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Wladimir I. Lenin 19150726 Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege

Wladimir I. Lenin: Über die Niederlage der eigenen Regierung

im imperialistischen Kriege1

[Sozialdemokrat Nr. 43 26. Juli 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 221-227]

Die revolutionäre Klasse muss in einem reaktionären Kriege die Niederlage ihrer eigenen Regierung wünschen.

Das ist ein Axiom. Und nur von überzeugten Anhängern oder hilflosen Lakaien der Sozialchauvinisten wird dies Axiom bestritten. Zu den ersteren gehört z. B. Sjemkowski vom Organisationskomitee (vgl. dessen „Iswestija Nr. 2), zu den letzteren Trotzki und Bukwojed, in Deutschland Kautsky. Der Wunsch nach der Niederlage Russlands, schreibt Trotzki, ist

ein durch nichts veranlasstes und durch nichts gerechtfertigtes Zugeständnis an die politische Methodologie des Sozialpatriotismus, der an Stelle des revolutionären Kampfes gegen den Krieg und die Verhältnisse, die ihn erzeugt haben, eine unter den gegebenen Verhältnissen höchst willkürliche Orientierung in Richtung des kleinsten Übels setzt“ („Nasche Slowo Nr. 105).

Da haben wir ein Musterbeispiel für die aufgeblasenen Phrasen, mit denen Trotzki stets den Opportunismus rechtfertigt. „Der revolutionäre Kampf gegen den Krieg“ ist einer von den hohlen und inhaltslosen Ausrufen, auf die sich die Helden der II. Internationale so meisterhaft verstehen, wenn darunter nicht revolutionäre Aktionen gegen die eigene Regierung und während des Kriegs verstanden werden sollen. Schon ein klein wenig Nachdenken reicht hin, das einsehen zu lassen. Revolutionäre Aktionen gegen die eigene Regierung während des Kriegs bedeuten aber unstreitig und unzweifelhaft nicht nur den Wunsch nach einer Niederlage, sondern auch die tatsächliche Förderung einer solchen Niederlage. (Für den „scharfsinnigen Leser“ sei bemerkt: das bedeutet keineswegs, dass man „Brücken sprengen“, erfolglose Militärstreiks inszenieren und überhaupt den Revolutionären helfen soll, der Regierung eine Niederlage beizubringen.)

Trotzki will sich mit Phrasen heraus helfen und hat sich dabei in einem Wald von drei Bäumchen verirrt. Ihm scheint es, die Niederlage Russlands wünschen, heiße den Sieg Deutschlands wollen (Bukwojed und Sjemkowski drücken diesen „Gedanken“, richtiger: diesen Fehlgedanken, den sie mit Trotzki gemein haben, viel offener aus). Und darin erblickt Trotzki die „Methodologie des Sozialpatriotismus“! Um den Leuten nachzuhelfen, die nicht denken können, hat die Berner Resolution (Sozialdemokrat Nr. 40) erklärt: in allen imperialistischen Ländern müsse jetzt das Proletariat die Niederlage seiner Regierung wünschen. Bukwojed und Trotzki haben es vorgezogen, diese Wahrheit zu übergehen, und Sjemkowski (ein Opportunist, der der Arbeiterklasse vor allen anderen durch offenherzig naive Wiederholung der bürgerlichen Weisheit dient) – Sjemkowski ist „nett herausgeplatzt“ mit dem Wörtchen: das sei Unsinn, siegen könne nur entweder Deutschland oder Russland.

Nehmen wir das Beispiel der Kommune. Deutschland siegte über Frankreich, Bismarck und Thiers über die Arbeiter!! Hätten Bukwojed und Trotzki nachgedacht, so hätten sie eingesehen, dass sie den Standpunkt des Kriegs der Regierungen und der Bourgeoisie vertreten, d. h. dass sie vor der „politischen Methodologie des Sozialpatriotismus“ auf dem Boden liegen, – um in Trotzkis gezierter Sprache zu sprechen.

Revolution während des Kriegs ist Bürgerkrieg, aber die Umwandlung des Kriegs der Regierungen in den Bürgerkrieg wird einerseits durch militärische Misserfolge (durch die „Niederlage“) der Regierungen erleichtert; anderseits ist es faktisch unmöglich, eine solche Umwandlung anzustreben, ohne gerade damit die Niederlage zu fördern.

Vor der „Losung“ der Niederlage bekreuzigen sich die Chauvinisten (samt dem OK und der Fraktion Tschcheïdse) eben darum, weil diese Losung einzig und allein die konsequente Aufforderung zu revolutionären Aktionen gegen die eigene Regierung während des Kriegs bedeutet. Ohne solche Aktionen aber sind Millionen von höchst rrrevolutionären Phrasen über den Krieg gegen den „Krieg und die Bedingungen usw.“ keinen halben Groschen wert.

Wer die „Losung“: Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege – ernsthaft widerlegen wollte, der müsste eine von drei Sachen beweisen: entweder 1. dass der Krieg 1914/15 nicht reaktionär ist; oder 2. dass die Revolution im Zusammenhang mit dem Krieg unmöglich ist; oder 3. dass ein gegenseitiges Zusammentreffen und Zusammenwirken der revolutionären Bewegung in allen kriegführenden Ländern unmöglich ist. Das letztere Argument ist für Russland besonders wichtig, denn Russland ist von allen Ländern das rückständigste, in dem die sozialistische Revolution unmittelbar nicht möglich ist. Gerade deshalb mussten die russischen Sozialdemokraten als erste mit der „Theorie und Praxis“ der Niederlage-„Losung“ auf den Plan treten. Und die zaristische Regierung hatte vollkommen recht mit der Behauptung, dass die Agitation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion in der ganzen Internationale das einzige Exempel nicht nur parlamentarischer Opposition, sondern wirklich revolutionärer Massenagitation gegen die eigene Regierung sei, – dass diese Agitation der militärischen Macht Russlands tatsächlich Abbruch tue und zu einer russischen Niederlage beitragen müsse. Das ist eine Tatsache. Es wäre unklug, damit Versteck zu spielen.

Die Gegner der Niederlage-Losung haben einfach vor sich selber Angst, wenn sie die sonnenklare Tatsache nicht offen ins Auge fassen wollen: dass zwischen revolutionärer Agitation gegen die Regierung und Förderung ihrer Niederlage ein untrennbarer Zusammenhang besteht.

Ist ein Zusammenstimmen und Zusammenwirken der im bürgerlich-demokratischen Sinne revolutionären Bewegung in Russland und der sozialistischen in Westeuropa möglich? Daran hat im letzten Jahrzehnt von den Sozialisten, die überhaupt öffentlich Stellung nahmen, kein einziger Zweifel geäußert, und die Bewegung unter dem österreichischen Proletariat nach dem 17. Oktober 1905 hat faktisch bewiesen, dass diese Möglichkeit besteht.

Man frage jeden Beliebigen, der sich Internationalist und Sozialdemokrat nennt, ob er für ein Übereinkommen der Sozialdemokraten aus den verschiedenen kriegführenden Ländern zum Zwecke gemeinsamer revolutionärer Aktionen gegen alle kriegführenden Regierungen ist. Das sei unmöglich, werden viele antworten, genau wie Kautsky (Neue Zeit vom 2. Oktober 1914), der seinen Sozialchauvinismus vollkommen offenbart hat. Denn einerseits ist das eine ausgemachte, eine schreiende Unwahrheit, die allgemein bekannten Tatsachen und dem Baseler Manifest ins Gesicht schlägt. Und anderseits: wäre das wahr, so hätten die Opportunisten in vielem recht!

Viele werden antworten, sie seien dafür. Dann aber werden wir sagen: wenn dieses Dafürsein kein geheucheltes ist, so wäre es lächerlich, zu denken, dass im Kriege und für den Krieg ein Übereinkommen „in aller Form“ erforderlich sei: Vertreterwahl, Zusammenkünfte, Vertragsunterzeichnung, Festsetzung von Tag und Stunde! So zu denken sind nur die Sjemkowskis imstande. Eine Vereinbarung über revolutionäre Aktionen selbst in einem Lande, geschweige denn in einer Reihe von Ländern, ist nur zu verwirklichen durch die Kraft des Beispiels ernster revolutionärer Aktionen, ihrer Inangriffnahme und ihrer Fortentwicklung. Initiative solcher Art ist aber wiederum unmöglich ohne das Verlangen nach der Niederlage und ohne die Förderung der Niederlage. Die Umwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg kann nicht „gemacht“ werden, so wenig wie man Revolutionen „machen“ kann, – sie wächst heraus aus einer ganzen Reihe von mannigfaltigen Erscheinungen, Seiten, Momenten, Charakterzügen und Konsequenzen des imperialistischen Kriegs. Und ein solches Herauswachsen ist unmöglich ohne eine Reihe von militärischen Misserfolgen und Niederlagen eben der Regierungen, denen ihre eigenen unterdrückten Klassen Schläge versetzen.

Die Losung der Niederlage ablehnen, heißt seinen revolutionären Willen zu einer leeren Phrase oder zu bloßer Heuchelei machen.

Und was denn will man uns anstatt dieser „Losung“ der Niederlage vorschlagen? Die Parole „Weder Siege noch Niederlagen“. (So Sjemkowski in Nr. 2 der „Iswestija“. Ebenso das ganze OK. in Nr. 1.) Aber das ist ja nichts anderes als eine Umschreibung der Parole „Vaterlandsverteidigung“! Das heißt aber die Frage gerade in die Sphäre des Kriegs zwischen den Regierungen übertragen (nach dem Inhalte dieser Parole sollen diese in ihrem alten Verhältnis verbleiben, „ihre Positionen behalten“) – nicht aber in die des Kampfes der unterdrückten Klassen gegen ihre Regierung! Das ist eine Rechtfertigung des Chauvinismus aller imperialistischen Nationen, deren Bourgeoisien stets bereit sind, zu behaupten – und sie erzählen das dem Volke auch wirklich –, dass sie „nur“ „gegen die Niederlage“ kämpfen. „Der Sinn unserer Abstimmung vom 4. August ist: Nicht für den Krieg, sondern gegen die Niederlage“, schreibt ein Führer der deutschen Opportunisten, Eduard David, in seinem Buch.2 Die „OK-Leute“ stellen sich samt Bukwojed und Trotzki ganz und gar auf den Boden Davids, wenn sie die Parole „Weder Sieg noch Niederlage“ verfechten!

Bei näherem Zusehen bedeutet diese Losung den „Burgfrieden, den Verzicht auf den Klassenkampf der unterdrückten Klassen in allen kriegführenden Ländern; denn der Klassenkampf ist unmöglich ohne Hiebe gegen die „eigene“ Bourgeoisie und die „eigene“ Regierung, der Hieb gegen die eigene Regierung in Kriegszeiten ist aber Hochverrat (dies merke sich Bukwojed!), ist Arbeit für die Niederlage des eigenen Landes. Wer die Losung „Weder Sieg noch Niederlage“ vertritt, der kann nur heuchlerisch für den Klassenkampf, für den „Bruch des Burgfriedens“ eintreten, der leistet in der Tat auf selbständige proletarische Politik Verzicht und ordnet das Proletariat aller kriegführenden Länder dem absolut bürgerlichen Zweck unter: die betreffenden imperialistischen Regierungen vor Niederlagen zu bewahren. Die einzige Politik, die den wirklichen, nicht den bloß phrasenhaften Bruch des „Burgfriedens“ und die Anerkennung des Klassenkampfes bedeutet, heißt Ausnutzung der Schwierigkeiten der eigenen Regierung und der eigenen Bourgeoisie durch das Proletariat zum Zwecke ihrer Beseitigung. Das kann man aber nicht erzielen, ja das kann man nicht bezwecken, ohne dass man die Niederlage der eigenen Regierung wünscht, ohne dass man auf diese Niederlage hinwirkt.

Als die italienischen Sozialdemokraten vor dem Kriege die Frage des Massenstreiks stellten, da antwortete ihnen die Bourgeoisie – absolut richtig von ihrem Standpunkte aus: das wird Hochverrat sein, und man wird euch als Hochverräter behandeln. Das ist wahr, ebenso wie es auch wahr ist, dass Verbrüderung in den Schützengräben Hochverrat ist. Wer wie Bukwojed gegen den „Hochverrat“ und wie Sjemkowski gegen den „Zerfall Russlands“ schreibt, der nimmt einen bürgerlichen, aber keinen proletarischen Standpunkt ein. Der Proletarier kann weder seiner Regierung einen Stoß versetzen noch seinem Bruder, dem Proletarier des „fremden“, mit „uns“ Krieg führenden Landes die Hand in der Tat entgegenstrecken, ohne „Hochverrat“ zu begehen, ohne die Niederlage zu fördern, ohne zum Zerfall der „eigenen“ imperialistischen „Groß“-Macht beizutragen.

Wer für die Losung „Weder Siege noch Niederlagen“ eintritt, der ist ein bewusster oder unbewusster Chauvinist, der ist bestenfalls ein versöhnlicher Kleinbürger, auf jeden Fall aber ein Feind der proletarischen Politik, ein Anhänger der jetzigen Regierungen, der jetzigen herrschenden Klassen.

Betrachten wir diese Frage noch von einer anderen Seite. Der Krieg muss in den Massen unbedingt die stürmischsten Gefühle hervorrufen, die den üblichen Zustand der Psychologie des Schlafs durchbrechen. Und ohne Anpassung an diese neuen stürmischen Gefühle ist eine revolutionäre Taktik unmöglich.

Welches sind die Hauptströme dieser stürmischen Gefühle? 1. Schrecken und Verzweiflung. Daher – Stärkung der Religion. Die Kirchen begannen sich von neuem zu füllen, – frohlocken die Reaktionäre. „Wo Leiden sind, da ist Religion“, sagt der Erzreaktionär Barrès. Und er hat recht. 2. Hass gegen den „Feind“ – ein Gefühl, das speziell von der Bourgeoisie (nicht so sehr von den Pfaffen) angefacht wird und nur für sie wirtschaftlich und politisch von Vorteil ist. 3. Hass gegen die eigene Regierung und die eigene Bourgeoisie – das Gefühl aller klassenbewussten Arbeiter, die einerseits begreifen, dass der Krieg „die Fortsetzung der Politik“ des Imperialismus ist, und darauf mit einer „Fortsetzung“ ihres Hasses gegen ihren Klassenfeind antworten, aber anderseits verstehen, dass „Krieg dem Kriege“ ohne Revolution gegen die eigene Regierung eine platte Phrase ist. Man kann den Hass gegen die eigene Regierung und die eigene Bourgeoisie nicht wecken, ohne ihnen die Niederlage zu wünschen, – und man kann kein aufrichtiger Gegner des „Burgfriedens“ (= des Klassenfriedens) sein, ohne den Hass gegen die eigene Regierung und gegen die eigene Bourgeoisie zu wecken.

Die Anhänger der Losung „Weder Siege noch Niederlagen“ stehen faktisch auf Seiten der Bourgeoisie und der Opportunisten; sie „glauben nicht“ an die Möglichkeit internationaler revolutionärer Aktionen der Arbeiterklasse gegen ihre Regierungen und wünschen nicht, zur Entfaltung solcher Aktionen beizutragen, – eine unzweifelhaft schwierige Aufgabe, aber die einzig des Proletariats würdige, die einzig sozialistische Aufgabe. Gerade das Proletariat der rückständigsten unter den kriegführenden Großmächten musste, besonders im Angesichte des schmählichen Verrats der deutschen und der französischen Sozialdemokraten, in Gestalt seiner Partei mit der revolutionären Taktik hervortreten, die ohne „Förderung der Niederlage“ der eigenen Regierung absolut unmöglich ist, die aber einzig und allein zur europäischen Revolution führt, zum sicheren Frieden des Sozialismus und zur Erlösung der Menschheit von den jetzt herrschenden Gräueln, dem Elend, der Verwilderung und der Vertierung.

1 Der Artikel „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege“ erschien in Nummer 43 des „Sozialdemokrat“ im August (Juli) 1914 [sic!]. Geschrieben wurde er zur Verteidigung einer der wichtigsten Losungen des Bolschewismus während des Krieges die in dem Manifest des ZK der bolschewistischen Partei und in der Resolution der Berner Konferenz aufgestellt worden war. […] Zugleich war diese Losung der Prüfstein für die Standhaftigkeit der Mitglieder der bolschewistischen Partei, unter denen es einzelne Elemente gab (die Gruppe Bucharin, Kamenew), die diese Losung nicht anerkannten. Die Verteidigung dieser Losung, der Kampf gegen ihre Gegner waren deshalb höchst wichtig. Lenin führte diesen Kampf ohne Unterbrechung in der ganzen Zeit von 1914-1916. [Aus: Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 30]

2 „Die Sozialdemokratie im Weltkrieg“. Verlag Vorwärts, Berlin 1915. D. Red. [Ausgewählte Werke, Band 5, S. 140, FN]

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