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Wladimir I. Lenin 19150601 Vom Kampf gegen den Sozialchauvinismus

Wladimir I. Lenin: Vom Kampf gegen den Sozialchauvinismus1

[Beilage zum Sozialdemokrat Nr. 42, 1. Juni 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 215-220]

Das interessanteste und neueste Material zu dieser aktuellen Frage hat die unlängst beendete internationale sozialistische Frauenkonferenz in Bern geliefert. Die Leser finden weiter unten einen Bericht über die Konferenz und den Text der angenommenen wie den der abgelehnten Resolution. In diesem Artikel gedenken wir nur auf eine Seite der Frage einzugehen.

Die Vertreterinnen der Frauenorganisationen beim Organisationskomitee, die Holländerinnen aus der Partei Troelstras, die Schweizerinnen aus den Organisationen, die die Berner Tagwacht wegen ihres angeblich übermäßigen Radikalismus bekämpfen, die französische Vertreterin, die in keiner auch nur einigermaßen wichtigen Frage von der – bekanntlich auf sozialchauvinistischem Boden stehenden – offiziellen Partei abweichen wollte, die Engländerinnen, die dem Gedanken einer klaren Scheidung der revolutionären proletarischen Taktik vom Pazifismus feind sind, – sie alle einigten sich mit den „linken“ deutschen Sozialdemokratinnen auf eine und dieselbe Resolution. Die Vertreterinnen der Frauenorganisationen beim Zentral-Komitee unserer Partei trennten sich von ihnen: sie zogen es vor, einstweilen isoliert zu bleiben, statt sich an einem solchen Block zu beteiligen.

Worin bestand das Wesen der Differenzen? Welches ist die prinzipielle und allgemein politische Bedeutung dieses Auseinandergehens?

Auf den ersten Blick scheint die „mittlere“ Resolution, die die Opportunisten und einen Teil der Linken vereinigte, sehr hübsch und prinzipiell richtig. Der Krieg wird als ein imperialistischer bezeichnet, die Idee der „Vaterlandsverteidigung“ wird verurteilt, die Arbeiter werden zu Massendemonstrationen aufgerufen usw. usw. Man könnte glauben, unsere Resolution unterscheide sich davon lediglich durch einige schärfere Ausdrücke, wie „Verrat“, Opportunismus“, „Austritt aus den bürgerlichen Ministerien“ usw.

Zweifellos wird man von eben diesem Gesichtspunkt aus an dem Ausscheiden der Delegierten der Frauenorganisationen des Zentral-Komitees unserer Partei Kritik üben.

Es genügt, die Sache aufmerksam zu betrachten und sich nicht auf die „formale“ Anerkennung dieser oder jener Wahrheit zu beschränken, um die völlige Haltlosigkeit einer solchen Kritik einzusehen.

Auf der Konferenz stießen zwei Weltanschauungen zusammen, zwei Auffassungen vom Krieg und von den Aufgaben der Internationale, zwei Taktiken der proletarischen Parteien. Die eine Ansicht besagt: es hat keinen Zusammenbruch der Internationale gegeben, es liegen keine tiefen und ernsthaften Hindernisse für die Rückkehr vom Chauvinismus zum Sozialismus vor, es gibt keinen starken „inneren Feind“ in Gestalt des Opportunismus, dieser hat keinen direkten, unzweifelhaften, offensichtlichen Verrat am Sozialismus begangen. Daraus die Schlussfolgerung: wir wollen niemanden verdammen, wir wollen denen „Amnestie“ erteilen, die die Stuttgarter und die Baseler Resolution verletzt haben, wir wollen uns auf den Rat beschränken, den Kurs mehr nach links zu nehmen und die Massen zu Demonstrationen aufzurufen.

Die andere Ansicht über alle die hier erwähnten Punkte ist eine absolut entgegengesetzte. Es gibt nichts Schädlicheres und Verhängnisvolleres für die proletarische Sache als die Weiterführung innerparteilicher Diplomatie gegenüber den Opportunisten und Sozialchauvinisten. Die Resolution der Mehrheit erwies sich für die Opportunistinnen und Anhängerinnen der jetzigen offiziellen Parteien eben darum als annehmbar, weil sie ganz und gar vom Geiste der Diplomatie durchdrungen ist. Den Arbeitermassen, die gegenwärtig gerade von den offiziellen Sozialpatrioten geführt werden, streut man mit solcher Diplomatie Sand in die Augen. Den Arbeitermassen wird der zweifellos irrige und schädliche Gedanke eingeflößt, als ob die gegenwärtigen sozialdemokratischen Parteien mit ihren gegenwärtigen Vorständen imstande seien, den Kurs zu ändern und anstatt eines falschen den richtigen zu nehmen.

Dem ist nicht so. Das ist ein sehr tief greifender und sehr verhängnisvoller Irrtum. Die jetzigen sozialdemokratischen Parteien und ihre Vorstände sind zu einer ernsthaften Kursänderung nicht imstande. In der Tat wird alles beim alten bleiben, und die in der Mehrheits-Resolution ausgesprochenen „linken“ Wünsche werden fromme Wünsche bleiben, – dies hatten die Anhängerinnen der Troelstra-Partei oder der jetzigen französischen Parteileitung mit sicherem politischem Instinkt begriffen, als sie für eine derartige Resolution stimmten. Der Aufruf zu Massendemonstrationen könnte praktisch, in der Tat nur bei aktivster Unterstützung durch die jetzigen Leitungen der sozialdemokratischen Parteien ernste Bedeutung erhalten.

Kann man eine solche Unterstützung erwarten? Natürlich nicht. Man weiß, dass ein solcher Appell bei den Parteileitungen auf erbitterten (zumeist versteckten) Widerstand stoßen und nicht im geringsten Unterstützung finden wird.

Hätte man das den Arbeitern offen gesagt, dann wüssten sie die Wahrheit. Sie wüssten, dass zur Verwirklichung der „linken“ Wünsche eine grundsätzliche Kursänderung der sozialdemokratischen Parteien notwendig, dass der hartnäckigste Kampf gegen die Opportunisten und ihre „Zentrums“-Freunde erforderlich ist. Nun aber hat man die Arbeiter mit den linken Wünschen eingelullt, man hat es abgelehnt, laut und deutlich das Übel beim Namen zu nennen, ohne dessen Bekämpfung jene Wünsche unerfüllbar bleiben.

Die diplomatischen Führer, die Träger der chauvinistischen Politik in den jetzigen sozialdemokratischen Parteien werden die Schwäche, die Unentschiedenheit, die mangelnde Bestimmtheit der Mehrheits-Resolutionen ausgezeichnet auszunutzen wissen. Als geschickte Parlamentarier werden sie die Rollen untereinander verteilen; die einen werden sagen: die „ernsthaften“ Argumente von Kautsky und Co. sind nicht beurteilt, nicht analysiert worden, lasst uns die Diskussion auf eine breitere Grundlage stellen; und die anderen werden sagen: seht, hatten wir nicht recht, als wir erklärten, dass es keine tiefen Meinungsverschiedenheiten gibt, wenn die Anhängerinnen der Troelstra-Partei und der Partei Guesde-Sembat sich mit den linken Deutschen zusammengefunden haben?

Die Frauenkonferenz hatte die Pflicht, nicht den Scheidemann, Haase, Kautsky, Vandervelde, Hyndman, Guesde und Sembat, Plechanow usw. bei der Einschläferung der Arbeitermassen Hilfe zu leisten, vielmehr umgekehrt die Massen zur entschlossenen Kriegserklärung an den Opportunismus aufzurütteln. Nur dann hätte das praktische Resultat nicht in der Hoffnung auf eine „Besserung“ der genannten „Führer“ bestanden, sondern in der Sammlung der Kräfte für einen schweren und ernsten Kampf.

Man sehe zu, was es mit der Verletzung der Stuttgarter und der Baseler Resolution durch die Opportunisten und „Zentristen“ für eine Bewandtnis hat: hier steckt ja gerade der Haken! Man halte sich einmal offen und gerade, ohne Diplomatie vor Augen, wie die Sache war.

In Voraussicht des Kriegs versammelt sich die Internationale und beschließt einstimmig, im Falle des Kriegsausbruchs für die „beschleunigte Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft“ zu arbeiten, im Geiste der Kommune, des Oktober und Dezember 1905 (genau die Worte der Baseler Resolution!II) zu arbeiten, in dem Sinne zu arbeiten, dass das Schießen „der Arbeiter eines Landes auf die Arbeiter eines anderen Landes“ als „Verbrechen“ gebrandmarkt wird.

Die Richtlinie für die Arbeit in internationalem, proletarischem, revolutionärem Geiste ist hier vollkommen deutlich angezeigt, – so deutlich, dass man bei Wahrung legaler Ausdrucksweise deutlicher nicht werden konnte.

Da bricht der Krieg aus, eben der Krieg, eben auf der Linie, wie er in Basel vorausgesehen war. Die offiziellen Parteien handeln gerade im entgegengesetzten Sinne: nicht als Internationalisten, sondern als Nationalisten; bürgerlich und nicht proletarisch; nicht revolutionär, sondern erzopportunistisch. Wenn wir den Arbeitern sagen: es ist direkter Verrat an der Sache des Sozialismus geübt worden, so fegen wir mit diesen Worten auf einen Schlag alle Ausflüchte und Ausreden, alle Sophismen à la Kautsky und Axelrod fort, stellen deutlich die ganze Tiefe und Stärke des Übels dar, rufen eindeutig zum Kampfe mit diesem Übel auf, nicht aber zur Versöhnung mit ihm.

Wie aber steht es mit der Resolution der Mehrheit? Keine Silbe von einer Verurteilung der Verräter, kein Sterbenswörtchen über den Opportunismus, eine einfache Wiederholung der Ideen der Baseler Resolution!!! Als wäre nichts Ernstes geschehen, – als wäre ein kleiner zufälliger Fehler vorgefallen und es genüge, den alten Beschluss zu wiederholen, – als sei eine nicht prinzipielle, nicht sehr tiefe Meinungsverschiedenheit entstanden und es genüge, den Riss zu verkleben!!!

Das ist denn doch eine direkte Verhöhnung der Beschlüsse der Internationale, eine Verhöhnung der Arbeiter. Die Sozialchauvinisten wollen ja im Grunde auch nichts anderes als die einfache Wiederholung der alten Beschlüsse, dass nur ja nichts in Wirklichkeit geändert werde. Das ist im Grunde genommen eine stillschweigende und heuchlerisch verhüllte Amnestie für die sozialchauvinistischen Anhänger der Mehrheit der jetzigen Parteien. Wir wissen, dass es eine Unmenge von Leuten gibt, die gerade diesen Weg gehen, die sich auf ein paar linke Phrasen beschränken möchten. Mit solchen Leuten ziehen wir nicht dieselbe Straße. Wir haben einen anderen Weg genommen und werden ihn weiter gehen, wir wollen die Arbeiterbewegung und den Ausbau der Arbeiterpartei durch die Tat fördern, im Geiste der Unversöhnlichkeit gegenüber dem Opportunismus und Sozialchauvinismus.

Ein Teil der deutschen Frauen-Delegierten trug offenbar Scheu vor einer ganz klaren Resolution, aus Erwägungen, die sich ausschließlich auf das Entwicklungstempo des Kampfes gegen den Chauvinismus innerhalb einer einzigen, nämlich ihrer eigenen Partei beziehen. Aber derartige Erwägungen waren offenkundig unangebracht und irrig, da die internationale Resolution weder das Tempo noch die konkreten Bedingungen des Kampfes mit dem Sozialchauvinismus in den einzelnen Ländern betraf und auch nicht betreffen konnte; auf diesem Gebiet ist die Autonomie der einzelnen Parteien unanfechtbar. Es galt, von der internationalen Tribüne den unwiderruflichen Bruch mit dem Sozialchauvinismus in der ganzen Richtung, im ganzen Charakter der sozialdemokratischen Arbeit zu verkünden; statt dessen aber wiederholte die Resolution der Mehrheit noch einmal den alten Fehler, den Fehler der II. Internationale, die mit den Mitteln der Diplomatie den Opportunismus und das Auseinanderklaffen von Wort und Tat zu verhüllen pflegte. Wir wiederholen: diesen Weg werden wir nicht gehen.

1 Der Artikel „Vom Kampf gegen den Sozialchauvinismus“ ist der Einschätzung der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz gewidmet. Diese tagte in Bern vom 26. bis 28. März 1915. Sie war auf Initiative der Auslandsvertreterinnen der dem bolschewistischen ZK der SDAPR angeschlossenen Frauenorganisationen einberufen. [aus der Anm. 67 der „Ausgewählten Werke“, Band 5]

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