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Wladimir I. Lenin 19151120 Über die zwei Linien der Revolution

Wladimir I. Lenin: Über die zwei Linien der Revolution

[Sozialdemokrat Nr. 48, 20. November 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 416-422]

Im „Prisyw, Nr. 3, versucht Herr Plechanow die theoretische Grundfrage der kommenden russischen Revolution zu stellen.1 Er nimmt ein Zitat aus Marx, in dem es heißt, dass sich die Revolution von 1789 in Frankreich in aufsteigender, die von 1848 aber in absteigender Linie bewegte. Im ersten Falle ging die Macht nacheinander von der gemäßigteren an die radikalere Partei über: Konstitutionalisten – Girondisten Jakobiner. Im zweiten Falle sehen wir das Gegenteil: Proletariat – kleinbürgerliche Demokraten – bürgerliche Republikaner – Napoleon III. „Es wäre erwünscht,“ lautet die Schlussfolgerung unseres Verfassers, „dass sich die russische Revolution in aufsteigender Linie bewege“, d. h. dass die Macht zuerst an die Kadetten und Oktobristen übergehe, dann an die Trudowiki und schließlich an die Sozialisten. Aus dieser Betrachtung wird natürlich der Schluss gezogen, die Linken in Russland seien unvernünftige Leute, weil sie nicht gesonnen seien, die Kadetten zu unterstützen, diese vielmehr vorzeitig diskreditieren wollten.

Diese „theoretische“ Betrachtung des Herrn Plechanow ist wieder einmal ein neues Beispiel dafür, wie man Marxismus mit Liberalismus verwechselt. Herr Plechanow lässt die Sache auf die Frage hinauslaufen, ob die „strategischen Begriffe“ der fortgeschrittenen Elemente „richtig“ oder falsch gewesen seien. Marx argumentierte anders. Er wies auf die Tatsache hin, dass die Revolution in beiden Fällen verschieden verlief, aber die Erklärung für diesen Unterschied suchte Marx nicht in „strategischen Begriffen“. Es ist vom Standpunkt des Marxismus lächerlich, diesen Unterschied in Begriffen zu suchen. Er muss in der Verschiedenheit des gegenseitigen Verhältnisses der Klassen gesucht werden. Derselbe Marx schrieb, dass in Frankreich 1789 die Bourgeoisie sich mit der Bauernschaft vereinigt und dass 1848 die kleinbürgerliche Demokratie das Proletariat verraten habe. Herr Plechanow kennt diese Marxsche Auffassung, aber er verschweigt sie, um Marx „à la Struve“ zu kostümieren, in Frankreich ging es 1789 um den Sturz des Absolutismus und des Adels. Auf der damaligen Stufe der ökonomischen und politischen Entwicklung glaubte die Bourgeoisie an eine Harmonie der Interessen, sie war um die Dauerhaftigkeit ihrer Herrschaft nicht besorgt und ging auf ein Bündnis mit der Bauernschaft ein. Dieses Bündnis war es, das den vollen Sieg der Revolution sicherte. Im Jahre 1848 ging es um den Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat. Diesem gelang es nicht, das Kleinbürgertum zu sich herüber zu ziehen, und der Verrat des Kleinbürgertums führte zur Niederlage der Revolution. Die auf steigende Linie stellte 1789 eine Form der Revolution dar, in der die Masse des Volkes den Absolutismus besiegte. Die absteigende Linie des Jahres 1848 stellte eine Form der Revolution dar, in der der durch die Masse des Kleinbürgertums am Proletariat begangene Verrat die Niederlage der Revolution hervorrief.

Herr Plechanow ersetzte den Marxismus durch einen vulgären Idealismus, als er die Sache auf die „strategischen Begriffe“, statt auf das gegenseitige Verhältnis der Klassen zurückführte.

Wie uns die Erfahrung der russischen Revolution von 1905 und der nachfolgenden konterrevolutionären Epoche zeigt, waren bei uns zwei Linien der Revolution zu beobachten im Sinne des Kampfes zweier Klassen – des Proletariats und der liberalen Bourgeoisie – um den Richtung gebenden Einfluss auf die Massen. Das Proletariat trat revolutionär auf und führte die demokratische Bauernschaft mit sich zur Niederwerfung der Monarchie und der Gutsbesitzer. Dass die Bauernschaft revolutionäre Bestrebungen im demokratischen Sinne offenbarte, das zeigten in den Ausmaßen von Massenbewegungen alle großen politischen Ereignisse: die Bauernaufstände der Jahre 1905 und 1906, die militärischen Unruhen derselben Jahre, der „Bauernbund des Jahres 1905 und die erste und die zweite Duma, in welch beiden die Bauern-Trudowiki nicht nur „radikaler als die Kadetten“ auftraten, sondern auch revolutionärer als die intellektuellen Sozialrevolutionäre und die Trudowiki. Das wird leider oft vergessen, aber es ist Tatsache. In der dritten wie in der vierten Duma haben die Bauern-Trudowiki bei all ihrer Schwäche gezeigt, dass die Stimmung der ländlichen Massen gegen die Gutsbesitzer war.

Die erste Linie der russischen bürgerlich-demokratischen Revolution, aus den Tatsachen und nicht aus „strategischem“ Geschwätz abgeleitet, bestand darin, dass das Proletariat entschlossen kämpfte und die Bauernschaft ihm unentschlossen Gefolgschaft leistete. Diese beiden Klassen marschierten gegen die Monarchie und gegen die Gutsbesitzer. Mangel an Kraft und Mangel an Entschlossenheit bei diesen Klassen führten die Niederlage herbei (obwohl zum Teil doch eine Bresche in den Absolutismus geschlagen wurde).

Die zweite Linie war das Verhalten der liberalen Bourgeoisie. Wir Bolschewiki haben stets, besonders seit dem Frühjahr 1906, behauptet, dass diese Linie von den Kadetten und Oktobristen, als einer einheitlichen Kraft, dargestellt werde. Das Jahrzehnt 1905-1915 hat unsere Auffassung bestätigt. In den entscheidenden Momenten des Kampfes verrieten die Kadetten gemeinsam mit den Oktobristen die Demokratie und „eilten“ dem Zaren und den Gutsbesitzern zu Hilfe. Die „liberale“ Linie der russischen Revolution repräsentierte sich als „Abwiegelung“ und Zersplitterung des Kampfes der Massen im Namen der Versöhnung der Bourgeoisie mit der Monarchie. Die internationale Situation der russischen Revolution, ebenso wie die Kraft des russischen Proletariats machte ein derartiges Verhalten der Liberalen unvermeidlich.

Die Bolschewiki halfen dem Proletariat mit ganzem Bewusstsein, damit es auf der ersten Linie marschiere, mit schrankenloser Kühnheit kämpfe und die Bauernschaft mit sich reiße. Die Menschewiki rutschten ständig auf die zweite Linie ab, sie korrumpierten das Proletariat durch Anpassung der proletarischen Bewegung an die Liberalen, angefangen mit der Aufforderung zur Beteiligung an der Bulyginschen Duma (August 19042), bis zum Kadettenkabinett von 1906 und bis zum Block mit den Kadetten gegen die Demokratie im Jahre 1907. (Vom Standpunkt des Herrn Plechanow – sei in Klammern vermerkt – haben damals die „richtigen strategischen Begriffe“ der Kadetten und Menschewiki eine Niederlage erlitten. Warum dies? Warum haben die Massen nicht auf den weisen Herrn Plechanow und auf die Ratschläge der Kadetten gehört, die hundertmal weiter verbreitet wurden als die Ratschläge der Bolschewiki?)

Nur diese beiden Strömungen, die bolschewistische und die menschewistische – nur sie allein traten in der Politik der Massen in den Jahren 1904-1908 und ebenso nachher in den Jahren 1908-1914 zutage. Weshalb? Weil nur diese Strömungen feste Klassenbasis hatten, die erstere im Proletariat, die zweite im liberalen Bürgertum.

Heute gehen wir wieder der Revolution entgegen. Das sieht jedermann. Selbst ein Chwostow spricht von einer Stimmung unter den Bauern, die an die Jahre 1905 und 1906 erinnere. Und wieder haben wir es mit denselben zwei Linien der Revolution, mit demselben gegenseitigen Verhältnis der Klassen zu tun, nur modifiziert durch die veränderte internationale Situation. Im Jahre 1905 war die gesamte europäische Bourgeoisie für den Zarismus und lieh ihm ihren Beistand, sei es in Gestalt von Milliarden (so die Franzosen) oder sei es durch Vorbereitungen zur Aufstellung einer konterrevolutionären Armee (so die Deutschen). Im Jahre 1914 entbrannte der europäische Krieg; überall gelang es der Bourgeoisie über das Proletariat einstweilen zu siegen, es mit den trüben Fluten des Nationalismus und Chauvinismus zu überschwemmen. In Russland bilden die kleinbürgerlichen Volksmassen, in erster Linie die Bauernschaft, nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung. Sie sind vor allem von den Gutsbesitzern unterdrückt. Politisch schlafen sie zum Teil, zum andern Teil schwanken sie zwischen Chauvinismus („Sieg über Deutschland“, „Vaterlandsverteidigung“) und revolutionärer Gesinnung hin und her. Die politischen Repräsentanten dieser Massen – und dieser Schwankungen – sind einerseits die Narodniki (Trudowiki und Sozialrevolutionäre), anderseits die opportunistischen Sozialdemokraten („Nasche Djelo, Plechanow, Fraktion Tschcheïdse, Organisationskomitee), die seit 1910 ganz entschieden auf den Pfad der liberalen Arbeiterpolitik abrutschten und 1915 glücklich ganz unten gelandet sind: beim Sozialchauvinismus der Herren Potressow, Tscherewanin, Lewizki und Maslow, oder bei der Forderung der „Einheit“ mit diesen Leuten.

Aus dieser faktischen Lage ergibt sich sehr klar die Aufgabe des Proletariats. Mit schrankenloser Kühnheit geführter revolutionärer Kampf gegen die Monarchie (die Losungen der Konferenz vom Januar 1912, die drei Grundforderungen), – ein Kampf, der alle demokratischen Massen, d. h. in der Hauptsache die Bauernschaft, mit sich reißen muss. Zugleich aber erbarmungsloser Kampf gegen den Chauvinismus, Kampf für die sozialistische Revolution in Europa im Bunde mit dem europäischen Proletariat. Die Schwankungen der Kleinbourgeoisie sind nicht zufälliger Art, sie sind unvermeidlich, sie ergeben sich aus ihrer Klassenlage. Die durch den Krieg entfesselte Krise hat die ökonomischen und politischen Faktoren verstärkt, die das Kleinbürgertum – die Bauernschaft eingerechnet – nach links treiben. Darin liegt die objektive Basis für die volle Möglichkeit eines Sieges der demokratischen Revolution in Russland. Dass in Westeuropa die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution vollständig herangereift sind, das brauchen wir hier nicht erst zu beweisen; das haben vor dem Kriege die maßgebenden Sozialisten in allen Kulturländern ausnahmslos anerkannt.

Das gegenseitige Verhältnis der Klassen in der kommenden Revolution klarzulegen, das ist die Hauptaufgabe der revolutionären Partei. Das Organisationskomitee geht dieser Aufgabe aus dem Wege, es bleibt in Russland treuer Verbündeter von „Nasche Djelo“ und wirft im Auslande mit nichtssagenden „linken“ Phrasen um sich. Trotzki, in „Nasche Slowo, gibt dieser Aufgabe eine falsche Lösung: er wiederholt seine „originelle“ Theorie von 1905 und will sich keine Gedanken darüber machen, kraft welcher Ursachen das Leben ganze zehn Jahre an dieser ausgezeichneten Theorie vorbeigegangen ist.

Trotzkis originelle Theorie nimmt von den Bolschewiki den Appell zum entschlossenen revolutionären Kampf des Proletariats und zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, von den Menschewiki aber die „Negierung“ der Rolle der Bauernschaft. Es habe sich in der Bauernschaft ein Schichtungs-, ein Differenzierungsprozess abgespielt; ihre mögliche revolutionäre Rolle habe immer mehr abgenommen; in Russland sei eine „nationale“ Revolution unmöglich: „Wir leben in der Epoche des Imperialismus“, „der Imperialismus“ aber „stellt nicht die bürgerliche Nation dem alten Regime, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation gegenüber“.

Da haben wir ein kurioses Beispiel für ein Spiel mit dem Wörtchen „Imperialismus“. Wenn in Russland bereits das Proletariat „der bürgerlichen Nation“ gegenübersteht, dann heißt das: Russland steht direkt vor der sozialistischen Revolution!! Dann ist die (von der Januar-Konferenz von 1912 aufgestellte und nachher von Trotzki 1915 wiederholte) Losung „Konfiszierung des Gutsbesitzer-Landes“ falsch, dann hat man nicht von „revolutionärer Arbeiterregierung“, sondern von „sozialistischer Arbeiterregierung“ zu sprechen!! Bis zu welchen Grenzen das Durcheinander bei Trotzki geht, ersieht man aus seinem Satze: das Proletariat werde durch seine Entschlossenheit auch „nichtproletarische (!) Volksmassen“ mit sich reißen!I (Nr. 217.) Eins überlegte sich Trotzki dabei nicht: wenn es nämlich dem Proletariat gelingen wird, die nichtproletarischen ländlichen Massen zur Konfiszierung des Gutsbesitzerlandes mit sich zu reißen und die Monarchie zu stürzen, so wird dies eben die Vollendung der „nationalen bürgerlichen Revolution“ in Russland sein, so wird dies eben die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft bedeuten!

Das ganze Jahrzehnt 1905 bis 1915 – dieses große Jahrzehnt – hat die Existenz von zwei und von nur zwei Klassenlinien der russischen Revolution erwiesen. Die Differenzierung der Bauernschaft hat den Klassenkampf innerhalb der Bauernschaft selbst verstärkt, hat sehr viele politisch schlummernde Elemente wachgerüttelt und das Landproletariat dem städtischen näher gebracht (auf einer besonderen Organisation des Landproletariats bestanden die Bolschewiki seit 1906, sie brachten diese Forderung auch in die Resolution des menschewistischen Stockholmer Kongresses hinein). Aber der Antagonismus zwischen „der Bauernschaft“ und den Markow-Romanow-Chwostow ist stärker geworden, ist gewachsen, hat sich verschärft. Das ist eine so offensichtliche Wahrheit, dass sogar Tausende von Phrasen in Dutzenden von Pariser Trotzki-Artikeln sie nicht zu „widerlegen“ vermögen. In Wirklichkeit hilft Trotzki den liberalen Arbeiterpolitikern in Russland, die unter der „Negierung“ der Rolle des Bauerntums nur dies verstehen, dass sie nicht den Willen haben, die Bauern zur Revolution aufzurütteln!

Und das ist jetzt der Haken. Das Proletariat führt den Kampf – und wird ihn rücksichtslos weiterführen – für die Eroberung der Macht, für die Republik, für die Konfiszierung der Güter, das heißt für die Gewinnung der Bauernschaft, für das restlose Herausholen aller revolutionären Kräfte aus der Bauernschaft, für die Beteiligung der „nicht proletarischen Volksmassen“ an der Befreiung des bürgerlichen Russland vom militärisch-feudalen „Imperialismus“ (= Zarismus). Und diese Befreiung des bürgerlichen Russland vom Zarismus, von der Herrschaft der Gutsbesitzer über den Boden, wird das Proletariat unverzüglich ausnützen, nicht um die wohlhabenden Bauern in ihrem Kampfe gegen die Landarbeiter zu unterstützen, sondern – um die sozialistische Revolution im Bunde mit den Proletariern Europas durchzuführen.

1 Im „Prisyw („Aufruf“) Nr. 3 vom 17. Oktober 1915 erschien ein Artikel Plechanows: „Zwei Linien der Revolution.“

2 In den „Ausgewählten Werken“ richtig „1905“

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