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Wladimir I. Lenin 19160400 Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR an die Zweite Sozialistische Konferenz

Wladimir I. Lenin: Vorschläge des Zentralkomitees der SDAPR

an die zweite sozialistische Konferenz1

Thesen zu den Punkten 5, 6, 7a, 7b und 8 der Tagesordnung: Kampf für die Beendigung des Krieges, Stellung des Proletariats zu den Friedensfragen, zur parlamentarischen Tätigkeit und zum Massenkampfe und zur Einberufung des Internationalen Sozialistischen Büros

[Verfasst Anfang April 1916 Veröffentlicht in deutscher Sprache am 22. April 1916 in „Internationale Sozialistische Kommission zu Bern“, Bulletin 4, in russischer Sprache am 10. Juni 1916 in Sozialdemokrat Nr. 54/55. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 65-74]

Die Internationale Sozialistische Kommission hat bei der Einberufung der zweiten Konferenz die Organisationen aufgefordert, diese Fragen zu besprechen und ihre Vorschläge einzusenden. Die folgenden Thesen stellen die Antwort unserer Partei auf diese Einladung dar.

    1. Wie ein jeder Krieg nur eine Fortsetzung derjenigen Politik bildet, welche von den kriegführenden Staaten auch in der vorhergehenden Friedenszeit – allerdings mit friedlichen Mitteln – geführt wurde, so kann auch der den Krieg abschließende Friede nur eine Registrierung der Machtverschiebungen sein, die im Verlaufe des Krieges erreicht wurden.

    2. Solange die Grundpfeiler der heutigen bürgerlichen gesellschaftlichen Beziehungen fortbestehen, kann ein imperialistischer Krieg nur zu einem imperialistischen Frieden führen, d. h. zur Erweiterung und Stärkung der Unterdrückung der kleinen Völker und Staaten durch das Finanzkapital, das nicht nur vor dem Kriege, sondern auch im Verlaufe des Krieges einen riesenhaften Aufschwung nahm. Der objektive Inhalt derjenigen Politik, welche von der Bourgeoisie und den Regierungen beider kriegführenden Gruppen vor dem Kriege und während desselben betrieben wurde, führt zur Steigerung des ökonomischen Druckes, der nationalen Verknechtung, der politischen Reaktion. Infolgedessen kann der Friedensschluss bei beliebigem Ausgang des Krieges nur die Verschlimmerung der politischen und ökonomischen Lage der Massen festlegen – da ja die bürgerliche Gesellschaft bestehen bleibt.

Einen „demokratischen Frieden“ aber als Folge des imperialistischen Krieges vorauszusetzen, heißt [– in der Theorie –]2 eine leere Phrase aussprechen, anstatt die Politik der Mächte vor dem Kriege und während des Krieges zu studieren, heißt praktisch die Volksmassen irreführen, indem man [ihr politisches Bewusstsein verdunkelt, die wirkliche Politik der herrschenden Klassen, die den nahenden Frieden vorbereiten, verheimlicht und] ihnen das Wichtigste vorenthält: die Unmöglichkeit eines demokratischen Friedens ohne eine Reihe von Revolutionen.

    3. Die Sozialisten verzichten keineswegs auf den Kampf für die Durchführung von Reformen. Sie müssen z. B. auch jetzt in den Parlamenten für jede Verbesserung der Lage der Völker – so klein sie auch sein mag – stimmen: für eine entsprechende Unterstützung der Bewohner der vom Kriege betroffenen Gebiete, für die Milderung des nationalen Druckes usw. Es ist aber ein bürgerlicher Betrug, wenn man Reformpolitik predigt für Fragen, die die Geschichte und die ganze politische Situation nur als durch die Revolution zu lösende stempelt. Das sind die Grundfragen des Imperialismus, d. h. die Fragen nach dem Fortbestand der ganzen kapitalistischen Gesellschaft, die Fragen nach der Möglichkeit, den Sturz des Kapitalismus zu verschieben, indem man die Erde neu einteilen will, entsprechend den neuen Machtverhältnissen zwischen den Großmächten, welche in den letzten Jahrzehnten sich nicht nur außerordentlich rasch, sondern auch – was das wichtigste ist – außerordentlich ungleichmäßig entwickelt hatten. Eine wirkliche politische Tätigkeit, die, ohne die Massen zu täuschen, geeignet wäre, die Machtverhältnisse der heutigen Gesellschaft zu ändern, kann nur in einer der folgenden Formen bestehen: entweder hilft man der „eigenen“ nationalen Bourgeoisie, fremde Länder zu berauben, und nennt diese Hilfe „Verteidigung des Vaterlandes“ oder „Errettung der Heimat“. Oder aber man hilft, die sozialistische Revolution des Proletariats in die Wege zu leiten, indem man die schon jetzt beginnende Gärung in den Massen fördert, Streiks und Demonstrationen unterstützt usw., indem man die jetzt noch schwachen Anfänge des revolutionären Massenkampfes unterstützt und zum allgemeinen Anprall des Proletariats gegen die Bourgeoisie steigert.

Wie alle Sozialchauvinisten jetzt das Volk betrügen, wenn sie von einer „ehrenhaften“ Verteidigung gegen einen „unehrlichen“ Angriff seitens dieser oder jener Gruppe der kapitalistischen Raubmächte sprechen, so ist es auch lauter Betrug und leere Phrase, wenn man von einem „demokratischen Frieden“ spricht, als könnte der kommende Friede, der schon jetzt von den Kapitalisten und Diplomaten vorbereitet wird, ein neues „unehrliches“ Angreifen unmöglich machen und die früheren „ehrlichen“ Beziehungen herstellen; als wäre er nicht vielmehr eine Fortsetzung [Entfaltung] und Sanktionierung der imperialistischen Politik, der Politik des [finanz-] kapitalistischen Raubes, der nationalen Unterdrückung, der politischen Reaktion, der Verschärfung der kapitalistischen Ausbeutung. Den Kapitalisten und ihren Diplomaten leisten diese ihre „sozialistischen“ Helfer gerade jetzt gute Dienste, wenn sie das Volk betäuben [es verdummen] und durch Phrasen von einem „demokratischen Frieden“ [durch die sie ihre wahre Politik verhüllen und verhindern, dass die Massen diesen Kern sehen] den wahren Sachverhalt verschließen und das Volk von einem revolutionären Kampfe ablenken.

    4. Als Betrug und Heuchelei erscheint eben das Programm des „demokratischen Friedens“, welches von den bekanntesten Führern der II. Internationale heute verfochten wird. Es ist auf dem holländischen Kongress in Amheem3 (vgl. Neue Zeit vom 2. Oktober 1915) von einflussreichsten offiziellen Vertretern der II. Internationale dieses Programm folgendermaßen formuliert worden4: Verzicht auf den revolutionären Kampf bis zu der Zeit, wo die imperialistischen Regierungen Frieden geschlossen haben; bis dahin – Phrasen über Ablehnung von Annexionen und Kontributionen, auf dem Papiere Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen, der Demokratisierung der äußeren Politik, Schiedsgerichte zur Erledigung politischer Streitfragen, Vereinigte Staaten von Europa usw. [Besonders klar hat die wahre politische Bedeutung dieses „Friedensprogramms“ Kautsky dargelegt, als er als Beweis für die „Einmütigkeit der Internationale“ in dieser Frage die Tatsache anführte, dass die Londoner (Februar 1915) und die Wiener (April 1915) Konferenz einmütig den Hauptpunkt dieses Programms, nämlich die „Selbständigkeit der Nationen“, anerkannt haben. Kautsky hat so vor aller Welt den offenen Volksbetrug der Sozialchauvinisten sanktioniert, die heuchlerische, zu nichts verpflichtende und zu nichts führende Lippenbekenntnisse zur „Selbständigkeit“ oder zur Selbstbestimmung der Nationen mit der Unterstützung der imperialistischen Politik „ihrer“ Regierung verbinden, trotzdem der Krieg von beiden Seiten mit einer systematischen Verletzung der „Selbständigkeit“ schwacher Völker und mit dem Ziele der Verstärkung und Ausdehnung ihrer Knechtschaft geführt wird.]

Objektiv betrachtet, führt dieses [gangbarste] „Programm des Friedens“ zur verstärkten Untertänigkeit der Arbeiterklasse [gegenüber der Bourgeoisie], denn es versöhnt die Arbeiter, die einen revolutionären Kampf aufzunehmen beginnen, mit ihren chauvinistischen Führern, denn es verwischt die Tiefe der Krise im Sozialismus, um auf jenen Zustand innerhalb der sozialistischen Partei zurückzukommen, welcher vor dem Kriege war und welcher den Übergang der meisten Führer auf die Seite der Bourgeoisie zur Folge hatte. Die Gefahr dieser [„kautskyanischen“] Politik [für das Proletariat] ist um so größer, als sie mit wohlklingenden Phrasen geziert und nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern geführt wird. In England verteidigen diese Politik die meisten Führer. [In Frankreich Longuet, Pressemane u. a.] In Russland [Axelrod, Martow, Tschcheïdse usw.] umhüllt Tschcheïdse5 die chauvinistische Idee der „Vaterlandsverteidigung“ mit dem Deckmantel der Phrase über „Rettung des Vaterlandes“. Er gibt einerseits an, auf dem Boden der Zimmerwalder Konferenz zu stehen, anderseits rühmt er in der offiziellen Fraktionserklärung in der Duma die berüchtigte Rede Huysmans' (in Arnheem) und hat kein einziges Wort gegen die freiwillige Teilnahme der Arbeiter an den zaristisch-großbürgerlichen6 Kriegsindustriekomitees [und bleibt weiter Mitarbeiter von Zeitungen, die diese Teilnahme verteidigen7]. Ein anderer Führer der Dumafraktion, der Abgeordnete Tschchenkeli, hält in der Duma ganz offen sozialpatriotische Reden, unterstützt die Teilnehmer an den Kriegsindustriekomitees usw.8. In Italien wird eine ähnliche Politik von Treves getrieben (vgl. Avanti! vom 5. März 1916 [siehe die Drohung des Zentralorgans der italienischen sozialistischen Partei „Avanti!“ vom 5. März 1916, Treves und andere „Reformisten-Possibilisten“ bloßzustellen, jene festzunageln, „die alle Minen springen ließen, um die auf die Zimmerwalder Vereinigung und die Schaffung einer neuen Internationale gerichtete Aktion der Parteileitung und Oddino Morgaris zu hintertreiben“ usw. usf.]).

    5. Die wichtigste der Friedensfragen ist heute die der Annexionen. Und gerade an dieser Frage tritt die „sozialistische“ Heuchelei von heute zutage, und werden andererseits die Aufgaben der wirklich sozialistischen Propaganda und Agitation klar.

Es muss aufgeklärt werden, was eigentlich die Annexion sei, wie und warum Sozialisten gegen Annexionen kämpfen müssen. Nicht jede Angliederung9 eines neuen10 Territoriums ist Annexion, denn im Allgemeinen ist der Sozialismus für das Verschwinden der Grenzen zwischen den Nationen und für Bildung von großen Staaten. Nicht jede Verletzung des Status quo ist Annexion. Das zu glauben, wäre reaktionär und verstieße gegen die Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft. Nicht jede Angliederung11 eines Landes durch Kriegsgewalt ist Annexion, denn der Sozialismus kann nicht [Gewaltanwendung und] Kriege, die im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung geführt werden, grundsätzlich ablehnen. Unter Annexion verstehen wir bloß die Angliederung12 eines Landes gegen den Willen seiner Bewohner. Mit anderen Worten: der Begriff der Annexion ist mit dem Begriff des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen aufs Innigste verschmolzen.

Aber in dem gegenwärtigen Kriege, gerade weil es ein imperialistischer Krieg seitens beider kriegführenden Mächtegruppen ist, sehen wir, dass die bürgerlichen und sozialchauvinistischen Politiker gegen Annexionen auftreten, inwiefern dieselben von einer feindlichen Macht ausgeführt werden [oder wurden]. Es ist klar, dass ein solcher „Kampf“ gegen Annexionen, eine solche „Einigkeit“ in der Frage der Annexionen nichts als Heuchelei ist. Es ist klar, dass die französischen Sozialisten, die den Krieg um Elsass-Lothringen unterstützen, oder die deutschen Sozialisten, die nicht die Freiheit der Abtrennung Elsass-Lothringens oder Deutsch-Polens von Deutschland verlangen, oder die russischen Sozialisten, die den Krieg, der zur neuen Knechtung Polens durch den Zarismus führt, „Errettung des Vaterlandes“ nennen, – dass alle diese Sozialisten tatsächlich Annexionisten sind.

Soll der Kampf gegen Annexionen mehr denn [Heuchelei oder] eine hohle Phrase sein, soll er tatsächlich die Massen im Geiste des Internationalismus erziehen, so muss die Frage so gestellt werden, dass dem Volke die Augen geöffnet werden, damit es den Betrug in der Annexionsfrage wahrnimmt, nicht aber so, dass dieser Betrug verschleiert werde. Es genügt nicht, wenn ein Sozialist angibt, für Gleichberechtigung der Nationen zu sein, und schwört, gegen jede Annexion auftreten zu wollen. Jeder wirkliche Sozialist ist vielmehr verpflichtet, sofort und unbedingt die Freiheit der Abtrennung der Kolonien und Völker zu fordern, welche von seinem eigenen „Vaterlande“ unterdrückt werden.

Bleibt diese Bedingung aus, so ist auch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes und der Prinzipien des Internationalismus im Zimmerwalder Manifeste im besten Falle totgeborenes Wort.

    6. Dem „Friedensprogramm“ der Sozialisten wie auch ihrem Kampf für die Beendigung des Krieges muss eine Enthüllung der Lüge vom „demokratischen Frieden“, von den „friedlichen“ Absichten der kriegführenden Mächte usw. zugrunde liegen, – der Lüge, mit der sich heute demagogische Minister [pazifistische Bourgeois], Sozialchauvinisten und Kautskyaner aller Länder an die Massen wenden.

Jedes „Friedensprogramm“ ist Heuchelei, wenn es nicht auf einer Propaganda für die Notwendigkeit der Revolution und auf der Förderung des überall beginnenden revolutionären Kampfes im Volke fußt ([Gärung], Proteste, Verbrüderung in den Schützengräben, Streiks, Demonstrationen, Briefe der an der Front Kämpfenden an die Verwandten [z. B. in Frankreich -], die aufgefordert werden, nicht für die Kriegsanleihen zu zeichnen usw.).

Die Unterstützung [Erweiterung und Vertiefung] jeder Volksbewegung zugunsten des Kriegsschlusses ist Pflicht der Sozialisten. Tatsächlich aber erfüllen diese Pflicht nur jene Sozialisten, die – wie Liebknecht – von der Rednertribüne der Parlamente die Soldaten auffordern, die Waffen zu senken, die Revolution und die Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg für den Sozialismus predigen.

Um die Massen in den revolutionären Kampf hineinzuziehen, um ihnen die Notwendigkeit revolutionärer Maßregeln für die Möglichkeit eines „demokratischen Friedens“ beizubringen, muss als Losung aufgestellt werden: Verweigerung der Zahlung der Staatsschulden.

Es ist nicht genügend, wenn das Zimmerwalder Manifest die Revolution andeutet13, indem es sagt, dass die Massen für ihre eigene Sache und nicht für eine fremde Opfer bringen müssen. Das Volk muss wissen, wohin und wozu es gehen soll. Es ist augenscheinlich, dass revolutionäre Aktionen während des Krieges den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg für den Sozialismus umwandeln müssen. Man muss dieses Ziel unzweideutig aussprechen, so schwierig auch das Erreichen des Zieles sein mag, da wir ja [erst] am Anfang des Weges stehen. Es ist nicht genügend, mit dem Zimmerwalder Manifest zu sagen, dass „die Kapitalisten lügen, wenn sie von einer Verteidigung des Vaterlandes im gegenwärtigen Krieg reden“, und dass die Arbeiter in ihrem revolutionären Kampfe nicht mit der militärischen Lage ihres Landes rechnen müssen. Man muss klar aussprechen, was hier nur angedeutet wird: dass nämlich nicht nur die Kapitalisten, sondern auch die Sozialchauvinisten die Massen irreführen, wenn sie den Begriff der „Vaterlandsverteidigung“ in diesem imperialistischen Kriege anwenden. Dass eine revolutionäre Aktion während des Krieges unmöglich ist, ohne der „eigenen“ Regierung mit ihrer Niederlage im Kriege zu drohen; dass jede Niederlage der Regierung in einem reaktionären Kriege die Revolution erleichtert, die allein imstande ist, einen dauerhaften demokratischen Frieden herbeizuführen14. Es muss endlich den Massen gesagt werden, dass es ohne die Gründung von illegalen Organisationen und einer illegalen, nicht der Zensur unterliegenden Presse unmöglich ist, den beginnenden revolutionären Kampf zu fördern [ihn zu entfalten, einzelne Schritte in ihm zu kritisieren, seine Fehler zu verbessern und ihn systematisch zu erweitern und zu verschärfen].

    7. Was die parlamentarische Aktion der Sozialisten betrifft, so muss in Betracht gezogen werden, dass die Zimmerwalder Konferenz den fünf sozialdemokratischen Deputierten der Duma, die gegenwärtig in Sibirien schmachten, nicht nur ihre Sympathie ausdrückte, sondern sich auch mit ihrer Taktik solidarisch erklärte. Man kann nicht den revolutionären Kampf der Massen anerkennen und sich gleichzeitig mit einer ausschließlich legalen Tätigkeit zufriedengeben15. Eine solche Taktik führt lediglich zur berechtigten Unzufriedenheit der Massen, zu ihrem Austritt aus der Sozialdemokratie und ihrem Übertreten zum antiparlamentarischen Anarchismus und Syndikalismus. Man muss klar [und so, dass es alle hören] aussprechen, dass die sozialdemokratischen Deputierten ihre Stellung ausnützen müssen, nicht nur um im Parlamente aufzutreten, sondern auch um eine allseitige außerparlamentarische Tätigkeit in Einklang mit den illegalen Organisationen und dem revolutionären Kampf der Arbeiter zu entfalten16; dass die Massen selber durch ihre illegalen Organisationen die Tätigkeit ihrer Führer kontrollieren müssen.

    8. Die Frage der Einberufung des ISB rollt die prinzipielle Grundfrage auf, ob eine Einigkeit der alten Parteien und der II. Internationale möglich sei. Jeder weitere Schritt der internationalen Arbeiterbewegung auf dem Wege, der von Zimmerwald aus angezeigt wurde, zeigt die Inkonsequenz der Position der Mehrheit der Zimmerwalder Konferenz: einerseits wird die Politik der alten Parteien und der II. Internationale mit der bürgerlichen Politik in der Arbeiterbewegung identifiziert, mit einer Politik, die die Interessen der Bourgeoisie und nicht die des Proletariats fördert [(hierher gehören z. B. die Worte des Zimmerwalder Manifestes, dass die „Kapitalisten“ lügen, wenn sie von der „Verteidigung des Vaterlandes“ in diesem Kriege reden, und noch bestimmtere Erklärungen in dem Rundschreiben der ISK vom 10. Februar 1916)], anderseits befürchtet die ISK eine Spaltung mit dem ISB und verspricht offiziell, sich aufzulösen, wenn das ISB wieder einberufen werden sollte.

Wir stellen fest, dass über ein solches Versprechen in Zimmerwald nicht nur nicht abgestimmt wurde, sondern dass es überhaupt nicht zur Sprache kam.

Das halbe Jahr, das nach der Zimmerwalder Konferenz verfloss, hat bewiesen, dass die Tätigkeit im Geiste der Zimmerwalder Konferenz – wir sprechen nicht von leeren Worten, sondern eben von einer Tätigkeit – in allen Ländern tatsächlich verknüpft ist mit einer Vertiefung und Erweiterung der Spaltung. In Deutschland werden illegale Proklamationen gegen den Beschluss der offiziellen Partei [d. h. die Spaltung vorbereitend] herausgegeben. Als [der Abgeordnete] Otto Rühle, der nächste Genosse Liebknechts, offen erklärte, dass es zwei Parteien gibt, eine, welche die Bourgeoisie unterstützt, und eine andere, welche mit der Bourgeoisie kämpft, so haben zwar viele, darunter auch Kautsky17, Rühle gerügt, aber es hat ihn niemand widerlegt. In Frankreich schlägt der Sozialist Bourderon, ein ausgesprochener Gegner der Spaltung, seiner Partei eine Resolution vor, die, wenn angenommen, unbedingt eine Spaltung zur Folge hätte, nämlich: den Parteivorstand und die Parlamentsfraktion zu desavouieren („désapprouver la Com. Adm. Perm, et le Gr. Parl.“). In England erkennt das Mitglied der ILP, T. Russel Williams, in der gemäßigten Zeitung „Labour Leader offen die Unvermeidlichkeit der Spaltung an, und er wird in Briefen dortiger Arbeiter18 unterstützt. Vielleicht aber ist das Beispiel Amerikas noch lehrreicher, denn sogar dort, im neutralen Lande, zeigen sich zwei unversöhnbar feindliche Richtungen innerhalb der sozialistischen Partei: einerseits Anhänger der sogenannten „preparedness“, d. h. des Krieges, des Militarismus und des Marinismus, anderseits predigen solche Sozialisten, wie Eugen Debs, [der frühere Präsidentschaftskandidat der sozialistischen Partei] offen den Bürgerkrieg für den Sozialismus, und zwar im Zusammenhang mit dem kommenden Krieg.

In der ganzen Welt ist die Spaltung tatsächlich schon da, es bestehen zwei unversöhnbare Stellungnahmen der Arbeiterklasse zum Krieg. Die Augen einfach zu schließen, geht nicht an, das könnte nur zur Verwirrung der Arbeitermassen führen, zur Verdunkelung ihres Bewusstseins, zur Erschwerung jenes revolutionären Kampfes, mit dem alle Zimmerwaldisten offiziell sympathisieren, und zur Stärkung des Einflusses jener Führer, die von der ISK im Rundschreiben vom 10. Februar 1016 beschuldigt werden, die Massen irrezuführen und eine Verschwörung („Pakt“) gegenüber dem Sozialismus vorzubereiten.

Das bankrott gegangene ISB wiederherzustellen, möge den Sozialchauvinisten aller Länder vergönnt bleiben. Den Sozialisten aber liegt die Aufgabe ob, die Massen aufzuklären über die Unvermeidlichkeit der Trennung von denjenigen, die eine Politik der Bourgeoisie unter der Fahne des Sozialismus treiben.

1 Die Anträge des ZK der SDAPR an die zweite Zimmerwalder Konferenz wurden als Antwort auf die in Nr. 3 des Bulletin der ISK abgedruckte Aufforderung der ISK an die angeschlossenen Parteien vom 10. Februar 1916 eingesandt. Von diesen Thesen sind zwei Varianten erhalten Eine umfasst 15 Punkte und stellt einen Vorentwurf dar, während die zweite 8 Punkte umfasst. Die zweite Variante wurde unverändert (nur ohne Untertitel) in Nr. 54/55 des Sozialdemokrat abgedruckt. Die deutsche Fassung erschien im Bulletin der ISK und unterscheidet sich durch die Auslassung der Angriffe auf die Zimmerwalder Rechte und einige kleinere Abweichungen vom russischen Original. Der erste Entwurf wurde 1927 in der „Prawda“ Nr. 255 vom 17. November abgedruckt. Die Unterschiede zwischen beiden sind unbedeutend. Der Entwurf der Vorschläge wurde Anfang April den ausländischen Sektionen zur Behandlung zugesandt.

Deutsche, im Bulletin der ISK veröffentlichte Fassung, unter Berücksichtigung der wesentlichsten Abweichungen im russischen Text. Die Red.

2 Die in eckige Klammern gesetzten Worte, Satzteile und Sätze fehlen im deutschen Text des „Bulletins der ISK. Die Red.

3 Gemeint ist der außerordentliche Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Hollands, der am 9. Januar 1916 in Arnheem stattfand.

4 Im russischen Test lautet der Anfang dieses Satzes: „Z. B. Huysmans auf dem Kongress in Arnheem und Kautsky in der Neuen Zeit, mit die am meisten autoritativen, offiziellen und ,theoretischen' Vertreter dieser Internationale, haben dieses Programm folgendermaßen formuliert.“ Die Red. [Anmerkung 73 der „Ausgewählten Werke“, Band 5: Gemeint ist der außerordentliche Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Hollands, der am 9. Januar 1916 in Arnheem stattfand. Auf diesem Parteitage entwickelte Huysmans das Programm, auf das Lenin verweist. – Der Artikel Kautskys ist betitelt „Nochmals unsere Illusionen“ und erschien in der „Neuen Zeit, Nr. 8 vom 21. Mai 1915, S. 230-241.]

5 Im deutschen Text: „umhüllt man“. Die Red.

6 Im deutschen Text: „Anteilnahme in den zaristisch-großbürgerlichen“. Die Red.

7 Gemeint ist die Erklärung der menschewistischen Dumafraktion, die Tschcheïdse am 10. Februar 1916 in der Duma verlas. Die Fraktion Tschcheïdse arbeitete ständig an dem sozialpatriotischen „Nasch Golos in Samara mit und veranstaltete Sammlungen auch für die Petrograder Zeitung der Vaterlandsverteidiger „Rabotscheje Utro“.

8 Der Satz von „Ein anderer“ bis „Kriegsindustriekomitees usw.“ fehlt im russischen Manuskript und wurde wahrscheinlich von Lenin in der deutschen Fassung hinzugefügt. Die Red.

9 Im deutschen Text: „Aufnahme“. Die Red.

10 Im russischen Text: „fremden“. Die Red.

11 Im deutschen Text: „Aufnahme“. Die Red.

12 Im deutschen Text: „Aufnahme“. Die Red.

13 Lenins Bemerkung über die ungenügende Andeutung der Revolution bezieht sich auf folgende Sätze des Manifests der Zimmerwalder Konferenz: „Proletarier! Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft, euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache, für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf.“.

[Anmerkung 76 der „Ausgewählten Werke“, Band 5:] Lenins Bemerkung über die ungenügende Andeutung der Revolution bezieht sich auf die folgenden Sätze des Manifests der Zimmerwalder Konferenz: „In dieser unerträglichen Lage haben wir, die Vertreter der sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und ihrer Minderheiten … uns zusammengefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampf für den Frieden aufzurufen. Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerversöhnung, für den Sozialismus.“

14 Im deutschen Text: „herbeizuschaffen“. Die Red.

15 Im deutschen Text: „zufriedenstellen“. Die Red.

16 Im russischen Text: „sondern auch zur allseitigen außerparlamentarischen Unterstützung der illegalen Organisationen und des revolutionären Kampfes der Arbeiter.“ Die Red.

17 Im russischen Text: „Kautskyaner“. Die Red.

18 Ein Fehler der Übersetzung im Bulletin der ISK. Es muss heißen: „niederen Parteifunktionäre“. Die Red.

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