Beilage. Der Zusammenstoß zwischen Genossen Gussew und Genossen Deutsch

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Der Zusammenstoß zwischen Genossen Gussew und Genossen Deutsch

Das Wesen dieses Zwischenfalls, der eng verknüpft ist mit der sogenannten „falschen" (wie sich Genosse Martow ausdrückte) Liste, die in dem – von uns in § 1 angeführten – Brief der Genossen Martow und Starowjer erwähnt ist, besteht in folgendem. Genosse Gussew hatte Genossen Pawlowitsch mitgeteilt, dass die aus den Genossen Stein, Jegorow, Popow, Trotzki und Fomin bestehende Liste ihm, Gussew, vom Genossen Deutsch übermittelt worden sei (S. 12 des „Briefes" des Genossen Pawlowitsch). Genosse Deutsch beschuldigte Genossen Gussew wegen dieser Mitteilung der „wissentlichen Verleumdung", und ein Partei-Schiedsgericht erkannte die „Mitteilung" des Genossen Gussew als „nicht richtig" an (siehe die Resolution des Gerichts in Nr. 62 der „Iskra"). Nachdem die Redaktion der „Iskra" die Resolution des Schiedsgerichts veröffentlicht hatte, gab Genosse Martow (nicht mehr die Redaktion) ein Sonderblatt heraus unter dem Titel: „Die Resolution des Partei-Schiedsgerichts", in dem er nicht nur die Resolution des Gerichts, sondern auch einen vollständigen Bericht über die Untersuchung der Angelegenheit und sein Nachwort wörtlich abdruckte. In diesem Nachwort bezeichnet unter anderem Genosse Martow „die Tatsache der Fälschung einer Liste im Interesse des Fraktionskampfes" als „schmachvoll". Dieses Blatt beantworteten die Delegierten des 2. Parteitags Ljadow und Gorin mit einem Flugblatt, das den Titel „Die vierte Person im Schiedsgericht" trug und in dem sie „energisch dagegen protestierten, dass Genosse Martow sich herausnimmt, über die Gerichtsbeschlüsse hinauszugehen und dem Genossen Gussew unlautere Motive zuzuschreiben", denn das Gericht hat das Vorhandensein wissentlicher Verleumdungen nicht anerkannt, sondern nur entschieden, dass die Mitteilung des Genossen Gussew nicht richtig war. Die Genossen Gorin und Ljadow erklären ausführlich, dass die Mitteilung des Genossen Gussew durch einen ganz natürlichen Irrtum hervorgerufen sein konnte, und kennzeichnen das Verhalten Martows als „unwürdig", der selber eine Reihe irriger Mitteilungen machte (und sie in seinem Flugblatt macht), als er Genossen Gussew willkürlich unlautere Absichten zuschrieb. Von unlauterer Absicht, sagen sie, kann hier überhaupt nicht die Rede sein. Das ist, wenn ich nicht irre, die ganze „Literatur" über diese Frage, zu deren Klärung beizutragen, ich für meine Pflicht halte.

Vor allem ist es notwendig, dass der Leser sich über die Zeit und die Umstände der Entstehung dieser Liste (der Liste der Kandidaten für das Zentralkomitee) genau im Klaren ist. Wie ich bereits im Text der Broschüre erwähnt habe, beriet sich die „Iskra"-Organisation auf dem Parteitag über die Kandidatenliste für das Zentralkomitee, die sie dem Parteitag gemeinsam vorlegen könnte. Die Beratung endete mit einer Meinungsverschiedenheit: die Mehrheit der „Iskra"-Organisation nahm die Liste: Trawinski, Glebow, Wassiljew, Popow und Trotzki an, die Minderheit jedoch wollte nicht nachgeben und bestand auf die Liste: Trawinski, Glebow, Fomin, Popow, Trotzki. Die beiden Teile der „Iskra"-Organisation kamen nach jener Versammlung, in der diese Listen aufgestellt und zur Abstimmung gelangten, nicht mehr zusammen. Beide Teile der „Iskra"-Organisation agitierten frei auf dem Parteitag, denn sie wollten die sie trennende strittige Frage durch die Abstimmung des gesamten Parteitags zur Entscheidung bringen und bemühten sich darum, möglichst viele Delegierte für ihren Standpunkt zu gewinnen. Diese freie Agitation auf dem Parteitag offenbarte sofort jene politische Tatsache, die ich im Text meiner Broschüre so ausführlich analysiert habe, nämlich, dass es für die Minderheit der Iskristen (mit Martow an der Spitze) notwendig war, sich auf das „Zentrum" (den Sumpf) und auf die Anti-Iskristen zu stützen, um über uns siegen zu können. Das war darum notwendig, weil die übergroße Mehrheit der Delegierten, die das Programm, die Taktik und die Organisationspläne der „Iskra" gegen den Ansturm der Anti-Iskristen und des „Zentrums" konsequent verteidigten, sich sehr rasch und sehr entschieden auf unsere Seite stellten. Von den 33 Delegierten (genauer: Stimmen), die weder zu den Anti-Iskristen noch zu dem „Zentrum" gehörten, eroberten wir sehr rasch 24 und schlossen eine „direkte Vereinbarung" mit ihnen ab, – wir schufen die „kompakte Mehrheit". Genosse Martow dagegen blieb mit nur neun Stimmen; um siegen zu können, brauchte er alle Stimmen der Anti-Iskristen und des „Zentrums". Mit diesen Gruppen konnte er zusammengehen (wie auch in der Frage des § 1 des Statuts), mit ihnen konnte er sich „koalieren", d. h. er konnte ihre Unterstützung haben, aber er konnte mit ihnen keine direkte Vereinbarung treffen, und zwar darum nicht, weil er diese Gruppen während des ganzen Parteitages nicht weniger scharf bekämpfte als wir. Darin bestand eben das Tragikomische in der Lage des Genossen Martow! Genosse Martow will mich in seinem „Belagerungszustand" durch die tödlich giftige Frage vernichten: „Wir bitten Genossen Lenin ehrerbietigst, offen auf die Frage zu antworten: Für wen war der ,Juschny Rabotschij' auf dem Parteitag ein Außenstehender?" (S. 23, Fußnote.) Ich antworte ehrerbietigst und offen: Er war ein Außenstehender für Genossen Martow. Beweis: ich habe mich mit Iskristen sehr rasch direkt verständigt, Genosse Martow aber hat weder mit dem „Juschny Rabotschij" noch mit Genossen Machow oder mit Genossen Bruker eine unmittelbare Vereinbarung getroffen oder treffen können.

Nur wenn man sich über diese politische Lage klar geworden ist, kann man verstehen, was der „Kern" der wunden Frage der berühmten „falschen" Liste gewesen ist. Man stelle sich konkret die Lage der Dinge vor: die „Iskra"-Organisation ist gespalten, wir agitieren frei auf dem Parteitag und verteidigen unsere Listen. Bei dieser Verteidigung werden in einer Menge einzelner Privatgespräche die Listen auf hunderterlei Arten miteinander kombiniert, anstatt des Fünferkollegiums wird ein Dreierkollegium erwogen, alle möglichen Vorschläge, einen Kandidaten durch einen andern zu ersetzen, werden gemacht. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr genau, dass in Privatgesprächen der Mehrheit die Kandidaturen der Genossen Russow, Ossipow, Pawlowitsch, Djedow erwogen und dann, nach Erörterungen und Diskussionen, abgelehnt wurden. Es ist sehr möglich, dass auch andere, mir unbekannte Kandidaturen vorgeschlagen worden sind. Jeder Parteitagsdelegierte äußerte in Unterhaltungen seine Ansicht, schlug Änderungen vor, diskutierte usw. Es wäre im höchsten Grade unwahrscheinlich, anzunehmen, dass das ausschließlich innerhalb der Mehrheit geschah. Zweifellos ging dasselbe auch in der Minderheit vor sich, denn ihr ursprüngliches Fünferkollegium (Popow, Trotzki, Fomin, Glebow, Trawinski) wurde später, wie wir aus dem Brief der Genossen Martow und Starowjer gesehen haben, durch das Dreierkollegium Glebow, Trotzki, Popow ersetzt, wobei Glebow ihnen nicht gefiel, so dass sie ihn gern durch Fomin ersetzten (siehe das Flugblatt der Genossen Ljadow und Gorin). Man darf nicht vergessen, dass ich die Gruppen, in die ich im Text der Broschüre die Parteitagsdelegierten teile, auf Grund einer post factum durchgeführten Analyse voneinander abgrenze: in Wirklichkeit aber traten diese Gruppen in der Wahlagitation erst hervor, und der Meinungsaustausch der Delegierten ging ganz frei vor sich: es hat keine „Wand" zwischen uns gegeben, und jeder sprach mit jedem beliebigen Delegierten, mit dem er nur privatim sprechen wollte. Es ist keineswegs verwunderlich, dass in solchen Verhältnissen unter allen möglichen Kombinationen und Listen neben der Liste der Minderheit der „Iskra"-Organisation (Popow, Fomin, Trotzki, Glebow, Trawinski) die sich nur wenig von ihr unterscheidende Liste: Popow, Trotzki, Fomin, Stein und Jegorow entstand. Die Entstehung einer solchen Kandidaten-Kombination ist im höchsten Grade natürlich, weil unsere Kandidaten, Glebow und Trawinski, der Minderheit der „Iskra"-Organisation von vornherein nicht gefielen (siehe ihren Brief im Text der Broschüre, § i, wo sie Trawinski aus dem Dreierkollegium entfernen, von Glebow aber offen sagen, das sei nur ein Kompromiss). Die Ersetzung Glebows und Trawinskis durch die Mitglieder des Organisationskomitees Stein und Jegorow war vollkommen natürlich, und es wäre merkwürdig gewesen, wenn von den Mitgliedern der Parteiminderheit niemand auf die Idee einer solchen Ersetzung gekommen wäre.

Betrachten wir jetzt die beiden folgenden Fragen: 1, von wem ging die Liste Jegorow, Stein, Popow, Trotzki, Fomin aus? und 2. warum war Genosse Martow so tief empört darüber, dass man ihm eine solche Liste zugeschrieben hatte? Um auf die erste Frage genau antworten zu können, wäre es notwendig, alle Parteitagsdelegierten zu befragen. Das ist jetzt unmöglich. Besonders wäre es notwendig, zu erklären, welche Delegierten der Parteitagsminderheit (die nicht mit der Minderheit der „Iskra"-Organisation verwechselt werden darf) auf dem Parteitag von den Listen gehört haben, die die Spaltung der „Iskra"-Organisation hervorgerufen haben. Wie haben sie sich zu den beiden Listen der Mehrheit und der Minderheit der „Iskra"-Organisation verhalten? Haben sie nicht irgendwelche Absichten oder Meinungen über erwünschte Änderungen in der Liste der Minderheit der „Iskra"-Organisation vorgeschlagen oder gehört? Leider sind diese Fragen anscheinend auch vor dem Schiedsgericht nicht gestellt worden, dem es (nach dem Wortlaut des Beschlusses zu urteilen) sogar unbekannt geblieben ist, wegen welcher Fünferkollegien das Auseinandergehen in der „Iskra"-Organisation erfolgte.

Genosse Bjelow zum Beispiel (den ich zum „Zentrum" rechnete) „hat ausgesagt, dass er gute kameradschaftliche Beziehungen zu Deutsch unterhielt, der ihm seine Eindrücke von der Arbeit des Parteitags mitteilte, und wenn Deutsch für diese oder jene Liste Agitation getrieben hätte, so würde er das auch ihm, Bjelow, mitgeteilt haben". Man muss bedauern, dass es ungeklärt geblieben ist, ob Genosse Deutsch auf dem Parteitag Genossen Bjelow auch von dem Eindruck erzählt hat, den die Listen der „Iskra"-Organisation auf ihn gemacht haben, und wenn ja, wie sich dann Genosse Bjelow zu der Fünferliste der Minderheit der „Iskra"-Organisation verhielt. Hat er irgendwelche erwünschte Änderungen in der Liste vorgeschlagen oder von solchen Vorschlägen gehört? Da dieser Umstand nicht geklärt wurde, so ist in den Aussagen des Genossen Bjelow und Deutsch der Widerspruch entstanden, den schon die Genossen Gorin und Ljadow festgestellt haben, nämlich dass Genosse Deutsch, entgegen seinen Behauptungen, „Agitation getrieben hat zugunsten dieser oder jener Kandidaten für das Zentralkomitee", die die „Iskra"-Organisation in Aussicht genommen hatte. Genosse Bjelow sagt weiter aus, dass „er von der Liste, die sich auf dem Parteitag im Umlauf befand, auf privatem Wege, zwei Tage vor Ende des Parteitags erfahren habe, als er die Genossen Jegorow, Popow und die Delegierten des Charkower Komitees traf. Dabei äußerste Jegorow sein Erstaunen darüber, das sein Name sich in der Liste der Kandidaten für das Zentralkomitee befand, da nach seiner, Jegorows, Ansicht seine Kandidatur weder bei den Delegierten der Mehrheit noch bei den Delegierten der Minderheit Sympathie erwecken konnte." Es ist sehr bezeichnend, dass hier offensichtlich von der Minderheit der „Iskrа"-Оrgаnisаtiоn die Rede ist, denn in der übrigen Minderheit des Parteitages konnte die Kandidatur des Genossen Jegorow, eines Mitgliedes des Organisationskomitees und hervorragenden Redners des „Zentrums", nicht nur, sondern aller Wahrscheinlichkeit musste sie auf Sympathie stoßen. Leider erfahren wir eben nichts vom Genossen Bjelow über die Sympathie oder Antipathie der Mitglieder der Parteiminderheit, die der „Iskra"-Organisation nicht angehörten. Gerade diese Frage aber ist wichtig, denn Genosse Deutsch war empört, weil man diese Liste der Minderheit der „Iskra"-Organisation zuschrieb, die Liste konnte aber von der Minderheit ausgehen, die dieser Organisation nicht angehörte!

Selbstverständlich ist es jetzt sehr schwer, sich in Erinnerung zu rufen, wer zuerst die Vermutung einer solchen Kombination der Kandidaten geäußert und durch wen jeder von uns von ihr gehört hat. Ich zum Beispiel kann mich nicht nur nicht mehr daran erinnern, sondern ich weiß auch nicht mehr, wer von der Mehrheit zuerst die von mir erwähnten Kandidaturen Russows, Djedows und anderer vorgeschlagen hat. Aus der Menge der Gespräche, Mutmaßungen, Gerüchte über alle möglichen Kandidaturenkombinationen haben sich in mein Gedächtnis nur jene „Listen" eingeprägt, über die in der „Iskra"-Organisation oder in den Privatversammlungen der Mehrheit unmittelbar abgestimmt wurde. Diese „Listen" wurden meistenteils mündlich weitergegeben (in meinem „Brief an die Redaktion der ,Iskra'", S. 4, Zeile 5 von unten, bezeichne ich mit „Liste" eben die von mir in der Versammlung mündlich vorgeschlagene Kombination von fünf Kandidaten), aber sehr oft wurden sie auch auf Zettel geschrieben, die die Delegierten während der Parteitagssitzungen miteinander austauschten und die gewöhnlich nach der Sitzung vernichtet wurden.

Da keine genauen Angaben über den Ursprung der berühmten Liste vorhanden sind, so muss angenommen werden, dass entweder ein der Minderheit der „Iskra"-Organisation unbekannter Delegierter der Parteiminderheit für eine solche Kandidatenkombination, wie sie in der Liste angeführt wird, eingetreten ist, und dass dann diese Kombination auf dem Parteitag in mündlicher und schriftlicher Form in Umlauf gesetzt wurde; oder dass irgendein Mitglied der Minderheit der „Iskra"-Organisation diese Kombination vorgeschlagen und sie dann wieder vergessen hat. Wahrscheinlicher erscheint mir die zweite Annahme, und zwar aus folgendem Grund: die Kandidatur des Genossen Stein hat zweifellos schon auf dem Parteitag die Sympathie der Minderheit der „Iskra"-Organisation gefunden (siehe im Text meiner Broschüre), auf die Idee der Kandidatur des Genossen Jegorow aber ist diese Minderheit zweifellos nach dem Parteitag gekommen (denn auf dem Kongress der Liga und im „Belagerungszustand" wird das Bedauern über die Nichtbestätigung des Organisationskomitees als Zentralkomitee zum Ausdruck gebracht, Genosse Jegorow aber war Mitglied des Organisationskomitees). Ist es nicht natürlich, wenn man annimmt, dass diese, offensichtlich in der Luft liegende Idee, die Mitglieder des Organisationskomitees in Mitglieder des Zentralkomitees zu verwandeln, von irgendeinem Mitglied der Minderheit in einem Privatgespräch und auf dem Parteitag geäußert worden ist?

Aber Genosse Martow und Genosse Deutsch sind geneigt, anstatt der natürlichen Erklärung unbedingt etwas Schmutziges zu finden, etwas Unehrliches, böse Absichten, die Verbreitung „bewusst falscher Gerüchte, um in Verruf zu bringen", „eine Fälschung im Interesse des Fraktionskampfes" usw. Dieses krankhafte Bestreben kann nur erklärt werden aus den ungesunden Verhältnissen des Emigrantenlebens oder aus einem anormalen Nervenzustand, und ich würde auf diese Frage nicht einmal eingehen, wenn es sich nicht um einen unwürdigen Anschlag auf die Ehre eines Genossen handelte. Man überlege nur: welche Gründe konnten die Genossen Deutsch und Martow dazu veranlassen, in einer falschen Mitteilung, einem falschen Gerücht etwas Schmutziges, eine unlautere Absicht zu suchen? Ihre krankhafte Einbildung hat ihnen offensichtlich das Bild vorgezaubert, dass die Mehrheit sie nicht durch den Hinweis auf den politischen Fehler der Minderheit (§ 1 und die Koalition mit den Opportunisten) „in Verruf gebracht hat", sondern dadurch, dass sie der Minderheit „bewusst falsche", „gefälschte" Listen zuschrieb. Die Minderheit zog es vor, die Angelegenheit nicht aus ihrem Fehler, sondern aus den schmutzigen, unehrlichen, schmachvollen Methoden der Mehrheit zu erklären! Wie widersinnig es war, in der „falschen Mitteilung" eine unlautere Absicht zu suchen, haben wir bereits oben nachgewiesen, als wir die Umstände der Angelegenheit schilderten; das hat auch das Parteischiedsgericht klar gesehen, das keine Verleumdung und keine Böswilligkeit, nichts Schmachvolles festgestellt hat. Das wird schließlich am anschaulichsten durch die Tatsache nachgewiesen, dass die Minderheit der „Iskra"-Organisation schon auf dem Parteitag, noch vor den Wahlen, mit der Mehrheit eine Auseinandersetzung über das falsche Gerücht hatte, während Genosse Martow sogar in einem Brief, der in einer Sitzung aller 24 Delegierten der Mehrheit verlesen wurde, Erklärungen darüber abgegeben hat! Die Mehrheit dachte gar nicht daran, vor der Minderheit der „Iskra"-Organisation zu verheimlichen, dass eine bestimmte Liste auf dem Parteitag in Umlauf ist: Genosse Lenski erzählte davon Genossen Deutsch (siehe die Entscheidung des Schiedsgerichts), Genosse Plechanow sprach davon mit Genossin Sassulitsch („man kann mit ihr nicht reden, sie hält mich, glaube ich, für Trepow" – sagte mir Genosse Plechanow, und dieser Witz, der vielfach wiederholt wurde, zeigt noch einmal die anormale Erregung der Minderheit), ich erklärte Genossen Martow, dass seine Versicherung (dass die Liste nicht von ihm stamme) mir genüge (Protokolle des Ligakongresses, S. 64). Dann schickte uns Genosse Martow (soweit ich mich erinnern kann, zusammen mit Genossen Starowjer) einen Zettel ungefähr folgenden Inhalts ins Sekretariat:

Die Mehrheit der ,Iskra'-Redaktion bittet, sie zu der Privatversammlung der Mehrheit zuzulassen, damit sie die kompromittierenden Gerüchte, die gegen sie verbreitet werden, widerlegen kann."

Plechanow und ich antworteten auf demselben Zettel:

Wir haben keine kompromittierenden Gerüchte gehört. Wenn eine Sitzung der Redaktion erforderlich ist, so muss man sich darüber besonders verständigen. Lenin. Plechanow."

Als wir abends in die Sitzung der Mehrheit kamen, erzählten wir hiervon allen 24 Delegierten. Um die Möglichkeit jeglicher Missverständnisse zu beseitigen, wurde beschlossen, dass wir alle 24 gemeinsam Vertreter wählen und diese zu den Genossen Martow und Starowjer schicken, damit sie sich mit ihnen auseinandersetzen. Die gewählten Vertreter, Genosse Sorokin und Genosse Sablin, gingen hin und erklärten, dass niemand die Liste Martow oder Starowjer persönlich zuschreibe, besonders nicht, nachdem sie ihre Erklärung abgegeben haben, und dass es gar nicht wichtig sei, ob diese Liste in dieser oder jener Weise von der Minderheit der „Iskra"-Organisation oder von der dieser Organisation nicht angehörenden Parteitagsminderheit ausgeht. Es soll doch auf dem Parteitag nicht etwa eine Untersuchung eingeleitet werden! Es sollen doch nicht alle Delegierte wegen dieser Liste vernommen werden! Aber die Genossen Martow und Starowjer haben uns außerdem noch einen Brief mit einer formellen Widerlegung geschrieben (siehe § i). Diesen Brief haben unsere Bevollmächtigten, die Genossen Sorokin und Sablin, in einer Sitzung der 24 vorgelesen. Es scheint nun, als könnte der Zwischenfall als erledigt betrachtet werden, erledigt nicht im Sinne der Nachforschung nach dem Ursprung der Liste (wenn irgendwer sich dafür interessiert), sondern im Sinne der vollständigen Beseitigung jedes Gedankens an eine Absicht, „die Minderheit zu schädigen" oder irgendwen „in Verruf zu bringen" oder eine „Fälschung im Interesse des Fraktionskampfes" auszunutzen. Genosse Martow jedoch zerrt auf dem Ligakongress (S.63 u. 64) diesen krankhafter Phantasie entsprungenen Schmutz wieder hervor, wobei er eine ganze Reihe unrichtiger Mitteilungen macht (offensichtlich infolge seines erregten Zustandes). Er sagte, auf der Liste sei ein Bundist gewesen. Das ist nicht richtig. Alle Zeugen, darunter auch die Genossen Stein und Bjelow, haben vor dem Schiedsgericht bestätigt, dass Genosse Jegorow sich auf der Liste befand. Genosse Martow sagte, die Liste bedeutete eine Koalition im Sinne einer direkten Verständigung. Das ist, wie ich schon auseinandergesetzt habe, falsch. Genosse Martow sagt, dass andere Listen, die von der Minderheit der „Iskra"-Organisation ausgegangen wären (und die fähig gewesen wären, die Mehrheit des Parteitages von dieser Minderheit abzustoßen) „nicht einmal gefälscht waren". Das stimmt nicht, denn die gesamte Mehrheit des Parteitages hat mindestens drei Listen gekannt, die vom Genossen Martow und seinen Freunden ausgingen und die Billigung der Mehrheit nicht fanden (siehe das Flugblatt Ljadows und Gorins).

Warum hat diese Liste Genossen Martow überhaupt so empört? Weil die Liste eine Wendung zum rechten Flügel der Partei bedeutete. Damals zeterte Genosse Martow über „die falsche Beschuldigung des Opportunismus", er war empört über die „falsche Charakteristik seiner politischen Stellung", jetzt aber sieht jeder, dass die Frage, ob eine bestimmte Liste von Genossen Martow oder Genossen Deutsch stammt, keinerlei politische Bedeutung haben konnte, dass die Beschuldigung ihrem Wesen nach, unabhängig von dieser oder von irgendeiner anderen Liste, nicht falsch, sondern wahr war, dass die Charakteristik der politischen Stellung vollkommen richtig war.

Das Ergebnis dieser sehr unangenehmen, an den Haaren herbeigezogenen Angelegenheit der berühmten falschen Liste ist folgendes:

1. der Anschlag des Genossen Martow auf die Ehre des Genossen Gussew durch das Geschrei über die „schmachvolle Tatsache der Fälschung einer Liste im Interesse des Fraktionskampfes" muss, wie es die Genossen Gorin und Ljadow getan haben, als unwürdig bezeichnet werden;

2. im Interesse der Gesundung der Atmosphäre und um die Parteimitglieder von der Pflicht zu befreien, allerhand krankhafte Ausfälle ernst zu nehmen, müsste man auf dem 3. Parteitag eine Regel festlegen, wie sie im Organisationsstatut der deutschen Sozialdemokratischen Partei enthalten ist: § 2 dieses Statuts lautet:

Zur Partei kann nicht gehören, wer sich eines groben Verstoßes gegen die Grundsätze des Parteiprogramms oder wer sich einer ehrlosen Handlung schuldig gemacht hat. Über die fernere Zugehörigkeit zur Partei entscheidet ein Schiedsgericht, das der Parteivorstand beruft. Die Hälfte der Beisitzer wird von denjenigen bezeichnet, welche den Ausschluss beantragen, die andere Hälfte von dem durch diesen Antrag Betroffenen. Den Vorsitzenden bezeichnet der Parteivorstand. Gegen die Entscheidung des Schiedsgerichts steht den Betroffenen die Berufung an die Kontrollkommission und den Parteitag zu."

Eine solche Regel kann als gutes Kampfmittel gegen alle jene dienen, die leichtfertigerweise Beschuldigungen wegen ehrloser Handlungen erheben (oder Gerüchte darüber verbreiten). Bestände eine solche Regel, so würde man solche Beschuldigungen ein für allemal als unwürdigen Klatsch betrachten, solange diejenigen, die die Beschuldigungen erheben, nicht den moralischen Mut aufbringen, als Ankläger vor der Partei aufzutreten und den Wahrspruch der zuständigen Parteistelle durchzusetzen.

1 Die Beilage ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

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