Lenin‎ > ‎1909‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19091229 Brief an I. I. Skworzow-Stjepanow

Wladimir I. Lenin: Brief an I. I. Skworzow-Stjepanow1

16./29. Dezember 1909

[Nach Ausgewählte Werke, Band 4, Die Jahre der Reaktion und des neuen Aufschwungs 1908–1914, Wien 1933, S. 229-235]

Lieber Kollege!

Ich habe Ihre Antwort erhalten und ergreife die Feder zur Fortsetzung der Unterhaltung.

Sie wollen die Frage mehr auf den theoretischen (und nicht auf den taktischen) Boden verschieben. Einverstanden. Ich erinnere nur daran, dass der Ausgangspunkt Ihrerseits ein taktischer war: Sie haben ja doch die „klassische Aufstellung“ der grundlegenden taktischen These abgelehnt. Diese taktische Entscheidung haben Sie (ohne die taktischen Schlussfolgerungen aus ihr ganz auszusprechen) im Zusammenhang mit der Leugnung der „amerikanischen Möglichkeit“ vorgesehen. Deshalb halte ich die Darlegung unserer Meinungsverschiedenheiten nicht für richtig, die Sie mit den Worten geben: „Sie (d. h. ich) betonen die Tatsache der Bewegung der Bauernschaft. Ich anerkenne die Tatsache der Bewegung der sich proletarisierenden Bauernschaft“. Nicht darin liegt die Meinungsverschiedenheit. Leugne doch auch ich in der Tat nicht, dass die Bauernschaft sich proletarisiert. Die Meinungsverschiedenheit besieht darin, ob sich in Russland das bürgerliche Agrarregime so weit gefestigt hat, um einen schroffen Übergang von der „preußischen“ Entwicklung des Agrarkapitalismus zur „amerikanischen“ Entwicklung des Agrarkapitalismus objektiv unmöglich zu machen. Wenn ja, dann fällt die „klassische“ Stellung der grundlegenden Frage der Taktik weg. Wenn nicht, dann bleibt sie bestehen.

Ich nun halte dafür, dass sie bestehen bleiben muss. Ich leugne die Möglichkeit des „preußischen“ Weges nicht; ich bekenne, dass der Marxist weder für einen von diesen Wegen „garantieren“ noch sich nur auf einen derselben festlegen soll; ich gebe zu, dass die Politik Stolypins noch einen Schritt weiter auf dem „preußischen“ Wege macht und dass auf diesem Wege auf einer gewissen Stufe ein dialektisches Umschlagen eintreten kann, das alle Hoffnungen und Aussichten auf den „amerikanischen“ Weg von der Tagesordnung ab setzt. Aber ich behaupte, dass augenblicklich dieser Umschwung bestimmt noch nicht eingetreten ist und dass es deshalb für einen Marxisten absolut unzulässig, theoretisch absolut falsch ist, die „klassische“ Stellung der Frage abzulehnen. Darin bestehen unsere Meinungsverschiedenheiten.

Theoretisch lassen sie sich, wenn ich nicht irre, in zwei Hauptpunkte zusammenfassen: 1. Ihr „Verbündeter“ W. Iljin muss von mir vernichtet werden, um meine Haltung zu rechtfertigen. Mit anderen Worten, diese Haltung widerspricht den Ergebnissen der marxistischen Analyse der vorrevolutionären Ökonomik Russlands. 2. Die „klassische“ Fragestellung kann und muss dem Agraropportunismus der Reformisten (David und Konsorten) gegenübergestellt werden, denn es gibt keinerlei wesentlichen, prinzipiellen, grundlegenden Unterschied zwischen der Stellung der Frage nach der Haltung des Arbeiters zum „Bäuerlein“ in Russland und in Deutschland.

Diese beiden Thesen halte ich für grundfalsch. Ad 1. Um mich nicht mit der „Taktik“ zu befassen, lasse ich den Martynowschen Ausfall gegen Iljin außer Acht und werde nur zu Ihrer Stellung der theoretischen Frage übergehen.

Was hat Iljin zu beweisen versucht und bewiesen? Erstens, dass sich die Entwicklung der Agrarverhältnisse in Russland sowohl in der gutsherrlichen als auch in der bäuerlichen Wirtschaft, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Dorfgemeinschaft auf kapitalistische Weise vollzieht. Zweitens, dass diese Entwicklung den ausschließlich kapitalistischen Weg und die ausschließlich kapitalistische Klassengruppierung bereits unwiderruflich festgelegt hat.

Darum ging der Streit mit den Narodniki. Das musste bewiesen werden und das wurde bewiesen. Das bleibt bewiesen. Die Frage, die augenblicklich gestellt wird (und durch die Bewegung 1905-1907 gestellt worden ist), ist eine andere, eine weitgehende, die die Entscheidung der von Iljin (und zwar natürlich nicht von ihm allein) entschiedenen Frage voraussetzt, die aber nicht nur das voraussetzt, sondern etwas mehr, etwas Komplizierteres, etwas Neues. Außer der Frage, die in den Jahren 1883-1885, in den Jahren 1895-1899 endgültig und richtig entschieden worden ist, hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Russland uns eine weitere Frage gestellt – und es gibt nichts theoretisch Irrigeres, als vor ihr zurückzuweichen und sich ihrer unter Hinweis auf das, was früher entschieden wurde, zu entledigen, sie damit abzutun zu suchen. Das würde bedeuten, dass man Fragen der sozusagen zweiten, das heißt höheren Klasse auf Fragen der niedrigeren, der ersten Klasse reduziert. Es geht nicht an, bei einer allgemeinen Entscheidung der Frage des Kapitalismus stehen zu bleiben, nachdem neue Ereignisse (und zwar Ereignisse von welthistorischer Wichtigkeit wie jene der Jahre 1905–1907) eine konkretere, mehr ins Einzelne gehende Frage, die Frage des Kampfes der zwei Wege oder Methoden der kapitalistischen Agrarentwicklung aufgeworfen haben. Als wir mit den Narodniki im Kampfe lagen wegen der Beweisführung dafür, dass dieser Weg unvermeidlich und unwiderruflich der kapitalistische ist, waren wir vollständig im Recht und konnten gar nicht umhin, unsere ganze Kraft, unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Frage: Kapitalismus oderVolksproduktion“ zu konzentrieren. Das war sowohl natürlich als auch unvermeidlich und berechtigt. Jetzt aber ist diese Frage sowohl durch die Theorie als auch durch das Lehen entschieden (denn das kleinbürgerliche Wesen der Trudowiki en masse ist durch die jüngste russische Geschichte bewiesen), auf der Tagesordnung steht eine andere, eine höhere Frage: ob Kapitalismus vom Typus a oder Kapitalismus vom Typus b. Und nach meiner bestimmten Überzeugung hatte Iljin recht, als er im Vorwort zur zweiten Auflage des Buches darauf hinwies, dass aus ihm die Möglichkeit von zwei Arten der kapitalistischen Agrarentwicklung sich ergibt und dass der geschichtliche Kampf um diese beiden Arten noch nicht zu Ende ist.

Die Besonderheit des russischen Opportunismus im Marxismus, das heißt des Menschewismus in unserer Zeit besteht darin, dass er Hand in Hand geht mit einer doktrinären Vereinfachung, Verflachung, Verdrehung des Buchstabens des Marxismus, mit einem Verrat an seinem Geist (so war es sowohl mit der Richtung des „Rabotscheje Djelo“ als auch mit der Struves). Die Menschewiki haben, als sie die Narodniki-Bewegung als eine falsche Doktrin des Sozialismus bekämpften, in doktrinärer Weise den historisch realen und fortschrittlichen geschichtlichen Inhalt der Narodniki-Bewegung als Theorie des einen Massencharakter tragenden kleinbürgerlichen Kampfes des demokratischen Kapitalismus gegen den liberal-grundherrlichen Kapitalismus, des „amerikanischen“ Kapitalismus gegen den „preußischen" Kapitalismus übersehen und verpasst. Daher ihre ungeheuerliche, idiotische, renegatenhafte Idee (die auch das „Obschtschestwennoje Dwischenije“ ganz durchdrungen hat), dass die Bauernbewegung reaktionär sei, dass der Kadett fortschrittlicher sei als der Trudowik, dass „die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ (= klassische Stellung) in Widerspruch stehe „zu dem gesamten Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung“ (Seite 661 des „Obschtschestwennoje Dwischenije“). „In Widerspruch stehe zu dem gesamten Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung“ – trägt das nicht den Geist der Reaktion in sich?

Ich halte dafür, dass der Kampf gegen diese ungeheuerliche Verdrehung des Marxismus die Grundlage der „klassischen Fragestellung“ und die richtige Grundlage war, wenn auch dieser Kampf leider infolge der natürlichen Umstände der Epoche taktisch sehr eifrig und theoretisch nicht genügend eifrig geführt wurde. Übrigens ist der Ausdruck „leider“ hier nicht das richtige Wort und muss fortgelassen werden!

Diese Agrarfrage nun ist denn auch heute in Russland die nationale Frage der bürgerlichen Entwicklung. Um nicht in den Fehler einer (mechanischen) Übertragung des in vielem richtigen und in jeder Hinsicht äußerst wertvollen deutschen Musters auf uns zu verfallen, muss man sich klar vorstellen, dass die nationale Frage der vollständig gefestigten bürgerlichen Entwicklung Deutschlands die Vereinigung usw., aber nicht die Agrarfrage war, während die nationale Frage der endgültigen Festigung der bürgerlichen Entwicklung Russlands gerade die Agrar- (sogar bereits: die Bauern-) Frage ist.

Hier haben wir – die rein theoretische Grundlage des Unterschieds in der Anwendung des Marxismus im Deutschland der Jahre 1848–1868 (beiläufig) und auf das Russland der Jahre 1905–19??.

Wodurch kann ich beweisen, dass bei uns die nationale Bedeutung für die bürgerliche Entwicklung die Agrarfrage erlangt hat und nicht irgend eine andere Frage? Ich weiß wirklich nicht, ob es eines solchen Beweises bedarf. Ich glaube, dass das feststeht. Aber gerade hier liegt die theoretische Grundlage und gerade darauf müssen alle Teilfragen reduziert werden. Sollte es doch zum Streit kommen, so werde ich kurz (zunächst! kurz) aufzeigen, dass gerade durch den Verlauf der Ereignisse, der Tatsachen, durch die Geschichte der Jahre 1905 bis 1907 der Beweis geliefert worden ist für die von mir dargelegte Bedeutung der Agrar- (der Bauern- und natürlich der kleinbürgerlichen Bauern-, nicht aber der Gemeinschaftsbauern-)Frage in Russland. Das beweist heute sowohl das Gesetz vom 3./16. Juni 1907 als auch die Zusammensetzung sowie die Tätigkeit der III. Duma, ferner ein Einzelumstand – der 20. November/3. Dezember 1909 und (was besonders wichtig ist) die Agrarpolitik der Regierung.

Wenn wir uns darüber einig sind, dass die jüngste Geschichte Russlands, die Geschichte der Jahre 1905-1909, die grundlegende, erstklassige, nationale (in diesem Sinne aufgefasst) Bedeutung der Agrarfrage in der Verankerung der bürgerlichen Evolution eines bestimmten Typus in Russland bewiesen hat, so können wir weitergehen Wenn nicht, dann nicht.

Die bürgerliche Entwicklung Russlands war um das Jahr 1905 bereits vollauf ausgereift, um die sofortige Zerschlagung des überlebten Überbaus, des überlebten, mittelalterlichen Grundbesitzes zu erfordern (Sie werden natürlich begreifen, warum ich hier aus dem gesamten Überbau nur den Grundbesitz herausgreife). Wir leben in der Epoche dieser Zerschlagung, die die verschiedenen Klassen des bürgerlichen Russland auf ihre Art und Weise zu vollenden, zu Ende zu führen bestrebt sind: die Bauern (+ Arbeiter) durch die Nationalisierung (ich hin sehr erfreut, dass wir mit Ihnen einig sind über den völligen Unsinn der Munizipalisierung; die Zitate aus den „Theorien über den Mehrwert" zugunsten der Nationalisierung habe ich bereits in einer meiner Arbeiten, die zum Teil in polnischer Sprache erschienen ist2, angeführt), die Großgrundbesitzer (+ die alte Bourgeoisie, die girondistische Bourgeoisie) durch den 9.22. November 1906 usw... Die Nationalisierung des Bodens = die Vernichtung des alten Grundeigentums durch die Bauern, ist die wirtschaftliche Grundlage des amerikanischen Weges. Das Gesetz vom 9./22. November 1906 – die Vernichtung des alten Grundeigentums durch die Großgrundbesitzer, ist die wirtschaftliche Grundlage des preußischen Weges. Unsere Epoche der Jahre 1905.–19?? ist die Epoche des revolutionären bzw. konterrevolutionären Kampfes um diese Wege, ähnlich wie die Jahre 1848-1871 in Deutschland die Epoche des revolutionären bzw. konterrevolutionären Kampfes der zwei Wege zur Vereinigung (= Lösung des nationalen Problems der bürgerlichen Entwicklung Deutschlands), des Weges über die großdeutsche Republik und des Weges über die preußische Monarchie, waren. Erst 1871 hatte der zweite Weg endgültig (hierauf bezieht sich mein „vollauf") gesiegt. Und damals gab Liebknecht den Boykott des Parlaments auf. Und damals erstarb der Streit der Lassalleaner mit den Eisenachern. Und damals erstarb die Frage der allgemein demokratischen Revolution in Deutschland – die Naumann, David und Konsorten aber haben in den 90er Jahren (zwanzig Jahre später !) einen Leichnam zum Leben erwecken wollen.

Bei uns ist der Kampf noch im Gange. Noch hat keiner der beiden Wege der Agrarentwicklung gesiegt. Bei uns wird bei jeder Krise unserer Epoche (1905–1909–19??) die „allgemein-demokratische“ Bewegung des „Bäuerleins“ auftreten, und zwar unbedingt auftreten, und die Ignorierung dieses Umstands wäre ein grundlegender Fehler, der in der Tat zum Menschewismus führt, wenn auch in der Theorie der Streit auf ein anderes Gebiet verschoben werden wird. Nicht ich „reduziere“ den Streit auf den „Menschewismus“, sondern die Geschichte unserer Epoche reduziert die Ignorierung der nationalen Aufgabe der bürgerlichen Entwicklung Russlands durch das Proletariat auf den Menschewismus, denn darin gerade liegt das Wesen des Menschewismus.

Nebenbei. Haben Sie in Tscherewanins „Gegenwärtiger Lage“ von dem Opportunismus der „klassischen Stellung“ der Frage durch die Bolschewiki gelesen? Lesen Sie das!

Ad 2. Im Grunde genommen, habe ich fast alles ad 2 schon gesagt. In Deutschland ist die Unterstützung des Wunsches des „Bäuerleins“, sich (das heißt dem Bäuerlein) den Grund und Boden des Großgrundbesitzers, des Junkers, zu verschaffen, durch den Arbeiter reaktionär. Ist dem nicht so? Nicht wahr? In Russland ist in den Jahren 1905–1909–19?? die Ablehnung dieser Unterstützung reaktionär. Hic Rhodus, hic salta. Hier kommt entweder ein Verzicht auf das gesamte Agrarprogramm und ein Übergang... nahezu bis zum Kadettentum heraus – oder die Anerkennung des prinzipiellen Unterschieds in der Fragestellung in Deutschland und in Russland, prinzipiell nicht in dem Sinne, als wäre bei uns keine kapitalistische Epoche, sondern in dem Sinne, dass wir gänzlich andere, prinzipiell andere Epochen des Kapitalismus haben: die Epoche bis zur endgültigen Verankerung des nationalen Weges des Kapitalismus und die Epoche nach dieser Verankerung.

Ich mache vorerst Schluss und werde mich bemühen, Ihnen Ausschnitte über das Thema unserer Unterhaltungen zu senden. Schreiben Sie, wenn Sie eine freie Minute erhaschen können.

Mit festem Händedruck

Ihr Alter

1 Dieser Brief Lenins an I. I. Skworzow-Stepanow, der Ende 1910 geschrieben und erst 1924 zum ersten Male veröffentlicht wurde, ist der Frage der zwei Wege der Entwicklung der Landwirtschaft in Russland gewidmet, die Lenin auch in seiner Arbeit „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905–1907“ (besonders im Kapitel I) aufgeworfen hatte. Jetzt aber wurde diese Frage unter neuen Verhältnissen aufgeworfen.

2 Es handelt sich hier um den Artikel Lenins „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution“, den Lenin auf die Bitte der polnischen Sozialdemokraten (Rosa Luxemburgs und anderer) für die polnische sozialdemokratische Presse schrieb. Dieser Artikel war eine kurz zusammengefasste Darlegung des Buches von Lenin „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution 1903–1907“. Die Zitate aus dem Buche von Marx „Theorien über den Mehrwert“ sind in Kapitel II, § 5 („Der mittelalterliche Grundbesitz und die bürgerliche Revolution“) des Leninschen Buches enthalten.

Kommentare