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Wladimir I. Lenin 19050124 Proletarische und bürgerliche Demokratie

Wladimir I. Lenin: Proletarische und bürgerliche Demokratie1

[Wperjod" Nr. 3, 11./24. Januar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 85-95]

Die Frage nach dem Verhältnis der Sozialdemokratie oder der Arbeiterdemokratie zur bürgerlichen Demokratie ist eine alte und doch ewig neue Frage. Alt, weil sie schon seit der Entstehung der Sozialdemokratie erhoben wird. Ihre theoretischen Grundlagen sind schon in den allerfrühesten Werken der marxistischen Literatur, im „Kommunistischen Manifest" und im „Kapital", klargelegt worden. Sie ist ewig neu, denn jeder Schritt in der Entwicklung jedes kapitalistischen Landes ergibt eine besondere, originelle Verbindung verschiedener Schattierungen der bürgerlichen Demokratie und verschiedener Strömungen in der sozialistischen Bewegung.

Auch bei uns in Russland ist diese alte Frage jetzt besonders neu geworden. Um uns die heutige Fragestellung deutlicher klarzumachen, wollen wir mit einem kleinen historischen Exkurs beginnen. Das alte russische revolutionäre Narodnikitum stand auf einem utopistischen, halb anarchistischen Standpunkt. Der Bauer der Feldgemeinschaft galt ihm als fertiger Sozialist. Hinter dem Liberalismus der gebildeten russischen Gesellschaft sah man klar die Gelüste der russischen Bourgeoisie. Der Kampf für politische Freiheit wurde, als ein Kampf für Institutionen, die der Bourgeoisie vorteilhaft sind, negiert. Die Anhänger der Narodnaja Wolja taten zwar einen Schritt vorwärts, indem sie zum politischen Kampf übergingen, es gelang ihnen aber nicht, diesen Kampf mit dem Sozialismus zu verbinden. Das bürgerlich-demokratische Wesen der russischen Intellektuellenbewegung, von der äußerst gemäßigten, kulturträgerischen bis zur extremsten revolutionär-terroristischen, zeigte sich mit der Entstehung und Entfaltung der proletarischen Ideologie (Sozialdemokratie) und der proletarischen Massenbewegung immer klarer. Das Anwachsen dieser Bewegung war jedoch von einer Spaltung unter den Sozialdemokraten begleitet. Klar traten ein revolutionärer und ein opportunistischer Flügel der Sozialdemokratie zutage, von denen der erste die proletarischen, der zweite die intelligenzlerischen Tendenzen unserer Bewegung zum Ausdruck brachte. Der legale Marxismus erwies sich in Wirklichkeit sehr bald als „die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur"2 und führte über den Bernsteinianischen Opportunismus schnurstracks zum Liberalismus. Die Ökonomisten in der Sozialdemokratie einerseits schwärmten für die halb anarchistische Konzeption einer reinen Arbeiterbewegung, betrachteten eine Unterstützung der bürgerlichen Opposition durch die Sozialisten als Verrat am Klassenstandpunkt und erklärten, die bürgerliche Demokratie in Russland sei ein Phantom. Anderseits erhoben die Ökonomisten einer anderen Schattierung, die gleichfalls für die reine Arbeiterbewegung schwärmten, gegen die revolutionären Sozialdemokraten den Vorwurf, jenen gesellschaftlichen Kampf gegen den Absolutismus zu ignorieren, den unsere Liberalen, die Semstwoleute, die Kulturträger, führen.

Die alte „Iskra" zeigte die Elemente der bürgerlichen Demokratie in Russland schon zu einer Zeit auf, als viele sie noch gar nicht sahen. Sie verlangte die Unterstützung dieser Demokratie durch das Proletariat (siehe Nr. 2 der „Iskra" über die Unterstützung der Studentenbewegung, Nr. 8 über die illegale Semstwotagung3, Nr. 16 über die liberalen Adelsmarschälle, Nr. 18 über die Gärung in den Semstwos. Sie betonte immer den bürgerlichen Klassencharakter der liberalen und radikalen Bewegung und sagte den sich windenden „ Oswoboschdjenije"-Leuten:

Es wäre an der Zeit, jene einfache Wahrheit zu begreifen, dass die wirkliche (und nicht bloß in Worten bestehende) Gemeinsamkeit des Kampfes gegen den gemeinsamen Feind nicht durch Politikastern gewährleistet wird, nicht durch das, was der verstorbene Stepnjak einmal Selbstentmannung und Sichselbstverstecken genannt hat, nicht durch die konventionelle Lüge gegenseitiger diplomatischer Anerkennung, sondern durch die faktische Beteiligung am Kampfe, durch die faktische Einheit des Kampfes. („Iskra" Nr. 26.)

Diese Fragestellung der alten „Iskra" führt uns unmittelbar zu den jetzigen Streitigkeiten über das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Liberalen. Wie bekannt, begannen diese Streitigkeiten mit dem II. Parteitag, der zwei Resolutionen, entsprechend dem Standpunkt der Mehrheit (Resolution Plechanows) und der Minderheit (Resolution Starowjers) angenommen hatte. Die erste Resolution weist strikt den Klassencharakter des Liberalismus als Bewegung der Bourgeoisie nach und stellt die Aufgabe in den Vordergrund, dem Proletariat den antirevolutionären und antiproletarischen Charakter der liberalen Hauptrichtung (der „Oswoboschdjenije"-Richtung) klarzumachen. Die Notwendigkeit der Unterstützung der bürgerlichen Demokratie durch das Proletariat anerkennend, verfällt diese Resolution nicht in politikantenhafte gegenseitige Anerkennung, sondern sieht im Geiste der alten „Iskra" den Sinn der Sache in der Gemeinsamkeit des Kampfes: „soweit die Bourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Zarismus revolutionär oder wenigstens oppositionell ist, insoweit ,müssen' die Sozialdemokraten sie ,unterstützen'."

Die Resolution Starowjers dagegen gibt keine Klassenanalyse des Liberalismus und Demokratismus. Sie ist voll von guten Absichten und erfindet hervorragende und schöne Bedingungen für eine Vereinbarung, aber leider fiktive, in Worten: die Liberalen oder Demokraten müssen das und das erklären, sie dürfen die und die Forderungen nicht aufstellen,' sie müssen das und das zu ihrer Losung machen. Als ob die Geschichte der bürgerlichen Demokratie nicht immer und überall die Arbeiter vor dem Glauben an Erklärungen, Forderungen und Losungen gewarnt hätte! Als ob die Geschichte uns nicht Hunderte von Beispielen gezeigt hätte, wo die bürgerlichen Demokraten nicht nur mit Losungen der vollen Freiheit, sondern auch der Gleichheit, ja des Sozialismus auftraten, ohne darum aufzuhören, bürgerliche Demokraten zu sein, und dadurch das Bewusstsein des Proletariats noch mehr „verdunkelten"! Der intelligenzlerische Flügel der Sozialdemokratie will gegen diese Verdunkelung dadurch kämpfen, dass er (den bürgerlichen Demokraten) die Bedingung stellt, die Verdunkelung zu unterlassen! Der proletarische Flügel kämpft dagegen durch die Analyse des Klasseninhalts des Demokratismus. Der intelligenzlerische Flügel ist erpicht auf Vereinbarungsbedingungen in Worten. Der proletarische Flügel verlangt die faktische Gemeinsamkeit des Kampfes. Der intelligenzlerische Flügel erfindet einen Maßstab für eine gute, brave und einer Vereinbarung mit ihr würdige Bourgeoisie. Der proletarische Flügel erwartet von der Bourgeoisie keine Güte, sondern unterstützt jede, auch die schlechteste Bourgeoisie, soweit sie tatsächlich gegen den Zarismus kämpft. Der intelligenzlerische Flügel verrennt sich in einen Krämerstandpunkt: wenn ihr auf die Seite der Sozialdemokraten und nicht der Sozialrevolutionäre treten werdet, sind wir bereit, eine Vereinbarung gegen den gemeinsamen Feind zu treffen, sonst aber nicht. Der proletarische Flügel steht auf dem Standpunkt der Zweckmäßigkeit: unsere Unterstützung für euch hängt ausschließlich davon ab, ob wir dadurch unserem Feind besser einen Schlag versetzen können.

In ihren Artikeln in den Nummern 77 und 78 entwickelt die „Iskra" die Resolution Starowjers4. Der Leitgedanke dieser Artikel ist die Unterscheidung zwischen den Semstwoleuten und der bürgerlichen Demokratie. Diese Unterscheidung zieht sich wie ein roter Faden durch beide Artikel, wobei an Stelle des Ausdrucks bürgerliche Demokratie und neben diesem als gleichbedeutend die Ausdrücke: Demokratie, radikale Intelligenz (sic!), im Entstehen begriffene Demokratie, Intellektuellendemokratie gebraucht werden. Diese Unterscheidung wird von der neuen „Iskra" zu einer großen Entdeckung, zu einer originellen Konzeption erhoben, „die zu verstehen" dem armen Lenin „nicht gegeben war". Die Demokratie müsse selbständig, als selbständige Kraft handeln. „Der russische Liberalismus, dem sein historisch-notwendiger Teil, sein Bewegungsnerv (hört, hört!), seine bürgerlich-demokratische Hälfte genommen ist, ist höchstens dazu gut, mit Skorpionen gezüchtigt zu werden." In der Leninschen Konzeption „des russischen Liberalismus" wäre „kein Platz für solche gesellschaftliche Elemente, auf die die Sozialdemokratie als Avantgarde der Demokratie irgend jemals (!) eine Wirkung ausüben könnte".

Das ist die neue Theorie. Wie alle neuen Theorien der jetzigen „Iskra" stellt sie eine fortlaufende Konfusion dar. Erstens ist die Prätension auf die „Entdeckung" der Intellektuellendemokratie unbegründet. Zweitens ist die Unterscheidung zwischen Semstwoliberalismus und bürgerlicher Demokratie unrichtig. Drittens ist die Auffassung, dass die Intelligenz eine selbständige Kraft werden könne, unhaltbar. Viertens ist die Behauptung, der Semstwoliberalismus (ohne die „bürgerlich-demokratische" Hälfte) sei nur dazu gut, gezüchtigt zu werden, unberechtigt. Analysieren wir alle diese Punkte.

Lenin soll die Entstehung der Intellektuellendemokratie und des dritten Elements ignoriert haben.

Schlagen wir die „Sarja" Nr. 2–3 nach. Nehmen wir die „Innerpolitische Rundschau", die im Feuilleton Starowjers zitiert wird. Da lesen wir die Überschrift des dritten Abschnittes: „Das dritte Element". Beim Durchblättern dieses Abschnittes lesen wir von dem „Anwachsen der Zahl und des Einflusses der in den Semstwos tätigen Ärzte, Techniker usw.", von der „widerspenstigen ökonomischen Entwicklung, die den Bedarf an Intellektuellen zur Folge hat, deren Zahl immer mehr wächst", von den „unvermeidlichen Konflikten dieser Intellektuellen mit der Bürokratie und den Häuptern der Semstwoämter", von dem „geradezu epidemischen Charakter dieser Konflikte in der letzten Zeit", von der „Unvereinbarkeit des Absolutismus mit den Interessen der Intelligenz überhaupt", ja wir finden da den direkten Ruf an diese Elemente, sich „um die Fahne" der Sozialdemokratie zu scharen …

Das ist doch nett, nicht wahr? Die neuentdeckte Intellektuellendemokratie und die Notwendigkeit, diese unter die Fahne der Sozialdemokratie zu rufen, wurde von dem bösen Lenin schon vor drei Jahren „entdeckt"!

Allerdings, damals war die Gegenüberstellung von Semstwoleuten und bürgerlicher Demokratie noch nicht entdeckt. Aber diese Gegenüberstellung ist genau so gescheit, als wenn wir sagten: das Moskauer Gouvernement und das Territorium des Russischen Reiches. Die Semstwoleute, die Anhänger einer Zensusverfassung sind, und die Adelsmarschälle sind Demokraten, soweit sie gegen Absolutismus und Leibeigenschaft auftreten. Ihr Demokratismus ist beschränkt, eng und inkonsequent, wie ja aller bürgerlicher Demokratismus in verschiedenem Grade beschränkt, eng und inkonsequent ist. Der Leitartikel in Nr. 77 der „Iskra" analysiert unseren Liberalismus und teilt ihn dabei in folgende Gruppen: erstens die feudalen Grundbesitzer, zweitens die liberalen Grundbesitzer, drittens die liberale Intelligenz, die für eine Zensusverfassung eintritt, und viertens die äußerste Linke – die demokratische Intelligenz. Diese Analyse ist unvollständig und konfus, denn die Teilung der Intelligenz wird vermengt mit der Teilung der verschiedenen Klassen und Gruppen, deren Interessen die Intelligenz zum Ausdruck bringt. Außer den Interessen einer breiten Schicht der Grundbesitzer spiegelt der russische bürgerliche Demokratismus die Interessen der Masse der Kaufleute und Industriellen wider, vornehmlich der mittleren und kleinen, sowie (was besonders wichtig ist) die Interessen der Masse der Bauern und Zwergbauern. Das Ignorieren dieser breitesten Schicht der russischen bürgerlichen Demokratie ist die erste Lücke in der Analyse der „Iskra". Die zweite Lücke ist das Übersehen des Umstandes, dass die russische demokratische Intelligenz nicht zufällig, sondern notwendig ihrer politischen Stellung nach in drei Richtungen zerfällt: die des „Oswoboschdjenije", die Sozialrevolutionäre und die sozialdemokratische. Alle diese Richtungen haben eine lange Geschichte hinter sich und jede von ihnen bringt (mit der in einem absolutistischen Staate möglichen Bestimmtheit) den Standpunkt der gemäßigten und der revolutionären Ideologen der bürgerlichen Demokratie und den des Proletariats zum Ausdruck. Nichts ist drolliger, als der unschuldige Wunsch der neuen „Iskra": „die Demokratie müsse als selbständige Kraft handeln", wobei gleich daneben die Demokratie mit der radikalen Intelligenz identifiziert wird! Die neue „Iskra" hat vergessen, dass die radikale Intelligenz oder die intelligenzlerische Demokratie, die zu einer „selbständigen Kraft" geworden, eben unsere „Partei der Sozialrevolutionäre" ist! Auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie stehen und links vom „Oswoboschdjenije" gehen, heißt eben zu den Sozialrevolutionären gehen und nirgendwohin sonst.

Endlich noch viel weniger hält die letzte neue „Entdeckung" der neuen „Iskra" der Kritik stand, nämlich dass „der Liberalismus ohne die bürgerlich-demokratische Hälfte" höchstens dazu gut sei, mit Skorpionen gezüchtigt zu werden, dass es „gescheiter sei, die Idee der Hegemonie über Bord zu werfen", wenn niemand außer den Semstwoleuten da sein sollte, an den man sich wenden könnte. Jeder Liberalismus ist dazu gut, dass die Sozialdemokratie ihn genau soweit unterstützt, wie er tatsächlich als Kämpfer gegen den Absolutismus auftritt. Eben diese Unterstützung aller inkonsequenten (d. h. bürgerlichen) Demokraten durch den einzigen bis zu Ende konsequenten Demokraten, d. h. durch das Proletariat, verwirklicht die Idee der Hegemonie. Nur die kleinbürgerliche, krämerhafte Auffassung der Hegemonie sieht deren Wesen in einer Vereinbarung, in gegenseitiger Anerkennung und in Worten ausgedrückten Bedingungen. Vom proletarischen Standpunkt aus gehört die Hegemonie im Kriege demjenigen, der am energischsten von allen kämpft, der jede Gelegenheit benützt, um dem Feind einen Schlag zu versetzen, bei dem Wort und Tat übereinstimmen, der deshalb der ideologische Führer der Demokratie ist, der jede Halbheit kritisiert*. Die neue „Iskra" ist in einem tiefen Irrtum befangen, wenn sie glaubt, dass die Halbheit eine moralische und nicht eine politisch-ökonomische Eigenschaft der bürgerlichen Demokratie sei, wenn sie meint, dass man ein solches Maß von Halbheit festlegen könne und solle, bis zu dem der Liberalismus bloß Skorpione verdient, über das hinaus aber er einer Vereinbarung würdig ist. Das heißt eben, „im Voraus das Maß zulässiger Niedertracht bestimmen". In der Tat, man überlege sich die folgenden Worte: Die Anerkennung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes als Vorbedingung für eine Vereinbarung mit den oppositionellen Gruppen aufstellen, bedeute, „ihnen ein unfehlbares Reagens unserer Forderungen, ein Lackmuspapier des Demokratismus5 darzureichen und das ganze Gewicht der proletarischen Mitwirkung auf die Waagschale ihrer politischen Berechnung zu legen" (Nr. 78). Wie schön das geschrieben ist! Fast möchte man dem Autor dieser schönen Worte, Starowjer, zurufen: lieber Freund Arkadij Nikolajewitsch, rede nicht so schön daher! Herr Struve hat Starowjers unfehlbares Reagens mit einem Federstrich unwirksam gemacht, indem er in das Programm des Bundes der Befreiung das allgemeine Wahlrecht hineinschrieb. Und derselbe Struve hat uns ja tatsächlich mehr als einmal bewiesen, dass alle diese Programme für die Liberalen – ein einfaches Stück Papier sind, nicht Lackmuspapier, sondern ganz gewöhnliches Papier, denn einem bürgerlichen Demokraten kommt es nicht darauf an, heute das und morgen etwas anderes zu schreiben.

Der naive Glaube Starowjers an die Unfehlbarkeit papierner Reagenzien bringt ihn auf die große Idee, dass die Unterstützung der mit dem allgemeinen Wahlrecht nicht einverstandenen Bourgeois in ihrem Kampf gegen den Zarismus bedeuten würde, „die Idee des allgemeinen Wahlrechtes zunichte zu machen"! Vielleicht wird uns Starowjer noch ein schönes** Feuilleton schreiben, und beweisen, dass man die „Idee" der Republik zunichte mache, wenn man die Anhänger der Monarchie in ihrem Kampfe gegen den Absolutismus unterstützt? Das ist ja eben das Malheur, dass Starowjers Gedanke in einem Rahmen von Bedingungen, Losungen, Forderungen, Erklärungen hilflos umher baumelt und das einzig reale Kriterium: den Grad des faktischen Anteils am Kampfe, außer acht lässt. Daraus ergibt sich in der Praxis unvermeidlich ein Beschönigen der radikalen Intelligenz, mit der eine „Vereinbarung" möglich sein soll. Die Intelligenz wird, zum Hohn auf den Marxismus, als der „bewegende Nerv" (nicht etwa als der schönrednerische Diener?) des Liberalismus bezeichnet. Den französischen und italienischen Radikalen wird attestiert, dass ihnen antidemokratische oder antiproletarische Forderungen fremd seien, obwohl jeder weiß, dass diese Radikalen mehr als einmal ihre Programme verraten und das Klassenbewusstsein des Proletariats verdunkelt haben, obwohl man in der gleichen Nummer (78) der „Iskra" auf der nächsten Seite (7) nachlesen kann, wie die Monarchisten und Republikaner in Italien „im Kampfe gegen den Sozialismus einmütig" waren. Die Resolution der Saratower Intellektuellen (des Sanitätsvereins) über die Notwendigkeit der Teilnahme von Vertretern des ganzen Volkes an der Gesetzgebung, wird da als „die wirkliche Stimme (!!) der Demokratie" ausgegeben (Nr. 77)6. Der praktische Plan der Beteiligung der Proletarier an der Semstwokampagne wird von dem guten Rat begleitet, „ein gewisses Übereinkommen mit den Vertretern des linken Flügels der oppositionellen Bourgeoisie zu treffen". Auf Lenins Frage, wo denn die berühmten Starowjerschen Vereinbarungsbedingungen geblieben seien, antwortete die Redaktion der neuen „Iskra" (im zweiten „Schreiben"):

Diese Bedingungen müssen sich die Parteimitglieder stets vor Augen halten, und da sie wissen, unter welchen Bedingungen allein die Partei bereit ist, formell ein politisches Übereinkommen mit der demokratischen Partei zu treffen, so sind sie moralisch verpflichtet, auch bei privaten Vereinbarungen, von welchen in diesem Schreiben die Rede ist, streng zu unterscheiden zwischen den verlässlichen Vertretern der bürgerlichen Opposition – den wirklichen Demokraten, und den liberalen Rahmabschöpfern."

Von Stufe zu Stufe. Neben der (nach der Resolution Starowjers allein zulässigen) Parteivereinbarung tauchten private Vereinbarungen in einzelnen Städten auf. Neben den formalen Vereinbarungen zeigten sich moralische. Die Anerkennung von „Bedingungen" und ihrer „moralischen" Verbindlichkeit in Worten verleiht also den Titel eines „verlässlichen" und „wirklichen Demokraten", obwohl jedes Kind begreift, dass Dutzende und Hunderte von Semstwoschwätzern jede beliebige Erklärung in Worten abgeben, ja sogar das radikale Ehrenwort, dass sie Sozialisten seien, verpfänden werden, bloß um die Sozialdemokraten zu beschwichtigen.

Nein, das Proletariat wird sich auf dieses Spiel mit Versprechungen, Erklärungen und Vereinbarungen nicht einlassen. Das Proletariat wird niemals vergessen, dass die bürgerlichen Demokraten keine verlässlichen Demokraten sein können. Das Proletariat wird die bürgerliche Demokratie unterstützen, nicht auf Grund irgendwelcher Abmachungen mit ihr, keinen panischen Schrecken hervorzurufen, nicht auf Grund des Glaubens an ihre Verlässlichkeit, sondern es wird sie dann und in dem Maße unterstützen, wenn und soweit sie tatsächlich gegen den Absolutismus kämpft. Eine solche Unterstützung ist im Interesse der Erreichung der selbständigen sozialen und revolutionären Ziele des Proletariats notwendig.

1 Den gleichen Gegenstand, wie dieser Artikel, behandelte Lenin auch in einem Referat, das er Anfang Dezember 1904 über das Thema: „Sozialdemokratie und Liberalismus" in Paris hielt, wobei Struve ihm in der Diskussion entgegentrat. Wir drucken hier den Artikel nach dem Text des „Wperjod". Im Manuskript des Artikels ist eine Reihe von Fußnoten mit Literaturangaben usw. enthalten, die in den Text im „Wperjod" nicht hineingekommen sind. Eine dieser Fußnoten, die von größerem Interesse ist, sei hier angeführt. Hinter den eingeklammerten Worten: „siehe Nr. 2 der ,Iskra' über die Unterstützung der Studentenbewegung, Nr. 8 über die illegale Semstwotagung, Nr. 16 über die liberalen Adelsmarschälle, Nr. 18 über die Gärung in den Semstwos" (siehe S. 86) machte Lenin eine Fußnote, die folgendermaßen lautet: „Ich ergreife die Gelegenheit, um meinen herzlichen Dank an Starowjer und Plechanow auszusprechen, die eine außerordentlich nützliche Arbeit begonnen haben, die Namen der Autoren der nicht gezeichneten Artikel der alten ,Iskra' aufzudecken. Wir wollen hoffen, dass sie diese Arbeit zu Ende führen – man wird dann ein höchst charakteristisches Material zur Beurteilung der Schwenkung der neuen ,Iskra' zur ,Rabotscheje-Djelo'-Richtung bekommen."

2 „Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur" war das Thema eines Referats, das Lenin im Herbst 1894 in Petersburg in einem kleinen Kreise von Marxisten gegen den sogenannten „legalen Marxismus" gehalten hatte. Dieses Referat wurde dann von Lenin seiner Abhandlung: „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seine Kritik im Buche des Herrn Struve" zugrunde gelegt. Im Leninschen Manuskript des vorliegenden Artikels folgt auf die Worte „die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur" die Erläuterung, „wie Tulin schon 1894 die ,Kritischen Bemerkungen' Struves bezeichnet hat."

3 Gemeint ist die Notiz „Die Semstwokonferenz" in Nr. 8 der „Iskra" vom 10./23. September 1901, in der von einer im Juni 1901 illegal stattgefundenen Zusammenkunft der Semstoleute berichtet wird. Ein Hinweis auf diese Notiz findet sich auch in Lenins Schrift „Was tun?". Wahrscheinlich hatte Lenin diese Notiz geschrieben.

4 Gemeint sind: 1. ein Artikel von Negorew (Jordanski), „Die Demokraten am Scheideweg" in Nr. 77 der „Iskra" vom 5./18. November 1904, und 2. ein Artikel Starowjers, „Unser Malheur. Über Liberalismus und Hegemonie" in Nr. 78 vom 20. November/3. Dezember 1904.

* Anmerkung für den scharfsinnigen Anhänger der neuen „Iskra"- Sie werden entgegnen, der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie gegen den Absolutismus ohne irgendwelche Bedingungen werde dazu führen dass das Proletariat von der Bourgeoisie betrogen werde. Darauf antworten wir: Bieten denn „“Bedingungen", d. h. Versprechungen, eine Gewähr gegen Betrug?

5 Lackmuspapier dient als chemisches Reagens, indem es durch Veränderung seiner Farbe das Vorhandensein eines bestimmten Stoffes anzeigt. Starowjer (Potressow) suchte in einem Artikel in Nr. 78 der Iskra" zu beweisen, dass die Sozialdemokratie dadurch, dass sie den Liberalen" formelle Bedingungen stelle, die Möglichkeit haben würde, „einen Druck auf die Oppositionsgruppen auszuüben, sie zu zwingen, wie die Deutschen sagen, Farbe zu bekennen, ihnen ein unfehlbares Reagens ihrer Forderung, ein Lackmuspapier des Demokratismus darzureichen" usw.

** Noch ein kleines Muster der Prosa unseres Arkadij Nikolajewitsch: „Jedem, der in den letzten Jahren Gelegenheit hatte, das öffentliche Leben Russlands zu verfolgen, konnte sicher der verstärkte demokratische Zug nach der von allen ideologischen Aufschichtungen, allen Überbleibseln der historischen Vergangenheit entblößten, nach der ungeschminkten Idee der konstitutionellen Freiheit nicht entgangen sein. Dieser Zug war eine Art Realisierung des langen Prozesses der Molekularveränderungen innerhalb der Demokratie, ihrer ovidischen Metamorphosen, die durch ihre kaleidoskopische Buntheit die Aufmerksamkeit und das Interesse einer ganzen Reihe einander ablösender Generationen im Laufe zweier Jahrzehnte in Anspruch genommen haben." Schade, dass das nicht wahr ist, denn die Idee der Freiheit wird nicht entblößt, sondern durch den Idealismus der neuesten Philosophen der bürgerlichen Demokratie gerade überschminkt. Schade auch, dass durch alle kaleidoskopisch bunten ovidischen Metamorphosen Starowjers und Martows der entblößte Zug nach der Phrase geht.

6 Das Zitat über die französischen und italienischen Radikalen ist aus der Notiz „Auslandsrundschau" in Nr. 78 der „Iskra" entnommen; die Resolution der Saratower Intellektuellen und die Folgerungen daraus aus dem Artikel „Die Demokraten am Scheideweg" in Nr. 77 der „Iskra".

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