die in Nr. 72 der „Iskra" (vom 25. August 1904) veröffentlicht war, beriefen die Menschewiki am 2. September 1904 eine allgemeine Versammlung aller Sozialdemokraten, die sich in Genf aufhielten, ein; sie hofften, in dieser „vereinigten" Versammlung der Bolschewiki und Menschewiki die Annahme einer entsprechenden Resolution zugunsten der versöhnlerischen Politik des Zentralkomitees durchsetzen zu können, da die Menschewiki in Genf in Kreisen der russischen sozialdemokratischen Emigration eine bedeutende Mehrheit auf ihrer Seite hatten. In der Versammlung erschienen aber nur die Menschewiki und einige „versöhnlerische Bolschewiki" – im ganzen etwa 100 Mann. Die Bolschewiki (deren es in Genf 21 gab) hatten es abgelehnt, an dieser Versammlung teilzunehmen, und der Vertreter der Bolschewiki verließ, nachdem er im Namen der Mehrheit eine Erklärung abgegeben hatte, den Sitzungssaal. Die Versammlung, die unter dem Vorsitz Plechanows vor sich ging, nahm nach der Diskussion eine Resolution an, in der „die Solidarität mit dem Zentralkomitee und die Hoffnung auf ein erfolgreiches Resultat der vom Zentralkomitee eingeleiteten Politik zur Befriedung der Partei" zum Ausdruck gebracht wurden.

In der Diskussion erklärte Dan als Antwort auf die Rede eines Versöhnlers, der auf die unzulässigen Methoden der Polemik des Zentralorgans (der menschewistischen „Iskra") gegen die Komitees hingewiesen hatte, dass erstens „die Polemik gegen die Leute vom ,Rabotscheje Djelo' in noch schärferer Form geführt und trotzdem von vielen als vollkommen angebracht betrachtet wurde" und dass zweitens „die Tatsache, dass die übergroße Mehrheit der Komitees auf einen kollegialen Verkehr mit der Redaktion vollkommen verzichtet hat, dem Ton und überhaupt dem ganzen Charakter der Artikel über die Tätigkeit der Komitees ihren Stempel aufdrücken musste" („Kurzer Bericht über die Versammlung der Mitglieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands am 2. September 1904 in Genf", herausgegeben vom Parteiklub in Genf 1904).

6 Der von der neuen „Iskra" herausgegebene „Brief an die Parteiorganisationen" (November 1904) enthielt eine Darstellung der menschewistischen Taktik gegenüber der Semstwo-Kampagne; diesen Brief analysiert Lenin in seiner Broschüre „Die Semstwo-Kampagne und der Plan der ,Iskra'".

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