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Georgi Plechanow 18831025 Sozialismus und politischer Kampf

Georgi Plechanow: Sozialismus und politischer Kampf

[Nach G. W. Plechanow: Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt am Main 1980, S. 33-107]

Vorwort

Die vorliegende Broschüre kann zu manchen Missverständnissen oder sogar zu Unzufriedenheit Anlass geben. Die Personen, die mit der Richtung der „Semlja i Wolja“ und des „Tschorny Peredjel" (Organe, in deren Redaktion ich mitgearbeitet habe) sympathisieren, können mir vorwerfen, dass ich von der Theorie der sogenannten Volkstümlerrichtung abgewichen bin. Anhängern anderer Fraktionen unserer revolutionären Partei mag meine Kritik an Ansichten, die ihnen teuer sind, missfallen. Ich halte es daher für nützlich, eine kurze Erklärung vorweg zu schicken.

Das Bestreben, im Volk und für das Volk zu arbeiten, die Überzeugung, dass „die Befreiung der Arbeiterklasse Sache der Arbeiterklasse selbst sein muss", – diese praktische Tendenz unserer Volkstümlerrichtung ist mir nach wie vor teuer. Ihre theoretischen Leitsätze allerdings scheinen mir in der Tat in mancher Beziehung fehlerhaft. Die Jahre des Aufenthalts im Ausland und des aufmerksamen Studiums der sozialen Frage haben mich davon überzeugt, dass der Sieg einer spontanen Volksbewegung von der Art des Aufstands St. Rasins oder der Bauernkriege in Deutschland die sozialen und politischen Bedürfnisse des gegenwärtigen Russland nicht befriedigen kann, dass die alten Lebensformen unseres Volkes in sich selbst viele Keime ihrer Zersetzung trugen und dass sie nicht „in eine höhere kommunistische Form übergehen" können ohne die unmittelbare Einwirkung einer starken und gut organisierten sozialistischen Arbeiterpartei auf sie. Daher glaube ich, dass neben dem Kampf gegen den Absolutismus die russischen Revolutionäre danach streben müssen, in der Zukunft wenigstens Elemente für die Schaffung einer solchen Partei auszuarbeiten. Bei dieser schöpferischen Tätigkeit werden sie unbedingt auf den Boden des modernen Sozialismus übergehen müssen, da die Ideale der „Semlja i Wolja" der Lage der Industriearbeiter nicht entsprechen. Und das wird gerade jetzt sehr angebracht sein, wo die Theorie der russischen Eigenständigkeit ein Synonym für Stillstand und Reaktion wird, während die fortschrittlichen Teile der russischen Gesellschaft sich um das Banner des einsichtigen „Westlertums" gruppieren.

Ich gehe zu einem weiteren Punkt meiner Erklärung über. Hier ist vor allem zu meiner Verteidigung zu sagen, dass es mir nicht um Personen, sondern um Meinungen ging und dass einzelne Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und der einen oder anderen sozialistischen Gruppe nicht im Geringsten meine Achtung vor allen aufrichtigen Kämpfern für die Befreiung des Volkes schmälern.

Außerdem hat die sogenannte terroristische Bewegung eine neue Epoche in der Entwicklung unserer revolutionären Partei eröffnet – die Epoche des bewussten politischen Kampfes mit der Regierung. Dieser Wechsel in der Richtung der Tätigkeit unserer Revolutionäre macht eine Überprüfung aller aus der vorangegangenen Periode ererbten Ansichten notwendig. Das Leben fordert die aufmerksame Durchsicht unseres gesamten geistigen Gepäcks beim Betreten des neuen Bodens, und ich betrachte meine Broschüre als einen meinen Kräften entsprechenden Beitrag zu dieser Aufgabe der Kritik, die in unserer revolutionären Literatur schon längst in Angriff genommen worden ist. Der Leser hat sicher die Biographie A. I. Scheljabows noch nicht vergessen, die eine scharfe und oft überaus richtige kritische Einschätzung des Programms und der Tätigkeit des Zirkels "Semlja i Wolja" enthält. Es kann durchaus sein, dass meine kritischen Versuche sich als weniger gelungen herausstellen, aber es wäre wohl kaum gerechtfertigt, sie für weniger aktuell zu halten.

G. P.

Genf,

25. Oktober 1883

Jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf

Karl Marx

Seit die russische revolutionäre Bewegung endgültig den Weg des offenen Kampfes gegen den Absolutismus beschritten hat, ist die Frage nach den politischen Aufgaben der Sozialisten zur lebensnotwendigsten und brennendsten Frage für unsere Partei geworden. Ihretwegen gingen Menschen auseinander, die durch viele Jahre gemeinsamer praktischer Tätigkeit verbunden waren, ihretwegen fielen ganze Zirkel und Organisationen auseinander. Man kann sogar sagen, dass alle russischen Sozialisten sich zeitweilig in zwei Lager geteilt hatten, die diametral entgegengesetzte Ansichten über die „Politik" vertraten. Und wie es in solchen Fällen immer zu sein pflegt, ging es auch hier nicht ohne Extreme. Die einen hielten den politischen Kampf nahezu für Verrat an der Sache des Volkes, für eine Manifestation bürgerlicher Instinkte in unserer revolutionären Intelligenz, für die Entweihung der Reinheit des sozialistischen Programms, Andere erkannten nicht nur die Unumgänglichkeit dieses Kampfes an, sondern waren auch bereit, in dessen vermeintlichem Interesse Kompromisse mit liberal-oppositionellen Elementen unserer Gesellschaft einzugehen. Einige gingen sogar so weit, jegliches Hervortreten des Klassenantagonismus in Russland als schädlich für die gegenwärtige Zeit anzusehen. Solche Ansichten vertrat beispielsweise Scheljabow, der – nach Aussage seines Biographen – „sich die russische Revolution nicht ausschließlich als Befreiung des Bauern – oder gar (?) des Arbeiterstandes, sondern als politische Wiedergeburt des ganzen russischen Volkes überhaupt vorstellte"A. Mit anderen Worten, die revolutionäre Bewegung gegen die absolute Monarchie verschmolz in seiner Vorstellung mit der sozialrevolutionären Bewegung der Arbeiterklasse im Namen ihrer ökonomischen Befreiung. Die besondere, speziell russische Aufgabe der Gegenwart verdeckte die allgemeine Aufgabe der Arbeiterklasse aller zivilisierten Länder. Noch weiter konnte die Meinungsverschiedenheit nicht gehen, und der Bruch wurde unvermeidlich.

Die Zeit hat indes die Extreme ausgeglichen und einen beträchtlichen Teil der Streitfragen in einem für beide Seiten zufriedenstellenden Sinn gelöst. Allmählich erkannten alle oder fast alle an, dass der begonnene politische Kampf so lange fortgesetzt werden muss, bis eine breite Befreiungsbewegung im Volk und in der Gesellschaft das Gebäude des Absolutismus zerstört haben wird, wie ein Erdbeben den Hühnerstall zerstört, wenn es erlaubt ist, hier einen kraftvollen Ausdruck von Marx zu benutzen. Allerdings erscheint sehr vielen unserer Sozialisten dieser Kampf bis jetzt eher wie ein aufgezwungener Kompromiss, als zeitweiliger Sieg der „Praxis" über die „Theorie", als Spott des Lebens über die Ohnmacht des Denkens, Selbst die „Politiker" vermieden, wenn sie sich gegenüber den auf sie niederprasselnden Vorwürfen rechtfertigten, jeden Appell an die grundlegenden Thesen des Sozialismus, sondern beriefen sich lediglich auf die unbestreitbaren Erfordernisse der Wirklichkeit. Im Grunde ihres Herzens glaubten sie anscheinend selbst, dass politische Tendenzen zu ihnen überhaupt nicht passten, trösteten sich aber mit der Erwägung, dass sie es erst in einem freien Staat den Toten überlassen könnten, die Toten zu begraben, und erst nach Aufgabe aller Beziehungen zur Politik sich ganz und gar der Sache des Sozialismus würden widmen können. Diese unklare Überzeugung führte bisweilen zu Missverständnissen, die der Komik nicht entbehrten. In einer Einschätzung der Rede des „russischen Gastes" auf dem Kongress von Chur und bei dem Versuch, sich gegenüber dem vermeintlichen »Vorwurf des Politisierens zu.rechtfertigen, bemerkte die „Narodnaja Wolja" unter anderem, ihre Anhänger seien weder Sozialisten noch politische Radikale,, sondern schlicht „Narodowolzen". Das Organ der Terroristen war der Meinung, dass „im Westen" die Aufmerksamkeit der Radikalen ausschließlich von politischen Fragen aufgesogen sei und dass umgekehrt die Sozialisten von „Politik" nichts wissen wollten. Jeder, der mit den Programmen der westeuropäischen Sozialisten vertraut ist, versteht natürlich, wie falsch solch eine Vorstellung ist, was deren überwältigende Mehrheit betrifft. Es ist bekannt, dass die Sozialdemokratie Europas und Amerikas sich niemals an ein Prinzip politischer „Enthaltsamkeit" gehalten hat. Ihre Anhänger ignorieren nicht die „Politik". Nur stellen sie sich die Aufgaben der sozialistischen Revolution nicht als „Wiedergeburt des ganzen Volkes überhaupt" vor. Sie bemühen sich, die Arbeiter in einer besonderen Partei zu organisieren, um dadurch die Ausgebeuteten von den Ausbeutern zu trennen und dem ökonomischen Antagonismus politischen Ausdruck zu verleihen. Woher nimmt man eigentlich bei uns die Gewissheit, dass der Sozialismus politischen Indifferentismus erfordert – eine Gewissheit, die in vollem Widerspruch zur Wirklichkeit steht? Schillers Wallenstein sagt zu Max Piccolomini, dass der menschliche Geist weit, die Welt dagegen eng ist und dass deshalb die Gedanken leicht beieinander wohnen, während die Dinge sich hart aneinander stoßen. Müssen wir uns nicht sagen, dass in unserem Gehirn umgekehrt die Begriffe von Dingen, die sich nicht nur in der Praxis ausgezeichnet vertragen, sondern außerhalb ihres wechselseitigen Zusammenhangs überhaupt undenkbar sind, nicht miteinander auskommen können? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vor allem Klarheit schaffen über diejenigen Vorstellungen vom Sozialismus, die bei unseren Revolutionären zu der Zeit existierten, als die politischen Tendenzen bei ihnen aufkamen. Wenn wir uns davon überzeugt haben, dass diese Vorstellungen fehlerhaft und rückständig waren, werden wir uns ansehen, welchen Platz dem politischen Kampf diejenige Lehre zuweist, der sogar ihre bürgerlichen Gegner die Bezeichnung „Wissenschaftlicher Sozialismus" nicht absprechen. Danach wird uns nur noch übrigbleiben, an unseren allgemeinen Schlussfolgerungen Korrekturen vorzunehmen, die unvermeidlich sind in Anbetracht dieser oder jener Besonderheiten der gegenwärtigen Lage der Dinge in Russland – und damit wird unser Thema erschöpft sein; der politische Kampf der Arbeiterklasse gegen ihre der einen oder anderen historischen Formation angehörenden Feinde wird seinen Zusammenhang mit den allgemeinen Aufgaben des Sozialismus endgültig vor uns aufdecken.

I

Die sozialistische Propaganda hat einen ungeheuren Einfluss auf den gesamten Gang der geistigen Entwicklung in den zivilisierten Ländern ausgeübt. Es gibt fast keinen Zweig der Gesellschaftswissenschaft, den diese Propaganda nicht in dem einen oder anderen Sinn beeinflusst hat. Sie hat alte Vorurteile der Wissenschaft teils zerstört, teils aus naiven Irrtümern in Sophismen verwandelt. Begreiflich, dass sich der Einfluss der sozialistischen Propaganda noch stärker auf die Anhänger der neuen Lehre selbst auswirken musste. Alle Traditionen der früheren „politischen" Revolutionäre wurden einer schonungslosen Kritik unterworfen, alle Methoden der gesellschaftlichen Tätigkeit wurden vom Standpunkt des „neuen Evangeliums" aus analysiert. Aber da die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus erst mit dem Erscheinen des „Kapitals" abgeschlossen war, so ist leicht zu verstehen, dass die Resultate dieser Kritik bei weitem nicht immer zufriedenstellend waren. Und da andererseits im utopischen Sozialismus einige Schulen existierten, die fast gleich großen Einfluss besaßen, entwickelte sich allmählich eine Art Durchschnittssozialismus, bei dem die Leute blieben, ohne Anspruch auf die Gründung einer neuen Schule zu erheben und ohne zu den außerordentlich eifrigen Anhängern der ehemaligen Schulen zu gehören. „Dieser eklektische Sozialismus stellt", wie Fr. Engels sagt, „eine mannigfache Schattierungen zulassende Mischung aus den am meisten allgemein anerkannten und den am wenigsten tiefgehenden kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Idealvorstellungen der verschiedenen Sektenstifter dar, eine Mischung, die sich umso leichter bewerkstelligt, je eher ihre Bestandteile im Fluss der Debatten – wie die Kiesel im Bach – ihre scharfen Ecken und Kanten verlieren"B. Dieser Durchschnittssozialismus – bemerkt derselbe Autor – herrscht bis jetzt in den Köpfen der Mehrheit der sozialistischen Arbeiter in England und FrankreichC. Wir Russen konnten hinzufügen, dass genau solch eine Mischung Mitte der siebziger Jahre in den Köpfen unserer Sozialisten herrschte und den allgemeinen Hintergrund bildete, vor dem sich zwei extreme Richtungen abhoben: die sogenannten „Wperedowzen" und die „Bakunisten". Die ersten tendierten zur deutschen Sozialdemokratie, die zweiten bildeten die russische Version der anarchistischen Fraktion der Internationale. Obwohl ihre Meinungen in sehr vielem, fast in allem, auseinandergingen, stimmten beide Richtungen – so seltsam das auch klingen mag – in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der „Politik" überein Und man muss zugeben, dass die Anarchisten in dieser Hinsicht konsequenter waren als die russischen Sozialdemokraten dieser Zeit.

Vom anarchistischen Standpunkt ist die politische Frage der Prüfstein eines jeden Arbeiterprogramms. Die Anarchisten lehnen nicht nur jede Übereinkunft mit dem heutigen Staat ab, sondern schließen aus ihren Vorstellungen über die „zukünftige Gesellschaft" alles aus, was irgendwie an die Idee des Staates erinnert, „Autonomie der Person in einer autonomen Gemeinde" – so war und ist die Devise aller konsequenten Anhänger dieser Richtung. Es ist bekannt, dass ihr Stammvater, Proudhon, in seinem Organ „La voix du peuple” sich die nicht gerade bescheidene Aufgabe stellte, „für die Idee der Regierung" (die er mit der Idee des Staates verwechselte) „dasselbe zu tun, was Kant für die Idee des Religiösen getan hat"D, und dass er in seinem antistaatlichen Übereifer dahin gelangt war, selbst Aristoteles zum „Skeptiker in der Frage des Staates" zu erklärenE. Die Lösung der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war einfach und ergab sich, wenn man so will, völlig logisch aus den ökonomischen Lehren des französischen Kant. Proudhon konnte sich die wirtschaftliche Ordnung der Zukunft niemals anders vorstellen als in der Form der Warenproduktion, verbessert und vervollständigt durch eine neue, „gerechte" Form des Tausches auf der Grundlage der „konstituierten Werte". Bei aller „Gerechtigkeit" dieser neuen Form des Tausches schließt sie, das versteht sich von selbst, weder Kauf noch Verkauf noch Schuldverpflichtungen aus, welche Warenproduktion und -zirkulation begleiten. Alle diese Geschäfte setzen natürlich mannigfache Verträge voraus, durch die die wechselseitigen Beziehungen der austauschenden Seiten festgelegt werden. Aber in der heutigen Gesellschaft beruhen die „Verträge" auf allgemeinen Rechtsnormen, die für aIle Bürger verbindlich sind und über die der Staat wacht. In der „zukünftigen Gesellschaft" sollte sich die Sache etwas anders abspielen Die Revolution sollte, nach Proudhons Ansicht, die „Gesetze" aufheben und nur die „Verträge" beibehalten. „Unnötig sind Gesetze, über die mehrheitlich oder einstimmig abgestimmt worden ist", sagt er in seiner „Idée générale de la Révolution au XIX. siècle"1, „jeder Bürger, jede Kommune und Körperschaft wird ihre eigenen besonderen Gesetze aufstellen" (p. 259). Bei einer solchen Auffassung der Sache vereinfachte sich das politische Programm des Proletariats aufs Äußerste. Der Staat, der nur allgemeine, für alle Bürger verbindliche .Gesetze anerkennt, konnte auch nicht als Mittel zu Verwirklichung sozialistischer Ideale dienen. Wenn die Sozialisten ihn für ihre Ziele ausnutzen, so stärken sie nur das Übel, mit dessen Ausrottung die „soziale Liquidation" beginnen muss.

Der Staat muss „zerfallen" und so „jedem Bürger, jeder Kommune und Körperschaft" die volle Freiheit gewähren, „seine eigenen besonderen Gesetze" zu erlassen und die für sie unentbehrlichen „Verträge" abzuschließen. Wenn nun die Anarchisten in dem der „Liquidation" vorausgehenden Zeitraum ihre Zeit nicht verschwenden, so werden sie diese „Verträge" im Geiste des „Systems der ökonomischen Widersprüche" abschließen, und der Sieg der „Revolution" wird gesichert sein.

Die Aufgabe der russischen Anarchisten vereinfachte sich noch mehr. Die „Zerstörung des Staates" (die im anarchistischen Programm nach und nach den Platz des von Proudhon empfohlenen „Zerfalls" des Staates eingenommen hatte) sollte den Weg frei machen für die Entwicklung der „Ideale" des russischen Volkes. Aber da in diesen „Idealen" der Gemeindegrundbesitz und die Artelorganisation der Gewerbe einen sehr bedeutenden Platz einnehmen, nahm man an, dass die „autonomen" Russen demokratischer Herkunft ihre „Verträge" nicht mehr im Geist der Proudhonschen Gegenseitigkeit, sondern vielmehr im Geist des Agrarkommunismus abschließen würden. Als der „geborene Sozialist" wird das russische Volk nicht zögern einzusehen, dass der Gemeindebesitz an Land und Produktionsmitteln allein die ersehnte „Gleichheit" noch nicht garantiert, und wird gezwungen sein, die Organisation „autonomer Gemeinden" auf vollständig kommunistischen Grundlagen in Angriff zu nehmen.

Im Übrigen haben die russischen Anarchisten – zumindest die Anarchisten der sogenannten „Rebellen"-Spielart – wenig über die ökonomischen Auswirkungen der von ihnen gepredigten Volksrevolution nachgedacht. Sie sahen ihre Pflicht darin, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beseitigen, die ihrer Meinung nach die normale Entwicklung des Volkslebens störten; aber sie fragten sich nicht, welchen Weg diese Entwicklung, einmal von äußeren Hemmnissen befreit, einschlagen wird. Dass diese eigentümliche Abwandlung der berühmten Devise der Manchester-Schule „laisser faire, laisser passer" in eine revolutionäre Form jede Möglichkeit einer ernsthaften Einschätzung des heutigen Standes unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ausschloss und jedes Kriterium zur Bestimmung eben dieses Begriffs vom „normalen" Gang seiner Entwicklung beseitigte – dies ahnten ebenso wenig die „Rebellen" wie die „Volkstümler", die später auftraten. Überdies wäre eine solche Einschätzung ein völlig hoffnungsloses Unterfangen, solange die Lehren Proudhons der Ausgangspunkt der Überlegungen unserer Revolutionäre blieben. Den schwächsten Teil dieser Lehren, ihren logischen Sündenfall, bildet die Vorstellung von der Ware und vom Tauschwert, d.h. gerade die Voraussetzungen, auf deren Grundlage es erst möglich ist, richtige Schlüsse über die wechselseitigen Beziehungen der Produzenten in der wirtschaftlichen Organisation der Zukunft zu ziehen. Vom Standpunkt der Proudhonschen Theorien hat der Umstand, dass der gegenwärtige russische Gemeindegrundbesitz die Warenproduktion durchaus nicht ausschließt, keine besondere Bedeutung. Ein Proudhonist hat keine Ahnung von der „inneren, unvermeidlichen Dialektik", die die Warenproduktion auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung in die – kapitalistische Produktion verwandelt.F

Seinem russischen Vetter ist es daher auch nicht in den Sinn gekommen, sich zu fragen, ob die isolierten Anstrengungen „autonomer" Personen, Kommunen und Körperschaften für den Kampf gegen diese Tendenz der Warenproduktion ausreichen, die droht, eines schönen Tages einen gewissen Teil der „geborenen" Revolutionäre mit wohlerworbenen Kapitalien zu versehen und sie in Ausbeuter der übrigen Masse der Bevölkerung zu verwandeln. Ein Anarchist leugnet die konstruktive Rolle des Staates in der sozialistischen Revolution namentlich deshalb, weil er die Aufgaben und Bedingungen dieser Revolution nicht versteht.

Wir können hier weder in eine detaillierte Analyse des Anarchismus im Allgemeinen noch des „Bakunismus" im Besonderen eintreten.G Wir sollen nur die Aufmerksamkeit unserer Leser auf den Umstand lenken, lass sowohl Proudhon als auch die russischen Anarchisten von ihrem Standpunkt aus völlig im Recht waren, wenn sie die „politische Nichteinmischung" zu einem grundlegenden Dogma ihres praktischen Programms erhoben. Der soziale und politische Charakter des russischen Lebens rechtfertigte – so schien es – insbesondere die für alle Anarchisten verbindliche Ablehnung der „Politik". Vor dem Auftreten im Bereich der politischen Agitation muss der russische „Untertan" sich in einen Staatsbürger verwandeln, d. h. sich wenigstens gewisse politische Rechte erkämpfen, und vor allem selbstverständlich das Recht zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt. Eine solche Aufgabe läuft in der Praxis auf eine „politische Revolution" hinaus, und die Erfahrung Westeuropas hat allen Anarchisten deutlich „gezeigt", dass solche Revolutionen dem Volk keinerlei Nutzen gebracht haben, nicht bringen werden und nicht bringen können. Für die Überlegung, dass die politische Erziehung des Volkes durch seine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben des Landes unumgänglich sei, konnte schon deshalb kein Platz sein, weil die Anarchisten, wie wir sahen, eine solche Teilnahme nicht als Erziehung, sondern als Verführung der Volksmassen betrachten: sie erzeugt in ihnen „den Glauben an den Staat" und folglich auch eine Tendenz zur Staatlichkeit oder, wie der verstorbene M. A. Bakunin sagen würde, „verseucht es mit amtlich-gesellschaftlichem Gift und lenkt es auf jeden Fall, wenn auch nur für kurze Zeit, von der heute einzig nützlichen und rettenden Sache ab – dem Aufstand".H Zudem ist nach der Geschichtsphilosophie unserer „Rebellen" erwiesen, dass das russische Volk mit einer ganzen Reihe von großen und kleinen Bewegungen seine antistaatlichen Neigungen unter Beweis gestellt hat, und daher kann man es in politischer Hinsicht als reif genug ansehen. Darum weg mit jeglichem „Politisieren"! Helfen wir dem Volk in seinem antistaatlichen Kampf, vereinigen wir seine isolierten Anstrengungen zu einem einzigen revolutionären Strom – dann wird der schwerfällige Koloss des Staates zu Staub zerfliegen und durch seinen Fall eine neue Ära der sozialen Freiheit und der ökonomischen Gleichheit eröffnen!

In diesen wenigen Worten war das ganze Programm unseres „Rebellentums" ausgedrückt

Bei diesem flüchtigen Überblick über die Programme der verschiedenen Fraktionen der russischen Revolutionäre dürfen wir nicht außer acht lassen, dass die Ansichten, von deren Standpunkt aus „alle Verfassungen", wie der alte F. H. Jacobi sich ausdrückte, nur ein mehr oder weniger nachteiliges Geschäft mit dem Teufel darstellen – dass solche Ansichten, sagen wir, Eigentümlichkeiten nicht nur der Volkstümler und Anarchisten waren. Wenn dem Leser die Polemik zwischen Fr. Engels und P. TkatschowI bekannt ist, so wird er sich wahrscheinlich erinnern, dass der Redakteur des „Nabat" , der sich in der Frage des praktischen Kampfes von den Bakunisten unterschied, mit ihnen in den grundlegenden Ansichten über die soziale und politische Lage unseres Vaterlandes völlig übereinstimmte. Er betrachtete sie durch das gleiche Prisma der russischen Eigenständigkeit und der „angeborenen kommunistischen Neigungen des russischen Volkes"J. Als echter Blanquist lehnte er selbstverständlich die „Politik" nicht ab, aber er verstand sie ausschließlich in der Form einer Verschwörung mit dem Ziel der gewaltsamen Eroberung der Staatsmacht. Dieses Ziel nahm augenscheinlich den gesamten Gesichtskreis unserer damaligen Blanquisten ein und führte sie zu vielen Widersprüchen. Wenn sie konsequent blieben, so mussten sie einräumen, dass ihre Tätigkeit nur in dem Ausnahmefall für die Sache des Fortschritts von Nutzen sein konnte, wenn der von ihnen geführte Schlag nie um Haaresbreite sein Ziel verfehlte. Sollte die geplante Machtergreifung nicht gelingen, sollte die Verschwörung aufgedeckt werden oder die Revolutionsregierung von der liberalen Partei gestürzt werden, so würde das russische Volk nicht nur nichts gewinnen, sondern im Gegenteil Gefahr laufen, sehr viel zu verlieren. Besonders verhängnisvoll ist der letzte der angenommenen Fälle. Die Liberalen würden eine starke Regierung schaffen, die zu bekämpfen bei weitem schwieriger sein würde als der Kampf gegen die gegenwärtige „absolut sinnlose" und „sinnlos absolute" Monarchie; das „Feuer des ökonomischen Fortschritts" aber würde die ursprünglichen Grundlagen des Volkslebens vernichten. Unter seinem Einfluss wurde sich der Austausch entwickeln, würde sich der Kapitalismus festigen, würde das Gemeindeprinzip selbst vernichtet werden – mit einem Wort, der Fluss der Zeit würde gerade den Stein mit sich fortreißen, von dem es nur ein Katzensprung bis zum kommunistischen Himmel ist. Im Falle eines Misserfolgs müssten die russischen Blanquisten der Sache der Volksbefreiung einen fürchterlichen Schaden zufügen und gerieten dadurch in die tragische Situation Wilhelm Tells, der das Leben des eigenen Sohnes aufs Spiel setzte. Aber da sie sich kaum durch die Treffsicherheit des sagenhaften Schweizer „Aufrührers" auszeichneten, würde das russische Volk ihnen nicht zurufen:

"Schiess zu, ich fürcht mich nicht",

wenn es sich deren Auffassung über die „ursprünglichen Grundlagen" seines eigenen Lebens angeeignet hätte und aufgefordert würde, seine Meinung über deren Programm zu äußern.

Solch eine enge und hoffnungslose Philosophie der russischen Geschichte musste logischerweise zu dem verblüffenden Schluss führen, dass die wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands der zuverlässigste Verbündete der Revolution sei, und Stillstand sollte als erster und einziger Paragraph unser „Minimalprogramm" zieren. „Jeder Tag bringt uns neue Feinde, schafft neue, uns feindliche gesellschaftliche Faktoren", lesen wir in der ersten, der November-Nummer des „Nabat" aus dem Jahre 1875. „Das Feuer schleicht sich auch an die Formen unseres Staates heran. Noch sind sie tot, leblos. Der ökonomische Fortschritt wird sie zum Leben erwecken, wird ihnen neuen Geist einhauchen, wird ihnen Kraft und Stärke geben, die einstweilen noch nicht in ihnen sind" usw. Aber wenn es Josua nach biblischem Bericht gelungen war, die Sonne „für zehn Grad" anzuhalten, so ist die Zeit der Wunder vorbei, und es gibt keine Partei, die rufen könnte; „Haltet an, ihr Produktivkräfte, rühre dich nicht, Kapitalismus!" Die Geschichte lenkt ihre Aufmerksamkeit ebenso wenig auf Befürchtungen der Revolutionäre wie auf reaktionäre Jeremiaden. „Der ökonomische Fortschritt" geht seinen Gang und wartet nicht auf den Zeitpunkt, zu dem Anarchisten oder Blanquisten ihre Absichten verwirklichen werden. Jede Fabrik, die in Petersburg gegründet wird, jeder zusätzliche Landarbeiter, der von einem Kustar aus Jaroslawl in Dienst genommen wird, verstärkt die für die Revolution scheinbar verhängnisvolle „Flamme des Fortschritts" und verringert folglich die Wahrscheinlichkeit des Volkssieges. Kann man eine solche Auffassung der Wechselbeziehungen der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte in Russland als revolutionär bezeichnen? Wir glauben nicht. Um Revolutionäre dem Wesen nach zu werden und nicht bloß dem Namen nach, sollten die russischen Anarchisten, Volkstümler und Blanquisten vor allem ihre eigenen Köpfe revolutionieren, und dazu müssten sie lernen, den Gang der historischen Entwicklung zu begreifen und sich an ihre Spitze zu stellen, anstatt die alte Mutter Geschichte zu bitten, so lange auf der Stelle zu treten, bis sie neue, geradere und ebenere Wege für sie angelegt hätten.

Der Zirkel der „Wperedowzen" begriff die Unreife und Fehlerhaftigkeit der oben dargelegten Ansichten, und es gab eine Zeit, wo er den vorherrschenden geistigen Einfluss auf unser revolutionäres Milieu hätte bekommen können. Das war gerade die Zeit, als die praktische Erfahrung die Grundlagen der alten anarchistischen Volkstümlerrichtung erschüttert hatte und alle ihre Anhänger fühlten, dass ihr Programm einer sorgfältigen Revision bedürfe. Damals hätte eine konsequente Kritik aller ihrer theoretischen und praktischen Positionen die Entschiedenheit und Unabänderlichkeit des herannahenden Wendepunktes in der Bewegung noch steigern können. Eine solche Kritik in Angriff zu nehmen, waren gerade die „Wperedowzen" am geeignetsten, die fast vollständig auf dem Standpunkt der Sozialdemokratie standen und von allen Volkstümlertraditionen völlig frei waren. Aber um Erfolg zu haben, hätte ihre Kritik nicht verurteilen dürfen, sondern die lebensnotwendigen Erfordernisse des russischen Lebens erläutern und verallgemeinern müssen, die immer mehr unsere Revolutionäre auf den Weg des politischen Kampfes gestoßen hatten. Indessen, die „Wperedowzen" lehnten die „Politik" ebenso entschieden ab wie die Anarchisten. Zwar hielten sie den Sozialismus nicht für unvereinbar mit einem Eingreifen in das politische Leben des bürgerlichen Staates und verteidigten völlig das Programm der westeuropäischen Sozialdemokratie. Aber sie nahmen an, dass die Möglichkeit einer offenen Organisation der Arbeiterklasse in einer besonderen politischen Partei in einem modernen „Rechts"-Staat mit einem zu teuren Preis erkauft werde: mit dem endgültigen Sieg der Bourgeoisie und einer der Epoche des Kapitalismus entsprechenden Verschlechterung der Lage der Arbeiter. Sie vergaßen, dass man bei der Beurteilung dieser Lage nicht nur die Verteilung des Nationaleinkommens in Betracht ziehen muss, sondern auch die gesamte Organisation der Produktion und des Tausches, nicht nur die durchschnittliche Menge der von den Arbeitern konsumierten Produkte, sondern auch die Form selbst, die diese Produkte annehmenK, nicht nur den Grad der Ausbeutung, sondern auch – insbesondere – seine Form, nicht nur die Tatsache der Unterjochung der Arbeitermassen, sondern auch ebenso sehr die Ideen und Begriffe, die im Kopfe eines Arbeiters unter dem Einfluss dieser Tatsache entstehen und entstehen können.L Sie hätten kaum der Auffassung zugestimmt, dass der Fabrikarbeiter sich notwendigerweise für den Sozialismus aufnahmefähiger zeigt als der zu zeitweisen Leistungen verpflichtete Bauer; noch weniger hätten sie anerkannt, dass zum Beispiel der Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft die Möglichkeit einer bewussten Bewegung der Arbeitermassen im Namen ihrer ökonomischen Befreiung vergrößert. Der philosophisch-historische Teil der Lehre von Marx war für sie ein ungelesenes Kapitel ihres Lieblingsbuches geblieben; sie vertrauten zu sehr auf den allmächtigen Einfluss ihrer Propaganda, um für diese in den objektiven Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens nach Stützen zu suchen. Und ähnlich den Sozialisten der utopischen Periode reduzierten sie auf diese Propaganda die gesamte weitere Geschichte ihres Landes bis hin zur sozialen Umwälzung. Bei einer solchen Fragestellung konnten sie zusammen mit den Anarchisten, einen bekannten Satz Proudhons parodierend, sagen: la révolution est au dessus de la politique.2 Aber gerade deshalb waren sie nicht imstande, unsere .Bewegung von diesem toten Punkt wegzuführen, an den sie Ende der siebziger Jahre geraten war, einerseits infolge der Ablehnung jeglichen politischen Kampfes und andererseits aufgrund der Unmöglichkeit, unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen eine einigermaßen starke Arbeiterpartei aufzubauen.

Die Ehre, unserer Bewegung neuen Schwung verliehen zu haben, gebührt unstreitig der „Narodnaja Wolja". Allen sind die Angriffe noch im Gedächtnis, die die Tendenzen der Narodowolzen gegen sich hervorgerufen haben. Der Autor dieser Zeilen gehörte selbst zu den entschiedenen Gegnern dieser Richtung, und obwohl er heute völlig anerkennt, dass der Kampf für die politische Freiheit zur Tagesfrage des heutigen Russland geworden ist, so teilt er doch bis jetzt bei weitem nicht alle Ansichten, die in den Veröffentlichungen der „Narodnaja Wolja" geäußert wurden. Das hindert ihn allerdings nicht daran zuzugeben, dass in den Diskussionen, die in der Organisation „Semlja i Wolja" um die Zeit ihres Zerfalls vor sich gingen, die Narodowolzen völlig im Recht waren, solange sie auf dem Boden unserer praktischen Erfahrung blieben. Diese Erfahrung führte auch damals schon zu verblüffenden und völlig unerwarteten Konsequenzen, obgleich wir sie nicht zu ziehen wagten, gerade weil sie so unerwartet waren. Die Versuche des praktischen Kampfes „gegen den Staat" mussten im Wesentlichen auch damals schon zu dem Gedanken führen, dass der russische „Rebell" durch die unüberwindliche Kraft der Verhältnisse gezwungen sei, seine Agitation nicht gegen den Staat überhaupt, sondern nur gegen den absoluten Staat zu richten, nicht die Idee des Staates, sondern die des Bürokratismus zu bekämpfen, nicht im Namen der vollen ökonomischen Befreiung des Volkes, sondern im Namen der Beseitigung der Lasten, die der selbstherrliche Zarismus dem Volk aufbürdet. Natürlich lag die Agrarfrage allen oder fast allen Erscheinungen der Unzufriedenheit des Volkes zugrunde. Anders konnte es auch nicht sein im Lebenskreis einer Ackerbau treibenden Bevölkerung, wo die „Macht des Landes" sich entscheidend in dem ganzen Charakter und den Bedürfnissen des privaten und öffentlichen Lebens äußert. Diese Agrarfrage forderte beharrlich ihre Lösung, aber sie rief keine politische Unzufriedenheit hervor. Die Bauern erwarteten in ruhiger Zuversicht die Lösung dieser Frage von oben: sie „rebellierten" nicht für eine Neuaufteilung des Bodens, sondern gegen die Knebelung durch die Verwaltung, gegen die unmäßigen Lasten des Steuersystems, gegen die asiatische Art der Eintreibung von Rückständen usw. usw. Die Formel, die den Großteil der Fälle des aktiven Protestes verallgemeinerte, war der „Rechtsstaat", und nicht „Land und Freiheit", wie uns allen zu jener Zeit schien. Aber wenn das so war und wenn die Revolutionäre ihre Verpflichtung darin sahen, an dem unkoordinierten und unüberlegten Kampf der einzelnen Gemeinden gegen die absolute Monarchie teilzunehmen, wäre es da nicht Zeit für sie, den Sinn ihrer eigenen Anstrengungen zu begreifen und diese mit größerer Zielstrebigkeit zu steuern? Wäre es nicht Zeit für sie, alle progressiven, lebendigen Kräfte Russlands zu diesem Kampf aufzurufen, und, wenn der allgemeinste Ausdruck für ihn gefunden ist, den Absolutismus direkt im Zentrum seiner Organisation anzugreifen? Indem die „Narodowolzen" diese Fragen bejahten, zogen sie nur die Bilanz aus den revolutionären Erfahrungen der vergangenen Jahre; indem sie die Fahne des politischen Kampfes hissten, bewiesen sie nur, dass sie vor diesen Resultaten nicht zurückschreckten und bewusst fortfuhren, einen Weg zu gehen, den wir mit einer falschen Vorstellung von seiner Richtung betreten hatten. Der „Terrorismus" war völlig logisch aus unserm „Rebellentum" hervorgegangen.

Aber mit dem Erscheinen der „Narodnaja Wolja" ging die logische Entwicklung unserer revolutionären Bewegung schon in die Phase über, in der sie sich nicht mehr mit den volkstümlerischen Theorien der guten alten, d. h. von politischen Interessen freien Zeit begnügen konnte. Beispiele dafür, dass die Praxis über die Theorie hinauswächst, sind sehr häufig in der Geschichte des menschlichen Denkens im Allgemeinen und des revolutionären Denkens im Besonderen. Wenn Revolutionäre die eine oder andere Änderung an ihrer Taktik vornehmen und ihr Programm der einen oder anderen Umarbeitung unterziehen, ahnen sie häufig nicht, welcher ernsten Prüfung sie die bei ihnen allgemein anerkannten Lehren aussetzen. So sterben viele von ihnen im Kerker oder am Galgen, völlig überzeugt, im Geiste eben dieser Lehren gehandelt zu haben, während sie dem Wesen nach Vertreter neuer Tendenzen waren, die auf dem Boden der alten Theorien entstanden, ihnen aber schon entwachsen waren und nun im Begriff standen, einen neuen theoretischen Ausdruck zu finden. So war es auch bei uns, seit die Richtung der „Narodnaja Wolja" erstarkt war. Vom Standpunkt der alten Volkstümlertheorien hielt diese Richtung der Kritik nicht stand. Die Volkstümlerrichtung stand in scharf ablehnender Haltung zu jeder Idee des Staates; die Narodowolzen rechneten darauf, ihre Pläne sozialer Reformen mit Hilfe der Staatsmaschine zu verwirklichen. Die Volkstümlerrichtung sträubte sich gegen jegliche „Politik"; die Narodowolzen sahen in der „demokratischen politischen Umwälzung" das zuverlässigste „Mittel zur sozialen Reform". Die Volkstümlerrichtung gründete ihr Programm auf die sogenannten „Ideale" und die Bedürfnisse der bäuerlichen Bevölkerung; die Narodowolzen mussten sich hauptsächlich an die Stadt- und Industriebevölkerung wenden und folglich auch den Interessen dieser Bevölkerung einen ungleich breiteren Platz in ihrem Programm einräumen. Mit einem Wort, in Wirklichkeit war die „Narodowolzenrichtung" die vollständige, allseitige Negation der Volkstümlerrichtung, und solange die streitenden Seiten sich auf die grundlegenden Sätze der letzteren beriefen, hatten die „Neuerer" ganz und gar unrecht: ihre praktische Tätigkeit stand in unversöhnlichem Widerspruch zu ihren theoretischen Ansichten. Nötig war eine vollständige Revision dieser Ansichten, um dem Programm der „Narodnaja Wolja" den Charakter der Geschlossenheit und Folgerichtigkeit zu verleihen; die praktische revolutionäre Tätigkeit ihrer Anhänger musste auf jeden Fall eine theoretische Revolution in den Köpfen unserer Sozialisten nach sich ziehen. Wenn man den Winterpalast sprengte, so musste man gleichzeitig auch unsere alten anarchistischen und volkstümlerischen Traditionen sprengen . Aber der „Gang der Ideen" blieb auch hier hinter dem „Gang der Dinge" zurück, und es ist einstweilen noch schwierig vorauszusehen, wann er diesen schließlich einholen wird. Die neue Fraktion, die sich nicht entschließen konnte mit der Volkstümlerrichtung zu brechen, musste unvermeidlich zu Fiktionen Zuflucht nehmen, die wenigstens eine scheinbare Lösung der ihrem Programm eigentümlichen Widersprüche mit sich brachten.

Die Idee der russischen Eigenständigkeit erfuhr eine neue Überarbeitung, und hatte sie vorher zur vollständigen Ablehnung der Politik geführt, so stellte sich jetzt heraus, dass die Eigenständigkeit der russischen gesellschaftlichen Entwicklung gerade darin bestand, dass die ökonomischen Fragen bei uns durch ein Eingreifen des Staates gelöst wurden und gelöst werden mussten. Die bei uns in Russland überaus verbreitete Unkenntnis der ökonomischen Geschichte des Westens begünstigte es, dass „Theorien" ähnlicher Art niemanden in Erstaunen setzten. Die Periode der kapitalistischen Akkumulation in Russland wurde der Periode der kapitalistischen Produktion3 im Westen gegenübergestellt, und die unvermeidliche Verschiedenartigkeit dieser zwei Phasen der Entwicklung des ökonomischen Lebens wurde als der überzeugende Beweis erstens, für unsere Eigenständigkeit, und zweitens, für die durch diese Eigenständigkeit bedingte Zweckmäßigkeit des „Programms der Narodowolzen" angeführt.

Muss man hinzufügen, dass unsere revolutionären Schriftsteller, wie auch die Mehrzahl der russischen Schriftsteller überhaupt, den „Westen" vom Standpunkt des jüdischen Jungen aus der bekannten Erzählung von Weinberg betrachteten? Dem armen Schulknaben schien die ganze Welt unterteilt in zwei gleiche Teile: „Russland und das Ausland", wobei es beachtenswerte Unterscheidungsmerkmale für ihn nur zwischen diesen „Hälften" der Erdkugel gab – und das Ausland ihm als völlig einförmiges Ganzes erschien. Die russischen Schriftsteller, die die „Eigenständigkeit" propagierten, brachten in diese scharfsinnige geographische Klassifizierung nur eine einzige Neuerung: sie unterteilten „das Ausland" in den Osten und den Westen und schickten sich an, ohne lange zu überlegen, letzteren mit unserem „berühmten Reich" zu vergleichen, das dabei nahezu die Rolle eines „Reichs der Mitte" spielte. Die geschichtliche Entwicklung Italiens identifizierte man so mit der geschichtlichen Entwicklung Frankreichs, in der Wirtschaftspolitik Englands nahm man keinen Unterschied zur Wirtschaftspolitik Preußens wahr, die Tätigkeit Colberts warf man mit der Tätigkeit Richard Cobdens in einen Topf, die eigentümlich „patriotische" Physiognomie Friedrich Lists ging in der Menge der „westeuropäischen" Politökonomen unter, die, nach einem Rat Turgots, bemüht waren „zu vergessen, dass es auf der Welt durch Grenzen getrennte und unterschiedlich organisierte Staaten gibt". Wie alle Katzen bei Dunkelheit grau aussehen und eine vollständig der anderen gleicht, so büßten auch die gesellschaftlichen Beziehungen der verschiedenen Staaten des „Westens" im Widerschein unserer Eigenständigkeit alle Unterschiede ein. Klar war eines: die „Franken" waren schon längst „verbürgerlicht", während die „tapferen Russen" die Unschuld „der ersten Menschen" bewahrt hatten und als das auserwählte Volk einen eigenständigen Weg zu ihrer Rettung gingen. Um das gelobte Land zu erreichen, mussten sie nur unerschütterlich festhalten an diesem Weg der Eigenständigkeit und durften sich nur nicht darüber wundern, dass die Programme der russischen Sozialisten im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Leitsätzen des westeuropäischen Sozialismus und mitunter auch zu ihren eigenen Voraussetzungen standen!

Ein typisches Beispiel für die Fiktionen, die man sich in aller Eile zum Zwecke der Übereinstimmung des praktischen Programms der „Narodnaja Wolja" mit den Volkstümlertheorien ausgedacht hatte, war die bekannte Prophezeiung, dass in der zukünftigen konstituierenden Versammlung 90% der Abgeordneten Anhänger der sozialen Revolution sein werden, wenn es uns nur gelingen würde, das allgemeine Wahlrecht zu erhalten. Hier gelangte die Theorie unserer Eigenständigkeit bereits bis zu den Säulen des Herkules, hinter denen ihr der Untergang schon allein von Seiten des gesunden Menschenverstandes drohte. Die Volkstümler des „alten Glaubens", die standhaft an dem Dogma der „Eigenständigkeit" festhielten, räumten immerhin ein, dass diese Eigenständigkeit ihren letzten Schliff erst noch bekommen müsse. Die einen fanden, dass das russische Volk in einem noch zu keimhaften Zustand das Organ … – Verzeihung! – den Sinn für Tapferkeit und Unabhängigkeit besitze; die andern strebten danach, die eigenständige Gesinnung des russischen Volkes in Gestalt einer nicht weniger eigenständigen revolutionären Organisation zu realisieren. Aber alle erkannten gleichermaßen die Unumgänglichkeit der vorbereitenden Arbeit im Volk an. Die Narodowolzen gingen weiter. In den Leitartikeln der ersten Nummern ihrer Zeitschrift begannen sie den Gedanken zu entwickeln, dass eine solche Arbeit erstens erfolglos („sich abmühen im Volk wie ein Fisch auf dem Eis") und zweitens überflüssig sei, da 90% der Abgeordneten, die mit der sozialen Revolution sympathisierten, mehr als genug sei, um die Bestrebungen der russischen Volkstümler zu verwirklichen. Das Programm der „Narodnaja Wolja" konnte sich nicht anders einen volkstümlerischen Charakter geben als dadurch, dass es alle charakteristischen Eigenheiten der volkstümlerischen Weltanschauung ad absurdum führte.

Darin besteht der negative Verdienst der Fiktionen der „Narodnaja Wolja". Sie weckten das kritische Denken der russischen Revolutionäre, indem sie ihnen in übertriebener Form die „eigenständigen" Züge ihres Volkstümlerprogramms darstellten. Aber schwerlich kann man von einem positiven Verdienst dieser Fiktionen sprechen. Sie stärkten vorübergehend die Energie der Kämpfer, die eine theoretische Begründung ihrer praktischen Tätigkeit brauchten, hielten jedoch, weil nur oberflächlich zusammengenäht, nicht der geringsten Berührung mit ernsthafter Kritik stand und kompromittierten durch ihren Zusammenbruch den Kampf, der unter ihrem Banner geführt worden war. Obwohl die „Narodnaja Wolja" durch ihre praktische Tätigkeit allen Traditionen der orthodoxen Volkstümlerrichtung den Todesstoß versetzt und so viel für die Entwicklung der revolutionären Bewegung in Russland getan hat, kann sie für sich selbst doch keine Rechtfertigung finden – ja sie soll sie auch gar nicht suchen – es sei denn im modernen wissenschaftlichen Sozialismus. Um sich aber auf diesen neuen Standpunkt zu stellen, muss sie ihr Programm einer ernsten Revision unterziehen, da die theoretischen Fehlgriffe und Lücken dieses Programms ihm zwangsläufig eine bestimmte praktische Einseitigkeit verliehen.

Bevor wir sagen, in welchem Sinn diese Revision unternommen werden muss, wollen wir uns bemühen – in Übereinstimmung mit unserem Plan – die Haltung des wissenschaftlichen Sozialismus gegenüber den politischen Bewegungen der Arbeiterklasse zu erläutern.

II

Aber was ist der wissenschaftliche Sozialismus?

Darunter verstehen wir diejenige kommunistische Lehre, die sich zu Beginn der vierziger Jahre aus dem utopischen Sozialismus unter dem starken Einfluss einerseits der Hegelschen Philosophie und andererseits der klassischen Ökonomie herauszubilden begann; diese Lehre, die zum ersten Mal eine wirkliche Erklärung für den ganzen Entwicklungsgang der menschlichen Kultur gab, zerstörte erbarmungslos die Sophismen der Theoretiker der Bourgeoisie und trat „im Vollbesitz des Wissens ihrer Zeit" zur Verteidigung des Proletariats hervor. Diese Lehre bewies nicht nur mit voller Klarheit, dass die Argumente der Gegner des Sozialismus wissenschaftlich völlig unhaltbar sind, sondern gab, wenn sie auf Fehler hinwies, gleichzeitig eine historische Erklärung für diese, und so „knüpfte sie", wie einst Haym von der Philosophie Hegels sagte, „jede besiegte Meinung an ihren Triumphwagen". Wie Darwin die Biologie durch eine verblüffend einfache und zugleich streng wissenschaftliche Theorie der Entstehung der Arten bereicherte, so zeigten uns auch die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in der Entwicklung der Produktivkräfte und in dem Kampf dieser Kräfte gegen die veralteten „gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse", das großartige Prinzip der Veränderung der Formen der gesellschaftlichen Organisation. Es ist wohl kaum nötig zu sagen, wen wir für die Begründer dieses Sozialismus halten. Dieses Verdienst gehört unstreitig Karl Marx und Friedrich Engels, deren Lehre sich geradeso zur gegenwärtigen revolutionären Bewegung der zivilisierten Menschheit verhält, wie sich einst, wie einer von ihnen sagte, die fortschrittliche deutsche Philosophie zur Befreiungsbewegung in Deutschland verhielt: sie ist ihr Kopf, während das Proletariat ihr Herz ist.

Aber es versteht sich von selbst, dass die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht abgeschlossen ist; sie kann ebenso wenig bei den Arbeiten von Engels und Marx stehenbleiben, wie die Theorie der Entstehung der Arten mit dem Erscheinen der Hauptwerke des englischen Biologen als vollständig ausgearbeitet betrachtet werden konnte. Der Aufstellung der Grundsätze der neuen Lehre muss die detaillierte Ausarbeitung der sie betreffenden Fragen folgen, eine Ausarbeitung, welche die von den Autoren des „Kommunistischen Manifests" in der Wissenschaft vollbrachte Umwälzung ergänzt und vollendet.M Es gibt keinen Zweig der Soziologie, der nicht durch die Aneignung ihrer philosophischen und historischen Auffassungen ein neues und außergewöhnlich weites Blickfeld erhalten hätte. Der heilsame Einfluss dieser Auffassungen beginnt schon heute, sich auf dem Gebiet der Geschichte, des Rechts und der sogenannten primitiven Kultur bemerkbar zu machen. Aber diese philosophisch-historische Seite des modernen Sozialismus ist bei uns in Russland noch zu wenig bekannt, und deshalb halten wir es hier nicht für überflüssig, einige Schriften von Marx selbst zu zitieren, um den Leser mit ihr bekannt zu machen.

Wenn er auch seinen Stammbaum – unter anderem – „von Kant und Hegel" herleitet, so ist der wissenschaftliche Sozialismus nichtsdestoweniger der tödlichste und entschlossenste Gegner des Idealismus. Er vertreibt ihn aus seinem letzten Zufluchtsort – der Soziologie, in der ihn mit solcher Gastlichkeit die Positivisten aufgenommen hatten. Der wissenschaftliche Sozialismus erfordert eine „materialistische Auffassung der Geschichte", d. h. er erklärt die Geistesgeschichte der Menschheit durch die Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse (unter anderem unter dem Einfluss der sie umgebenden Natur).

Von diesem Standpunkt aus, wie auch vom Standpunkt Vicos, „entspricht der Gang der Ideen dem Gang der Dinge" und nicht umgekehrt. Die Hauptursache des einen oder anderen Charakters der gesellschaftlichen Verhältnisse, der einen oder andern Richtung ihrer Entwicklung ist der Stand der Produktivkräfte und die ihnen entsprechende ökonomische Struktur der Gesellschaft. „In ihrem gesellschaftlichen Leben", sagt MarxN, „gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.

Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt … Rechtsverhältnisse wie Staatsformen sind weder aus sich selbst zu begreifen noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern wurzeln vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ,bürgerliche Gesellschaft' zusammenfasst; die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft aber ist in ihrer Ökonomie zu suchen … Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtetet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind".

Jetzt ist verständlich, warum Marx und Engels sich mit solcher Verachtung und Spott über die „wahren Sozialisten" in Deutschland Ende der vierziger Jahre äußerten, die eine ablehnende Haltung zum Kampf der deutschen Bourgeoisie gegen den Absolutismus einnahmen und „der Volksmasse vorpredigten, wie sie bei dieser bürgerlichen Bewegung nichts zu gewinnen, vielmehr alles zu verlieren habe".

Die historische Lehre von Marx und Engels ist die wahre „Algebra der Revolution", wie einst Herzen die Philosophie Hegels nannte. Deshalb sympathisierten sie mit „jeder revolutionären Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände"; eben darum begegneten sie mit leidenschaftlichem Mitgefühl auch der russischen Bewegung, die Russland, nach ihren Worten, zur Vorhut der europäischen Revolution gemacht hatte“.

Aber ungeachtet ihrer ganzen Klarheit und Unzweideutigkeit gaben die Ansichten von Marx dennoch zu vielen Missverständnissen auf dem Gebiet der revolutionären Theorie und Praxis Anlass. So sagt man bei uns zum Beispiel häufig, die Theorien des wissenschaftlichen Sozialismus seien auf Russland unanwendbar, da sie auf dem Boden der westeuropäischen ökonomischen Verhältnisse erwachsen seien. Der Lehre von Marx wird der lächerliche Schluss unterschoben, Russland müsse genau die gleichen Phasen der historischen und ökonomischen Entwicklung durchlaufen wie der Westen. Unter dem Einfluss der Überzeugung, dass dieser Schluss unvermeidlich sei, ist schon mehr als ein Philosoph, der weder mit Marx noch mit der Geschichte Westeuropas vertraut war, gegen den Autor des „Kapitals" zu Felde gezogen, um ihm enge und schablonenhafte Ansichten vorzuwerfen. Aber selbstverständlich war das ein Kampf gegen Windmühlen. Unsere Don Quijoten verstanden nicht, dass Marx die Geschichte der westeuropäischen Verhältnisse lediglich als Basis für die Geschichte der kapitalistischen Produktion, die eben in diesem Teil der Welt entstanden und groß geworden war, benutzt hatte. Die allgemeinen philosophischen und historischen Auffassungen von Marx haben genau die gleiche Beziehung zum heutigen Westeuropa wie zu Griechenland und Rom, Indien und Ägypten. Sie umfassen die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit und könnten nur im Falle ihrer allgemeinen Unhaltbarkeit auf Russland unanwendbar sein. Es versteht sich von selbst, dass weder der Autor des „Kapitals" noch sein berühmter Freund und Mitarbeiter die ökonomischen Besonderheiten irgendeines Landes aus dem Blick verloren haben; in ihnen suchen sie vielmehr die Ursachen aller seiner sozialen, politischen und geistigen Bewegungen. Dass sie die Bedeutung unserer Agrargemeinde nicht ignorieren, ist schon aus der Tatsache ersichtlich, dass sie es noch im Januar 1882 nicht für möglich hielten, eine entschiedene Vorhersage über ihr zukünftiges Schicksal zu machen. Im Vorwort zu unserer Übersetzung des „Manifests der Kommunistischen Partei" (Genf, 1882) sagen sie sogar direkt, dass die russische Gemeinde unter bestimmten Umständen „unmittelbar in die höhere, kommunistische Form des Grundbesitzes übergehen" kann. Diese Umstände sind ihrer Meinung nach eng verbunden mit dem Verlauf der revolutionären Bewegung im Westen Europas und in Russland. „Wird die russische Revolution", sagen sie, „das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen" (Manif. Komm. Partei, VIII). Schwerlich wird es auch nur einem einzigen „Volkstümler" in den Sinn kommen zu leugnen, dass die Lösung der Frage der Dorfgemeinde einer derartigen Bedingung unterliegt. Kaum jemand kann behaupten, dass das Joch des heutigen Staates für die Entwicklung oder auch nur die Erhaltung der Agrargemeinde vorteilhaft sei. Ebenso wenig kann auch nur ein einziger Mensch, der die Bedeutung der internationalen Beziehungen im ökonomischen Leben der modernen zivilisierten Gesellschaften begreift, leugnen, dass die Entwicklung der russischen Gemeinde „zu einer höheren kommunistischen Form" mit dem Schicksal der Arbeiterbewegung im Westen eng verbunden ist. Es stellt sich also heraus, dass in der Ansicht von Marx über Russland nichts ist, was der völlig offensichtlichen Wirklichkeit widerspricht, und so verliert das absurde Vorurteil bezüglich seines extremen „Westlertums" jede Spur einer vernünftigen Grundlage.

Aber es gibt ein anderes Missverständnis, das die uns interessierende Frage nach der Bedeutung des politischen Kampfes für die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse unmittelbar berührt und das in einem fehlerhaften Verständnis der Auffassung von Marx über die Rolle des ökonomischen Faktors in der Entwicklung der menschlichen Kultur wurzelt. Diese Ansicht ist von vielen oft in dem Sinn ausgelegt worden, dass der Autor des „Kapitals" der politischen Struktur der Gesellschaft nur eine außerordentlich geringfügige Bedeutung beimisst und sie für eine keine Aufmerksamkeit verdienende zweitrangige Einzelheit hält, die nicht nur als Ziel, sondern auch als Mittel einer nutzbringenden Tätigkeit ungeeignet ist. Noch heute kann man bei uns nicht selten „Marxisten" begegnen, die gerade auf dieser Grundlage die politischen Aufgaben des Sozialismus ignorieren. Die ökonomischen Verhältnisse, sagen sie, liegen jeder gesellschaftliche Organisation zugrunde. Die Veränderung dieser Verhältnisse bildet die Ursache einer jeden politischen Umgestaltung. Um sich vom Joch des Kapitals zu befreien, muss die Arbeiterklasse nicht die Folge, sondern die Ursache, nicht die politische, sondern die ökonomische Organisation der Gesellschaft im Auge haben. Die politische Organisation wird die Arbeiter ihrem Ziel nicht näher bringen, da ihre politische Unterdrückung so lange fortdauern wird, bis ihre ökonomische Abhängigkeit von den besitzenden Klassen beseitigt ist. Die von den Arbeitern benutzten Mittel des Kampfes müssen in Übereinstimmung gebracht werden mit seinem Ziel. Die ökonomische Revolution kann nur durch einen Kampf auf ökonomischem Feld durchgeführt werden.

Bei einer gewissen Folgerichtigkeit müsste der so verstandene „Marxismus" unmittelbar die Auffassung der Sozialisten von den Zielen und Mitteln der sozialen Revolution ändern und sie zur Rückkehr zu der berühmten Formel Proudhons veranlassen: „Die politische Revolution ist das Ziel, die ökonomische Revolution ist das Mittel". Genauso müsste er – wenigstens in der Theorie – die revolutionären Sozialisten den Anhängern des „konservativen Sozialismus" beträchtlich annähern, der so entschieden der politischen Eigeninitiative der Arbeiterklasse Widerstand leistet. Der letzte ehrliche und intelligente Vertreter dieses Sozialismus, Rodbertus, einigte sich gerade deshalb nicht mit Lassalle, weil der berühmte Agitator sich bemühte, die deutschen Arbeiter auf den Weg der selbständigen politischen Tätigkeit zu bringen. Nicht Marx, sondern Rodbertus, nicht der revolutionäre. sondern der konservative, monarchistische Sozialismus leugnet die Bedeutung „politischer Beimischungen zu den ökonomischen Zielen" der Arbeiterklasse. Und die Konservativen verstehen ausgezeichnet, warum sie das tun; aber diejenigen, die die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse mit der Ablehnung der „Politik" aussöhnen wollen, diejenigen, die Marx die praktischen Tendenzen eines Proudhon oder gar eines Rodbertus unterstellen, zeigen anschaulich, dass sie den Autor des „Kapitals" nicht verstehen oder seine Lehre bewusst entstellen. Wir sprechen von bewusster Entstellung, weil das bekannte Buch des Moskauer Professors Iwanjukow nichts anderes ist als eben solch eine bewusste Entstellung aller Folgerungen, die sich aus den grundlegenden Sätzen des wissenschaftlichen Sozialismus ergeben. Dieses Buch zeigt, dass unsere russischen Polizei-Sozialisten nicht abgeneigt sind, für ihre reaktionären Ziele sogar die Theorie auszubeuten, unter deren Banner die revolutionärste Bewegung unserer Zeit vor sich geht. Schon diese Tatsache allein könnte eine ausführliche Klärung des politischen Programms des modernen Sozialismus dringend erforderlich machen.

Wir werden nun an diese Klärung herangehen, jedoch ohne uns in irgendeine Polemik mit den Herren Iwanjukow einzulassen, da es genügt, den wahren Sinn einer Theorie klarzustellen, um allein dadurch deren absichtliche Verdrehungen zu widerlegen. Zudem interessieren uns hier um vieles mehr die Revolutionäre, die bei aller Aufrichtigkeit ihrer Bemühungen noch zu sehr, wenn vielleicht auch unbewusst, von anarchistischen Lehren durchdrungen und daher bereit sind, in den Werken von Marx Gedanken zu sehen, die höchstens in der „Allgemeinen Idee der Revolution des XIX. Jahrhunderts" am Platz sind. Die Kritik der Folgerungen, die von ihnen aus den philosophischen und historischen Ansichten von Marx gezogen werden, wird uns logischerweise zur Frage der sogenannten Machtergreifung führen und uns zeigen, inwieweit diejenigen Recht haben, die in diesem Akt so etwas wie einen Verstoß gegen die Idee der menschlichen Freiheit zu erkennen glauben, und ebenso diejenigen, die umgekehrt darin Alpha und Omega der ganzen sozialrevolutionären Bewegung sehen.

Untersuchen wir zuerst, welche Bedeutung die Begriffe Ursache und Wirkung in der Anwendung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse haben.

Wenn wir mit der Hand oder mit dem Queue eine Billardkugel anstoßen, so kommt sie in Bewegung; wenn wir mit Stahl an Feuerstein schlagen, so wird ein Funke sichtbar. In jedem dieser Fälle ist es sehr leicht zu bestimmen, welche Erscheinung als Ursache fungiert und welche als Wirkung. Aber die Aufgabe ist nur so leicht zu lösen, weil sie äußerst einfach ist. Wenn wir anstelle zweier getrennt existierender Erscheinungen einen Prozess nehmen, in dem einige Erscheinungen oder sogar einige Ketten von Erscheinungen gleichzeitig festzustellen sind, so kompliziert sich die Sache beträchtlich. So ist zum Beispiel das Brennen einer Kerze ein verhältnismäßig komplizierter Prozess, als dessen Resultat Licht und Wärme auftritt. Es könnte daher scheinen, dass wir ohne jede Gefahr, Fehler zu begehen, die durch die Flamme freigesetzte Wärme als Wirkung dieses chemischen Prozesses bezeichnen können. So ist es auch bis zu einem gewissen Grade. Aber wenn wir es durch irgendein Mittel zu Wege brächten, der Flamme die von ihr freigesetzte Wärme zu entziehen, so würde sofort das Brennen aufhören, da der uns interessierende Prozess bei gewöhnlicher Temperatur nicht vonstatten gehen kann. Daher würde sich herausstellen, dass bis zu einem bestimmten Grad auch derjenige Recht hat, der sagt, dass die Wärme eine Ursache des Brennens ist.

Um von der Wahrheit weder nach der einen noch nach der anderen Seite abzuweichen, müssten wir sagen, dass die Wärme, die sich in dem einen Moment als Wirkung des Brennens erwiesen hat, im darauffolgenden Moment zu seiner Ursache wird. Folglich müssen wir über den Prozess des Brennens während einiger Augenblicke sagen, dass die Wärme sowohl seine Wirkung als auch seine Ursache ist, oder mit anderen Worten, weder Wirkung noch Ursache, sondern einfach eine der Erscheinungen, die von diesem Prozess hervorgerufen werden und ihrerseits eine für ihn notwendige Bedingung darstellen. Nehmen wir ein anderes Beispiel. Jedem, „auch wenn er nicht am Seminar studiert hat", ist bekannt, dass die sogenannten vegetativen Prozesse des menschlichen Organismus einen ungeheuren Einfluss auf die psychischen Erscheinungen ausüben. Diese oder jene Gemütsverfassung erweist sich als Wirkung dieses oder jenes physischen Zustands des Organismus. Aber existiert einmal eine bestimmte Gemütsverfassung, so erfahren häufig dieselben vegetativen Prozesse deren Einfluss an sich selbst, und auf diese Art wird sie zur Ursache für bestimmte Veränderungen im physischen Zustand des Organismus. Um auch hier weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin fehlzugehen, müssen wir sagen, dass die psychischen Erscheinungen und das vegetative Leben des Organismus zwei Reihen koexistenter Prozesse darstellen, wobei jede dieser Reihen den Einfluss der anderen erfährt. Und würde irgendein Arzt die psychischen Einflüsse ignorieren, mit der Begründung, dass die seelische Verfassung des Menschen die Wirkung des physischen Zustandes seines Organismus sei, so würden wir sagen, dass die Schullogik ihn jeder Fähigkeit zu einer vernünftigen medizinischen Praxis beraubt hat.

Das gesellschaftliche Leben zeichnet sich durch eine noch größere Kompliziertheit als das Leben des individuellen Organismus aus.

Daher macht sich die Relativität der Begriffe Ursache und Wirkung hier noch stärker bemerkbar. Nach der Lehre der klassischen Ökonomie wird die Höhe des Arbeitslohns im Durchschnitt durch das Niveau der notwendigen Bedürfnisse des Arbeiters bestimmt. Also ist eine bestimmte Höhe des Arbeitslohns die Wirkung eines gegebenen Stands der Bedürfnisse des Arbeiters. Aber diese Bedürfnisse ihrerseits können nur im Falle einer Erhöhung des Arbeitslohns steigen, weil es sonst keinen ausreichenden Grund für die Änderung ihres Niveaus gäbe. Folglich ist eine gegebene Höhe des Arbeitslohns Ursache für einen bestimmten Stand der Bedürfnisse des Arbeiters. Aus diesem logischen Zirkel kann man sich nicht mit Hilfe der Schulkategorien Ursache und Wirkung befreien. Und in ihn werden wir bei jedem Schritt unserer soziologischen Erörterungen hineingeraten, wenn wir vergessen, dass „Ursache und Wirkung Vorstellungen sind, die nur in der Anwendung auf den einzelnen Fall als solche Gültigkeit haben, dass sie aber, sowie wir den einzelnen Fall in seinem allgemeinen Zusammenhang mit dem Weltganzen betrachten, Zusammengehen, sich auflösen in der Anschauung der universellen Wechselwirkung, wo Ursachen und Wirkungen fortwährend ihre Stelle wechseln, das was jetzt oder hier Wirkung, dort oder dann Ursache wird und umgekehrt" (Fr. Engels)O.

Nach dieser Vorbemerkung wollen wir uns bemühen, nun zu bestimmen, in welchem Sinn der Kausalzusammenhang zwischen den ökonomischen Verhältnissen und der politischen Struktur einer gegebenen Gesellschaft zu verstehen ist.

Was lehrt uns in dieser Frage die Geschichte? Sie zeigt uns, dass immer und überall, wo der Prozess der ökonomischen Entwicklung die Teilung der Gesellschaft in Klassen hervorbrachte, der Widerspruch der Interessen dieser Klassen sie unvermeidlich zum Kampf um die politische Herrschaft führte. Dieser Kampf entstand nicht nur zwischen verschiedenen Schichten der herrschenden Klassen, sondern ebenso zwischen diesen Klassen einerseits und dem Volk andererseits, wenn nur letzteres sich in einer Lage befand, die seiner geistigen Entwicklung auch nur ein wenig vorteilhaft war. In den Staaten des alten Orients sehen wir den Kampf zwischen Kriegern und Priestern; die ganze Dramatik der antiken Welt besteht in dem Kampf der Aristokratie und des Demos, von Patriziern und Plebejern; das Mittelalter bringt die Bürger hervor, die danach streben, in den Grenzen ihrer Gemeinden die politische Macht zu erobern; schließlich führt die heutige Arbeiterklasse einen politischen Kampf mit der Bourgeoisie, die im modernen Staat die volle Herrschaft errungen hat. Immer und überall war die politische Macht der Hebel, mit dessen Hilfe eine Klasse, nachdem sie die Herrschaft erlangt hatte, die gesellschaftliche Umwälzung durchführte, die für ihren Wohlstand und ihre weitere Entwicklung unentbehrlich war. Um nicht zu weit abzukommen, wollen wir uns an die Geschichte des „dritten Standes" erinnern, jener Klasse, die mit Stolz auf ihre Vergangenheit blicken kann, die voll den glänzenden Errungenschaften auf allen Gebieten des Lebens und des Denkens ist. Kaum jemandem kann es in den Sinn kommen, der Bourgeoisie Mangel an Feingefühl und Sachkenntnis vorzuwerfen, ihre Ziele mit den geeignetsten Mitteln zu erreichen. Ebenso wird niemand leugnen, dass ihre Bestrebungen einen ganz bestimmten ökonomischen Charakter hatten. Das hat sie jedoch nicht gehindert, den Weg des politischen Kampfes und politischer Eroberungen einzuschlagen. Bald mit der Waffe in der Hand, bald durch Friedensverträge, bald im Namen der republikanischen Unabhängigkeit ihrer Städte, bald im Namen der Stärkung der königlichen Macht führte die heranwachsende Bourgeoisie im Laufe ganzer Jahrhunderte einen ununterbrochenen, zähen Kampf mit dem Feudalismus, und schon lange vor der Französischen Revolution konnte sie ihre Feinde mit Stolz auf ihre Erfolge verweisen. „Verschieden waren die Chancen und wechselhaft .der Erfolg in dem großen Kampf der Bürger gegen die Feudalherrn", sagt der HistorikerP, „und nicht nur die Summe der mit Gewalt oder durch friedliche Übereinkunft erhaltenen Freiheiten war nicht überall gleich, sondern sogar bei ein und denselben politischen Formen genossen die Städte häufig in unterschiedlichem Grade Freiheit und Unabhängigkeit." Nichtsdestoweniger war der Sinn der Bewegung überall ein und derselbe, nämlich der Beginn der sozialen Emanzipation des dritten Standes und des Niedergangs der Aristokratie, der weltlichen und der geistlichenQ.

Im Allgemeinen hat diese Bewegung den Bürgern „die Unabhängigkeit der städtischen Verwaltung, das Recht der Wahl aller lokalen Behörden, die genaue Festlegung der Pflichten" gebracht, sie garantierte die Rechte der Person im Innern der städtischen GemeindenR, gab der Bourgeoisie eine höhere Stellung in den Ständestaaten des „alten Regimes" und führte sie in einer Reihe ständiger Eroberungen schließlich zur vollen Herrschaft in der heutigen Gesellschaft.

Indem die Bourgeoisie sich ganz klar umrissene, wenn auch mit der Zeit sich ändernde soziale und ökonomische Ziele setzte und die Mittel für ihren weiteren Kampf aus den schon gewonnenen Vorteilen ihrer materiellen Lage gewann, ließ sie sich keine einzige Gelegenheit entgehen, den von ihr schon erreichten Stufen des ökonomischen Fortschritts rechtlichen Ausdruck zu geben, und nutzte umgekehrt mit eben solcher Meisterschaft jede ihrer politischen Erwerbungen zu neuen Eroberungen auf dem Gebiet des ökonomischen Lebens. Noch in der Mitte der vierziger Jahre dieses Jahrhunderts bemühte sich die englische „Liga gegen die Korngesetze" nach dem durchdachten Plan Richard Cobdens um eine Stärkung ihres politischen Einflusses in den „Grafschaften" zwecks Aufhebung des ihnen verhassten „Monopols", das offensichtlich ausschließlich ökonomischen Charakter hatte" .

Die Geschichte ist der größte Dialektiker, und wenn im Laufe ihrer Bewegung Vernunft, wie Mephistopheles sagt, Unsinn wird und Wohltat zur Quelle von Qualen, so wird im historischen Prozess nicht weniger häufig die Wirkung zur Ursache, und die Ursache stellt sich als Wirkung heraus. Den ökonomischen Verhältnissen der Gesellschaft ihrer Zeit entsprungen, diente und dient die politische Stärke der Bourgeoisie ihrerseits als unentbehrlicher Faktor der weiteren Entwicklung dieser Verhältnisse.

Heute, da sich die Bourgeoisie dem Ende ihrer historischen Rolle nähert und das Proletariat zum alleinigen Vertreter der progressiven Bestrebungen in der Gesellschaft wird, können wir eine Erscheinung beobachten, die der oben dargestellten analog ist, wenn sie sich auch unter veränderten Bedingungen vollzieht. In allen fortgeschrittenen Staaten der zivilisierten Welt, in Europa ebenso wie in Amerika, betritt die Arbeiterklasse das Feld des politischen Kampfes, und je mehr sie sich ihrer ökonomischen Aufgaben bewusst wird, umso entschlossener organisiert sie sich in einer besonderen politischen Partei. „Da die gegenwärtig existierenden politischen Parteien immer nur im Interesse der Besitzenden zur Sicherung ihrer ökonomischen Privilegien handelten", lesen wir im Programm der nordamerikanischen sozialistischen Arbeiterpartei, „ist die Arbeiterklasse verpflichtet, sich in einer großen Arbeiterpartei zu organisieren, um die politische Macht im Staate zu erlangen und mit deren Hilfe die ökonomische Unabhängigkeit zu erkämpfen, da die Befreiung der Arbeiterklasse nur durch die Arbeiter selbst vollbracht werden kann"S. In demselben Geist und in völliger Übereinstimmung mit dem Programm der deutschen Sozialdemokratie äußert sich die französische Arbeiterpartei, die anerkennt, dass das Proletariat die ökonomische Revolution anstreben muss „mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, das dadurch aus einem Werkzeug des Betrugs, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung verwandelt wird". Die spanische Arbeiterpartei strebt ebenfalls „die Eroberung der politischen Macht" an, um die Hindernisse zu beseitigen, die auf dem Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse liegen.T

In England, wo sich seit dem Ende der Chartistenbewegung der Kampf des Proletariats ausschließlich auf den ökonomischen Bereich konzentrierte, beginnen die politischen Bestrebungen der Arbeiter in letzter Zeit von neuem aufzuleben. Noch vor einigen Jahren konstatierte der deutsche Ökonom Lujo Brentano mit Siegesfreude in seinem Buch „Das Arbeitsverhältnis etc." das völlige Verschwinden „sozialdemokratischer" Tendenzen in England und philosophierte tiefsinnig mit wahrhaft bürgerlicher Selbstzufriedenheit über dieses Thema, dass „gegenwärtig England wieder eine Nation bilde", dass „die heutigen englischen Arbeiter wieder einen Teil der großen liberalen Partei darstellen" und nicht nach der Eroberung der Staatsmacht streben, um mit ihrer Hilfe „die Gesellschaft nach ihren Interessen umzugestalten" (S. 110). Das unlängst publizierte Manifest der englischen „Demokratischen Föderation" zeigt, dass die Freude des bürgerlichen Ökonomen etwas verfrüht war. Die Demokratische Föderation ist bestrebt, auf die politische Trennung der Ausgebeuteten von den Ausbeutern hinzuwirken, und fördert die erste dieser „Nationen" gerade zur Eroberung der Staatsmacht auf mit dem Ziel der Umgestaltung der Gesellschaft nach den Interessen der Arbeiter. „Die Zeit ist gekommen", sagt das genannte Manifest, „da die Volksmassen unausweichlich die Leitung der sie betreffenden Angelegenheiten in ihre eigenen Hände nehmen müssen; politische und soziale Stärke ist gegenwärtig ein Monopol der Leute, die von der Arbeit ihrer Mitbürger leben. Die Grundbesitzer und Kapitalisten, die das Oberhaus kontrollieren und das Unterhaus füllen, trachten nur nach Wahrung ihrer eigenen Interessen. Nehmt euer Schicksal in eure eigenen Hände, beseitigt diese reichen Parasiten beider Gruppen und verlasst euch nur auf euch selbst!" Das Manifest fordert „das volle Stimmrecht für alle erwachsenen Männer und Frauen" des Vereinigten Königreichs und andere politische Reformen, deren Verwirklichung „nur zeigen würde, dass die Männer und Frauen dieses Landes Herren im eignen Hause geworden sind". Ferner wird – als nächste Forderungen der englischen Demokratischen Föderation – eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgezählt, die unentbehrlich sind für die Entwicklung „einer gesunden, unabhängigen und wirklich gebildeten Generation, die bereit ist, die Arbeit eines jeden zum Nutzen aller zu organisieren und schließlich die gesamte soziale und politische Maschinerie des Staates zu erobern, in dem dann Klassenunterschiede und Privilegien zu existieren aufhören werden".

So beschreitet auch das englische Proletariat aufs neue den Weg, den die Arbeiter anderer zivilisierter Staaten schon längst betreten haben.

Aber wie die Bourgeoisie nicht nur auf dem Boden der schon bestehenden politischen Verhältnisse mit der Aristokratie rang, sondern ebenso danach strebte, diese Verhältnisse nach ihren Interessen umzugestalten, beschränkt das Proletariat sein politisches Programm nicht auf die Eroberung der gegenwärtigen Staatsmaschine. In ihm verbreitet sich immer mehr die Überzeugung, dass „jede die Beziehungen der Staatsbürger zu einander, ihre Arbeits- und Eigentumsverhältnisse regelnde Ordnung der Dinge einer besonderen Regierungsform entspricht, welche für sie zu gleicher Zeit Durchführungs- und Erhaltungsmittel ist"U. Während das (monarchische oder republikanische) Vertretersystem das ureigenste Werk der Bourgeoisie war, fordert das Proletariat die direkte Volksgesetzgebung als die einzige politische Form, in der es seine sozialen Bestrebungen verwirklichen kann. Diese Forderung der Arbeiterklasse nimmt einen der ersten Plätze im Programm der Sozialdemokratie aller Länder ein und steht in engster Verbindung mit allen übrigen Punkten ihres Programms.V Proudhon zum Trotz fährt das Proletariat fort, „die politische Revolution" als das machtvollste Mittel zur Durchführung der ökonomischen Umwälzung zu betrachten.

Schon allein dieses Zeugnis der Geschichte müsste uns für den Gedanken empfänglich machen, dass nicht eine fehlerhafte Theorie, sondern der sichere praktische Instinkt den politischen Tendenzen der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen zugrunde liegt. Wenn, ungeachtet völliger Verschiedenartigkeit in den anderen Beziehungen, alle Klassen, die einen bewussten Kampf mit ihren Gegnern führen, in einem bestimmten Stadium ihrer Entwicklung danach zu trachten beginnen, sich politischen Einfluss und später auch die Herrschaft zu sichern, so ist klar, dass die politische Struktur der Gesellschaft bei weitem keine für deren Entwicklung gleichgültige Bedingung ist.

Und wenn wir außerdem sehen, dass keine einzige Klasse, die die politische Herrschaft errungen hat, Gründe hat, ihr Interesse für die „Politik" zu bereuen; wenn im Gegenteil jede von ihnen den höchsten, den Kulminationspunkt ihrer Entwicklung erst erreichte, nachdem sie die politische Herrschaft erlangt hatte, so müssen wir zugeben, dass der politische Kampf ein Mittel der sozialen Umgestaltung ist, dessen Tauglichkeit durch die Geschichte bewiesen ist. Jede Lehre, die dieser historischen Induktion widerspricht, verliert einen beträchtlichen Teil ihrer Überzeugungskraft, und würde wirklich der moderne Sozialismus die politischen Bestrebungen der Arbeiterklasse als unzweckmäßig verurteilen, so könnte man ihn schon allein darum nicht als wissenschaftlich bezeichnen.

überprüfen wir nun unsere Induktion auf deduktivem Wege, indem wir die philosophisch-historischen Ansichten von Marx als Voraussetzungen für unsere Schlussfolgerungen nehmen.

Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, in der eine bestimmte Klasse im vollen Besitz der Herrschaft ist. Sie hat diese Herrschaft dank der Vorteile ihrer ökonomischen Stellung erlangt, die, übereinstimmend mit unseren Voraussetzungen, den Weg zu allen anderen Erfolgen des gesellschaftlichen Lebens öffnen. Als herrschende Klasse gestaltet sie selbstverständlich die gesellschaftliche Organisation zu den vorteilhaftesten Bedingungen für ihre Existenz um und beseitigt sorgfältig alles aus ihr, was irgendwie ihren Einfluss schwächen kann. „Die Herrschenden jeder Periode, die Mächtigen", sagt Schäffle richtig, „sind eben auch die Bildner von Recht und Sitte.

Sie machen von dem allen innewohnenden Triebe der Selbsterhaltung Gebrauch, wenn sie die Folgen ihres Sieges ausnützen, sich herrschend an die Spitze stellen und die Herrschaft als Mittel bevorzugter Stellung und ausbeutender Unterwerfung der Unfreien so lange als möglich erblich zu behaupten suchen … Fast keinem anderen Teil des positiven Rechts bringen daher die herrschenden Stände jeder Zeit so viel Verehrung entgegen und vindizieren sie so sehr den Charakter von ,ewigen' Institutionen oder gar ,heiligen' Grundlagen der Gesellschaft, als jenem, welcher Standesrechte und Klassenherrschaft befestigt hat und beschützt".W Und solange die herrschende Klasse Träger der fortschrittlichsten gesellschaftlichen Ideale ist, wird die von ihr geschaffene Ordnung alle Erfordernisse der sozialen Entwicklung befriedigen. Aber sobald die ökonomische Geschichte einer bestimmten Gesellschaft neue Elemente einer Vorwärtsbewegung hervorbringt, sobald ihre „Produktivkräfte, in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen geraten oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bis dahin bewegt hatten", wird die fortschrittliche Rolle der gegebenen herrschenden Klasse zu Ende sein.

Aus einem Vertreter des Fortschritts wird sie sich in seinen Todfeind verwandeln und selbstverständlich die Staatsmaschine zu ihrer Selbstverteidigung ausnutzen. Die politische Macht wird sich in ihren Händen in das mächtigste Werkzeug der Reaktion verwandeln. Um der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft den Weg frei zu machen, ist es notwendig, die diese Entwicklung hemmenden Eigentumsverhältnisse zu beseitigen, d. h., wie Marx sagt, die soziale Revolution durchzuführen. Aber das ist so lange unmöglich, wie die gesetzgebende Gewalt sich in den Händen der Vertreter der alten Ordnung befindet, mit anderen Worten, solange sie die Interessen der herrschenden Klasse schützt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Neuerer, d. h. die Vertreter der unterdrückten Klasse oder Klassen, danach streben werden, diese schreckliche Waffe ihren Gegnern aus den Händen zu schlagen und gegen sie zu richten. Eben diese Logik der Dinge wird sie auf den Weg des politischen Kampfes und der Eroberung der Staatsmacht bringen, obgleich sie sich das Ziel der ökonomischen Umwälzung setzen. Lassalle sprach eine tiefe Wahrheit aus, als er im Vorwort zu seinem „System der erworbenen Rechte" bemerkte, „wo sich das Juristische als das Privatrechtliche völlig von dem Politischen abzulösen scheint, da ist es noch viel politischer als das Politische selbst, denn da ist es das soziale Element"X.

Im praktischen Leben geht die Sache natürlich bei weitem nicht so schnell vor sich, wie man das, a priori urteilend, vermuten könnte. Die unterjochte Klasse macht sich nur allmählich den Zusammenhang zwischen ihrer ökonomischen Lage und ihrer politischen Rolle im Staate klar. Lange Zeit begreift sie nicht einmal ihre ökonomische Aufgabe in ihrer ganzen Fülle. Die Individuen, aus denen sie besteht, führen einen harten Kampf um ihre tägliche Existenz und denken nicht einmal darüber nach, welchen Seiten der gesellschaftlichen Organisation sie ihre Notlage schulden. Sie bemühen sich, den Schlägen, die ihnen versetzt werden, auszuweichen, und fragen nicht, woher und durch wen ihnen diese Schläge in letzter Instanz versetzt werden. Sie haben noch kein Klassenbewusstsein, in ihrem Kampf gegen die einzelnen Unterdrücker ist keine richtungsweisende Idee. Die unterdrückte Klasse existiert noch nicht für sich; in der Zukunft wird sie die führende Klasse der Gesellschaft sein, aber sie ist noch nicht dabei, es zu werden. Der bewusst organisierten Kraft der herrschenden Klasse stehen nur unkoordinierte, vereinzelte Bemühungen einzelner Personen oder einzelner Personengruppen gegenüber. So ist es zum Beispiel auch heute noch keine Seltenheit, einen Arbeiter zu treffen, der einen besonders energischen Ausbeuter hasst, aber noch nicht ahnt, dass die gesamte Klasse der Ausbeuter bekämpft und selbst die Möglichkeit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden muss.

Nach und nach tut indes der Prozess der Verallgemeinerung das Seine, und die Unterdrückten beginnen, sich als Klasse zu verstehen. Aber sie verstehen die Besonderheiten ihrer Klassenlage noch zu einseitig: die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Mechanismus in seiner Gesamtheit bleiben noch vor ihrem geistigen Auge verborgen. Die Klasse der Ausbeuter stellt sich ihnen als die einfache Gesamtheit der einzelnen Unternehmer dar, unverbunden durch die Fäden der politischen Organisation. Auf dieser Stufe der Entwicklung ist in den Vorstellungen der Unterdrückten, wie auch im Kopfe des Professors Lorenz von Stein, der Zusammenhang zwischen „Gesellschaft" und „Staat" noch nicht klar. Man nimmt an, die Staatsgewalt stünde höher als der Antagonismus der Klassen, ihre Vertreter scheinen die natürlichen Richter und Aussöhner der sich befehdenden Seiten zu sein.

Die unterdrückte Klasse wendet sich in vollem Vertrauen an sie und gerät in große Verwunderung, wenn die von ihrer Seite an sie gerichteten Bitten um Hilfe ohne Antwort bleiben. Ohne auf spezielle Beispiele einzugehen, wollen wir doch bemerken, dass eine ähnliche Verwirrung der Begriffe bis vor kurzem bei den englischen Arbeitern zutage trat, die einen äußerst energischen Kampf auf ökonomischem Gebiet führten und es zur selben Zeit für möglich hielten, zu der einen oder anderen bürgerlichen politischen Partei zu gehören.

Erst auf der folgenden letzten Stufe der Entwicklung macht sich die unterdrückte Klasse allseitig ihre Lage klar. Jetzt versteht sie, welcher Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Staat besteht, und appelliert auf die Schikanen ihrer Ausbeuter hin nicht an den, der das politische Organ eben dieser Ausbeutung ist. Sie weiß, dass der Staat eine Festung ist, die ihren Unterdrückern zur Stütze und Verteidigung dient, eine Festung, die man einnehmen kann und muss, die man nach den Interessen der eigenen Verteidigung umgestalten kann und muss, die man aber nicht im Vertrauen auf ihre Neutralität umgehen kann. Indem die Unterdrückten sich nur auf sich selbst verlassen, beginnen sie zu begreifen, dass die politische Selbsthilfe", wie Lange sagt, „die wichtigste aller Arten der sozialen Selbsthilfe ist". Sie streben dann nach der politischen Herrschaft, um sich mittels der Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse und der Anpassung des gesellschaftlichen Systems an die Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung und ihres eigenen Wohlstandes zu helfen. Natürlich erlangen sie die Herrschaft auch nicht auf einmal; nur schrittweise werden sie eine furchteinflößende Kraft, die in den Köpfen ihrer Gegner jeden Gedanken an Widerstand ausschließt. Lange Zeit suchen sie nur Zugeständnisse zu erreichen, fordern sie nur solche Reformen, die ihnen nicht die Herrschaft geben werden, sondern nur die Möglichkeit zu erstarken und reif zu werden für die zukünftige Herrschaft; Reformen, die ihre lebensnotwendigsten, allernächsten Bedürfnisse befriedigen und, wenn auch nur ein wenig, die Sphäre ihres Einflusses auf das gesellschaftliche Leben des Landes verbreitern. Nur durch eine harte Schule des Kampfes um einzelne Stückchen feindlichen Territoriums erwirbt die unterdrückte Klasse die Hartnäckigkeit, Entschlossenheit und Reife, die für die Entscheidungsschlacht unentbehrlich sind. Hat sie aber einmal diese Fähigkeiten erworben, so kann sie ihre Gegner als eine endgültig von der Geschichte verurteilte Klasse betrachten; sie kann an ihrem Sieg nicht mehr zweifeln. Die sogenannte Revolution ist nur der letzte Akt in dem langen Drama des revolutionären Klassenkampfes, der nur in dem Maße bewusst wird, wie er zum politischen Kampf wird.Y

Es fragt sich nun, ob die Sozialisten zweckmäßig vorgehen würden, wenn sie die Arbeiter von der „Politik" fernhalten würden mit der Begründung, die politische Struktur der Gesellschaft sei durch ihre ökonomischen Verhältnisse bedingt. Natürlich nicht. Sie würden den Arbeitern einen Stützpunkt für ihren Kampf rauben, würden ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre Anstrengungen zu konzentrieren und ihre Schläge gegen die von ihren Ausbeutern geschaffene gesellschaftliche Organisation zu richten. Stattdessen müssten die Arbeiter einen Partisanenkrieg mit den einzelnen Ausbeutern oder höchstens mit einzelnen Gruppen dieser Ausbeuter führen, auf deren Seite immer die organisierte Macht des Staates stehen würde. Gerade einen solchen Fehler machten die russischen Sozialisten aus der sogenannten Intelligenz, als sie (in Nr. 4 von „S. i W.") den „Nordrussischen Arbeiterbund" dafür tadelten, dass er in seinem Programm bestimmte politische Forderungen aufgestellt hatte. Denselben Fehler wiederholte das „Serno", das den Arbeitern empfahl, den Kampf auf ökonomischem Gebiet zu führen, die Verkürzung des Arbeitstages zu erkämpfen, die Erhöhung des Arbeitslohns u. ä., sogar Spione und besonders verhasste Meister und Unternehmer zu töten, aber mit keinem einzigen Wort von den politischen Aufgaben der russischen Arbeiter sprach. Dieses Fehlen einer Synthese in den revolutionären Ansichten und Programmen unserer Sozialisten konnte nur einen äußerst schädlichen Einfluss auf die Resultate ihrer Tätigkeit ausüben. Gerade dadurch, dass wir den politischen Indifferentismus der Arbeiter als das wichtigste Zeichen des Radikalismus ihrer ökonomischen Forderungen verteidigten, leisteten wir dem gegenwärtigen Absolutismus einen indirekten Dienst. Indem wir außerdem unsere Programme gerade an dem Punkt abbrachen, wo es nötig gewesen wäre, die politische Bilanz aus den sozialen Forderungen der Arbeiterklasse zu ziehen, verringerten wir die praktische Bedeutung dieser Programme in den Augen der Arbeiter, die besser als wir begriffen hatten, wie unfruchtbar der unkoordinierte Kampf gegen einzelne Ausbeuter ist. Zum Glück ist unsere Arbeiterbewegung sehr früh über diese erste Phase ihrer Entwicklung hinausgewachsen. Die Antwort des „Nordrussischen Arbeiterbundes" an die Redaktion der „Semlja i Wolja" (siehe Nr. 5 dieser Zeitschrift) zeigte, dass wenigstens die Mitglieder dieses Bundes früher als unsere „Intelligenz" begriffen hatten, wie ungeeignet die „politische Nichteinmischung“ der Arbeiterklasse ist.

Das ist alles sehr schön, wird mancher Leser sagen, aber eure Argumentation trifft nicht ins Schwarze. Wir streiten nicht ab, dass es für die Arbeiterklasse nützlich wäre, politischen Einfluss zu erlangen und die Staatsgewalt in ihre Hände zu nehmen; wir behaupten nur, dass das in der heutigen Zeit aus vielen Gründen unmöglich ist. Euer Hinweis auf die Geschichte der Bourgeoisie beweist nichts, da die Lage des Proletariats in der bürgerlichen Gesellschaft der Lage des dritten Standes in den Staaten des „alten Regimes" ganz und gar nicht ähnlich ist. Marx selbst erkannte diesen Unterschied an und formulierte ihn folgendermaßen im „Kommunistischen Manifest": „Der Leibeigene hat sich", sagt er, „zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herangearbeitet wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus.

Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich, noch schneller als Bevölkerung und Reichtum". Wenn jeder progressive Schritt der Bourgeoisie auf dem Gebiet der Produktion und des Austausches „entsprechende politische Eroberungen" nach sich zog, so ist daran nichts Verwunderliches: jedem ist bekannt, dass eine Verbesserung des materiellen Wohlstandes irgendeiner Klasse ein Anwachsen ihres politischen Einflusses nach sich zieht. Aber gerade die Tatsache, dass die politischen Eroberungen der Bourgeoisie die Vergrößerung ihres Reichtums voraussetzten, gerade diese Tatsache zwingt auch dazu, die politische Bewegung der Arbeiterklasse ohne Hoffnung zu betrachten. Sich immer mehr in „Pauper" verwandelnd, müssen die Arbeiter offensichtlich auch das bisschen Einfluss verlieren, das sie in ihrem Kampf für die Interessen der Bourgeoisie erworben haben, „die Feinde ihrer Feinde bekämpfend, – die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois" usw. Der politische Kampf der Arbeiterklasse ist unzweckmäßig, da er auf Grund ihrer ökonomischen Lage zum Misserfolg verurteilt ist.

Bei all seiner inneren Fehlerhaftigkeit scheint dieser Einwand doch auf den ersten Blick in solchem Maße schlüssig, dass es unmöglich ist, ihn mit Schweigen zu übergehen. Er ist das letzte Argument jener Anhänger der Theorie der politischen Nichteinmischung, die sich selbst als Schüler von Marx ansehen.Z Daher fällt mit seiner Widerlegung die Theorie der Nichteinmischung endgültig, und die politischen Aufgaben des modernen Sozialismus treten in ihrem wahren Licht hervor.

Der Anteil der Arbeiterklasse am Nationalprodukt verringert sich ständig – das unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Sie wird ärmer nicht nur relativ, sondern auch absolut, ihr Einkommen wächst nicht nur nicht in gleicher Progression mit dem Einkommen der übrigen Klassen der Gesellschaft, sondern es fällt; der reale Arbeitslohn eines heutigen Proletariers (die Quantität der ihm zukommenden Gebrauchsgegenstände) ist kleiner als der Lohn eines Arbeiters vor 500 Jahren – das ist durch Forschungen von Rogers, de Duchâtel u. a.a bewiesen worden..Aber daraus folgt durchaus noch nicht, dass gegenwärtig die ökonomischen Bedingungen weniger vorteilhaft für eine politische Bewegung der Arbeiterklasse sind als im vierzehnten Jahrhundert. Wir sagten oben schon, dass man bei einer derartigen Beurteilung der ökonomischen Bedingungen eines bestimmten Landes seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Verteilung des Nationaleinkommens richten muss, sondern hauptsächlich auf die Organisation der Produktion und die Methode des Austausche der Produkte. Die Stärke der aufkommenden Bourgeoisie bestand nicht so sehr in ihrem Reichtum als in dem gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt, dessen Träger sie einst war. Nicht die Vergrößerung ihres Einkommens trieb sie auf den Weg des revolutionären Kampfes und gewährleistete das Wachstum ihres politischen Einflusses, sondern der Widerspruch zwischen den von ihr ins Leben gerufenen Produktivkräften und den Bedingungen, unter denen sich Produktion und Austausch der Produkte in der Feudalgesellschaft vollzogen. Zum Vertreter der progressiven Forderungen in dieser Gesellschaft geworden, versammelte sie unter ihrem Banner alle unzufriedenen Elemente und führte sie in den Kampf gegen ein der ungeheuren Mehrheit des Volkes verhasstes Regime. Nicht Geld, sondern der unentwickelte Zustand der Arbeiterklasse verschaffte ihr die führende Rolle in dieser Befreiungsbewegung. Ihr Reichtum, ihre auch damals schon verhältnismäßig hohe gesellschaftliche Stellung waren natürlich unentbehrlich zur Ausfüllung dieser Rolle. Aber wodurch wurde diese Unentbehrlichkeit bedingt? Vor allem dadurch, dass es ihr unmöglich war, die Aufgabe der Zerstörung der alten Ordnung ohne die Hilfe der niedrigeren Schichten der Bevölkerung zu erfüllen. Und gerade dabei half ihr der Reichtum. Er verlieh ihr Einfluss auf eben die Massen, die für ihre Herrschaft kämpfen sollten. Ohne ihren Reichtum wäre die Bourgeoisie eben nicht einflussreich gewesen, und ohne Einfluss auf das Volk hätte sie die Aristokratie nicht besiegt, denn sie war nicht stark aus eigener Kraft, sondern durch die Kraft, die sie schon beherrschte und der sie dank ihres Kapitals befahl. Es fragt sich nun, ob dem Proletariat ein solcher Einfluss auf irgendeine andere Klasse der Bevölkerung möglich und ob er für dessen Sieg notwendig ist. Es genügt, diese Frage zu stellen, um von jedem, der die heutige Lage der Arbeiterklasse versteht, ein entschiedenes „Nein" zu hören. Dem Proletariat ist es unmöglich, auf die niedrigeren Klassen so einzuwirken, wie einst die Bourgeoisie auf dieses einwirkte, aus dem einfachen Grund, weil es keine Klassen gibt, die unter ihm stehen; es vertritt die allerletzte ökonomische Formation der gegenwärtigen Gesellschaft. Und es braucht auch nicht nach solchem Einfluss zu streben, da es gleichzeitig die zahlreichste Schicht dieser Gesellschaft ist, da es zusammen mit den anderen werktätigen Schichten der Bevölkerung immer gerade der Faktor war, dessen Einschaltung die politischen Auseinandersetzungen entschied. Wir sagen: die zahlreichste Klasse, denn alle „übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern.

Sie sind also konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen".

Einst siegte die Arbeiterklasse unter der Befehlsgewalt der Bourgeoisie und wunderte sich nur naiv über den seltsamen Umstand, dass fast alle Mühen des Kampfes auf ihren Anteil entfielen, während fast alle Vorteile und Ehren des Sieges an ihren Verbündeten gingen.

Heute gibt sie sich nicht mit dieser untergeordneten Rolle zufrieden und richtet gegen die Bourgeoisie dieselbe Kraft, die dieser einst den Sieg brachte. Aber heute hat sich diese Kraft beträchtlich gesteigert. Sie ist angewachsen und wächst weiter an in derselben Proportion, in der die Konzentration der Kapitale und die Ausdehnung der großen Industrie vor sich gingen und gehen. Sie ist darüber hinaus in demselben Maße angewachsen, in welchem die politische Erfahrung der Arbeiterklasse zugenommen hat, die von der Bourgeoisie selbst in die Arena der gesellschaftlichen Tätigkeit eingeführt worden war. Kann man daran zweifeln, dass das Proletariat, das sich einst als stark genug erwiesen hat, den feudalen Absolutismus unter der Führung der Bourgeoisie zu zertrümmern, mit der Zeit stark genug sein wird, auf seine eigene Initiative hin die politische Herrschaft der Bourgeoisie zu brechen? Die Bourgeoisie konnte den Feudalismus nur dank ihres Reichtums besiegen, das Proletariat wird die Bourgeoisie gerade deshalb besiegen, weil sein Schicksal – das „Elend" – zum Schicksal eines immer größeren Teils der modernen Gesellschaft wird.

Aber in der Geschichte ihrer Entwicklung leistete der Reichtum der Bourgeoisie noch einen anderen, dazu äußerst „produktiven Dienst" wie ihre Ökonomen sich ausdrücken würden. Er gab ihr Wissen und machte sie zur am weitesten fortgeschrittenen, gebildetsten Schicht der damaligen Gesellschaft. Kann das Proletariat dieses Wissen erwerben, kann es gleichzeitig die ärmste und die gebildetste aller Gesellschaftsklassen sein? Die politische Herrschaft ist für das Proletariat unmöglich ohne diese Bedingung, denn ohne Wissen gibt es keine Stärke!

Wir haben schon gesagt, dass die Bourgeoisie selbst die politische Erziehung des Proletariats begonnen hat. Sie kümmerte sich um seine Bildung, soweit der Kampf gegen ihre Feinde das erforderte. Sie rüttelte an seinen religiösen Glaubensvorstellungen, wo es zur Schwächung der politischen Bedeutung des Klerus notwendig war; sie erweiterte seine Rechtsauffassungen, wo es erforderlich war, dem geschriebenen Recht des Ständestaates das „Natur"-Recht gegenüberzustellen. Jetzt ist die ökonomische Frage an die Reihe gekommen, und die politische Ökonomie spielt heute, wie ein sehr kluger Deutscher sagteb, eine ebenso bedeutende Rolle wie im XVIII. Jahrhundert das Naturrecht. Wird die Bourgeoisie die Führerin der Arbeiterklasse bei der Untersuchung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital sein wollen, dieser Frage der Fragen der gesamten politischen Ökonomie? Ungern nimmt sie sogar diese für sie nützliche Rolle auf sich, weil diese Frage aufwerfen schon ihre Herrschaft bedrohen heißt. Ja kann sie denn diese Rolle ausfüllen, etwa so, wie sie sie ehemals hinsichtlich der Religion und des Rechts ausgefüllt hat? Nein! Verblendet durch die Interessen ihrer Klasse, haben ihre gelehrten Vertreter schon längst die Fähigkeit zu einer objektiven wissenschaftlichen Untersuchung gesellschaftlicher Fragen eingebüßt. Darin besteht das ganze Geheimnis des gegenwärtigen Verfalls der bürgerlichen Ökonomie. Ricardo war der letzte Ökonom, der, Bourgeois geblieben bis in die Fingerspitzen, genügend Geist besaß, den diametralen Gegensatz der Interessen von Arbeit und Kapital zu begreifen. Sismondi war der letzte bürgerliche Ökonom, der genügend Gefühl besaß, diesen Antagonismus ohne Heuchelei zu beweinen. Nach diesen haben die allgemeinen theoretischen Untersuchungen der bürgerlichen Ökonomen größtenteils jegliche wissenschaftliche Bedeutung verloren. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, sich die Geschichte der politischen Ökonomie seit den Zeiten Ricardos ins Gedächtnis zu rufen und sich an den Werken eines Bastiat, Carey, Leroy-Beaulieu oder gar heutiger Kathedersozialisten zu ergötzen. Aus friedliebenden und objektiven Denkern haben sich die bürgerlichen Ökonomen in militante Reaktionäre und Wächter des Kapitals verwandelt, die ihre ganze Energie darauf richten, selbst das Gebäude der Wissenschaft zu Kriegszwecken umzurüsten. Aber ungeachtet dieser Kriegsübungen weichen sie unaufhörlich zurück und überlassen ihren Feinden dieses wissenschaftliche Territorium, das sie einst unkontrolliert beherrschten. In der heutigen Zeit versichern Leute, die völlig frei von wie auch immer gearteten „demagogischen" Bestrebungen sind, dass Arbeiter „besser als irgendein Pr. Smith oder Faucher fähig sind, sich die abstraktesten Begriffe" in der ökonomischen Wissenschaft „zu eigen zu machen". So dachte zum Beispiel ein Mann, dessen Name bei den deutschen Ökonomen ungeheure Autorität genießt, der aber seinerseits diesen gegenüber die tiefste Verachtung hegte. „Wir betrachten die Arbeiter als Kinder", fügte dieser Mann hinzu, „während sie uns schon um einen ganzen Kopf überragen".c

Aber ist das nicht übertrieben? Kann denn die Arbeiterklasse die „abstrakten" Fragen der gesellschaftlichen Ökonomie und des Sozialismus genauso gut, wenn nicht schon besser verstehen als Leute, die volle Jahrzehnte auf ihre Bildung verwandt haben?

Worauf gründen sich die Sätze des modernen wissenschaftlichen Sozialismus? Sind sie Phantasiegebilde eines müßig gehenden Wohltäters des Menschengeschlechts, oder sind sie Verallgemeinerungen eben derjenigen Erscheinungen, mit denen wir alle auf diese oder jene Art in unserem alltäglichen Leben in Berührung kommen, die Erläuterung eben derjenigen Gesetze, durch die unsere Teilnahme an der Produktion, dem Austausch oder einfach der Verteilung der Produkte bestimmt wird? Wer diese Frage im letzteren Sinn entscheidet, wird zugeben, dass die Arbeiterklasse viele Chancen zum richtigen Verständnis der „abstraktesten" Gesetze der politischen Ökonomie, zur Aneignung der abstraktesten Sätze des wissenschaftlichen Sozialismus hat. Die Schwierigkeit im Begreifen der Gesetze einer Wissenschaft wird durch die unvollständige Kenntnis der diesen Gesetzen zugrundeliegenden Tatsachen hervorgerufen. Dort, wo nur von Erscheinungen des täglichen Lebens die Rede ist, wo ein wissenschaftliches Gesetz nur jedem bekannte Fälle verallgemeinert, – dort verstehen die Leute der praktischen Arbeit die theoretischen Sätze nicht nur sehr gut, sondern können auch manchmal die Theoretiker selbst belehren. Fragt einen Landwirt nach dem Einfluss der Entfernung des Marktes auf den Preis seiner Produkte oder der Ergiebigkeit des Bodens auf die Höhe der Grundrente. Fragt einen Fabrikanten nach dem Einfluss der Erweiterung des Absatzes auf die Verbilligung der Produktion. Fragt einen Arbeiter, woher der Gewinn seines Unternehmers kommt … Ihr werdet euch davon überzeugen, dass alle diese Leute Ricardo kennen, ohne je auch nur einen Einband seiner Werke gesehen zu haben. Und doch genießen diese Fragen den Ruf, überaus kompliziert und „abstrakt" zu sein; ja über sie wurden ganze Meere von Tinte vergossen, wurde eine so gewaltige Menge von Bänden geschrieben, dass man, wenn man an das Studium der ökonomischen Wissenschaft herangeht, in Entsetzen geraten kann vor diesen Haufen bedruckten Papiers. Und so ist es mit allem, mit allen Teilen der politischen Ökonomie! Nehmt etwa die Theorie des Tauschwerts. In zwei Worten könnt ihr einem Arbeiter erklären, wodurch und wie er bestimmt wird; und doch wollen oder können viele der Herren Bourgeois-Ökonomen diese ganz und gar einfache Theorie bis heute nicht begreifen und geraten bei Streitgesprächen über sie in so grobe logische Fehler, dass kein Lehrer der Arithmetik zögern würde, einem Schüler der „jüngsten Altersstufe" dafür eine Sechs zu geben. Daher glauben wir, dass der von uns zitierte Schriftsteller recht hatte, dass in der heutigen Zeit das einzige verständige Auditorium in den brennenden sozialen Fragen nur ein Auditorium sein kann, das aus Proletariern besteht oder aus Leuten, die sich auf den Standpunkt des Proletariats gestellt haben. Sind aber die grundlegenden Sätze der politischen Ökonomie einmal erlernt, so stellt das Verstehen des wissenschaftlichen Sozialismus keine Schwierigkeit mehr dar: der Arbeiter wird auch hier nur den Hinweisen seiner praktischen Erfahrung folgen. Diese Seite der Sache hat Marx selbst sehr gut erläutert: „Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet", lesen wir in seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung. Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist".d

Wir sehen also, dass das Proletariat nicht materiellen Reichtum benötigt, um bis zum Verständnis der Bedingungen seiner Befreiung zu gelangen. Sein Elend, verursacht nicht durch Armut und Wildheit der Gesellschaft, sondern durch die Mängel der gesellschaftlichen Organisation. – ein solches Elend erschwert nicht nur nicht, sondern erleichtert das Verständnis dieser Bedingungen.

Die Gesetze der Verteilung der Produkte in der kapitalistischen Gesellschaft sind in höchstem Grade ungünstig für die Arbeiterklasse. Aber die Organisation der Produktion und die Form des Austauschs, die dem Kapitalismus eigen sind, schaffen zum ersten Mal sowohl die objektive als auch die subjektive Möglichkeit der Emanzipation der Werktätigen. Der Kapitalismus erweitert den geistigen Horizont des Arbeiters, zerstört alle Vorurteile, die dieser aus der alten Gesellschaft geerbt hat; er treibt ihn in den Kampf und gewährleistet gleichzeitig den Sieg, indem er seinen zahlenmäßigen Bestand vergrößert und die ökonomische Möglichkeit schafft, das Reich der Arbeit zu organisieren. Die Entwicklung der Technik vergrößert die Macht des Menschen über die Natur und steigert die Produktivität der Arbeit bis zu einem Grad, dass die Pflicht zur Arbeit nicht mehr Hindernis sein kann, sondern im Gegenteil notwendige Bedingung der allseitigen Entwicklung aller Glieder der sozialistischen Gesellschaft sein wird. Gleichzeitig ebnet die den Kapitalismus charakterisierende Sozialisierung der Produktion den Weg zur Verwandlung der Produktionsmittel und Produkte in Gemeineigentum. Die Aktiengesellschaften, diese in der Gegenwart höchste Form der Organisation der Industrieunternehmen, entfernen die Kapitalisten aus jeder aktiven Rolle im ökonomischen Leben der Gesellschaft und verwandeln sie in Drohnen, deren Verschwinden nicht die geringste Unordnung im Gang dieses Lebens hervorrufen kann. „Wenn es dem tätigen Geschlecht der Hausmeier gelungen war, die verfaulte königliche Dynastie mühelos vom Thron zu stürzen", sagt der konservative Rodbertus, „warum sollte dann eine vom Leben erfüllte, energische Organisation der Arbeiter (das Dienstpersonal der Gesellschaften bilden qualifizierte Arbeiter), warum sollte eine solche Organisation nicht imstande sein, mit der Zeit die Eigentümer zu beseitigen, die sich in einfache Rentiers verwandelt haben? … Indessen, das Kapital kann von diesem Weg nicht mehr abgehen! Das Kapital, das seine Blütezeit überlebt hat, verwandelt sich in seinen eigenen Totengräber!"

Warum, fragen wir unsererseits, sollte dieselbe Organisation der Arbeiter, die imstande sein wird, „die zu einfachen Rentiers gewordenen Eigentümer zu beseitigen", warum sollte eine solche Organisation nicht imstande sein, die Staatsgewalt in ihre Hände zu nehmen und so die politische Herrschaft zu erringen? Setzt doch das erste das zweite voraus: „Beseitigen" kann die Eigentümer nur eine Organisation, die in der Lage ist, deren politischen Widerstand zu brechen.

Aber das ist nicht alles. Es existieren weitere gesellschaftliche Erscheinungen, die gleichfalls die Wahrscheinlichkeit des politischen Sieges des Proletariats vergrößern.

Es werden durch den Fortschritt der Industrie ganze Bestandteile der herrschenden Klasse ins Proletariat hinabgeworfen oder wenigstens in ihren Lebensbedingungen bedroht. Auch sie führen dem Proletariat eine Masse Bildungselemente zu.

In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozess innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, dass ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben".

Bei den Negern Nordguineas gibt es eine höchst bemerkenswerte Legende. Nach dieser Legende „rief Gott einst die beiden Söhne des ersten Menschenpaares zu sich. Der eine von ihnen war weiß, der andere schwarz. Gott legte vor sie einen Haufen Gold und ein Buch und befahl dem schwarzen Bruder als dem älteren, sich einen von beiden Gegenständen auszusuchen. Der wählte das Gold, und so erhielt der jüngere Bruder das Buch. Eine unbekannte Kraft trug ihn daraufhin unverzüglich mit dem Buch in.ein entferntes kaltes Land. Aber dank seines Buches wurde er gelehrt, furchteinflößend und mächtig. Der ältere Bruder jedoch blieb in seiner Heimat und lebte noch lange genug, um zu sehen, um wie viel die Wissenschaft höher steht als der Reichtum".

Die Bourgeoisie besaß einst Wissenschaft und Reichtum. Im Gegensatz zu dem schwarzen Bruder der Legende der Neger hatte sie den Besitz sowohl des Goldes als auch des Buches angetreten, da der Gott der menschlichen Gesellschaften, die Geschichte, die Rechte minderjähriger Klassen nicht anerkennt und sie in die Obhut ihrer älteren Brüder gibt. Aber es kam die Zeit, da die von der Geschichte übergangene Arbeiterklasse dem Kindesalter entwachsen war und die Bourgeoisie mit ihr teilen musste. Sie behielt das Gold, während ihr jüngerer Bruder „das Buch" bekam, dank dessen er, ungeachtet der Dunkelheit und Kälte seiner Kellerwohnungen, jetzt schon „mächtig und furchteinflößend" geworden ist.

Schritt für Schritt verdrängt der wissenschaftliche Sozialismus die bürgerlichen Theorien aus den Seiten dieses magischen Buches, und bald wird das Proletariat in ihm lesen, wie es sich materiellen Wohlstand erkämpfen kann. Dann wird es das schmachvolle Joch des Kapitalismus von sich abschütteln und der Bourgeoisie zeigen, „um wie viel die Wissenschaft höher steht als der Reichtum".

III

Im ersten Kapitel waren wir bestrebt, die Entstehung der Ansicht, dass der Sozialismus mit jeglicher „Politik" unvereinbar sei, geschichtlich zu erklären. Wir sahen, dass dieser Ansicht einerseits die proudhonistisch-bakunistische Lehre vom Staat zugrunde lag und andererseits eine gewisse Inkonsequenz unserer Sozialdemokraten der siebziger Jahre. Darüber hinaus fand sie einen Rückhalt in dem allgemeinen Kolorit des Hintergrundes, von dem sich die beiden obengenannten Richtungen abhoben. Dieser Hintergrund besteht, wie wir mit Worten von Engels sagten, aus einem Gemisch verschiedenartiger Lehren verschiedener Gründer sozialistischer Sekten. Es ist bekannt, dass die utopischen Sozialisten sich gegenüber den politischen Bewegungen der Arbeiterklasse völlig ablehnend verhielten, in denen sie „lediglich blinden Unglauben gegenüber dem neuen Evangelium" sahen. Diese negative Auffassung der „Politik" war zusammen mit den Lehren der Utopisten zu uns gekommen. Lange vor dem Beginn einer einigermaßen starken revolutionären Bewegung in Russland waren unsere Sozialisten bereit – ähnlich den „wahren" Sozialisten Deutschlands Ende der vierziger Jahre (siehe „Kommun. Man.", S. 32) –, „die überlieferten Anatheme gegen den Liberalismus, gegen den Repräsentativstaat, gegen die bürgerliche Konkurrenz, bürgerliche Pressfreiheit, bürgerliches Recht, bürgerliche Freiheit und Gleichheit zu schleudern", völlig vergessend, dass alle diese Angriffe „die moderne bürgerliche Gesellschaft mit den entsprechenden materiellen Lebensbedingungen und der angemessenen politischen Konstitution voraussetzen", d. h. gerade die Bedingungen, die in unserem Land erst noch erkämpft werden müssen.e

Als Resultat aller dieser Einflüsse entstand eine so feste Überzeugung von der Nutzlosigkeit jeglichen politischen Kampfes, abgesehen vom revolutionären Kampf in der engen und vulgären Bedeutung dieses Wortes, dass wir begannen, mit Voreingenommenheit auf die sozialistischen Parteien Westeuropas zu blicken, die zum Beispiel in der Wahlagitation ein mächtiges Mittel zur Erziehung und Organisierung der arbeitenden Massen sahen. Alle politischen und ökonomischen Errungenschaften, die diese Agitation brachte, erschienen uns als unverzeihlicher Opportunismus, als unheilvoller Pakt mit dem Dämon des bürgerlichen Staates, der einem Verzicht auf die Glückseligkeit im zukünftigen sozialistischen Leben gleichkam. Wir selbst merkten nicht einmal, dass unsere Theorien uns in den Teufelskreis unlösbarer Widersprüche brachten. Wir hielten die Agrargemeinde für den Ausgangspunkt der sozialen und ökonomischen Entwicklung Russlands, und gleichzeitig beraubten wir uns freiwillig durch den Verzicht auf den politischen Kampf jeder Möglichkeit, durch staatlichen Eingriff diese Gemeinde vor den zerstörenden Einflüssen der heutigen Zeit zu schützen. So mussten wir teilnahmslose Zuschauer eines Prozesses bleiben, der gerade das Fundament zerstörte, auf dem wir das Gebäude der Zukunft errichten wollten.

Indessen sahen wir, dass die Logik der Ereignisse die russische Bewegung auf einen anderen Weg geführt und die russischen Revolutionäre vertreten durch die Partei „Narodnaja Wolja", gezwungen hatte, um politischen Einfluss und sogar um die Herrschaft als einen der mächtigsten Faktoren der ökonomischen Revolution zu kämpfen. Wir sahen ebenfalls, dass unsere Bewegung, indem sie diesen Weg beschritt, in solchem Maße erstarkte, dass die sozialen und politischen Theorien der verschiedenen Spielarten des Proudhonismus sich für sie als zu beschränkt und ungeeignet erwiesen. Der dem russischen gesellschaftlichen Leben eigene Gang der Dinge geriet in Widerspruch zu dem Gang der in unseren revolutionären Kreisen herrschenden Gedanken und rief dadurch eine neue geistige Strömung hervor.

Diese neue geistige Strömung, sagten wir ferner, wird sich so lange nicht von den ihr heute eigenen Widersprüchen befreien, bis sie sich mit der unvergleichlich tieferen und umfassenderen Strömung des modernen Sozialismus vereinigen wird. Die russischen Revolutionäre müssen sich auf den Standpunkt der Sozialdemokratie des Westens stellen und ihre Verbindung mit den Theorien des „Rebellentums" zerreißen, genau so, wie sie schon vor einigen Jahren auf die Praxis des „Rebellentums" durch Einführung eines neuen, des politischen Elements in ihr Programm verzichtet haben. Das wird ihnen nicht schwer fallen, wenn sie sich bemühen, sich die richtige Auffassung von der politischen Seite der Lehre von Marx anzueignen, und bereit sind, die Methoden und die nächsten Aufgaben ihres Kampfes zu überprüfen, indem sie dieses neue Kriterium anwenden.

Wir sahen schon im zweiten Kapitel, zu welchen falschen Folgerungen die philosophischen und historischen Voraussetzungen des modernen Sozialismus Anlass gaben. Selbst die „Narodnaja Wolja" bemerkte offenbar nicht die Fehlerhaftigkeit dieser Folgerungen und war „sogar zur Verteidigung des soziologischen Standpunkts Dührings über den vorherrschenden Einfluss des politisch-juristischen Elements des gesellschaftlichen Systems vor dem ökonomischen" bereit, wie sich P. L. Lawrow ausdrückte, als er die neuesten Richtungen in der russischen revolutionären Bewegung charakterisierte.f Nur aufgrund dieser Bereitschaft lässt sich die in der Inlandsübersicht der Nr. 6 der „Narodnaja Wolja" enthaltene Polemik gegen gewisse „unmittelbare Interpreten der historischen Theorie von Marx" erklären, die ihre Meinung, nach Aussage des Autors, „hauptsächlich auf die bekannte Triade Hegels" gründen, ohne „anderes induktives Material" für ihre Folgerungen zu haben, und die „das Hegelsche Gesetz in dem Sinne auslegen, dass das Schlechte, einfach in seiner äußersten Entwicklung, zum Guten führen wird".g Es genügt, sich mit dem Programm der deutschen Sozialdemokraten oder der französischen Kollektivisten bekannt zu machen, um zu sehen, wie „die historische Theorie von Marx" von seinen westeuropäischen Anhängern und, wenn man so will, „den unmittelbaren Interpreten" verstanden wird. Wir unsererseits können unseren russischen Genossen versichern, dass diese „Interpreten das „Hegelsche Gesetz" ganz und gar nicht „in dem Sinne, dass das Schlechte, einfach in seiner äußersten Entwicklung, zum Guten führen wird", verstehen und es zudem als induktives Material" lediglich beim Studium der Geschichte der deutschen Philosophie benutzen, in der dieses Gesetz einen überaus bedeutenden Platz einnimmt und aus der man es auf keinen Fall entfernen kann, genauso wenig wie man Worte, wie der Volksmund sich ausdrückt, aus einem Lied entfernen kann. Die von uns zitierte Stelle ist eine fast wörtliche Wiedergabe von Worten Dührings, der Marx vorgeworfen hat, in seinem historischen Schema „leiste die Hegelsche Negation der Negation in Ermangelung besserer und klarerer Mittel den Hebammendienst, durch welchen die Zukunft aus dem Schoß der Vergangenheit entbunden wird"h.

Doch dieser Ausfall hat schon durch Engels die verdiente Strafe erhalten, der die ganze wissenschaftliche Nichtigkeit der Werke des ehemaligen Berliner Dozenten entlarvt hat. Wozu denn fremde Fehler wiederholen und sich auf so schwankender Grundlage in eine ablehnende Haltung zur größten und revolutionärsten gesellschaftlichen Theorie des XIX. Jahrhunderts begeben? Denn ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre Bewegung, in der wahren Bedeutung dieses Wortes. Jede nach ihrer Befreiung strebende Klasse, jede um die Herrschaft ringende politische Partei ist nur in dem Maße revolutionär, wie sie die progressivsten gesellschaftlichen Strömungen vertritt und folglich Träger der fortschrittlichsten Ideen ihrer Zeit ist. Eine ihrem inneren Gehalt nach revolutionäre Idee ist eine Art Dynamit, das kein Sprengstoff der Welt ersetzen kann. Und solange unsere Bewegung unter dem Banner rückständiger oder fehlerhafter Theorien steht, wird sie nur in gewissen, aber bei weitem nicht in allen ihren Aspekten revolutionäre Bedeutung haben. Gleichzeitig wird sie ohne Wissen ihrer Mitglieder in sich die Keime der Reaktion tragen, die ihr auch diese beschränkte Bedeutung in mehr oder weniger naher Zukunft rauben werden, da, wie schon Heine sagte

Die neue Zeit

Auch neue Röcke fodert.

Und sie, diese wirklich neue Zeit, wird doch schließlich auch für unser Vaterland anbrechen.

Doch ein falsches Verständnis dieser oder jener Sätze des modernen Sozialismus stellt noch nicht das Haupthindernis dafür dar, dass unsere revolutionäre Bewegung den von der Arbeiterklasse des Westens gebahnten Weg endgültig einschlägt. Eine nähere Bekanntschaft mit der Literatur des „Marxismus" wird unseren Sozialisten zeigen, welch einer mächtigen Waffe sie sich begaben, als sie es ablehnten, die Theorie des großen Lehrers der „Proletarier aller Länder" zu begreifen und sich zu eigen zu machen. Sie werden sich dann davon überzeugen, dass unsere revolutionäre Bewegung nicht nur nichts verlieren, sondern im Gegenteil sehr viel gewinnen wird, wenn die russischen Volkstümler und die russischen Narodowolzen schließlich russische Marxisten werden und der neue höhere Standpunkt alle bei uns existierenden Fraktionen versöhnen wird, die, jede in ihrer Art, im Recht sind, da bei all ihrer Einseitigkeit jede von ihnen ein bestimmtes notwendiges Bedürfnis des russischen gesellschaftlichen Lebens zum Ausdruck bringt.

Es gibt ein anderes Hindernis für die Entwicklung unserer Bewegung in der soeben bezeichneten Richtung. Es besteht in unserem Mangel an politischem Augenmaß, der vom Beginn der Bewegung an unsere Revolutionäre daran hinderte, ihre nächsten Aufgaben mit ihren Kräften in Übereinstimmung zu bringen, und der durch nichts anderes bedingt ist als durch den Mangel an politischer Erfahrung bei den gesellschaftlich aktiven russischen Revolutionären. Ob wir uns ins Volk begaben, um sozialistische Veröffentlichungen zu verbreiten, ob wir uns in den Dörfern niederließen, um protestierende Elemente unserer Bauernschaft zu organisieren, oder ob wir in den direkten Kampf mit den Vertretern des Absolutismus traten – überall wiederholten wir ein und denselben Fehler. Immer überschätzten wir unsere Kräfte, stellten nie in vollem Umfang den uns erwartenden Widerstand des gesellschaftlichen Milieus in Rechnung und beeilten uns, eine vorübergehend durch die Umstände begünstigte Handlungsweise zum universellen, alle anderen Methoden und Verfahren ausschließenden Prinzip zu erheben. Alle unsere Programme befanden sich aufgrund dessen in einem völlig labilen Gleichgewicht, aus welchem sie die unbedeutendste Änderung der uns umgebenden Verhältnisse bringen konnte. Fast alle zwei Jahre änderten wir diese Programme und konnten nicht bei etwas Dauerhaftem stehenbleiben, weil wir immer bei etwas Beschränktem und Einseitigem Halt machten. Ähnlich wie, nach den Worten Bjelinskis, die russische Gesellschaft, noch ohne eine Literatur zu haben, schon alle literarischen Richtungen durchlebt hatte, so brachte es auch die russische sozialistische Bewegung zustande, schon alle möglichen Schattierungen des westeuropäischen Sozialismus durchzuprobieren, noch ehe sie eine Bewegung unserer Arbeiterklasse geworden war.

Der von der „Narodnaja Wolja" unternommene Kampf gegen den Absolutismus, der unsere Revolutionäre auf einen breiteren Weg der Tätigkeit brachte und sie zwang, den Aufbau einer wirklichen Partei anzustreben, wird ohne jeden Zweifel stark zur Beseitigung der Einseitigkeit der Zirkel beitragen. Jedoch, um diesen ständigen Wechsel der Programme zu beenden, um von diesen Gewohnheiten politischer Nomaden loszukommen und schließlich zu geistiger Sesshaftigkeit, zu gelangen, müssen die russischen Revolutionäre die Kritik ganz zu Ende führen, die mit der Entstehung bewusster politischer Tendenzen bei ihnen ihren Anfang genommen hat. Sie müssen ein kritisches Verhältnis gerade zu dem Programm gewinnen, das die Kritik aller früheren Programme und Theorien notwendig gemacht hat. Die „Partei Narodnaja Wolja" ist das Kind einer Übergangszeit. Ihr Programm ist das letzte Programm, das in den Verhältnissen entstanden ist, die unsere Einseitigkeit zu einer unvermeidlichen und darum berechtigten Erscheinung gemacht haben. Obgleich es den politischen Horizont der russischen Sozialisten erweitert, ist dieses Programm selbst nicht schon frei von Einseitigkeit. An ihm ist ebenfalls das Fehlen politischen Augenmaßes festzustellen, der Fähigkeit, die nächsten Ziele der Partei mit ihren wirklichen oder möglichen Kräften in Einklang zu bringen. Die Partei Narodnaja Wolja erinnert an einen Mann, der auf dem richtigen Weg geht, aber noch keine Vorstellung von den Entfernungen hat und daher davon überzeugt ist, dass er sofort imstande sei, „hunderttausend Werst zurückzulegen, ohne sich irgendwo auszuruhen". Die Praxis wird natürlich seine Illusion zerstören, aber diese Zerstörung kann ihn sehr teuer zu stehen kommen. Für ihn wäre es besser, sich zu fragen, ob Siebenmeilenschritte nicht ins Reich der Phantasie gehören.

Mit Siebenmeilenschritten gehen – darunter verstehen wir das phantastische Element, auf dessen Existenz in dem uns interessierenden Programm wir schon hingewiesen haben und das in der zweiten Nummer der „Narodnaja Wolja" in dem festen Glauben an eine sozialrevolutionäre (wir sagen nicht sozialistische) Mehrheit in der zukünftigen russischen konstituierenden Versammlung Ausdruck fand und sich in Nr. 8/9 in den Überlegungen über die „Machtergreifung durch eine provisorische revolutionäre Regierung" zeigte.

Wir sind der tiefen Überzeugung, dass dieses phantastische Element für die „Partei Narodnaja Wolja" selbst in höchstem Grade schädlich ist. Als einer sozialistischen Partei schadet es ihr dadurch, dass es sie von ihren unmittelbaren Aufgaben in der Arbeiterklasse in Russland ablenkt; als einer Partei, die die Initiative unserer Befreiungsbewegung übernommen hat, schadet es ihr dadurch, dass sie immer sehr viele Mittel und Kräfte von sich stoßen wird, die ihr unter anderen Bedingungen aus den Kreisen der sogenannten Gesellschaft zufließen könnten. Wir wollen das ausführlicher erklären.

An wen richtet sich, an wen kann und muss sich die „Narodnaja Wolja" in ihrem Kampf gegen den Absolutismus richten? „Die Gewinnung einzelner Personen aus der Bauernschaft für die Organisation (Narodnaja Wolja), die fähig sind, sich ihr anzuschließen", lesen wir im „Kalender der Narodnaja Wolja"i, „wurde natürlich immer als sehr wünschenswert erachtet … Aber was zur jetzigen Zeit die Organisierung der Masse der Bauernschaft angeht, so wurde sie, als das Programm erstellt wurde, als reine Einbildung angesehen, und wenn wir nicht irren, konnte die weitere Praxis die Meinungen unserer Sozialisten in dieser Hinsicht nicht ändern". Vielleicht beabsichtigt die „Partei Narodnaja Wolja", sich auf die fortschrittlichere Schicht unserer werktätigen Bevölkerung, d. h. auf die städtischen Arbeiter, zu stützen? In der Tat misst sie der Propaganda und Organisierung dieser Schicht eine überaus große Bedeutung bei, sie meint, dass „die städtische arbeitende Bevölkerung die ernsthafte Aufmerksamkeit der Partei verdient". Aber allein schon die Begründung für die Notwendigkeit dieser Sache zeigt, dass nach ihren Vorstellungen die städtischen Arbeiter nur eines der Elemente unserer revolutionären Bewegung sein können. Sie „haben eine besonders wichtige Bedeutung für die Revolution sowohl auf Grund ihrer Lage als auch wegen ihrer verhältnismäßig hohen Bildung", erläutert uns dasselbe Dokument, „der Erfolg des ersten Angriffs hängt ganz und gar vom Verhalten der Arbeiter und des Heeres ab". Das heißt also, die bevorstehende Revolution wird keine Arbeiterrevolution im vollen Wortsinn sein, sondern die Arbeiter müssen an ihr teilnehmen, weil sie „für die Revolution eine besonders wichtige Bedeutung haben". Welche anderen Elemente werden also in diese Bewegung eingehen? Wir haben schon gesehen, dass unter anderem „das Heer" dazugehört, aber im Heer ist „bei den gegenwärtigen Verhältnissen die Propaganda unter den Soldaten in solchem Maße erschwert, dass man kaum große Hoffnungen auf sie setzen kann. Weitaus günstiger steht es mit dem Einfluss auf das Offizierskorps: es ist freier und gebildeter und daher dem Einfluss eher zugänglich!" Das ist natürlich völlig richtig, aber einstweilen werden wir uns dabei nicht aufhalten, sondern weitergehen. Außer den Arbeitern und dem „Offizierskorps" hat die Partei Narodnaja Wolja ebenfalls die Liberalen in „Europa" im Auge, hinsichtlich dessen die „Politik der Partei danach streben muss, der russischen Revolution das Mitgefühl der Völker zu sichern, für diese Revolution die Sympathie der europäischen öffentlichen Meinung zu wecken". Um dieses Ziel zu erreichen, „muss die Partei Europa mit der ganzen verhängnisvollen Bedeutung des russischen Absolutismus für die europäische Zivilisation selbst bekanntmachen, mit den wahren Zielen der Partei und mit der Bedeutung unserer revolutionären Bewegung als eines Ausdrucks des Protests des ganzen Volkes". Was aber die „Liberalen" betrifft, so ist es in Bezug auf sie „nötig, ohne den eigenen Radikalismus zu verheimlichen, darauf hinzuweisen, dass bei der gegenwärtigen Aufgabenstellung der Partei unsere und ihre Interessen zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Regierung zwingen".

Wir sehen also, dass die Partei „Narodnaja Wolja" nicht nur auf die Arbeiter und Bauern allein rechnet und nicht einmal in der Hauptsache auf diese Klassen. Sie denkt ebenso auch an die Gesellschaft und das Offizierskorps, das im Grunde „Fleisch vom Fleisch und Bein vom Bein" derselben Gesellschaft ist. Sie will den liberalen Teil dieser Gesellschaft davon überzeugen, dass „bei der gegenwärtigen Aufgabenstellung der Partei" die Interessen des russischen Liberalismus sich mit den Interessen der russischen sozialrevolutionären Partei decken. Was tut sie aber, um den russischen Liberalen diese Überzeugung zu vermitteln? Erstens gibt sie das Programm des „Exekutivkomitees" heraus, in dem gesagt wird, dass „der Volkswille hinreichend gut zum Ausdruck gebracht und ausgeführt werden könnte durch eine konstituierende Versammlung, die frei und bei allgemeinem Stimmrecht gewählt wird und von den Wählern Instruktionen erhält". In dem bekannten „Brief an Alexander III.“ fordert das Exekutivkomitee ebenfalls „die Einberufung von Vertretern des gesamten russischen Volkes zur Revision der bestehenden Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens und zu ihrer Umgestaltung entsprechend den Wünschen des Volkes". Ein solches Programm fällt in der Tat mit den Interessen der russischen Liberalen zusammen, und für seine Verwirklichung würden sie sich vermutlich auch mit dem allgemeinen Wahlrecht aussöhnen, das das „Exekutivkomitee" nicht umhin kann zu fordern. In all dem zeigt das Programm des genannten „Komitees" weitaus größere Reife als alle ihm vorangegangenen Programme. Aber ohne jetzt schon von einem so großen Fehler wie der Forderung nach Freiheit der Versammlung, des Wortes, der Presse und der Wahlprogramme lediglich „als einer provisorischen Maßnahme" zu redenj, wollen wir uns andere Erklärungen der Partei „Narodnaja Wolja" ins Gedächtnis rufen. Das Organ dieser Partei beeilte sich, der Leserschaft anzukündigen, dass die Mehrheit der Deputierten der Konstituierenden Versammlung aus Anhängern einer radikalen ökonomischen Umwälzung bestehen wird. Wir sagten oben schon, dass diese Zuversicht nicht mehr war als eine Fiktion, ersonnen, um die unvereinbaren Elemente des Programms der Narodowolzen in Einklang zu bringen. Betrachten wir jetzt die Veröffentlichung dieses Ausdrucks der Zuversicht vom Standpunkt der Taktik. Die Frage ist, ob die ökonomische Umwälzung überhaupt in den Interessen des russischen Liberalismus liegt. Sympathisiert etwa unsere liberale Gesellschaft mit der Agrarrevolution, die, nach den Worten der „Narodnaja Wolja", die Bauerndeputierten anstreben werden? Die westeuropäische Geschichte sagt uns außerordentlich überzeugend, dass überall, wo das „rote Gespenst" die geringsten drohenden Formen annahm, die „Liberalen" bereit waren, in den Armen der rücksichtslosesten Militärdiktatur Schutz zu suchen. Glaubte das terroristische Organ, dass unsere russischen Liberalen eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel darstellen werden? Wenn ja, worauf gründete es diese Überzeugung? Glaubte es ebenfalls, die gegenwärtige „öffentliche Meinung Europas" sei in solchem Maße von sozialistischen Ideen durchdrungen, dass sie mit der Einberufung einer sozialrevolutionären, konstituierenden Versammlung sympathisieren werde? Oder glaubte es, die europäische Bourgeoisie werde, bei sich zu Hause vor dem roten Gespenst zitternd, seinem Erscheinen in Russland applaudieren? Es versteht sich von selbst, dass es nichts derartiges dachte und nichts derartiges übersehen hatte. Aber wozu dann diese gewagte Erklärung? Oder war das Organ der Partei „Narodnaja Wolja" von der unausbleiblichen Erfüllung seiner Prophezeiung so überzeugt, dass es als notwendig ansah, die Mitglieder der Organisation zu Maßnahmen anzuregen, die der Bedeutung des zu erwartenden Ereignisses entsprachen? Doch in Anbetracht dessen, dass in demselben Organ die Tätigkeit im Volk für fruchtlos erklärt worden war, glauben wir, dass diese Erklärung eher beruhigenden als anregenden Charakter hatte: man erwartete die sozialrevolutionäre Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung trotz der Tatsache, dass die Tätigkeit im Volk heute an das „Füllen der bodenlosen Fässer der Danaiden" erinnert.

Für sich allein könnte man diese Erklärung für unwichtig halten, umso mehr, als die „Narodnaja Wolja" augenscheinlich selbst von den übertrieben rosigen Hoffnungen auf die Zusammensetzung der künftigen russischen Konstituante abging. Wir nehmen das deshalb an, weil der Leitartikel der Nr. 8/9 von einer ökonomischen Umwälzung spricht, die im Falle des Ausbleibens einer sozialrevolutionären Initiative im Volk selbst von einer „provisorischen Revolutionsregierung" vor der Einberufung der konstituierenden Versammlung durchgeführt werden muss. Der Autor des Artikels sieht völlig zu Recht nur in einer solchen Umwälzung die Garantie dafür, dass auf der „einberufenen Ständeversammlung die wirklichen Vertreter des Volkes erscheinen werden".

Die frühere Illusion der „Narodnaja Wolja" zerstreute sich auf diese Weise vollständig. Aber leider verschwand sie nur, um einer neuen, für die Sache der Partei „Narodnaja Wolja" selbst noch schädlicheren Platz zu machen. Das phantastische Element des Programms wurde nicht beseitigt, es nahm nur eine neue Gestalt an und heißt heute eben „die Ergreifung der Staatsmacht durch eine provisorische revolutionäre Regierung", die der Partei die Möglichkeit verschaffen muss, die erwähnte ökonomische Umwälzung durchzuführen. Es versteht sich von selbst, dass diese neue „Aufgabenstellung der Partei" mit Sicherheit weder den russischen Liberalen noch dem bürgerlichen Europa Gedanken der Solidarität mit den Interessen der russischen revolutionären Bewegung eingeben kann. Wie eingeschüchtert, wie niedergedrückt die russische Gesellschaft auch ist, so hat sie doch den Selbsterhaltungstrieb durchaus nicht verloren und wird keinesfalls freiwillig dem „roten Gespenst" entgegenkommen; sie auf eine solche „Stellung" der Aufgaben der Partei hinzuweisen, bedeutet, sich ihrer Unterstützung zu berauben und nur auf die eigenen Kräfte zu zählen. Aber sind diese Kräfte dermaßen groß, dass es nicht riskant wäre, sich von einem solchen Bundesgenossen abzuwenden? Können unsere Revolutionäre wirklich die Staatsmacht in ihre Hände nehmen und sie, wenn auch nur kurze Zeit, halten, oder besteht alles Gerede darüber nur darin, einer Bestie das Fell abzuziehen, die nicht nur noch nicht getötet, sondern nach Lage der Dinge der Gefahr getötet zu werden gar nicht ausgesetzt ist? Das ist die Frage, die sich heute mit aller Schärfe für das revolutionäre Russland stellt.

Wir wollen schnell eine vorbeugende Bemerkung machen. Die vorhergehenden Seiten sollten den Leser schon davon überzeugt haben, dass wir nicht zu den prinzipiellen Gegnern eines solchen Aktes wie der Machtergreifung durch eine revolutionäre Partei gehören. Nach unserer Meinung stellt sie die letzte und überdies völlig unausweichliche Konsequenz aus dem politischen Kampf dar, den jede nach ihrer Befreiung strebende Klasse auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung beginnen muss. Nach der Eroberung der politischen Herrschaft wird die revolutionäre Klasse nur dann diese Herrschaft auch aufrechterhalten, nur dann verhältnismäßig sicher vor den Schlägen der Reaktion sein, wenn sie gegen diese die mächtige Waffe der Staatsmacht richtet. Den Teufel halte, wer ihn hält!4sagt Faust.

Aber die Diktatur einer Klasse ist himmelweit entfernt von der Diktatur einer Gruppe revolutionärer Rasnotschinzen. Das kann man insbesondere von der Diktatur der Arbeiterklasse sagen, deren Aufgabe gegenwärtig nicht nur die Zerstörung der politischen Herrschaft der unproduktiven Klassen der Gesellschaft ist, sondern auch die Beseitigung der heute existierenden Anarchie der Produktion, die bewusste Organisierung aller Funktionen des sozialen und ökonomischen Lebens. Diese Aufgabe allein zu begreifen, setzt eine gebildete Arbeiterklasse voraus, die politische Erfahrung und Erziehung besitzt, sich von bürgerlichen Vorurteilen befreit hat und fähig ist, ihre Lage selbständig zu beurteilen. Diese Aufgabe aber zu lösen, setzt darüber hinaus auch noch die Verbreitung der sozialistischen Ideen innerhalb des Proletariats, ein Bewusstsein seiner Stärke und Siegesgewissheit voraus. Aber eine solche Arbeiterklasse wird nicht einmal ihren aufrichtigsten Gönnern erlauben, die Staatsmacht zu ergreifen Sie wird es nicht erlauben aus dem einfachen Grund, weil sie die Schule ihrer politischen Erziehung mit der festen Absicht durchlief, diese Schule einmal zu beenden und selbständig handelnd in die Arena des geschichtlichen Lebens zu treten, statt ewig von einem Vormund zum anderen zu wechseln; sie wird es deshalb nicht erlauben, weil eine solche Vormundschaft überflüssig wäre, da die Arbeiterklasse dann auch selbst die Aufgabe der sozialistischen Revolution lösen könnte; sie wird es schließlich deshalb nicht erlauben, weil eine solche Vormundschaft schädlich wäre, da kein konspiratives Geschick, keine Kühnheit und Selbstaufopferung von Verschwörern die bewusste Teilnahme der Produzenten an der Organisierung der Produktion ersetzen wird. Allein der Gedanke daran, dass die soziale Frage in der Praxis von irgendjemandem ohne die Arbeiter selbst gelöst werden könne, zeigt das völlige Unverständnis dieser Frage, gleichgültig, ob ein „eiserner Kanzler" oder eine revolutionäre Organisation an ihm festhält. Wenn das Proletariat die Bedingungen seiner Befreiung begriffen hat und für sie reif geworden ist, wird es die Staatsmacht in seine eigenen Hände nehmen, um mit seinen Feinden abzurechnen und das gesellschaftliche Leben auf der Grundlage natürlich nicht der An-archie, die ihm neue Nöte ringen würde, sondern der Pan-archie aufzubauen, die allen erwachsenen Mitgliedern der Gesellschaft die Möglichkeit unmittelbarer Teilnahme an der Erörterung und Lösung der gesellschaftlichen Angelegenheiten geben wird. Solange aber die Arbeiterklasse noch nicht so weit entwickelt ist, um ihre große historische Aufgabe zu lösen, besteht die Pflicht ihrer Vertreter darin, ihren Entwicklungsprozess zu beschleunigen und die Hindernisse zu beseitigen, die das Wachstum ihrer Stärke und ihres Bewusstseins hemmen, aber nicht darin, soziale Experimente und Vivisektionen zu erfinden, deren Ausgang immer mehr als zweifelhaft ist.

So verstehen wir die Frage der Machteroberung in der sozialistischen Revolution. Wenn wir nun diesen Standpunkt auf die russische Wirklichkeit anwenden, so müssen wir eingestehen, dass wir durchaus nicht an die nahe Möglichkeit einer sozialistischen Regierung in Russland glauben.

Die „Narodnaja Wolja" hält das gegenwärtige „Verhältnis von politischen und ökonomischen Faktoren auf russischem Boden" für besonders „vorteilhaft" für die Sozialisten. Wir sind einverstanden, dass es für sie in Russland vorteilhafter ist als in Indien, Persien oder Ägypten, aber mit den westeuropäischen gesellschaftlichen Verhältnissen kann es sich natürlich nicht vergleichen. Und wenn die „Narodnaja Wolja" zu ihrer Überzeugung gekommen ist, indem sie unsere Zustände nicht den ägyptischen oder persischen, sondern den französischen oder englischen gegenübergestellt hat, so hat sie einen sehr großen Fehler begangen. Das gegenwärtige „Verhältnis" der gesellschaftlichen Faktoren „auf russischem Boden" ist die Ursache für die Unwissenheit und Gleichgültigkeit der Volksmassen; wann waren denn solche Eigenschaften vorteilhaft für ihre Befreiung? Die „Narodnaja Wolja" nimmt offenbar an, dass diese Gleichgültigkeit schon zu schwinden beginnt, da im Volk immer mehr „der Hass auf die privilegierten herrschenden Stände und ein beharrliches Streben nach radikaler Veränderung der ökonomischen Verhältnisse erwacht". Aber was entsteht denn aus diesem Streben? „Der Hass auf die privilegierten Stände" beweist noch überhaupt nichts: häufig ist er von keinem einzigen Lichtstrahl politischen Bewusstseins begleitet. Zudem ist es in der heutigen Zeit erforderlich, ständisches Bewusstsein scharf zu trennen von Klassenbewusstsein. da die alten ständischen Untergliederungen nicht mehr den ökonomischen Verhältnissen Russlands entsprechen und dabei sind, ihren Platz der formalen Gleichheit der Bürger im „Rechtsstaat" abzutreten. Würde die „Narodnaja Wolja" die gegenwärtige Weltanschauung unserer Bauernschaft unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung ihres Klassenbewusstseins und politischen Bewusstseins betrachten, so würde sie kaum darauf beharren, das Verhältnis unserer gesellschaftlichen Faktoren als vorteilhaft für die soziale Umwälzung zu bezeichnen. Denn „vorteilhaft" wird sie sicher nicht die Gerüchte nennen, die über ihren eigenen Kampf gegen die Regierung in der Bauernschaft kursieren. Wie stark auch in diesen Gerüchten der „Hass auf die herrschenden Klassen5" zum Ausdruck kommt“, so wird dennoch angesichts der Tatsache, dass die Bauern gerade die revolutionäre Bewegung den fronherrlichen Intrigen von Adligen und Beamten zuschreiben, die „provisorische Revolutionsregierung" in großer Gefahr schweben, wenn das Volk beginnt, „die ökonomische Gleichheit von ihren jahrhundertealten Unterdrückern und Ausbeutern zurückzuerobern". Dann wird das jetzige Verhältnis der uns interessierenden Faktoren vermutlich Eigenschaften zum Vorschein bringen, die überaus unvorteilhaft für die vorübergehend siegreichen Verschwörer sind. Und was bedeutet „die ökonomische Gleichheit zurückerobern"?

Genügt es dafür, die Großgrundbesitzer, Kapitalisten und Unternehmer zu expropriieren? Ist es dafür nicht notwendig, auch die Produktion selbst in einer bestimmten Weise zu organisieren? Und wenn ja, sind dafür die heutigen ökonomischen Verhältnisse Russlands günstig, anders gesagt, verspricht uns der „ökonomische Faktor" große Erfolgschancen? Wir denken nicht, und zwar aus folgendem Grund. Jede Organisation setzt bei dem, was organisiert werden soll, gewisse durch ihr Ziel und ihren Charakter bestimmte Eigenschaften voraus. Die sozialistische Organisation der Produktion setzt einen Charakter der ökonomischen Verhältnisse voraus, der diese Organisation zur logischen Konsequenz der ganzen vorangegangenen Entwicklung des Landes machen würde und der sich folglich durch eine äußerst klare, eindeutige Ausprägung auszeichnen müsste. Mit anderen Worten, die sozialistische – wie auch jede andere – Organisation erfordert eine ihr entsprechende Grundlage. Und diese Grundlage gibt es im heutigen Russland nicht. Die alten Stützen des Volkslebens sind zu eng, zu heterogen und einseitig und außerdem schon zu unterhöhlt, und die neuen bilden sich erst noch heraus. Die objektiven gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind noch nicht reif geworden für die sozialistische Organisation, und daher haben auch die Produzenten selbst noch nicht das Bestreben und noch nicht die Fähigkeit zu einer solchen Organisation: unsere Bauernschaft kann diese Aufgabe noch nicht verstehen und noch nicht lösen. Daher wird die „provisorische Regierung" die „ökonomische Umwälzung" nicht „sanktionieren", sondern durchführen müssen, vorausgesetzt, die wird von der Woge der Volksbewegung nicht fortgeschwemmt, vorausgesetzt, sie wird auf genügend Gehorsam bei den Produzenten stoßen.

Aber mit Dekreten wird man nicht Bedingungen schaffen, die dem wirklichen Charakter der heutigen ökonomischen Verhältnisse fremd sind, die „provisorische Regierung" wird sich zufriedengeben müssen mit dem, was ist, und nehmen, was ihr die gegenwärtige russische Wirklichkeit als Grundlage ihrer Reformtätigkeit gibt. Und gerade auf dieser schmalen und schwankenden Grundlage soll das Gebäude der sozialistischen Organisation von den Händen einer Regierung erbaut werden, deren Mitglieder sein sollen: erstens, die städtischen Arbeiter, die einstweilen noch wenig auf solch eine schwierige Tätigkeit vorbereitet sind; zweitens, die Vertreter unserer revolutionären Jugend, die dem praktischen Leben immer fremd geblieben ist, und drittens, das „Offizierskorps", an dessen ökonomischen Einsichten man sicher seine Zweifel haben darf. Wir wollen nicht die sehr wahrscheinliche Annahme machen, dass neben all diesen Elementen in die provisorische Regierung auch die Liberalen hineingelangen werden, die mit der sozialrevolutionären „Aufgabenstellung der Partei" nicht sympathisieren, sondern sie behindern werden. Wir schlagen dem Leser vor, nur die oben aufgezählten Umstände zu erwägen und sich dann zu fragen: hat eine „ökonomische Umwälzung", die unter diesen Umständen beginnt, viel Aussicht auf Erfolg? Ist das jetzt existierende „Verhältnis der politischen und ökonomischen Faktoren auf russischem Boden" wirklich vorteilhaft für die sozialistische Revolution? Und gehört nicht der Glaube an die Vorteilhaftigkeit dieses Verhältnisses zu den Fiktionen, die der alten anarchistisch-rebellischen Weltanschauung entlehnt und im Programm der neuen politischen Partei vollends bis ins Unmögliche gesteigert sind? Und doch werden durch diese Fiktionen die nächsten „unmittelbaren Aufgaben" der Partei festgelegt, gründet sich auf sie das Streben nach unverzüglicher „Machtergreifung", ein Streben, das unsere Gesellschaft in Schrecken versetzt und der gesamten Tätigkeit unserer Revolutionäre einen .einseitigen Charakter verleiht!

Man wird vielleicht einwenden, dass die „Narodnaja Wolja" nicht vorhat, gleich nach ihrer Eroberung der Macht zur sozialistischen Organisation der Gesellschaft überzugehen, dass die von ihr geplante „ökonomische Umwälzung" nur die Erziehung des Volkes für die zukünftige sozialistische Revolution zum Ziel hat. Sehen wir uns an, ob ein solcher Plan durchführbar ist, und wenn ja – welche Konsequenzen er hat.

Der Leitartikel der Nr. 8/9 der „Narodnaja Wolja" spricht von der ökonomischen Gleichheit, die vom Volk selbst „zurückerobert" und im Falle mangelnder Initiative im Volk von einer provisorischen Regierung hergestellt werden wird. Wir sagten schon, dass diese sogenannte ökonomische Gleichheit nur bei einer sozialistischen Organisation der Produktion möglich ist. Aber nehmen wir an, dass die „Narodnaja Wolja" sie auch unter anderen Bedingungen für möglich hält, dass die ökonomische Gleichheit ihrer Meinung nach ausreichend gesichert sein wird durch den Übergang des Bodens und der Produktionsmittel in das Eigentum der Werktätigen. Solch eine Meinung wäre nichts anderes als eine Rückkehr zu den alten Volkstümleridealen der „Semlja i Wolja" und würde vom ökonomischen Standpunkt dieselben äußerst schwachen Seiten aufweisen, die diesen Idealen eigen waren. Durch die gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Gemeinden zueinander, die Verwandlung der Arbeitsprodukte der Gemeindebauern in Waren und die damit zusammenhängende kapitalistische Akkumulation geriete diese „Gleichheit" in Gefahr, überaus unbeständig zu werden! Bei der Selbständigkeit der Dorfgemeinde „als einer ökonomischen und administrativen Einheit", bei einer „breiten, durch die Wählbarkeit aller Ämter garantierten lokalen Selbstverwaltung" and angesichts der Tatsache, dass „das Land dem Volk gehört", – alles Forderungen des Exekutivkomitees – könnte eine Zentralregierung keine Maßnahmen zur Sicherung dieser Gleichheit ergreifen, selbst wenn man annähme, sie erfände Maßnahmen, die nicht nur die geschriebenen Gesetze des Russischen Reiches, sondern auch die Gesetze der Warenproduktion selbst aufheben sollten. Und sie würde solche Maßnahmen auch gar nicht ergreifen wollen, da sie aus Vertretern jenes „ökonomisch und politisch befreiten Volkes" bestehen würde, dessen Ideale bestenfalls durch die Worte „Land und Freiheit" ausgedrückt würden und keinen Raum ließen für irgendeine Organisierung der nationalen Produktion (von der internationalen reden wir erst gar nicht).

Nehmen wir an, dass angesichts dieser Gefahr die „provisorische Regierung" der „Narodnaja Wolja" die von ihr eroberte Macht den Volksvertretern nicht übergeben und sich in eine ständige Regierung verwandeln wird. Dann wird sie mit folgender Alternative konfrontiert werden: entweder sie wird gleichgültiger Zuschauer des langsamen Verfalls der von ihr geschaffenen „ökonomischen Gleichheit" bleiben müssen, oder sie wird gezwungen sein, die nationale Produktion zu organisieren. Sie wird diese schwierige Aufgabe entweder im Geiste des modernen Sozialismus lösen müssen, was sowohl ihr eigener Mangel an praktischen Fähigkeiten als auch die gegenwärtige Entwicklungsstufe der nationalen Arbeit und die Gewohnheiten der Werktätigen selbst verhindern werden, oder aber sie wird ihre Rettung in den Idealen eines „patriarchalischen und autoritären Kommunismus" suchen müssen, wobei sie diese Ideale lediglich so abzuwandeln hat, dass anstelle der peruanischen „Söhne der Sonne" und deren Beamten eine sozialistische Kaste die nationale Produktion leiten wird. Aber das russische Volk ist auch heute schon zu weit entwickelt, als dass sich jemand in der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang solcher Experimente mit ihm wiegen könnte. Es ist außerdem nicht zu bezweifeln, dass unter einer solchen Vormundschaft das Volk nicht nur nicht zum Sozialismus erzogen würde, sondern entweder jede Fähigkeit zu weiterem Fortschritt vollständig einbüßen oder diese Fähigkeit nur infolge des Entstehens derselben ökonomischen Ungleichheit bewahren würde, deren Beseitigung das unmittelbare Ziel der revolutionären Regierung gewesen wäre. Ganz zu schweigen vom Einfluss der internationalen Beziehungen und der Unmöglichkeit des peruanischen Kommunismus auch im Osteuropa des XIX. oder XX. Jahrhunderts.

Wozu übrigens so viel über die Resultate der Machteroberung durch unsere Revolutionäre reden. Ist die Eroberung selbst wahrscheinlich, ist sie möglich? Nach unserer Meinung ist sie sehr, sehr wenig wahrscheinlich; so wenig wahrscheinlich, dass man sie für ganz unmöglich halten darf. Unser „denkendes Proletariat" hat schon sehr viel für die Befreiung seiner Heimat getan. Es hat am Absolutismus gerüttelt, politisches Interesse in der Gesellschaft geweckt, den Samen der sozialistischen Propaganda in unsere Arbeiterklasse getragen. Es bildet den Übergang von den höheren Klassen der Gesellschaft zu der unteren, besitzt die Bildung der ersteren und die demokratischen Instinkte der zweiten. Diese Lage hat ihm die vielseitige Arbeit der Agitation und Propaganda erleichtert. Aber eben diese Lage gibt ihm sehr wenig Hoffnung auf den Erfolg einer Verschwörung mit dem Ziel der Machtergreifung. Für eine solche Verschwörung sind Talente, Energie und Bildung unzureichend: nötig sind Verbindungen, Reichtum und eine einflussreiche gesellschaftliche Stellung der Verschwörer.

Und gerade daran mangelt es unserer revolutionären Intelligenz. Sie kann diesen Mangel nur beheben, indem sie sich mit anderen unzufriedenen Elementen der russischen Gesellschaft verbündet. Nehmen wir an, dass ihre Pläne auf Sympathie bei diesen Elementen treffen werden, nehmen wir an, dass sich der Verschwörung reiche Grundbesitzer, Kapitalisten, Beamte, Stabsoffiziere und Oberoffiziere anschließen werden. Der Erfolg der Verschwörung wird damit wahrscheinlicher, obgleich diese Wahrscheinlichkeit immer noch sehr klein sein wird: denken wir nur an den Ausgang der meisten aus der Geschichte bekannten Verschwörungen. Aber die Hauptgefahr wird der sozialistischen Verschwörung nicht von der Seite der bestehenden Regierung drohen, sondern von der Seite ihrer eigenen Mitglieder. Die in sie eingetretenen einflussreichen und hochgestellten Persönlichkeiten können aufrichtige Sozialisten nur durch einen „glücklichen Zufall" sein.

Was den größten Teil dieser Persönlichkeiten betrifft, kann es keine Garantien dafür geben, dass sie die von ihnen eroberte Macht nicht für Ziele ausnutzen wollen, die mit den Interessen der Arbeiterklasse nichts gemein haben. Wenn aber die Verschwörer von dem sozialistischen Ziel der Verschwörung abweichen, ist sie nicht nur als unnütz, sondern sogar als gefährlich für die. sozialistische Entwicklung des Landes anzusehen; denn unmöglich kann man aus Hass gegen den Absolutismus den Erfolgen „der modernen Seiane" – wie sich Stepnjak in seinem bekannten Buch ausdrückt –, die die Verschwörung in ihrem persönlichen Interesse ausnutzen möchten, Sympathie entgegenbringen. So werden die Resultate einer Verschwörung der sozialistischen Intelligenz mit dem Ziel, in nächster Zukunft die Macht zu ergreifen, umso zweifelhafter, je mehr Sympathie sie in einflussreichen Kreisen finden wird, d. h. je wahrscheinlicher ihr äußerer Erfolg wird; und umgekehrt werden die Resultate einer solchen Verschwörung, soweit es um die Absichten ihrer Mitglieder geht, umso unbezweifelbarer sein, je mehr ihr Kreis auf unsere sozialistische „Intelligenz" beschränkt bleiben wird, d. h. je unwahrscheinlicher ihr glücklicher Ausgang sein wird. Alles zwingt zu der Annahme, dass gegenwärtig der russischen sozialistischen Verschwörung ein Misserfolg eher der zweiten als der ersten Art drohen würde.

In Anbetracht all des Gesagten glauben wir, dass das einzige nicht phantastische Ziel der russischen Sozialisten heute nur sein kann: erstens, freie politische Institutionen zu erkämpfen, und zweitens, Elemente für die Schaffung einer zukünftigen sozialistischen Arbeiterpartei Russlands auszuarbeiten. Sie müssen die Forderung nach einer demokratischen Verfassung aufstellen, die den Arbeitern die „Menschenrechte" ebenso wie die „Bürgerrechte" garantieren und ihnen über das allgemeine Wahlrecht die Möglichkeit der aktiven Teilnahme am politischen Leben des Feindes geben würde. Da solch ein politisches Programm niemanden mit dem einstweilen noch fernen „roten Gespenst" erschreckt, würde es Sympathie für unsere revolutionäre Partei bei allen wecken, die nicht zu den systematischen Gegnern der Demokratie gehören; nicht nur die Sozialisten, auch sehr viele Vertreter unseres Liberalismusk könnten es unterschreiben, und während die Eroberung der Macht durch irgendeine revolutionäre Geheimorganisation immer nur Sache dieser Organisation und der in ihre Pläne eingeweihten Personen bleiben wird, wäre eine Agitation für das genannte Programm Sache der ganzen russischen Gesellschaft, in der sich dadurch das bewusste Streben nach politischer Befreiung verstärken würde. Dann würden die Interessen der Liberalen sie tatsächlich „zwingen", „zusammen mit den Sozialisten gegen die Regierung zu arbeiten", da die Liberalen in den revolutionären Publikationen nicht mehr auf die Überzeugung stoßen würden, dass der Sturz des Absolutismus das Signal zur sozialen Revolution in Russland sein werde. Zugleich würde ein anderer, weniger furchtsamer und eher nüchterner Teil der liberalen Gesellschaft aufhören, in den Revolutionären praxisferne Jünglinge zu sehen, die sich in unausführbaren, phantastischen Plänen verlieren. Diese für die Revolutionäre unvorteilhafte Ansicht würde dem Respekt der Gesellschaft nicht nur vor ihrem Heroismus, sondern auch vor ihrer politischen Reife Platz machen. Allmählich würde diese wohlwollende Haltung in aktive Unterstützung oder, was wahrscheinlicher ist, in eine selbständige gesellschaftliche Bewegung übergehen, und dann hätte endlich die letzte Stunde des Absolutismus geschlagen. Die sozialistische Partei würde in dieser Befreiungsbewegung eine überaus ehrenvolle und nützliche Rolle spielen. Ihre ruhmreiche Vergangenheit, ihre Selbstaufopferung und Energie würden ihren Forderungen Gewicht verleihen, und sie hätte zumindest Chancen, auf diese Art für das Volk die Möglichkeit politischer Entwicklung und Erziehung zu erkämpfen und für sich das Recht, sich offen an. das Volk mit ihrer Propaganda zu wenden und es offen in einer besonderen Partei zu organisieren.

Aber das ist nicht genug. Genauer gesagt, das ist unerreichbar ohne sine gleichzeitige Tätigkeit anderer Art und auf anderem Gebiet,

Ohne Stärke gibt es auch kein Recht. Jede Verfassung – wie es Lassalle ausgezeichnet ausdrückte – stimmt mit den „realen, faktischen Kräfteverhältnissen, die in einem Lande bestehen", überein oder ist bestrebt, mit ihnen in Übereinstimmung zu kommen. Daher muss unsere sozialistische Intelligenz dafür Sorge tragen, noch in der vorkonstitutionellen Periode diese faktischen Verhältnisse der russischen gesellschaftlichen Kräfte zugunsten der Arbeiterklasse zu verändern. Andernfalls wird der Fall des Absolutismus bei weitem nicht zu den Hoffnungen berechtigen, die die russischen Sozialisten oder Demokraten in ihn setzen. Die Forderungen des Volkes können auch in einem konstitutionellen Russland ohne Einfluss bleiben oder lediglich in dem Maße erfüllt werden, wie es für die Hebung seiner Besteuerungsfähigkeit notwendig ist, die heute fast völlig durch den räuberischen Charakter der staatlichen Wirtschaft erschöpft ist. Die sozialistische Partei selbst könnte, nachdem sie der liberalen Bourgeoisie Rede- und Handlungsfreiheit erkämpft hat, sich plötzlich in einem „Ausnahme"-Zustand wiederfinden, ähnlich der Lage der heutigen deutschen Sozialdemokratie. In der Politik auf die Dankbarkeit der gestrigen Bundesgenossen und heutigen Feinde rechnen kann nur der, dem es unmöglich ist, auf Irgendetwas Ernsteres zu rechnen.

Zum Glück können die russischen Sozialisten ihre Hoffnungen auf eine festere Grundlage bauen. Sie können und müssen vor allem auf die Arbeiterklasse vertrauen. Die Stärke der Arbeiterklasse, wie auch jeder anderen Klasse, hängt unter anderem von der Klarheit ihres politischen Bewusstseins, von ihrer Geschlossenheit und Organisiertheit ab. Gerade diese Elemente ihrer Stärke müssen durch unsere sozialistische Intelligenz beeinflusst werden. Sie muss zur Führerin der Arbeiterklasse in der bevorstehenden Befreiungsbewegung werden, muss sie aufklären über ihre politischen und ökonomischen Interessen wie auch über die wechselseitige Beziehung dieser Interessen und muss sie auf ihre eigenständige Rolle im gesellschaftlichen Leben Russlands vorbereiten. Sie muss alle Kräfte darauf richten, dass unsere Arbeiterklasse gleich in der ersten Periode des konstitutionellen Lebens Russlands als besondere Partei mit einem klaren sozialen und politischen Programm auftreten kann. Die detaillierte Ausarbeitung dieses Programmes muss natürlich den Arbeitern selbst überlassen bleiben, aber die Intelligenz muss sie über seine wichtigsten Punkte aufklären, wie zum Beispiel radikale Revision der bestehenden Agrarverhältnisse, des Steuersystems und der Fabrikgesetzgebung, staatliche Hilfe für Produktivgenossenschaften usw. Das alles kann nur durch eine verstärkte Arbeit in den zumindest am weitesten fortgeschrittenen Schichten unserer Arbeiterklasse, durch mündliche und schriftliche Propaganda und Organisierung sozialistischer Arbeiterzirkel erreicht werden. Diese Aufgaben haben tatsächlich immer einen mehr oder weniger bedeutenden Platz in den Programmen unserer Sozialisten eingenommen, und der „Kalender der Narodnaja Wolja" kann uns davon überzeugen, dass sie selbst in der Hitze des erbittertsten Kampfes gegen die Regierung nicht vergessen waren (siehe „Die vorbereitende Arbeit der Partei", Rubrik – C, städtische Arbeiter). Aber wir schlagen jedem, der mit unserer revolutionären Bewegung vertraut ist, vor, sich zu erinnern und zu vergleichen, wie viel an Kräften und Mitteln die Zerstörungsarbeit verschlungen hat und wie viel der Vorbereitung von Elementen für die zukünftige sozialistische Arbeiterpartei gewidmet war. Wir machen niemandem einen Vorwurf, glauben aber, dass die Verteilung der revolutionären Kräfte zu einseitig war. Allerdings wäre es unbegründet, dies aus dem Charakter der revolutionären Kräfte selbst oder des Arbeitermilieus erklären zu wollen, auf das sie gemäß ihrem eigenen Programm Einfluss zu nehmen hatten. Das Erscheinen und der Erfolg solcher Publikationen wie des „Serno" und der „Rabotschaja Gaseta" zeigen, dass unsere Revolutionäre die Neigung zur Propaganda nicht verloren haben und unsere Arbeiter ihr gegenüber nicht gleichgültig geblieben sind. Die genannten Publikationen waren natürlich nicht frei von Fehlern, manchmal äußerst schwerwiegenden, aber keine Fehler macht nur der, der nichts tut. Das Hauptübel liegt darin, dass in der Herausgabe dieser Blätter die Energie, mit der die literarische Propaganda in den „intellektuellen" Schichten der Gesellschaft geführt wird, nicht erkennbar ist, dass eine beschlagnahmte Druckerei nicht durch eine neue ersetzt wird, dass die Verlagstätigkeit nicht wegen der Unmöglichkeit, sie in Russland durchzuführen, ins Ausland verlegt wird, usw. Unter allen ausländischen Zeitschriften, und davon gab es bei uns nicht wenige, richtete sich nur der „Rabotnik"' an Leser aus dem Volk, und darin liegt das größte Verdienst seiner Herausgeber. Aber der „Rabotnik" hat seine Tätigkeit schon längst eingestellt, und wir haben nichts von neuen Versuchen in dieser Art gehört, zum Beispiel mit einem anderen Programm, das den veränderten Ansichten der russischen Sozialisten näherkäme. Was ist bei uns für die Arbeiter in Russland herausgegeben worden außer dem „Serno" und der „Rabotschaja Gaseta"? Absolut nichts. Kein einziges Buch, keine einzige Broschüre.l Und das zu einer Zeit, als die revolutionäre Bewegung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkte und das Volk, das gierig alle Gerüchte und Meinungen aufgriff, sich unschlüssig fragte: was wollen diese Leute? Darf man sich dann noch über die unsinnigen Antworten auf diese Frage wundern, mit denen es sich manchmal, in Ermangelung besserer, begnügen musste? Wir wiederholen, wir beschuldigen niemanden, aber raten allen, ihre Aufmerksamkeit auf diese Seite der Sache zu richten, um rechtzeitig das Versäumte nachzuholen.m

Kampf um die politische Freiheit einerseits und Vorbereitung der Arbeiterklasse auf ihre zukünftige selbständige und offensive Rolle andererseits – dies ist unserer Meinung nach die gegenwärtig einzig mögliche „Aufgabenstellung der Partei". Zwei so wesentlich verschiedene Dinge zu einem zu verbinden wie die Niederwerfung des Absolutismus und die sozialistische Revolution, den revolutionären Kampf mit Rücksicht darauf zu führen, dass diese Momente der gesellschaftlichen Entwicklung in der Geschichte unseres Vaterlandes zusammenfallen werden – bedeutet, sowohl das Eintreten des einen als auch des anderen hinauszuschieben. Aber von uns hängt es ab, diese zwei Momente einander anzunähern. Wir müssen dem ausgezeichneten Beispiel der deutschen Kommunisten folgen, die, nach den Worten des Manifests, „sobald die Bourgeoisie revolutionär auftrat, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie" kämpften, und es zur selber Zeit „keinen Augenblick unterließen, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewusstsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten". Mit diesem Vorgehen wollten die Kommunisten erreichen, dass „die deutsche bürgerliche Revolution nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein wird".

Die heutige Lage der bürgerlichen Gesellschaften und der Einfluss der internationalen Verhältnisse auf die soziale Entwicklung eines jeden zivilisierten Landes geben uns das Recht zu hoffen, dass die soziale Befreiung der russischen Arbeiterklasse sehr schnell auf den Fall des Absolutismus folgen wird. Wenn die deutsche Bourgeoisie „zu spät kam", so hat sich die russische noch mehr verspätet, und ihre Herrschaft kann nicht von langer Dauer sein. Allerdings dürfen die russischen Revolutionäre nicht ihrerseits „zu spät" die Vorbereitung der Arbeiterklasse beginnen, eine Sache, die schon jetzt aktuell und lebensnotwendig ist.

Zur Vermeidung von Missverständnissen eine vorbeugende Erklärung. Wir folgen nicht der Auffassung – die eher, wie wir gesehen haben, der Schule von Marx angedichtet worden ist, als dass sie in Wirklichkeit bestanden hat – der Auffassung, nach der die sozialistische Bewegung keine Unterstützung in unserer Bauernschaft finden könne, solange der Bauer sich nicht in einen landlosen Proletarier verwandelt habe und die dörfliche Gemeinde unter dem Einfluss des Kapitalismus zerfallen sei. Wir glauben, dass – im Allgemeinen – die russische Bauernschaft jeder Maßnahme große Sympathie entgegenbringen würde, die auf die sogenannte „Nationalisierung des Bodens" abzielt. Für den Fall, dass eine etwas freiere Agitation in der Bauernschaft möglich istn, würde sie auch mit den Sozialisten sympathisieren, die selbstverständlich nicht zögern würden, eine Forderung nach Maßnahmen solcher Art in ihr Programm aufzunehmen. Aber wir überschätzen nicht die Kräfte unserer Sozialisten und ignorieren nicht die Hindernisse, den Widerstand des Milieus, mit denen sie bei ihrer Tätigkeit unvermeidlich rechnen müssen. Deshalb, und nur deshalb, glauben wir, dass sie für die erste Zeit ihre hauptsächliche Aufmerksamkeit auf die Industriezentren konzentrieren müssen. Die heutige Dorfbevölkerung, die unter rückständigen Verhältnissen lebt, ist nicht nur weniger als die Industriearbeiter fähig zu einer bewussten politischen Initiative, sondern auch weniger aufnahmebereit für die von unserer revolutionären Intelligenz begonnene Bewegung. Ihr fällt es schwerer, sich die sozialistischen Lehren anzueignen, weil ihre Lebensbedingungen den Bedingungen zu unähnlich sind, die diese Lehren hervorgebracht haben. Zudem durchlebt heute die Bauernschaft eine schwierige, kritische Periode. Die früheren „altväterlichen Stützen" ihrer Wirtschaft stürzen ein, „selbst die vom Unglück verfolgte Dorfgemeinde wird in ihren Augen diskreditiert", wie sogar solche „altväterlich" volkstümlerischen Organe wie die „Nedelja“ (siehe Nr. 39, den Artikel des Herrn N. Z. „In der Heimat") eingestehen; die neuen Formen der Arbeit und des Lebens bilden sich erst heraus, und dieser konstruktive Prozess findet seine größte Intensität eben in den Industriezentren. Wie das Wasser den einen Teil des Bodens wegschwemmt und zerstört und an anderen Stellen neue Ablagerungen und Schichten bildet, so bildet der Prozess der russischen sozialen Entwicklung neue gesellschaftliche Strukturen und zerstört die jahrhundertealten Formen des Verhältnisses der Bauern zur Erde und zueinander. Diese neuen gesellschaftlichen Strukturen tragen die Keime einer neuen gesellschaftlichen Bewegung in sich, die als einzige imstande ist, der Ausbeutung der werktätigen Bevölkerung Russlands ein Ende zu setzen. Die Industriearbeiter, die eine größere Reife, höhere Bedürfnisse und einen breiteren Gesichtskreis als die Bauernschaft besitzen, werden sich unserer revolutionären Intelligenz in ihrem Kampf gegen den Absolutismus anschließen und sich dann, nach Erringung der politischen Freiheit, in einer sozialistischen Arbeiterpartei organisieren, die eine systematische Propaganda des Sozialismus in der Bauernschaft wird beginnen müssen. Wir reden von einer systematischen Propaganda deshalb, weil einzelne Gelegenheiten der Propaganda und Agitation in der Bauernschaft natürlich auch in der Gegenwart nicht versäumt werden dürfen. Es ist kaum notwendig hinzuzufügen, dass unsere Sozialisten die Verteilung ihrer Kräfte im Volk ändern müssten, wenn sich in der Bauernschaft eine starke eigenständige Bewegung zeigen würde.

Das ist das „Programm", das das Leben selbst der russischen revolutionären sozialistischen Partei vorschreibt. Wird sie imstande sein, dieses Programm zu verwirklichen? Wird sie die phantastischen Pläne und Vorhaben aufgeben wollen, die, man muss es gestehen, dem Gefühl und der Einbildungskraft so viel bedeuten? Vorläufig ist es noch schwer, darauf mit Sicherheit zu antworten. Die „Ankündigung der Herausgabe des ’Westnik Narodnoj Woli'" spricht von den politischen Aufgaben der revolutionären Partei nur in allgemeinster Form . Die Redaktion des „Westnik" nennt diese Ziele „genau bestimmt" und hält es offenbar nicht für notwendig, sie in ihrer Ankündigung von neuem zu bestimmen. Hat man also Grund zu fürchten, dass sie es auch nicht für nötig halten wird, sich zu fragen, ob „die genau bestimmten Verhältnisse" der gegenwärtigen russischen Wirklichkeit „den genau bestimmten Zielen" der Partei Narodnaja Wolja entsprechen? In diesem Falle wird das neue Organ das dringendste Bedürfnis unserer revolutionären Literatur unbefriedigt lassen – das Bedürfnis nach einer kritischen Revision der veralteten Programme und der traditionellen Methoden unserer Tätigkeit. Doch wir hoffen, dass die Zukunft unsere Befürchtungen zerstreuen wird. Wir wollten gern glauben, dass das neue Organ diese Aufgaben unserer revolutionären Partei, von deren Lösung ihre Zukunft abhängt, nüchtern betrachtet. Das gesellschaftliche Leben wird den jetzigen Illusionen der Partei mit derselben Schonungslosigkeit begegnen, mit der es den Illusionen unserer „Rebellen" und Propagandisten begegnet ist.

Es ist besser, jetzt seinen Hinweisen zu folgen, als später seine harten Lektionen mit neuen Spaltungen und neuen Enttäuschungen zu bezahlen.

A Siehe die Broschüre „Andrej Iwanowitsch Scheljabow", S. 10

B Siehe „Entwicklung des Sozialismus", S. 18

C Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Jetzt hat in Frankreich endgültig der Marxismus gesiegt, dessen grundlegende Sätze, in mehr oder weniger verdrehter Form, sogar von den „Opportunisten" aus dem Lager von Jaurès anerkannt werden.

D Siehe „Confession d'un révolutionnaire“» Préface, p. 4 („Bekenntnisse eines Revolutionärs", S.4 – A.d.Ü.)

E Bis zu welchem Grade Aristoteles ein „Skeptiker in der Frage des Staates" war, ersieht man aus dem ersten Kapitel des ersten Buches seiner „Politik". wo er sagt, „der Staat" sei „die vollendetste Form des Gemeinwesens", sein Zweck sei das „höchste Gut" und daher erweise sich der Staat als eine Erscheinung, „die im höchsten Sinn dieses Wortes natürlich ist, und der Mensch ist das Lebewesen, das gerade durch seine Natur zur staatlichen Form des Gemeinwesens prädestiniert ist." (B, I, C. I, §§ I-XI der deutschen Ausgabe von Susemihl 1879). Der Autor der „Politik" verhält sich in der Tat so „skeptisch" zum Staat wie Proudhon zur Warenproduktion; ersterer konnte sich keine andere höchste Form des Gemeinwesens vorstellen, letzterer ahnte nicht, dass die Produkte unter die Mitglieder der Gesellschaft verteilt werden können, ohne dass sie die Gestalt von Waren annehmen.

1 „Die allgemeine Idee der Revolution im XIX. Jahrhundert (A.d.Ü.)

G Wir wollen den Leser nur an den Einwand erinnern, der gegenüber Proudhon von Rittinghausen gemacht worden ist. „Die Staatsgewalt, die Regierung mit allen ihren Formen", sagte der unermüdliche Propagandist der Theorie der direkten Volksgesetzgebung, „stellen nur Erscheinungsformen des einen Wesens dar, das heißt: der Eingriff der Gesellschaft in die Beziehungen der Menschen zu den Dingen und vermittels der Dinge – der Menschen zueinander Ich fordere Herrn Proudhon auf, mir den folgenden Schluss als Resultat seiner geistigen Arbeit ins Gesicht zu schleudern: ;Nein, es bedarf nicht eines solchen Eingriffs der Gesellschaft in die Beziehungen der Menschen zu den Dingen und zueinander! ’" Siehe „Legislation directe par le peuple et ses adversaires" p. 194-195 .(„Die direkte Volksgesetzgebung und ihre Gegner“ S. 194-195 – A.d.Ü.) Rittinghausen war der Ansicht: „Die Frage auf diese Art zu stellen, bedeutet, sie zu lösen", da „Herr Proudhon selbst die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs anerkennt". Aber er sah nicht voraus, dass die Schüler über den Lehrer hinausgehen würden und die Theorie der Anarchie schließlich zu einer Theorie des „sozialen Amorphismus" entarten würde. Die heutigen Anarchisten erkennen keinerlei Eingriff der Gesellschaft in die Beziehungen der Individuen an, wie sie es auf den Seiten einiger ihrer Organe mehrfach erklärt haben.

H Siehe die überaus interessante und charakteristische Broschüre M. A. Bakunins „Die Wissenschaft und die lebensnotwendige revolutionäre Sache".

I Siehe „Offener Brief an Herrn F. Engels"

J Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur den genannten „Brief an Fr. Engels" mit der oben zitierten Broschüre von M. A. Bakunin zu vergleichen.

K D. h. ob sie in der Gestalt von Waren erscheinen oder ob sie unmittelbar konsumiert werden von der Familie des Produzenten, von seinem Herrn oder schließlich vom Staat, ohne überhaupt auf dem Markt zu erscheinen.

L Wir bitten im Auge zu behalten, dass wir nicht über die Redaktion der Zeitschrift „Wperjod" sprechen, sondern über die in Russland tätigen Anhänger dieses Organs.

2die Revolution steht über der Politik (A.d.Ü.)

3In der ersten Ausgabe: „die Periode des Freihandels“

M Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Jahre später haben die „Marxkritiker" uns, den „Orthodoxen", vorgeworfen, wir würden gegen jeden Versuch einer Weiterentwicklung der Ansichten von Marx aufstehen. Der Leser sieht, dass ich keine Neigung zu einem ähnlichen Aufstand zeigte. Aber es versteht sich von selbst, dass ich als Schüler von Marx, der die große Bedeutung seiner Lehre begriffen hat, gegen jeden Versuch auftreten musste, einige Sätze des Marxismus durch alte, längst überlebte bürgerliche Dogmen zu ersetzen. Und diese meine Verpflichtung habe ich erfüllt,, so gut ich konnte.

N Siehe „Zur Kritik der Politischen Ökon.", Vorwort, s. S. IV-VI

O Siehe „Herrn Eugen Dührings Umwälz. der Wissensch.", S. 6

P Siehe „Essai sur l'histoire du Tiers Etat", par Aug, Thierry. P. 33-34

Q Die Anhänger des Feudalismus begriffen die Ziele der Bürger und den Zusammenhang ihrer politischen und ökonomischen Forderungen ausgezeichnet. „Kommune ist ein neues und schändliches Wort", sagt Abt Gilbertus, „und es bedeutet: Leute, die zu Abgaben verpflichtet sind, zahlen ihrem Herrn die von ihnen geschuldete Rente nur einmal im Jahr. Wenn sie irgendeine Straftat begehen, zahlen sie die gesetzlich festgesetzte Strafe; aber was die Besteuerungen in Geld angeht, denen gewöhnlich die Leibeigenen unterworfen sind, so befreien sie sich von ihnen völlig". Laurent. La féodalité et l'église, p. 546

R Das Statut von Lüttich stellt das Prinzip der Unverletzlichkeit der Wohnung in folgendem energischen Ausdruck fest: „Der Bettler ist in seiner Wohnung König". Laurent. ibid. p. 548,

S Von Studnitz. Nordamerikanische Arbeiterverhältnisse, S. 353

T Wir zitieren dieses Programm nach dem Buch von B. Malon: „Le nouveau parti", t. I, p. 15. ("Die neue Partei", Bd. I, S. 15 – A.d.Ü.)

U Siehe „Sozialdemokratische Abhandlungen" von M, Rittinghausen, drittes Heft, „über die Notwendigkeit der direkten Gesetzgebung durch das Volk". S. 3.

V Siehe die Programme der deutschen und der nordamerikanischen Arbeiterpartei. Das Manifest der englischen demokratischen Partei fordert ebenso „die direkte Abstimmung in allen wichtigen Fragen".

W Siehe Schäffle, Bau und Leben des soz. Körpers. B. III, S. 91 und 102

X Siehe „System der erworbenen Rechte", Leipzig 1880, erster Teil, Vorrede, S. VII.

Y Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Diese Zeilen wurden 15 Jahre vor dem Auftreten des Herrn Bernstein in der Rolle des „Marxkritikers“ geschrieben. Der Leser möge selbst entscheiden, ob dieser „Kritiker" und seine zahlreichen Gesinnungsfreunde recht haben, wenn sie uns, den „Orthodoxen", vorwerfen, wir würden die Revolution des Proletariats als eine einfache und fast augenblickliche „Katastrophe" verstehen.

Z Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Es mag paradox erscheinen, aber in Wirklichkeit wurde die Theorie der politischen Nichteinmischung der Arbeiterklasse von Bakunin als Folgerung aus der materialistischen Auffassung der Geschichte formuliert Bakunin, der ein feuriger Anhänger dieser Auffassung war, argumentierte so: wenn die politische Struktur einer bestimmten Gesellschaft sich auf ihre Ökonomie gründet, so ist die politische Revolution überflüssig; sie selbst wird das Resultat der ökonometrischen Revolution sein. Dieser Mann, der einst ein Schüler Hegels war und der, scheint es, seine Logik geschärft haben müsste, konnte überhaupt nicht begreifen, dass Resultat der Ökonomie nicht nur jede gegebene, fertige politische Struktur ist, sondern auch jede neue politische Bewegung, die, entstanden auf dem Boden der gegebenen ökonomischen Verhältnisse, ihrerseits zum unersetzlichen Mittel ihrer Umgestaltung dient. Auf diesem Missverständnis bauen bisher die ernsthaftesten Einwände der Anarchisten gegen die Sozialdemokraten auf.

a Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Das berührt die „Verelendungstheorie", die zur Zeit der „Bernsteiniade" so viel Lärm verursacht hat. über sie siehe in meinem Aufsatz „Kritik unserer Kritiker" im 2.-3. Buch der „Sarja".

b Anmerkung zur Ausgabe von 1905: D. i. Rodbertus

c Anmerkung zur Ausgabe von 1905. Ich meine wieder Rodbertus.

d Siehe „Deutsch-Französische Jahrbücher", 1. u. 2. Lieferung, S. 81-85

e Das Gesagte bezieht sich übrigens nicht auf die Gruppe, die in Genf das „Narodnoje Delo" herausgegeben hat, eine Gruppe, die mehrfach ihre ablehnende Haltung zur „Theorie der politischen Nichteinmischung" erklärt hat.

f Siehe den Aufsatz „Ein Blick auf die Vergangenheit und Gegenwart des russischen Sozialismus", „Kalender der Narodnaja Wolja für das Jahr 1883", S. 109.

g Anmerkung zur Ausgabe von 1905:

Später haben diesen Unsinn in verschiedenen Arten unsere „legalen" Kritiker wiederholt – N. Michailowski und Co. überhaupt muss man sagen, dass diese Herren in Auseinandersetzungen mit uns sich absolut nichts Neues ausdenken konnten im Vergleich zu dem, was gegen uns in der illegalen Literatur geschrieben wurde. Wer sich davon überzeugen will, möge den Aufsatz des Herrn Tichomirow in dem 2. Buch des „Westnik Narodnoj Woli" („Was haben wir von der Revolution zu erwarten?") lesen und es mit den Argumenten vergleichen, die lange danach Beltow in seinem Buch zu widerlegen hatte. Der „illegale" Gedanke ist bei uns dem „legalen" längst zuvorgekommen.

h Siehe „Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Sozialismus", dritte Auflage, S. 498.

i „Die vorbereitende Arbeit der Partei", S. 129 in der Anmerkung (Hervorhebung von Plechanow – A.d.U.)

j Siehe den „Brief an Alexander III". Kalender der Narodnaja Wolja", S. 14.

4 Im Original deutsch (A.d.U.)

5 In der ersten Ausgabe: „Stände“

k Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Die Sympathie der „Gesellschaft" ist für uns sehr wichtig, und wir haben die Möglichkeit – genauer: wir hatten viele Chancen – sie zu erwerben, ohne ein Jota unseres Programms zu ändern. Aber natürlich ist für den Übergang dieser Möglichkeit zur Wirklichkeit ein Feingefühl erforderlich, das wir nicht immer besitzen. So zum Beispiel schimpfen wir manchmal auf das „Kapital" los, ausgerechnet dann, wenn – obgleich natürlich nicht, weil – es „rebelliert". Marx hätte niemals einen so großen taktischen Fehler gemacht. Er wäre zu dem Schluss gekommen, dass dieser eines Karl Grün und anderer „wahrer Sozialisten" würdig sei.

l Anmerkung zur Ausgabe von 1905: Hieraus ist zu ersehen, dass die Idee eines populären Organs durchaus keine Neuigkeit in unserer Literatur ist. Aber dieser Umstand hinderte sie selbstverständlich nicht daran, vielen Genossen als gefährliche Neuerung zu erscheinen noch am Vortag unseres zweiten Parteitags, als ich unter den Iskra-Anhängern fast ihr einziger Befürworter war. Heute hat diese Idee schon ihre praktische – mehr oder weniger geglückte – Verwirklichung gefunden. Besser spät als nie. Aber wenn Sie, der Leser, gehört hätten, welche außergewöhnlichen Argumente gegen diese Idee zu der eben bezeichneten, uns noch nicht fernen Zeit angeführt worden sind. Sie würden wie Faust ausrufen: Wie weh, wie weh, wie weh[e]! (Deutsch im Original – A.d.U.)

m „Im verflossenen Jahr" – lesen wir in der Ergänzung zum „Blatt der N. W." Nr. 1 (1883, S. 61), – „gab es eine ganze Reihe von Streiks, die infolge des Fehlens einer Arbeiterorganisation größtenteils mit einem Misserfolg endeten"!

n Anmerkung zur Ausgabe von 1905: D. h. unter einer Konstitution

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