8. Die Oswoboschdenije-Richtung und der Neu-Iskrismus

8. Die Oswoboschdjenije-Richtung und der Neu-Iskrismus

Wir wollen uns nun mit einer anderen anschaulichen Bestätigung der politischen Bedeutung des Neu-Iskrismus befassen.

In seinem hervorragenden, ausgezeichneten, äußerst lehrreichen Artikel „Wie findet man sich selbst" („Oswoboschdjenije", Nr. 71) zieht Herr Struve gegen den „programmatischen Revolutionarismus unserer extremen Parteien zu Felde. Mit mir persönlich ist Herr Struve besonders unzufrieden.A Was mich anbelangt, so bin ich mit Herrn Struve über alle Maßen zufrieden: einen besseren Verbündeten im Kampfe gegen den wiedererstehenden Ökonomismus der Neu-Iskristen und gegen die vollständige Prinzipienlosigkeit der „Sozialrevolutionäre" könnte ich mir gar nicht wünschen. Wie Herr Struve und das „Oswoboschdjenije" praktisch den Beweis erbracht haben, dass die im Programmentwurf der Sozialrevolutionäre vorgenommenen „Korrekturen" des Marxismus durchaus reaktionäre sind, darüber werden wir uns gelegentlich ein anderes Mal äußern. Wie Herr Struve mir jedes Mal, wenn er den Neu-Iskristen prinzipiell zustimmte, einen wirklichen, ehrlichen und treuen Dienst leistete, darüber haben wir schon wiederholt gesprochenB und wollen es hier noch einmal sagen.

Der Artikel des Herrn Struve enthält eine ganze Reihe äußerst interessanter Behauptungen, die wir hier nur nebenbei berühren können. Er schickt sich an, „eine russische Demokratie ins Leben zu rufen, die nicht auf dem Klassenkampf, sondern auf der Zusammenarbeit der Klassen beruht", wobei die „sozial-privilegierte Intellektuellenschicht" (etwa von der Art des „zivilisierten Adels", vor dem Herr Struve mit der Grazie eines wirklich weltmännischen … Lakaien seine Referenzen macht) in diese „klassenlose" Partei das Gewicht ihrer „sozialen Position" (das Gewicht des Geldsackes) mitbringen wird. Herr Struve äußert den Wunsch, die Jugend von der Untauglichkeit der „radikalen Schablone, dass die Bourgeoisie Angst gekriegt und das Proletariat mit samt der Sache der Freiheit verkauft habe", zu unterrichten. Von ganzem Herzen begrüßen wir diesen Wunsch. Nichts könnte diese marxistische „Schablone" so bestätigen, wie der Krieg des Herrn Struve gegen sie. Bitte schön, Herr Struve, schieben Sie Ihren großartigen Plan nicht auf die lange Bank!

Für unser Thema ist es uns wichtig, hervorzuheben, gegen welche praktischen Losungen heutzutage ein politisch so feinfühlender und auf den geringsten Wetterumschlag reagierender Wortführer der russischen Bourgeoisie ankämpft. Erstens kämpft er gegen die Losung der Republik. Herr Struve ist fest überzeugt, dass diese Losung „der Volksmasse unverständlich und fremd" ist (er vergisst hinzuzufügen: verständlich, aber unvorteilhaft für die Bourgeoisie!). Wir möchten gerne hören, welche Antwort Herrn Struve darauf von den Arbeitern in unseren Zirkeln und Massenzusammenkünften zuteil würde! Oder gehören die Arbeiter nicht zum Volk? Und die Bauern? Bei ihnen äußert sich manchmal, wie Herr Struve sich ausdrückt, ein „naiver Republikanismus" („den Zaren fortjagen"), doch die liberale Bourgeoisie glaubt, dass an Stelle des naiven Republikanismus nicht der bewusste Republikanismus, sondern der bewusste Monarchismus treten wird! Ça dépend, Herr Struve, das hängt noch von den Umständen ab. Sowohl der Zarismus als auch die Bourgeoisie müssen notgedrungen dagegen auftreten, dass die Lage der Bauern auf Kosten des Großgrundbesitzes von Grund auf verbessert werde; die Arbeiterklasse jedoch kann darin der Bauernschaft ihre Unterstützung nicht versagen.

Zweitens versichert Herr Struve: „Im Bürgerkrieg wird der angreifende Teil stets im Unrecht sein." Dieser Gedanke ähnelt ganz und gar den Tendenzen des Neu-Iskrismus. Wir werden natürlich nicht behaupten, dass es im Bürgerkrieg stets vorteilhaft sei, im Angriff zu sein; nein, manchmal ist die Defensivtaktik für eine gewisse Zeit durchaus geboten. Allein, einen solchen Grundsatz, wie ihn Herr Struve aufstellt, auf das Russland des Jahres 1905 anzuwenden, das verrät ein Portiönchen „radikaler Schablone" („die Bourgeoisie hat Angst gekriegt und verkauft die Sache der Freiheit"). Wer jetzt die Selbstherrschaft, die Reaktion, nicht angreifen will, wer sich auf diesen Angriff nicht vorbereitet, ihn nicht propagiert, der bezeichnet sich zu Unrecht als Anhänger der Revolution.

Herr Struve verurteilt die Losungen: „Konspiration" und „Aufruhr" (dieses sei der „Aufstand in Miniatur"). Herr Struve verachtet das eine wie das andere, und zwar vom Standpunkte des „Herankommens an die Massen!" Wir würden Herrn Struve gern fragen, ob er z.B. in einer solchen Schrift eines nach seiner Ansicht übermäßigen Revolutionaristen, wie „Was tun?", eine Propagierung des Aufruhrs nachweisen kann. Und was die „Konspiration" anbelangt, besteht da etwa ein großer Unterschied, z.B. zwischen Herrn Struve und uns? Arbeiten wir denn nicht beide an „illegalen" Zeitungen, die „konspirativ" nach Russland befördert werden und die den „geheimen" Gruppen des Oswoboschdjenije-Bundes bzw. der SDAPR dienen? Unsere Arbeiterversammlungen sind oft „konspirativ", wir leugnen diese Sünde nicht. Und die Versammlungen der Herren Oswoboschdjenije-Leute? Haben Sie, Herr Struve, vor den verächtlichen Anhängern der verächtlichen Konspiration etwas voraus?

Es ist richtig, zur Lieferung von Waffen an die Arbeiter bedarf es einer verstärkten Konspiration. Hier tritt Herr Struve schon offener auf. Hört:

Was den bewaffneten Aufstand oder die Revolution im technischen Sinne anbelangt, so kann nur die Massenpropaganda des demokratischen Programms die sozial-psychischen Bedingungen für den allgemeinen bewaffneten Aufstand schaffen. Also sogar von dem mir fern liegenden Gesichtspunkte aus, der den bewaffneten Aufstand als den unvermeidlichen Höhepunkt des gegenwärtigen Befreiungskampfes betrachtet, ist die Durchdringung der Massen mit den Ideen der demokratischen Umwälzung die wichtigste, die notwendigste Arbeit."

Herr Struve bemüht sich, der Frage auszuweichen. Er spricht von der Unvermeidlichkeit des Aufstandes, anstatt von seiner Notwendigkeit für den Sieg der Revolution zu sprechen. Der Aufstand, und zwar ein unvorbereiteter, spontaner, zersplitterter Aufstand hat bereits begonnen. Niemand kann bedingungslos dafür bürgen, dass er sich bis zu einem umfassenden und einheitlichen bewaffneten Volksaufstand steigern wird, denn das hängt ab vom Zustand der revolutionären Kräfte (die nur im Kampfe selbst ganz ermessen werden können), von der Haltung der Regierung und der Bourgeoisie und von einer ganzen Reihe anderer Umstände, die nicht genau errechnet werden können. Von der Unvermeidlichkeit im Sinne jener absoluten Überzeugung vom Eintreffen eines konkreten Ereignisses, auf die Herr Struve die Rede ablenkt, verlohnt es sich nicht zu sprechen. Wenn man Anhänger der Revolution sein will, muss man darüber sprechen, ob der Aufstand für den Sieg der Revolution notwendig ist, ob es notwendig ist, ihn aktiv zur Debatte zu stellen, ihn zu propagieren, ihn unverzüglich und energisch vorzubereiten. Herr Struve muss doch diesen Unterschied verstehen: verwechselt er doch z.B. nicht die für einen Demokraten unstrittige Frage der Notwendigkeit des allgemeinen Wahlrechts mit der für einen politischen Führer strittigen und nicht aktuellen Frage der Gewissheit seiner Erlangung während dieser Revolution. Dadurch, dass Herr Struve der Frage von der Notwendigkeit des Aufstandes ausweicht, enthüllt er den innersten Kern der politischen Position der liberalen Bourgeoisie. Die Bourgeoisie zieht es erstens einmal vor, mit dem Absolutismus lieber zu einer Verständigung zu gelangen, als ihn zu vernichten; auf jeden Fall wälzt die Bourgeoisie den Kampf mit der Waffe in der Hand auf die Arbeiter ab (das zweitens). Das ist die reale Bedeutung dieses Ausweichens des Herrn Struve. Deshalb dieses Sichzurückziehen von der Frage der Notwendigkeit des Aufstandes auf die Frage seiner „sozial-psychischen Bedingungen" und auf die Frage der vorbereitenden „Propaganda". Ganz genau wie sich die bürgerlichen Schwätzer im Frankfurter Parlament von 1848 mit der Abfassung von Resolutionen, Deklarationen, Beschlüssen, mit „Massenpropaganda" und Vorbereitung der „sozial-psychischen Bedingungen" beschäftigten zu einer Zeit, da es galt, der bewaffneten Macht der Regierung Trutz zu bieten, als die Bewegung „bis zur Notwendigkeit" des bewaffneten Kampfes „gediehen war", als die bloße Einwirkung durch das Wort (die in der Vorbereitungsperiode hundertfach notwendig ist) zu öder bürgerlicher Tatenlosigkeit und Feigheit geworden war – genau so entwindet sich Herr Struve der Frage des Aufstandes und versteckt sich hinter Phrasen. Herr Struve zeigt uns anschaulich das, was viele Sozialdemokraten durchaus nicht sehen, nämlich, dass sich der revolutionäre Moment von den gewöhnlichen, alltäglichen, vorbereitenden historischen Zeitläuften gerade dadurch unterscheidet, dass die Stimmung, die Erregung, die Überzeugung der Massen durch die Tat zum Ausdruck kommen müssen und auch kommen.

Der vulgäre Revolutionarismus versteht nicht, dass auch das Wort eine Tat ist; dieser Grundsatz ist unbestritten in seiner Anwendung auf die Geschichte überhaupt und auch auf jene Epochen der Geschichte, wo es kein offenes politisches Auftreten der Massen gibt, das durch keinerlei Putsche weder ersetzt noch künstlich hervorgerufen werden kann. Der Chwostismus der Revolutionäre begreift eines nicht: sobald der revolutionäre Augenblick begonnen hat, der alte „Überbau" in allen Fugen kracht, die offene politische Aktion der Klassen und Massen, die einen neuen Überbau schaffen, zur Tatsache wird und der Bürgerkrieg begonnen hat – sich dann noch wie in alter Zeit auf das „Wort" zu beschränken und nicht die direkte Losung auszugeben, dass nun zur „Tat" geschritten werden muss; sich in solcher Zeit vor der Tat zu drücken und auf „psychische Bedingungen" und ganz allgemeine „Propaganda" zurückzuziehen – ein solches Verhalten ist Lebensfremdheit, Todesstarre, Räsonierertum oder aber Verrat an der Revolution und Fahnenflucht. Die Frankfurter Schwätzer der demokratischen Bourgeoisie sind ein unvergessliches historisches Musterbeispiel eines solchen Verrats oder eines solchen räsonierenden Stumpfsinns.

Wollt ihr eine Erläuterung dieses Unterschiedes zwischen dem vulgären Revolutionarismus und dem Chwostismus der Revolutionäre an Hand der Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung in Russland? Wir können sie euch geben. Denkt an die Jahre 1901 und 1902, die noch nicht lange zurückliegen und uns doch schon wie eine Geschichte aus alten Zeiten erscheinen. Demonstrationen hatten eingesetzt. Der vulgäre Revolutionarismus begann über „Sturm" zu schreien (Rabotscheje Djelo), „blutrünstige Flugblätter" wurden herausgegeben (wenn das Gedächtnis mich nicht trügt, von Berliner Herkunft), das „Literatenhafte" und der Schreibtischcharakter des Gedankens einer auf ganz Russland ausgedehnten Agitation durch die Zeitung wurde angegriffen (Nadjeschdin). Der Chwostismus der Revolutionäre propagierte damals, im Gegensatz dazu, den Gedanken, der „ökonomische Kampf sei ein besseres Mittel der politischen Agitation".1 Wie verhielt sich die revolutionäre Sozialdemokratie? Sie griff beide Richtungen an. Sie verurteilte die Aufruhranzettelung und das Geschrei vom Sturm, weil alle klar sahen, oder sehen mussten, dass die offene Aktion der Massen erst eine Sache von morgen sein wird. Sie verurteilte den Chwostismus und stellte sogar direkt die Losung des allgemeinen, bewaffneten Volksaufstandes auf, nicht im Sinne einer direkten Aufforderung (die Aufforderung zum „Aufruhr" hätte Herr Struve zu jener Zeit bei uns nicht gefunden), sondern im Sinne einer notwendigen Schlussfolgerung, im Sinne der „Propaganda" (an die Herr Struve sich jetzt erst erinnerte – er kommt immer um einige Jahre zu spät, unser verehrter Herr Struve), im Sinne der Vorbereitung eben jener „sozial-psychischen Bedingungen", über die jetzt die Vertreter der kopflos gewordenen, krämerhaften Bourgeoisie „düster und unzeitgemäß" herumreden. Damals standen Propaganda und Agitation, Agitation und Propaganda auf Grund der objektiven Sachlage wirklich auf dem vordersten Plan. Damals konnte als Zentralaufgabe bei der Vorbereitung des Aufstandes die Arbeit an einer allrussischen politischen Zeitung aufgestellt werden (und wurde in „Was tun?" auch aufgestellt), deren wöchentliches Erscheinen als ein Ideal erschien. Damals waren die Losungen: Massenagitation anstatt unmittelbarer bewaffneter Aktionen; Vorbereitung der sozial-psychischen Bedingungen des Aufstandes anstatt Aufruhranzettelung – die einzig richtigen Losungen der Sozialdemokratie. Jetzt sind diese Losungen von den Ereignissen überholt, die Bewegung ist vorwärtsgegangen, die alten Losungen sind zu Plunder geworden, zu altem Eisen, das nur geeignet ist, die Heuchelei der Oswoboschdjenije-Leute und den Chwostismus der Neu-Iskristen zu bemänteln. Oder irre ich mich vielleicht? Hat die Revolution vielleicht noch nicht begonnen? Ist der Augenblick für die offene politische Aktion der Klassen noch nicht gekommen? Ist noch kein Bürgerkrieg da und muss die Kritik der Waffen jetzt noch nicht die unausweichliche und unbedingte Nachfolgerin, Erbin, Testamentsvollstreckerin und Vollenderin der Waffe der Kritik sein?

Blickt um euch, schaut aus der Gelehrtenstube auf die Straße, um auf diese Fragen zu antworten. Hat etwa die Regierung mit der Massenerschießung von friedlichen und unbewaffneten Bürgern nicht schon den Bürgerkrieg begonnen? Treten nicht bewaffnete Schwarze Hunderte als „Argument" des Absolutismus auf? Hat die Bourgeoisie – sogar die Bourgeoisie – nicht die Notwendigkeit einer Bürgermiliz eingesehen? Spricht nicht derselbe Herr Struve, dieser ideal-gemäßigte und akkurate Herr Struve (leider nur als Ausflucht) davon, dass der „offene Charakter der revolutionären Handlungen" (so weit sind wir heute!) „gegenwärtig eine der wichtigsten Bedingungen des erzieherischen Einflusses auf die Volksmassen" sei?

Wer Augen hat, zu sehen, der kann nicht daran zweifeln, in welcher Weise heutzutage von den Anhängern der Revolution die Frage des bewaffneten Aufstandes gestellt werden muss. Und nun seht die drei Fragestellungen in jenen Organen der freien Presse, die die Massen einigermaßen zu beeinflussen imstande sind.

Erste Fragestellung. Die Resolution des 3. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands.C Hier wird anerkannt und laut und vernehmlich erklärt, dass die allgemein demokratische revolutionäre Bewegung schon zur Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes geführt hat. Die Organisation des Proletariats für diesen Aufstand wird als eine der wesentlichen, hauptsächlichen und notwendigen Aufgaben der Partei auf die Tagesordnung gesetzt. Es wird der Auftrag erteilt, die energischsten Maßnahmen zur Bewaffnung des Proletariats und zur Sicherung der Möglichkeit einer unmittelbaren Leitung des Aufstandes zu treffen.

Zweite Fragestellung. Der prinzipielle Artikel des „Führers der russischen Konstitutionalisten" (so bezeichnete unlängst Herrn Struve ein so einflussreiches Organ der europäischen Bourgeoisie, wie die „Frankfurter Zeitung") bzw. des Führers der russischen fortschrittlichen Bourgeoisie im „Oswoboschdjenije". Die Ansicht von der Unvermeidlichkeit des Aufstandes teilt er nicht. Konspiration und Aufruhr sind nach ihm spezifische Methoden des unvernünftigen Revolutionarismus. Das Republikanertum ist eine Methode der Betäubung. Der bewaffnete Aufstand ist eigentlich nur eine technische Frage, während die „fundamentalste, die dringendste Notwendigkeit" in der Massenpropaganda und in der Vorbereitung der sozialpsychischen Bedingungen liegt.

Dritte Fragestellung. Die Resolution der neu-iskristischen Konferenz. Unsere Aufgabe ist es, den Aufstand vorzubereiten. Die Möglichkeit eines planmäßigen Aufstandes ist ausgeschlossen. Günstige Bedingungen für den Aufstand werden durch die Desorganisation des Regierungssystems, durch unsere Agitation und unsere Organisation geschaffen. Erst dann „können technische Kampfvorbereitungen mehr oder weniger ernste Bedeutung erlangen".

Nur das? Nur das. Ob der Aufstand notwendig geworden ist, das wissen die neu-iskristischen Führer des Proletariats noch nicht. Ob die Aufgabe der Vorbereitung des Proletariats auf den unmittelbaren Kampf unaufschiebbar ist, das ist ihnen noch nicht klar. Man braucht nicht nach den energischsten Maßnahmen zu rufen, es ist viel wichtiger (im Jahre 1905 und nicht im Jahre 1902!) in allgemeinen Zügen zu erläutern, unter welchen Bedingungen diese Maßnahmen eine „mehr oder weniger ernste" Bedeutung erlangen „können" …

Seht ihr nun, Genossen von der neuen „Iskra", wohin ihr durch eure Schwenkung zum Martynowismus geraten seid? Versteht ihr, dass sich eure politische Philosophie als eine Wiederholung der Oswoboschdjenije-Philosophie herausstellte? Dass ihr euch (gegen euren Willen und gegen euer Wissen) als Nachläufer der monarchistischen Bourgeoisie erwiesen habt? Ist euch jetzt klar, dass ihr, während ihr immerfort dasselbe pauktet und euch im Räsonieren übtet, den Umstand aus den Augen verloren habt, dass – um mit den unvergesslichen Worten des unvergesslichen Artikels Peter Struves zu sprechen – „gegenwärtig der offene Charakter der revolutionären Handlungen eine der wichtigsten Bedingungen für den erzieherischen Einfluss auf die Volksmassen ist"?

A „Im Vergleich mit dem Revolutionarismus der Herren Lenin und Genossen erscheint der Revolutionarismus der westeuropäischen Sozialdemokratie Bebels und sogar Kautskys als Opportunismus, doch selbst diesem schon etwas gemilderten Revolutionarismus hat die Geschichte den Boden bereits ein wenig unterspült und weggespült." Ein sehr zorniger Ausfall. Herr Struve ist jedoch im Irrtum, wenn er meint, man könne mir, wie einem Toten, alles in die Schuhe schieben. Es genügt, wenn ich an Herrn Struve eine Herausforderung richte, die anzunehmen er nie und nimmer imstande sein wird. Wo und wann habe ich den Revolutionarismus Bebels und Kautskys als „Opportunismus" bezeichnet? Wo und wann habe ich mir angemaßt, in der internationalen Sozialdemokratie eine besondere Richtung ins Leben gerufen zu haben, die nicht identisch wäre mit der Richtung Bebels und Kautskys? Wo und wann sind zwischen mir einerseits und Bebel und Kautsky anderseits Differenzen zutage getreten, die auch nur annähernd so ernst wären, wie z.B. die Differenzen zwischen Bebel und Kautsky in der Agrarfrage in Breslau? Herr Struve möge versuchen, diese drei Fragen zu beantworten.

Den Lesern sagen wir: die liberale Bourgeoisie wendet überall und immer den Kunstgriff an, ihren Gesinnungsgefährten im betreffenden Lande zu versichern, dass die Sozialdemokraten dieses Landes die unvernünftigsten, ihre Genossen im Nachbarlande aber „brave Kinder" seien. Die deutsche Bourgeoisie hat hunderte Mal Bebel und Kautsky die französischen Sozialisten als „brave Knaben" und belehrendes Beispiel vorgehalten. Die französische Bourgeoisie hat erst unlängst den französischen Sozialisten den „braven Knaben" Bebel als belehrendes Beispiel vorgehalten. Ein alter Trick, Herr Struve. Nur Kinder und Unwissende werden Ihnen darauf hereinfallen. Die volle Solidarität der internationalen revolutionären Sozialdemokratie in allen wichtigen Fragen des Programms und der Taktik ist eine unwiderlegbare Tatsache.

[Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kautsky und Bebel in der Agrarfrage kamen auf dem Parteitag in Breslau im Jahre 1895 zum Ausdruck. Der Parteitag behandelte den Vorschlag eines Agrarprogramms, den eine Agrarkommission ausgearbeitet hatte, der neben Opportunisten, wie Vollmar, David u. a„ auch Bebel und W. Liebknecht angehörten. Der Kommissionsentwurf stellte neben Forderungen, die auf die Beseitigung der feudalen Überreste gerichtet waren (Abschaffung aller mit dem Grundbesitz verbundenen behördlichen Funktionen und Privilegien), auch die folgenden Forderungen auf: Erhaltung und Vermehrung des öffentlichen Grundeigentums (Staats- und Gemeindeeigentum jeder Art, Allmende usw.)..…Bewirtschaftung der Staats- und Gemeindeländereien auf eigene Rechnung oder Verpachtung an Genossenschaften von Landarbeitern und von Kleinbauern …, Staatskredite an Genossenschaften … oder an einzelne Gemeinden für Feldbereinigung, Boden-Meliorationen aller Art, … Übernahme der Kosten für Bau und Instandhaltung der öffentlichen Verkehrsmittel,… Verstaatlichung der Hypotheken und Grundschulden unter Herabsetzung des Zinsfußes auf die Höhe der Selbstkosten, Verstaatlichung der Mobilien- und Immobilien-Versicherung aller Art,… Unbeschränkte Aufrechterhaltung und Erweiterung der bestehenden Waldnutzungs- und Weiderechte unter Gleichberechtigung aller Gemeindeangehörigen usw.

Bebel hielt zur Verteidigung des Entwurfs eine große Rede, in der er zeigte, dass die Sozialdemokratie auch die Aufgabe hat, die Interessen der Kleinbauern zu vertreten, soweit dadurch nicht die Entwicklung des Kapitalismus aufgehalten wird und der Arbeiterklasse nicht überflüssige Lasten auferlegt werden; im Besonderen erblickte er in der Entwicklung des Gemeindegrundbesitzes und der kommunalen Bodennutzung eine Maßnahme, die in der Folge den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise erleichtern kann.

Kautsky sagte in seiner Antwort, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nur in der Zeit des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus am Platze wären, jetzt aber nur die kapitalistische Staatsmacht stärken und die Illusion hervorrufen würden, dass schon in der kapitalistischen Gesellschaft eine wesentliche Besserung der Lage der Bauernschaft möglich sei. Der Gemeindegrundbesitz ist nach der Meinung Kautskys ein Überbleibsel der Barbarei und seine Befestigung wäre nur geeignet, die Nationalisierung des Grund und Bodens beim sozialistischen Umsturz zu erschweren. Das Ergebnis der Debatte war, dass eine von Kautsky, Clara Zetkin, Stadthagen u. a. vorgelegte Resolution angenommen wurde. Der erste Teil dieser Resolution, der dem Programmentwurf der Kommission gewidmet ist und mit 158 gegen 63 Stimmen angenommen wurde, lautet: „Der von der Agrarkommission vorgelegte Entwurf eines Agrarprogramms ist zu verwerfen. Denn dieses Programm stellt der Bauernschaft die Hebung ihrer Lage, also die Stärkung ihres Privateigentums, in Aussicht; er erklärt das Interesse der Landeskultur in der heutigen Gesellschaftsordnung für ein Interesse des Proletariats, und doch ist das Interesse der Landeskultur ebenso wie das Interesse der Industrie unter der Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln ein Interesse der Besitzer der Produktionsmittel der Ausbeuter des Proletariats. Ferner weist der Entwurf des Agrarprogramms dem Ausbeuterstaat neue Machtmittel zu und erschwert dadurch den Klassenkampf des Proletariats; und endlich stellt dieser Entwurf dem kapitalistischen Staat Aufgaben, die nur ein Staatswesen ersprießlich zur Durchführung bringen kann, in dem das Proletariat die politische Macht erobert hat." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Breslau vom 6. bis 12. Oktober 1895, Berlin 1895, S. 204.)]

B Erinnern wir den Leser daran, dass der Artikel „Was sollen wir nicht tun?" („Iskra", Nr. 52) von dem „Oswoboschdjenije" mit Pauken und Trompeten als eine „bedeutungsvolle Wendung" zur Nachgiebigkeit gegenüber den Opportunisten begrüßt wurde. Die prinzipiellen Tendenzen des Neu-Iskrismus hat das „Oswoboschdjenije" in einer Notiz über die Spaltung unter den russischen Sozialdemokraten besonders gutgeheißen.

Anlässlich der Broschüre Trotzkis „Unsere politischen Aufgaben" hat das „Oswoboschdjenije" auf die Gleichartigkeit der Gedanken dieses Verfassers mit dem, was einst die „Rabotscheje-Djelo-Leute" Kritschewski, Martynow und Akimow gesagt und geschrieben haben, hingewiesen. (Siehe das Flugblatt „Der diensteifrige Liberale", herausgegeben vom „Wperjod".) Die Broschüre Martynows über die zwei Diktaturen ist von dem „Oswoboschdjenije" begrüßt worden (vgl. die Notiz im „Wperjod", Nr. 9). Schließlich haben die verspäteten Klagen Starowjers über die alte Losung der alten „Iskra": Erst sich voneinander abgrenzen, dann sich vereinigen" in dem „Oswoboschdjenije" besondere Sympathien geweckt.

1 Die zitierten Worte sind der Resolution der 4. Konferenz des Bund entnommen. Im Februar 1902 veröffentlichte B. Kritschewski im „Rabotscheje Djelo" einen Artikel über diese Konferenz, in dem er sich vollinhaltlich mit dem 5. Punkt der Resolution einverstanden erklärte, der lautete: „Das beste Mittel, die breiten Massen in die Bewegung hereinzuziehen, ist der Wirtschaftskampf, auf dessen Grundlage die politische Agitation entfaltet und die über den Rahmen des Wirtschaftskampfes hinaus erweitert werden muss." Mit dem Hinweis auf Nadjeschdin meint Lenin den „Vorabend der Revolution. In zwangloser Folge erscheinende Rundschau über die Fragen der Theorie und der Taktik, unter der Redaktion von L. Nadjeschdin. Nr. 1", Genf 1901.

C Hier ihr voller Text: „In Erwägung:

1. dass das Proletariat, infolge seiner Stellung die vorgeschrittenste und einzig konsequent revolutionäre Klasse, berufen ist, die führende Rolle in der allgemein-demokratischen revolutionären Bewegung Russlands zu spielen;

2. dass diese Bewegung gegenwärtig bereits zur Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes geführt hat;

3. dass das Proletariat an diesem Aufstand unvermeidlich den energischsten Anteil nehmen wird, der das Schicksal der Revolution entscheiden wird;

4. dass das Proletariat die führende Rolle in dieser Revolution nur spielen kann, wenn es zu einer einheitlichen und selbstständigen politischen Kraft unter der Fahne der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vereinigt ist, die nicht nur ideologisch, sondern auch praktisch seinen Kampf leitet;

5. dass nur die Durchführung einer solchen Rolle dem Proletariat die günstigsten Bedingungen für den Kampf um den Sozialismus gegen die besitzenden Klassen des bürgerlich-demokratischen Russlands sichern kann,–

stellt der 3. Parteitag der SDAPR fest, dass die Aufgabe, das Proletariat zum unmittelbaren Kampf gegen den Absolutismus durch den bewaffneten Aufstand zu organisieren, eine der wichtigsten und dringendsten Aufgaben der Partei im gegenwärtigen revolutionären Moment bildet.

Der Parteitag beauftragt daher alle Parteiorganisationen:

a) dem Proletariat durch Propaganda und Agitation nicht nur die politische Bedeutung, sondern auch die praktisch-organisatorische Seite des bevorstehenden bewaffneten Aufstandes klar zu machen.

b) bei dieser Propaganda und Agitation die Rolle der politischen Massenstreiks klarzumachen, die bei Beginn und im Verlauf des Aufstandes eine erhebliche Bedeutung haben können -

c) die energischsten Maßnahmen zur Bewaffnung des Proletariats sowie zur Ausarbeitung eines Planes des bewaffneten Aufstandes und der unmittelbaren Leitung desselben zu ergreifen und soweit erforderlich, zu diesem Zweck besondere Gruppen aus Parteifunktionären zu schaffen" [Fußnote des Verfassers in der Ausgabe von 1908. Die Red.]

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