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Wladimir I. Lenin 19151221 Maskierung sozialchauvinistischer Politik durch internationalistische Phrasen

Wladimir I. Lenin: Maskierung sozialchauvinistischer Politik

durch internationalistische Phrasen

[Sozialdemokrat Nr. 49, 21. Dezember 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 438-444]

In welchem Verhältnis stehen die politischen Tatsachen zur politischen Literatur, die politischen Ereignisse zu den politischen Parolen, die politische Wirklichkeit zur politischen Ideologie? Diese Frage ist in gegenwärtiger Zeit von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der ganzen Krise der Internationale, denn jede Krise, selbst jede Wendung in der Entwicklung führt unvermeidlich dazu, dass die alte Form dem neuen Inhalt nicht mehr entspricht. Wir reden schon gar nicht davon, dass die bürgerliche Gesellschaft sich ständig Politiker heranzüchtet, die sich als außerhalb der Klassen stehend zu bezeichnen lieben, und Opportunisten, die sich Sozialisten zu nennen pflegen, – Leute, die mit Überlegung und System die Massen mit ganz hochtrabenden und ganz „linken“ Reden betrügen. Aber in der Epoche der Krise lässt sich sogar bei gewissenhaften Beteiligten durchweg ein Auseinanderklaffen von Wort und Tat beobachten. Und die große progressive Bedeutung aller Krisen, selbst der schwersten, schlimmsten und schmerzhaftesten, besteht gerade darin, dass sie mit prachtvoller Schnelligkeit, Kraft und Anschaulichkeit die faulen Worte – und seien sie noch so gewissenhaft – und die faulen Institutionen – beruhten sie auch auf den allerbesten Absichten – entlarven und fortfegen.

Die bedeutsamste Tatsache im Leben der russischen Sozialdemokratie sind jetzt die Wahlen der Petersburger Arbeiter in das Kriegsindustriekomitee. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn und nur durch diese Wahlen sind tatsächlich die Massen der Proletarier zur Diskussion und Entscheidung über die grundlegenden Fragen der gegenwärtigen Politik herangezogen worden, und diese Wahlen haben uns vom tatsächlichen Stand der Dinge in der Sozialdemokratie als Massenpartei ein wirkliches Bild verschafft. Es hat sich erwiesen, dass zwei, und überhaupt nur zwei Richtungen bestehen, – die eine revolutionär-internationalistisch, wirklich proletarisch, von unserer Partei organisiert, – und diese Richtung war gegen die Vaterlandsverteidigung. Die andere, die „Vaterlandsverteidiger“ oder die sozialchauvinistische Richtung, war der Block der „Nasche-Djelo-Leute (d. h. des Kerntrupps der Liquidatoren), der Plechanowisten, der Narodniki und Parteiloser; dieser Block wurde von der gesamten bürgerlichen Presse und von allen „Schwarzhundertlern“ in Russland unterstützt, wodurch das nicht proletarische, sondern bürgerliche Wesen der Politik dieses Blocks erwiesen war.

So sind die Tatsachen. So ist die Wirklichkeit. Und die Losungen und die Ideologie? Das Petersburger Blatt „Rabotscheje Utro Nr. 2 (vom 22. Oktober)1, das Sammelbuch der „OK-Leute“ („Die Internationale und der Krieg“, Nr. 1 vom 30. November 1915), die letzten Nummern von „Nasche Slowo geben eine Antwort, über die jeder, der sich für die Politik nicht in der Weise interessiert, wie der Gogolsche Petruschka für das Lesen, nachdenken und noch einmal nachdenken sollte.

Betrachten wir den Inhalt und die Bedeutung dieser Ideologie.

Das Petersburger „Rabotscheje Utro“ ist hier das wichtigste Dokument. Hier sitzen die Führer des Liquidatorentums und Sozialchauvinismus zusammen mit Herrn Gwosdjew, dem Denunzianten. Diesen Leuten ist alles haarklein bekannt, was den Wahlen vom 27. September vorausging und was bei diesen Wahlen geschah. Diese Leute konnten über ihren Block mit den Plechanowisten, Narodniki und Parteilosen einen Schleier werfen, und das taten sie auch, sie sagten kein Wort über die Bedeutung dieses Blocks und das zahlenmäßige Wechselverhältnis seiner verschiedenen Elemente. Es war für sie vorteilhaft, eine solche „Kleinigkeit“ zu verheimlichen (Angaben darüber standen Herrn Gwosdjew und seinen Freunden vom „Rabotscheje Utro“ zweifellos zur Verfügung), und sie verheimlichten sie. Aber eine dritte Gruppe, noch außer den Neunzig und Einundachtzig, konnten sie nicht erfinden; an Ort und Stelle, in Petersburg, den Arbeitern die Existenz einer „dritten“ Gruppe vorzulügen – über die der „Kopenhagener Anonymus“ in den Spalten der deutschen Presse und im „Nasche Slowo“ Märchen auftischt, – das ist nicht möglich, weil Leute, die den Verstand noch nicht verloren haben, nicht lügen, wenn sie wissen, dass die Aufdeckung der Lüge an Ort und Stelle und im selben Moment unvermeidlich ist. Deshalb veröffentlicht „Rabotscheje Utro“ einen Artikel von K. Oranski (ein alter Bekannter!): „Zwei Standpunkte“, der in ausführlichster Weise beide Standpunkte, den der Gruppe der Neunzig und den der Gruppe der Einundachtzig, behandelt, ohne auch nur mit einem Wort einen dritten Standpunkt zu erwähnen. Nebenbei bemerkt, hat die Zensur Nr. 2 des „Rabotscheje Utro“ fast vollkommen entstellt; weiße Stellen gibt es beinahe mehr als nicht gestrichene, aber von den Artikeln sind gerade zwei, nur jene zwei verschont geblieben, – der über die „Zwei Standpunkte“, und ein die Geschichte des Jahres 1905 liberal entstellendes Feuilleton, – in denen die Bolschewiki wegen ihres „Anarchismus und „Boykottismus“ beschimpft werden. Für die zaristische Regierung ist es vorteilhaft, dass solche Dinge geschrieben und veröffentlicht werden. Derartige Reden genießen nicht zufällig das Monopol der Legalität allüberall, vom despotischen Russland bis zum republikanischen Frankreich!

Mit welchen Argumenten verteidigt „Rabotscheje Utro“ nun seinen Standpunkt der „Vaterlandsverteidigung“ oder des „Sozialchauvinismus“? Einzig und allein mit Ausflüchten, einzig und allein mit internationalistischen Phrasen!! Unser Standpunkt ist ja gar kein „nationaler“, wir sind gar keine „Vaterlandsverteidiger“, wir bringen nur das – „im ersten Standpunkt“ (d. h. in dem der Gruppe der Neunzig) „absolut nicht zum Ausdruck gekommene“ – „nicht gleichgültige“ „Verhalten zur Lage des Landes“, zu seiner „Rettung vor dem Zerfall und dem Untergang“, zum Ausdruck. Unsere Position war doch eine „wirklich internationale“, sie wies die Mittel und Wege zur „Befreiung“ des Landes, wir „beurteilten ganz ebenso (!! – wie der erste Standpunkt) den Ursprung des Kriegs und sein sozialpolitisches Wesen“, wir behandelten „ganz ebenso (!! – wie der erste Standpunkt) das allgemeine Problem der internationalen Organisation und der internationalen Arbeit des Proletariats“ (da ist nichts zu scherzen!) „und der Demokratie während des Kriegs, in ausnahmslos allen Entwicklungsperioden des Weltkonflikts“. Wir haben doch in unserer Instruktion erklärt, dass „in der gegebenen gesellschaftlich-politischen Situation die Arbeiterklasse keine Verantwortung für die Verteidigung des Landes übernehmen kann“, wir „haben uns vor allem den internationalen Aufgaben der Demokratie entschieden angeschlossen“, wir „haben zum lebendigen Strom der Bestrebungen, deren Etappen Kopenhagen und Zimmerwald waren, unser Teil beigetragen“ (so sind wir!). Wir sind doch für die Losung des „Friedens ohne Annexionen“ (gesperrt von „Rabotscheje Utro“). Wir „haben der Abstraktheit und dem kosmopolitischen Anarchismus der ersten Richtung den Realismus und die Internationalität unserer eigenen Position entgegengestellt“.

In Wahrheit, sind das nicht lauter Perlen? Aber in diesen Perlen steckt neben krasser Unbildung und Repetilowschem Geflunker eine ganz nüchterne und vom Standpunkte der Bourgeoisie richtige Diplomatie. Um die Arbeiter zu beeinflussen, müssen die Bourgeois sich als Sozialisten, als Sozialdemokraten, als Internationalisten usw. verkleiden, sonst ist die Beeinflussung unmöglich. Und „Rabotscheje Utro“ schmückt sich, schminkt sich, färbt sich, putzt sich, macht schöne Äuglein – jedes Mittel ist ihm recht! Wir unterschreiben gerne auch hundertmal das Zimmerwalder Manifest (das ist eine Ohrfeige für jene Zimmerwalder, die dieses Manifest unterzeichnet haben, ohne seinen zaghaften Ton zu bekämpfen und ohne Vorbehalte zu machen!) und ebenso jede beliebige Resolution über das imperialistische Wesen des Kriegs, und wir unterzeichnen genau so gerne jeden beliebigen Eid auf unseren „Internationalismus“ und unseren „Revolutionarismus“ („Befreiung des Landes“ in der der Zensur unterworfenen Presse – Revolution in der illegalen), – wenn nur … ja, wenn man uns nur nicht hindert, die Arbeiter zur Mitarbeit an den Kriegsindustriekomitees aufzurufen, d. h. zur faktischen Mitarbeit am räuberischen, reaktionären („Verteidigungs“-) Krieg.

Nur das ist Tatsache, alles übrige sind bloße Worte. Nur das ist das Wesentliche, alles übrige sind Phrasen. Nur das ist es, was die Polizei, die Zarenmonarchie, Chwostow und die Bourgeoisie brauchen. Die klugen Bourgeois in den klügeren Ländern stehen der internationalistischen und sozialistischen Phrase mit Nachsicht gegenüber, wofern nur die Teilnahme an der Vaterlandsverteidigung außer Frage steht: man denke an die Äußerungen der französischen reaktionären Zeitungen über die Londoner Konferenz der „Triple-Entente“-Sozialisten. Die Herren Sozialisten, müsst ihr wissen, haben solch eine Art von „Tic“ – so schrieb eine dieser Zeitungen –, eine Art von Nervenkrankheit, bei der die Menschen unwillkürlich eine Geste, eine Muskelbewegung, ein Wort dauernd wiederholen. So können auch „unsere“ Sozialisten über nichts reden, ohne die Wörtchen: Wir sind Internationalisten, wir sind für die soziale Revolution – ständig zu wiederholen. Das ist nicht gefährlich! Das ist nur ein „Tic“, für „uns“ aber ist wichtig, dass sie für die Verteidigung des Vaterlandes sind.

So argumentierten kluge französische und englische Bourgeois: wenn man die Teilnahme am Raubkrieg mit Phrasen über Demokratie, Sozialismus usw. verteidigt, – ist denn das nicht wirklich ein Vorteil für die räuberischen Regierungen, für die imperialistische Bourgeoisie? Ist es für den Herrn etwa nicht von Vorteil, einen Lakaien zu haben, der dem Volke hoch und heilig schwört, der Herr weihe sein Leben ganz der Sorge um das Volk und der Liebe zum Volk?

Rabotscheje Utro“ schwört auf Zimmerwald und grenzt sich in Worten von den Plechanowisten ab, mit der Erklärung (in Nr. 2), es sei „in vielem nicht einverstanden“ mit ihnen, in Wirklichkeit aber ist das Blatt im Grundlegenden mit ihnen einverstanden, in Wirklichkeit geht es zusammen mit ihnen, zusammen mit der eigenen Bourgeoisie in die „Verteidigungs“-Institutionen der chauvinistischen Bourgeoisie.

Das OK schwört nicht nur auf Zimmerwald, sondern „unterschreibt“ und unterzeichnet auch in aller Form, es zieht nicht nur den Trennungsstrich gegenüber den Plechanowisten, sondern lässt auch irgendeinen Anonymus A. M. los, der – hinter seiner Anonymität wie hinter einem Hoftor versteckt – folgendes schreibt:

Wir, die Anhänger des Augustblocks (vielleicht sind A. M. ganze zwei .Anhänger'?), halten es für notwendig zu erklären: die Organisation ,Prisyw' hat die Grenzen des in unserer Partei Erlaubten, so wie wir diese Grenzen auffassen, weit überschritten, und für die Mitglieder der den .Prisyw' unterstützenden Gruppen darf in den Reihen der Augustblock-Organisation kein Platz sein.“2

Was für tapfere Leute sind doch diese „Anhänger“ A. M.I Sie machen denn auch aus ihrem Herzen keine Mördergrube!

Von den fünf Personen, die das „Auslandssekretariat des OK. bilden3, von dem das genannte Sammelbuch herausgegeben wurde, hatte kein einziger Lust, so mutige Dinge zu verkünden! Es ergibt sich also folgendes: die Sekretariats-Fünfe sind gegen den Bruch mit Plechanow (erst kürzlich noch erklärte P. Axelrod, der Menschewik Plechanow stehe ihm näher als die internationalistischen Bolschewiki), da sie aber die Arbeiter fürchten und ihre „Reputation“ nicht verlieren möchten, so schweigen sie lieber über diesen Punkt, lassen aber doch von den zwei anonymen Anhängern einen auftreten, damit diese mit einem billigen und gefahrlosen Internationalismus Staat machen …

Auf der einen Seite polemisieren einzelne Sekretäre, A. Martynow, L. Martow, Astrow gegen „Nasche Djelo, und Martow spricht sich sogar – in seinem eigenen Namen – gegen die Beteiligung an den Kriegsindustriekomitees aus. Auf der anderen Seite predigt der Bundist Jonow – der sich für „linker“ hält als den die wirkliche Politik des „Bund“ widerspiegelnden Kossowski und daher von den Bundisten gern zur Bemäntelung ihres Nationalismus in den Vordergrund geschoben wird – die „Weiterentwicklung der alten Taktik“ (der II. Internationale, die zu deren Zusammenbruch geführt hat), „aber keineswegs ihre Liquidierung“. Die Redaktion bringt zweideutige, nichtssagende, diplomatisch ausweichende Vorbehalte zum Artikel Jonows, ohne gegen seinen wesentlichen Inhalt, die Verteidigung des Faulen und Opportunistischen in der „alten Taktik“, Einspruch zu erheben. Die anonymen A. M., jene „Anhänger“ des Augustblocks, verteidigen geradezu das Blatt „Nascha Sarja: es sei zwar von der internationalistischen Position „abgewichen“, habe aber

die Politik des Burgfriedens für Russland abgelehnt (?), die Notwendigkeit der sofortigen Wiederherstellung der internationalen Verbindungen anerkannt und, wie uns“ (den anonymen „Anhängern“ A. M.) „bekannt ist, den Ausschluss Manjkows aus der Dumafraktion gutgeheißen.“

Eine ausgezeichnete Verteidigung! Auch die kleinbürgerlichen Narodniki sind für Wiederaufnahme der Verbindungen, auch Kerenski ist gegen Manjkow, und wenn man Leute, die für das „Widersetze dich nicht dem Kriege“ eingetreten sind, als Gegner der Burgfriedenspolitik bezeichnet, so heißt das, die Arbeiter mit leeren Phrasen beschwindeln.

Die Redaktion des vom OK herausgegebenen Sammelbuchs tritt geschlossen mit einem Artikel „Gefährliche Tendenzen“ auf. Ein Musterbild politischer Geschmeidigkeit! Einerseits tönende linke Phrasen gegen die Verfasser der patriotischen Aufrufe (die Moskauer und Petersburger Sozialchauvinisten). Anderseits „ist schwer zu beurteilen, aus welchen Parteikreisen die beiden Deklarationen stammen“!! In Wirklichkeit kann nicht der Schatten eines Zweifels darüber bestehen, dass sie „aus den Kreisen“ von „Nasche Djelo“ stammen, obwohl die Mitarbeiter dieser legalen Zeitschrift natürlich an der Abfassung der illegalen Deklaration unschuldig sind … Statt die ideellen Wurzeln dieser Deklaration, die restlose Identität dieser Wurzeln mit der Richtung des Liquidatorentums, des Sozialchauvinismus, der „Nasche Djelo“-Politik zu untersuchen, kommen die OK-Leute mit der absurden, kniffligen und niemanden als die Polizei interessierenden Frage nach der persönlichen Verfasserschaft von Mitgliedern dieses oder jenes Zirkels. Einerseits schreit die Redaktion Zeter und Mordio: Schließen wir die Reihen, wir Internationalisten des Augustblocks, zum „energischsten Widerstand gegen die Tendenzen der Vaterlandsverteidigung“ (S. 129), zum „unversöhnlichen Kampfe“ (S. 126); und anderseits steht gleich daneben die Bauernfänger-Phrase: „Die Linie der vom OK unterstützten Dumafraktion ist“ (bisher) „nicht auf offene Opposition gestoßen“ (S. 129)!!

Aber diese Linie besteht, wie den Verfassern selbst recht gut bekannt ist, im Fehlen einer Linie und in der verkappten Verteidigung von „Nasche Djelo“ und „Rabotscheje Utro“ …

Man nehme den „radikalsten“ und „prinzipiellsten“ Artikel des Sammelbuchs, den von L. Martow. Es genügt, den einen Satz des Verfassers anzuführen, der den Hauptgedanken zum Ausdruck bringt, – um sich davon zu überzeugen, wie es mit seinen Prinzipien steht.

Es versteht sich von selbst: wenn die jetzige Krise zu einem Siege der demokratischen Revolution, zur Republik führen würde, so müsste sich der Charakter des Kriegs von Grund aus ändern“ (S. 116).

Das ist von Anfang bis zu Ende eine schreiende Unwahrheit. Martow musste wissen, dass die demokratische Revolution und Republik die bürgerlich-demokratische Revolution und Republik bedeuten. Der Charakter des Kriegs zwischen bürgerlichen und imperialistischen Großmächten würde sich nicht um ein Jota ändern, wenn in einem dieser Länder der militärisch absolutistisch-feudale Imperialismus rasch hinweggefegt würde, weil dadurch der rein bürgerliche Imperialismus nicht verschwände, vielmehr nur an Stärke zunähme. Eben darum erklärt unser Blatt in Nr. 47, These 9, dass die Partei des russischen Proletariats in diesem Kriege nicht einmal das Vaterland der Republikaner und Revolutionäre verteidigen werde, solange sie Chauvinisten sind, wie Plechanow, die Narodniki, Kautsky, die „Nasche-Djelo-Leute, Tschcheïdse, das OK. u. a.

Martow zieht sich auch keineswegs aus der Schlinge mit einer ausweichenden Phrase in der Anmerkung auf Seite 118, wo er in Widerspruch zu seinen Ausführungen auf S. 116 „Zweifel hegt“, ob eine bürgerliche Demokratie „gegen den internationalen Imperialismus“ den Kampf führen könne (natürlich kann sie das nicht); – „Zweifel hegt“, ob nicht die Bourgeoisie die Republik von 1793 in eine Gambetta- und Clemenceau-Republik verwandeln würde. Die grundlegende theoretische Verlogenheit bleibt hier bestehen: im Jahre 1793 führte die fortschrittliche Klasse der bürgerlichen Revolution in Frankreich Krieg gegen die vorrevolutionären Monarchien Europas. Das Russland vom Jahre 1915 führt aber Krieg nicht gegen rückständigere, sondern gegen fortgeschrittenere Länder, die am Vorabend der sozialistischen Revolution stehen. Das heißt, die Rolle der Jakobiner von 1793 kann im Kriege 1914/15 nur das Proletariat spielen, das die siegreiche sozialistische Revolution durchführt. Das heißt, das russische Proletariat könnte im gegenwärtigen Kriege ausschließlich in dem Falle „das Vaterland verteidigen“, ausschließlich in dem Falle den „Charakter des Kriegs als von Grund aus verändert“ betrachten, wenn die Revolution gerade die Partei des Proletariats an die Macht stellen, gerade dieser Partei erlauben würde, die ganze Kraft des revolutionären Aufschwungs und des Staatsapparats auf die sofortige und unmittelbare Verwirklichung des Bündnisses mit dem sozialistischen Proletariat Deutschlands und Europas zu richten (Nr. 47 des Sozialdemokrat, These 11).

Martow schließt seinen mit effektvollen Phrasen jonglierenden Artikel mit dem höchst effektvollen Appell an die „russische Sozialdemokratie“, „gleich zu Beginn der politischen Krise einen klaren revolutionär-internationalistischen Standpunkt einzunehmen“. Wenn der Leser prüfen will, ob hinter diesem effektvollen Aushängeschild nicht etwas Stinkfaules steckt, so stelle er sich die Frage: Was heißt überhaupt in der Politik einen Standpunkt einnehmen? – 1. Im Namen einer Organisation (und sei sie nur eine Sekretariats-„Fünfe“) mit einer fertig formulierten Beurteilung des Moments und der Taktik, mit einer Reihe von Resolutionen auftreten; 2. die Kampflosung für den Moment ausgeben; 3. das eine und das andere mit der Aktion der proletarischen Massen und ihrer klassenbewussten Avantgarde verbinden. – Martow und Axelrod, die geistigen Führer der „Fünfe“, tun weder das erste noch das zweite noch das dritte, unterstützen vielmehr und decken faktisch die Sozialchauvinisten in allen diesen drei Punkten! Nach sechzehn Kriegsmonaten haben die fünf Auslandssekretäre weder einen „klaren“ noch überhaupt irgendeinen programmatisch-taktischen Standpunkt eingenommen. Martow pendelt bald nach links, bald nach rechts. Axelrod schwankt nur nach rechts (siehe insbesondere seine deutsche Broschüre). Nichts Klares, nichts Formuliertes, nichts Organisiertes, keinerlei Standpunkt!

Die zentrale Kampflosung des Moments“ – schreibt Martow in eigenem Namen – „muss für das russische Proletariat die All-nationale Konstituierende Versammlung zur Liquidierung des Zarismus wie des Kriegs werden.“

Das ist keine auch nur halbwegs taugliche, ist keine zentrale und keine Kampflosung, da sie für den Begriff dieser doppelten „Liquidierung“ den wichtigsten, den klassenmäßig-sozialen und politisch bestimmten Begriffsinhalt nicht gibt. Das ist eine vulgäre bürgerlich-demokratische Phrase, aber keine zentrale Losung, keine Kampflosung, keine proletarische Losung.

Was schließlich das Wichtigste, die Verbindung mit den Massen in Russland angeht, so bedeuten hier Martow und Co. nicht nur eine Null, sondern ein Minus. Denn hinter ihnen steht nichts. Die Wahlen haben gezeigt, dass Massen nur bei dem Block der Bourgeoisie und des „Rabotscheje Utro“ stehen, während die Bezugnahme auf das OK. und die Fraktion Tschcheïdse nur eine verlogene Maskierung dieses bürgerlichen Blocks ist.

1 Lenin bezieht sich auf den Artikel von K. Oranski, „Zwei Positionen“ in Nr. 2 vom 22. Oktober 1915.

2 Es handelt sich um einen A. M. gezeichneten Artikel: „Die patriotische Organisation ,Prisyw'“ im Sammelbuch „Internationale und Krieg“ Nr. 1.

3 Das Auslandssekretariat des OK bestand aus Martow, Axelrod, Sjemkowski, Martynow und Astrow.

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