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Wladimir I. Lenin 19080618 Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution

Wladimir I. Lenin: Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der

russischen Revolution

(Autoreferat)1

[Veröffentlicht 1908 in der polnischen Zeitschrift „Przegląd Socjaldemokratyczny" Nr. 6. Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 342-367]

Auf Bitte der polnischen Genossen will ich versuchen, den Inhalt meines gleichnamigen Buches, das im November 1907 verfasst wurde, das aber Umstände halber, denen gegenüber ich machtlos bin, nicht erscheinen konnte, kurz wiederzugeben.

In Kapitel 1 dieses Buches beschäftige ich mich mit den „wirtschaftlichen Grundlagen und dem Wesen der Agrarumwälzung in Russland". Ich betrachte dort die neuesten Angaben (für 1905) über den Grundbesitz in Russland – setze den Bodenfonds in allen 50 Gouvernements des Europäischen Russland mit rund 280 Millionen Desjatinen an und erhalte im Resultat folgendes Bild der Verteilung des gesamten Bodens – sowohl des Privatbesitzes als auch des bäuerlichen Anteillandbesitzes:


Zahl der Grundbesitzer

Gesamtbesitz in Desj. (in Millionen)

Durchschn. pro Besitzer in Desj.

a) Ruinierte, von fronherrlicher Aus­beutung niedergedrückte Bauern

10,5

75,0

7,0

b) Mittelbauern

1,0

15,0

15,0

c) Bäuerliche Bourgeoisie und kapitalistischer Grundbesitz

1,5

70,0

46,7

d) Fronherrliche Latifundien

0,03

70,0

2 333,0

Insgesamt

13,03

230,0

17,0

Nach Besitzart eingeteilt


50,0


Insgesamt

13,03

280,0

21,4

Jeder, der von sozialer Statistik einen Begriff hat, wird verstehen, dass dieses Bild nur annähernd richtig sein kann. Für uns aber sind nicht die Einzelheiten von Bedeutung, in deren Wust die Ökonomen der liberalen und Narodniki-Richtung selber rettungslos versinken und den Kern der Sache begraben, sondern der Klasseninhalt des Prozesses. Das von mir entworfene Bild stellt diesen Inhalt klar, es zeigt, was der Gegenstand des Kampfes in der russischen Revolution ist. 30.000 Gutsbesitzer, hauptsächlich Adlige, sowie das Apanageressort sind im Besitz von 70 Millionen Desjatinen Boden. Dieser Tatsache von grundlegender Bedeutung ist eine andere entgegenzustellen: 10,5 Millionen Bauernhöfe und kleinste Eigentümer besitzen insgesamt 75 Millionen Desjatinen Boden.

Diese könnten auf Kosten jener ihren Besitz verdoppeln: das ist die objektiv unvermeidliche Tendenz des Kampfes, ganz ohne Rücksicht darauf, wie sich die einzelnen Klassen zu diesem Kampf stellen.

Der ökonomische Kern der Agrarkrise tritt uns aus diesem Bild mit voller Klarheit entgegen. Millionen kleiner, ruinierter, verelendeter, von Not. Unwissenheit und Hörigkeitsüberresten niedergedrückter Bauern können nicht anders leben als in halb höriger Abhängigkeit vom Gutsbesitzer, indem sie seinen Boden mit Hilfe ihres eigenen landwirtschaftlichen Inventars bestellen, um dafür Weide, überhaupt „Land", Winterdarlehen usw. usw. zu erhalten. Andererseits aber können die Besitzer ungeheurer Latifundien diese unter solchen Verhältnissen nicht anders bewirtschaften als mit Hilfe der Arbeit der benachbarten ruinierten Bauern, da eine Wirtschaftsführung solcher Art weder Kapitalaufwand noch den Übergang zu neuen Ackerbaumethoden erfordert. Daraus ergibt sich notwendigerweise das, was in der russischen ökonomischen Literatur bereits mehrfach als „Abarbeitssystem" geschildert wurde und nichts anderes ist als eine weitere Entwicklungsstufe der Hörigkeit. Die Ausbeutung beruht hier nicht auf der Loslösung des Arbeiters vom Boden, sondern auf zwangsweiser Fesselung des ruinierten Bauern an den Boden: Grundlage der Ausbeutung ist hier nicht das Kapital des Eigentümers, sondern sein Boden, nicht das Inventar des Latifundienbesitzers, sondern der alte Hakenpflug des Bauern, nicht der Fortschritt des Ackerbaus, sondern die alte, langjährige Überlieferung, nicht „freie Lohnarbeit", sondern Verknechtung des Bauern an das Wuchertum.

Das Ergebnis dieser Lage auf landwirtschaftlichem Gebiet kommt in folgenden Zahlen zum Ausdruck: der Ernteertrag auf bäuerlichem Anteilland beträgt 54 Pud pro Desjatine, auf gutsherrlichem Boden bei Einzelgehöftaussaat und bei Bodenbestellung durch Lohnarbeiter auf Kosten und mit dem Inventar des Gutsherren 66 Pud; auf demselben gutsherrlichen Boden bei sogenannter „Halbpacht" 50 Pud; und schließlich auf gutsherrlichem, von Bauern gepachteten Boden 45 Pud. Der gutsherrliche Boden trägt bei fronherrlich-wucherischer Bebauung (die oben erwähnte „Halbpacht" und Bauernpacht) geringere Ernte als das erschöpfte, qualitativ schlechtere bäuerliche Anteilland. Diese Verknechtung, die durch die fronherrlichen Latifundien verstärkt wird, wird zum Haupthindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte Russlands.

Aus obigem Bild tritt uns aber noch etwas anderes entgegen, nämlich: diese Entwicklung kann in einem kapitalistischen Land in zweierlei Richtung verlaufen. Entweder bleiben die Latifundien bestehen und werden allmählich zur Grundlage der kapitalistischen Landwirtschaft – dies ist der preußische agrar-kapitalistische Typus, wo der Junker Herr der Situation ist. Auf Jahrzehnte hinaus behauptet er seine politische Vorherrschaft, der Bauer bleibt unterdrückt, erniedrigt, elend und unwissend. Die Entwicklung der Produktivkräfte macht nur sehr langsame Fortschritte – ähnlich wie in der russischen Landwirtschaft von 1861 bis 1905.

Oder aber die Revolution fegt den Großgrundbesitz hinweg. Zur Grundlage der kapitalistischen Landwirtschaft wird nunmehr der freie Farmer auf einem freien, d. h. von jedem mittelalterlichen Gerümpel gesäuberten Boden. Dies ist der amerikanische agrarkapitalistische Typus; rascheste Entwicklung der Produktivkräfte unter den günstigsten Verhältnissen, die für das Volk unter dem Kapitalismus überhaupt möglich sind.

In Wirklichkeit geht der Kampf in der russischen Revolution nicht um „Sozialisierung" und andere Narodnikidummheiten – das ist nichts als spießbürgerliche Ideologie, kleinbürgerliche Phrasen, weiter nichts –, es handelt sich vielmehr darum, welchen Weg die kapitalistische Entwicklung Russlands einschlagen wird: den „preußischen" oder den „amerikanischen"? Ohne Klarstellung dieser ökonomischen Grundlage der Revolution kann man in der Frage des Agrarprogramms rein gar nichts verstehen (wie Maslow nichts verstanden hat, der das abstrakt Wünschenswerte betrachtet, nicht aber das ökonomisch Unvermeidliche aufzeigt).

Aus Raummangel muss ich auf die Wiedergabe des übrigen Inhalts von Kapitel 1 verzichten, möchte ihn jedoch in ein paar Worten zusammenfassen: alle Kadetten bemühen sich nach Kräften, den wahren Kern der Agrarumwälzung zu verschleiern, die Herren Prokopowitsch aber helfen ihnen dabei. Die Kadetten werfen die zwei Hauptlinien der Agrarprogramme in der Revolution durcheinander – sie „versöhnen" die Großgrundbesitzerlinie mit der bäuerlichen. Weiter, ebenfalls in ein paar Worten: von 1861 bis 1905 sind in Russland bereits beide Typen der kapitalistischen Agrarentwicklung zutage getreten – sowohl der preußische (allmähliche Entwicklung der Gutsbesitzerwirtschaft in der Richtung zum Kapitalismus) als auch der amerikanische (Differenzierung der Bauernschaft und rasche Entwicklung der Produktivkräfte in dem am meisten freien und bodenreichen Süden). Endlich die Kolonisationsfrage, die von mir in diesem Kapitel erörtert wird und deren Darlegung mir an dieser Stelle ebenfalls unmöglich ist. Ich möchte nur erwähnen, dass das Haupthindernis für die Ausnützung von Hunderten Millionen Desjatinen die fronherrlichen Latifundien Zentralrusslands sind. Der Sieg über diese Gutsbesitzer wird der Entwicklung der Technik und Kultur einen so mächtigen Antrieb geben, dass die nutzbare Bodenfläche zehnmal rascher zunehmen wird als nach 1861. Hier einige Zahlen: die Bodenfläche des gesamten russischen Reichs beläuft sich auf 1.965 Millionen Desjatinen, doch liegen über 819 Millionen davon überhaupt keinerlei Angaben vor. Somit muss sich die Untersuchung auf 1.146 Millionen Desjatinen beschränken, von denen 469 Millionen Desjatinen in Nutzung sind, darunter 300 Millionen Desjatinen Wald. Gewaltige, heute brachliegende Ländereien werden in der nächsten Zukunft bebaut werden, wenn Russland sich von den gutsherrlichen Latifundien befreit.A

Kapitel 2 meines Buches beschäftigt sich mit der Erprobung der Agrarprogramme der SDAPR durch die Revolution. Der Hauptfehler aller früheren Programme war die nicht genügend konkrete Vorstellung davon, welcher Art der Typus der kapitalistischen Agrarentwicklung in Russland sein kann. Dieser Fehler wurde von den Menschewiki wiederholt, als sie auf dem Stockholmer Parteitag siegten und der Partei das Munizipalisierungsprogramm gaben. Gerade die ökonomische, d. h. die wichtigste Seite der Frage wurde in Stockholm überhaupt nicht in Betracht gezogen, „politische" Erwägungen, politische Winkelzüge herrschten vor, nicht aber marxistische Analyse. Nur teilweise lässt sich das durch den Zeitpunkt des Stockholmer Parteitags erklären – die ganze Aufmerksamkeit war damals von der Beurteilung des Dezemberaufstandes von 1905 und der I. Duma von 1906 in Anspruch genommen. Das ist der Grund, warum Plechanow, der in Stockholm die Maslowsche Munizipalisierung durchgesetzt hat, sich den ökonomischen Inhalt der „bäuerlichen Agrarrevolution" (Protokoll des Stockholmer Parteitages, S. 42, Plechanows Worte) in einem kapitalistischen Land überhaupt nicht überlegt hat. Es ist das entweder eine Phrase und ein eines Marxisten unwürdiger Bauernfang durch Demagogie und Betrug – oder aber es besteht die ökonomische Möglichkeit einer überaus raschen Entwicklung des Kapitalismus dank dem Sieg der Bauernschaft; in diesem Fall aber muss man sich unbedingt darüber klar werden, was für ein Sieg, was für ein Entwicklungsweg des Agrarkapitalismus, was für ein System der Agrarbeziehungen diesem Sieg der „bäuerlichen Agrarrevolution" entspricht.

Das Hauptargument der einflussreichsten „Munizipalisatoren" in Stockholm war, dass sich die Bauern der Nationalisierung des Anteillandes gegenüber feindselig verhalten. John, der Referent der Munizipalisierungsanhänger, rief aus:

Nicht eine Vendée würden wir haben, sondern einen allgemeinen Bauernaufstand" (wie schrecklich!) „gegen den Versuch des Staates, sich in die freie Verfügung der Bauern über ihr eigenes Anteilland einzumischen, gegen den Versuch, es zu ,nationalisieren'" (S. 40 des Protokolls des Stockholmer Parteitages).

Kostrow rief aus:

Mit ihm (dem Nationalisierungsprogramm) zu den Bauern gehen, heißt sie von sich abstoßen. Die Bauernbewegung wird über unsere Köpfe hinweg oder gegen uns ihren Lauf nehmen, und die Revolution wird uns über Bord werfen. Die Nationalisierung entkräftet die Sozialdemokratie, schneidet sie von der Bauernschaft ab, und auf diese Weise wird auch die Revolution entkräftet" (S. 88).

Das ist wohl klar genug. Die Bauern sind gegen die Nationalisierung – das ist das Hauptargument der Menschewiki. Sollte das wahr sein, so wäre es natürlich lächerlich … die „bäuerliche Agrarrevolution" gegen den Willen der Bauern vollziehen zu wollen.

Aber ist es denn wahr? 1905 schrieb P. Maslow:

Die Nationalisierung des Bodens kann gegenwärtig in Russland nicht als Weg zur Lösung der Agrarfrage anerkannt werden, vor allem deshalb nicht (man beachte dieses „vor allem"), weil sie eine hoffnungslose Utopie ist … Werden denn die Bauern darauf eingehen?" (P. Maslow, „Kritik der Agrarprogramme", 1905, S. 20).

Und im März 1907 lesen wir in der Zeitschrift Obrasowanije", Heft 3, S. 1002:

Alle Narodniki-Gruppen (Trudowiki, Volkssozialisten, Sozialrevolutionäre) sprechen sich für eine Nationalisierung des Bodens in der einen oder anderen Form aus".

Wer schreibt das? Derselbe P. Maslow.

Da habt ihr die neue Vendée! Da habt ihr den Aufstand der Bauern gegen die Nationalisierung! Statt seinen Fehler ehrlich einzusehen, statt die Frage, warum die Bauern sich für die Nationalisierung aussprechen müssen, vom ökonomischen Standpunkt zu untersuchen, weiß Maslow von nichts mehr. Er zieht es vor, seine eigenen Worte und alle Reden auf dem Stockholmer Parteitag zu vergessen.

Nicht genug damit. Um die Spuren des „unangenehmen Zwischenfalls" zu verwischen, erfand Maslow eine Klatschgeschichte über die Trudowiki: sie hätten sich aus philiströsen Erwägungen heraus, „indem sie ihre Hoffnung auf die Zentralmacht setzten" (ebenda), für die Nationalisierung ausgesprochen. Dass dies Klatsch ist, zeigt folgende Gegenüberstellung. In dem Agrarentwurf der Trudowiki, den sie sowohl der ersten als auch der zweiten Duma vorgelegt haben, heißt es in Paragraph 16:

Die Verwaltung des allgemeinen Bodenfonds des Volkes ist den lokalen Selbstverwaltungen zu übergeben, die aus allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen hervorgegangen sind und in den gesetzlich festgelegten Grenzen selbständig wirken."

Das von den Menschewiki durchgesetzte Agrarprogramm der SDAPR verlangt

… „4. Konfiskation des privaten Grundbesitzes, außer dem Kleinbesitz; der konfiszierte Boden wird großen, auf demokratischer Basis gewählten lokalen Selbstverwaltungsorganen („die städtische und ländliche Kreise umschließen" – Punkt 3) zur Verfügung übergeben".

Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Programmen besteht nicht im Unterschied der Worte „Verwaltung" und „Verfügung",3 sondern in der Frage des Loskaufs (der auf dem Stockholmer Parteitag mit den Stimmen der Bolschewiki gegen Dan und Co. abgelehnt wurde und den die Menschewiki nach dem Parteitag wieder durchzubringen bemüht waren) sowie in der Frage des bäuerlichen Bodens. Die Menschewiki heben ihn aus der übrigen Masse heraus, die Trudowiki tun das nicht. Die Trudowiki haben den Verfechtern der Munizipalisierung bewiesen, dass ich recht hatte.

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das der I. und II. Duma vorgelegte Programm der Trudowiki das Programm der Bauernmassen ist. Sowohl die Literatur der Bauernabgeordneten als auch ihre Unterschriften unter den Entwürfen und ihre Verteilung nach den einzelnen Gouvernements – all dies sind durchaus überzeugende Beweise dafür. Im Jahre 1905 schrieb Maslow, es wären „ganz besonders" die bäuerlichen Einzelhofbesitzer (S. 20 der obigen Broschüre), die der Nationalisierung nicht zustimmen könnten. Es stellte sich jedoch heraus, dass das ein „ganz besonderer" Unsinn ist. Im Gouvernement Podolien z. B. sind die Bauern Einzelhofbesitzer, unter dem Gesetzentwurf der „104" (der oben erwähnte Gesetzentwurf der Trudowiki) stehen aber in der I. Duma 13 Unterschriften und in der II. Duma 10 Unterschriften podolischer Bauernabgeordneten!

Warum haben sich nun die Bauern für die Nationalisierung ausgesprochen? Weil sie die Notwendigkeit der Vernichtung des ganzen mittelalterlichen Grundbesitzes instinktiv viel besser erfasst haben als die kurzsichtigen Quasi-Marxisten. Der mittelalterliche Grundbesitz muss vernichtet werden, um dem Kapitalismus in der Landwirtschaft den Weg freizumachen, und das Kapital vernichtete in verschiedenen Ländern und in verschiedenem Grade den alten mittelalterlichen Grundbesitz dadurch, dass es ihn den Bedürfnissen des Marktes unterordnete und den Anforderungen des zu Handelszwecken betriebenen Ackerbaus gemäß umgestaltete. Schon im III. Band des „Kapital" verweist Marx darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise den Grundbesitz in geschichtlichen Formen vorfindet, die dem Kapitalismus nicht entsprechen (Claneigentum, Gentileigentum, Gemeindebesitz, feudales Grundeigentum, patriarchales Grundeigentum usw.), und dass er ihn entsprechend den neuen wirtschaftlichen Anforderungen umformt.4

In den „Theorien über den Mehrwert",5 im Paragraph „Die historischen Bedingungen der Ricardoschen Theorie", entwickelte Marx diesen Gedanken mit genialer Klarheit. Er sagt dort:

Nirgendwo in der Welt hat die kapitalistische Produktion, seit Heinrich VIII., so rücksichtslos mit den traditionellen Verhältnissen des Ackerbaus geschaltet und sich ihre Bedingungen so adäquat gemacht und unterworfen. England ist in dieser Hinsicht das revolutionärste Land der Welt." „Was heißt dieses Clearing of estates (buchstäblich: Säuberung des Bodens oder der Besitzungen)6? Dass ohne alle Rücksicht auf die ansässige Bevölkerung, die weggejagt wird, existierende Dorfschaften, die rasiert, Wirtschaftsgebäude die niedergerissen, Spezies der Landwirtschaft, die auf einen Schlag umgewandelt z. B. aus Ackerbau in Viehweide verwandelt wird, alle Produktionsbedingungen nicht akzeptiert werden, wie sie traditionell sind, sondern historisch so gemacht werden, wie sie unter den Umständen für die vorteilhafteste Anlage des Kapitals sein müssen. Insofern existiert also kein Grundeigentum; es lässt das Kapital – den Pächter – frei wirtschaften da es ihm bloß um das Geldeinkommen zu tun ist („Theorien über den Mehrwert“, S. 6-7)

Dies sind die Bedingungen der raschesten Vernichtung der mittelalterlichen Formen, die Bedingungen der freiesten Entwicklung des Kapitalismus – Vernichtung der ganzen alten Besitzverfassung, Vernichtung des Privateigentums an Grund und Boden als Hindernis für das Kapital. Auch in Russland ist eine solche revolutionäre „Säuberung" der mittelalterlichen Besitzverfassung unvermeidlich, und keine Macht der Welt vermag sie aufzuhalten. Die Frage ist nur die, der Kampf geht einzig darum, ob diese „Säuberung" sich im Interesse der Gutsbesitzer oder im Interesse der Bauern vollziehen wird. Die „Säuberung" der mittelalterlichen Besitzverfassung durch die Gutsbesitzer selbst ist die Ausplünderung der Bauern 1861, ist die Stolypinsche Agrarreform von 1906 (Gesetzgebung lt. Paragraph 87). Bäuerliche „Säuberung" des Bodens für den Kapitalismus ist Nationalisierung des Bodens.

Diesen ökonomischen Wesensinhalt der Nationalisierung in der von Bauern und Arbeitern vollzogenen bürgerlichen Revolution haben Maslow, Plechanow und Co. absolut nicht begriffen. Sie verfassten ihr Agrarprogramm, nicht um die mittelalterliche Besitzverfassung als einen der bedeutendsten Überreste der Hörigkeitsbeziehungen zu bekämpfen, nicht um dem Kapitalismus vollständig freie Bahn zu schaffen, sondern um einen jämmerlichen spießbürgerlichen Versuch zu machen, Altes mit Neuem, das aus Bodenzuteilung entstandene Eigentum mit den von der Revolution konfiszierten fronherrlichen Latifundien „harmonisch" zu verbinden.

Um endlich das ganze spießbürgerlich-reaktionäre Wesen der Munizipalisierungsidee aufzuzeigen, führe ich nachstehend Angaben über Bodenpachtung an (auf die Bedeutung der Pachtfrage* habe ich bereits 1905 in einer Polemik mit Maslow, in der Broschüre „Revision des Agrarprogramms der Arbeiterpartei" hingewiesen. Hier einige Zahlen über den Kreis Kamyschin, Gouvernement Saratow:B


Im Durchschnitt entfallen auf eine durch Bodenzuteilung entstandene Besitzung (In Desjatinen)


Hofgruppen

Anteil­ackerland

Pachtland

Verpachtetes Land

Insgesamt bebaut


Ohne Arbeitsvieh

5,4

0,3

3,0

1,1


Mit 1 Stück Vieh

6,5

1,6

1,3

5,9


Mit 2 Stück Vieh

8,5

3,5

0,9

8,8


Mit 3 Stück Vieh

10,1

5,6

0,8

12,1


Mit 4 Stück Vieh

12,5

7,4

0,7

15.8


Mit 5 Stück Vieh und mehr

16,1

16,6

0,9

27,6


Im Durchschnitt

9,3

5,4

1,5

10,4


Man werfe einen Blick auf das tatsächliche ökonomische Verhältnis zwischen dem Anteilland, das die superklugen Maslow und Plechanow den Bauern als Eigentum lassen wollen, und dem übrigen Boden, der nicht Anteilland, sondern Pachtland ist und „munizipalisiert" werden soll. Die Bauern ohne Pferd – es wurden aber 1896 bis 1900 in Russland von insgesamt 11,1 Millionen Bauernwirtschaften 3¼ Millionen solcher Wirtschaften gezählt – verpachten zehnmal soviel Boden, als sie selber pachten. Ihr bebauter Boden beträgt nur ein Fünftel ihrer „Bodenanteile". Bei den Bauern mit einem Pferd (3 Millionen Wirtschaften in ganz Russland) übersteigt der gepachtete Boden nur um ein Geringes den verpachteten, die bebaute Bodenfläche ist kleiner als ihr „Anteil". Alle höheren Gruppen, d. h. die Minderheit der Bauernschaft, pachten viel mehr Boden, als sie verpachten, und die bebaute Bodenfläche ist im Vergleich zu den „Anteilen" umso größer, je wohlhabender der Bauer ist.

Ähnlich liegen die Dinge in ganz Russland. Der Kapitalismus zerstört die Dorfgemeinde, befreit den Bauer von der Herrschaft des „Anteils", setzt die Bedeutung des Anteillandes auf beiden Polen des Dorfes herab, die tiefsinnigen menschewistischen Denker aber rufen aus: „Die Bauern werden sich gegen die Nationalisierung des Anteillandes erheben".

Mittelalterlich ist in Russland nicht nur der gutsherrliche Grundbesitz, sondern auch der bäuerliche Anteilbesitz – das haben die Menschewiki „übersehen". Die Festigung des Anteilbesitzes, der den neuen, kapitalistischen Beziehungen in keiner Weise entspricht, ist eine reaktionäre Maßnahme, die Munizipalisierung aber festigt den Anteilbesitz zum Unterschied vom übrigen Besitz, der „der Munizipalisierung unterliegt". Der Anteilbodenbesitz richtet in der Bauernschaft Tausende mittelalterliche Schranken auf und hemmt mit Hilfe der mittelalterlichen, fiskalischen Zwecken dienenden „Gemeinde" die Entwicklung der Produktivkräfte. Die „Gemeinde- und der Anteillandbesitz werden vom Kapitalismus unabwendbar zerstört werden. Stolypin fühlt das und zerstört sie auf reaktionäre Weise. Die Bauern fühlen es und wollen in bäuerlicher oder revolutionär-demokratischer Weise zerstören. Die Menschewiki aber rufen: „Die Bodenparzellen nicht antasten!"

Die Nationalisierung wird die „Gemeinde", einen Überrest der alten Zeit, sowie den mittelalterlichen Anteillandbesitz in einer Weise vernichten, wie man sich überhaupt die Vernichtung solcher Institutionen in der kapitalistischen Gesellschaft bei größtmöglicher Berücksichtigung der Interessen der Bauern denken kann. In der Broschüre .Materialien zur Bauernfrage" (Bericht über die Sitzungen des Delegiertenkongresses des Allrussischen Bauernverbandes, 6.–10. November 1905, Petersburg 1905) lesen wir: „Die berühmte Frage der ,Gemeinde' wurde gar nicht erörtert, sie wurde stillschweigend im negativen Sinne entschieden" – der Boden ist Personen, Genossenschaften zur Nutzung zu übergeben – so lauten die Resolutionen sowohl des 1. als auch des 2. Kongresses (S. 12). Die Frage, ob bei der Nationalisierung des Gemeindebesitzes die Interessen der Bauern nicht Schaden nehmen würden, wurde von den Delegierten folgendermaßen beantwortet: „Bei der Verteilung werden sowieso alle Boden erhalten" (S. 20.) Der bäuerliche Besitzer (und sein Ideologe, Herr Pjeschechonow) versteht ausgezeichnet, dass „bei der Verteilung sowieso alle Boden erhalten", dass die fronherrlichen Latifundien bald vernichtet sein werden. Er braucht eine „Verteilung" in breitem Maßstab, die die Nationalisierung des ganzen Bodens bedeutet, um die Fesseln des Mittelalters zu sprengen, um den Boden zu „säubern", um seine Nutzung den neuen Wirtschaftsverhältnissen anzupassen. In der II. Duma gab Herr Muschenko, der im Namen der Sozialrevolutionäre sprach, diesem Gedanken ausgezeichnet Ausdruck, als er mit der ihm eigentümlichen Naivität meinte:

Die richtige Ansiedlung (der Landwirte) wird nur dann möglich sein, wenn der ganze Boden ohne Schranken dastehen wird, wenn alle vom Prinzip des Privateigentums am Grund und Boden aufgerichteten Schranken niedergerissen werden" (Protokolle der II. Duma, Seite 1172).

Ein Vergleich dieser Erklärung mit den oben zitierten Worten von Marx zeigt, dass hinter der kleinbürgerlichen Phraseologie über „Sozialisierung" und „gleichmäßige Verteilung" ein ganz realer Inhalt steckt: bürgerlich-revolutionäre Säuberung des alten mittelalterlichen Grundbesitzes.

Die Munizipalisierung des Grund und Bodens ist in der bürgerlichen Revolution eine reaktionäre Maßnahme, da sie dem ökonomisch notwendigen und unvermeidlichen Prozess der Vernichtung des mittelalterlichen Grundbesitzes, dem Prozess der Schaffung einheitlicher wirtschaftlicher Bedingungen für alle Landwirte, welches ihre Lage, Vergangenheit, Bodenanteil von 1861 her usw. auch sein mögen, hindernd entgegensteht. Die Aufteilung des Bodens und dessen Zuweisung als Eigentum wäre jetzt eine reaktionäre Maßnahme, da dadurch der heutige Anteillandbesitz, der veraltet und ein Überrest aus früheren Zeiten ist, erhalten bliebe; doch später, nach völliger Säuberung des Bodens durch Nationalisierung, wäre Aufteilung als Losung eines neuen, freien Farmertums möglich.C Aufgabe der Marxisten ist es, die radikale Bourgeoisie (d. h. die Bauernschaft) bei der möglichst raschen Beseitigung des alten Gerümpels zu unterstützen und eine rasche Entwicklung des Kapitalismus zu sichern, keinesfalls aber dem Spießer zu helfen, sich bequem einzurichten und sich der Vergangenheit anzupassen.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit den „theoretischen Grundlagen der Nationalisierung und Munizipalisierung".

Ich brauche den polnischen Genossen natürlich nicht Dinge zu wiederholen, die jedem Marxisten geläufig sind – dass nämlich die Nationalisierung des Bodens in der kapitalistischen Gesellschaft Aufhebung der absoluten, nicht aber der Differentialrente bedeutet usw. Mit Rücksicht auf die russischen Leser musste ich aber darauf ausführlich eingehen, da Peter Maslow behauptete, die Theorie von Karl Marx über die absolute Rente sei ein „Widerspruch", der nur (!!) dadurch erklärt werden könne, dass der III. Band erst nach dem Tode von Marx erschienen ist und „auch Entwürfe und Konzepte des Verfassers enthält" (Agrarfrage).D

Diese Anmaßung von Peter Maslow, die Entwürfe und Konzepte von Marx korrigieren zu wollen, ist für mich nicht neu. Bereits in der Zeitschrift „Sarja", Jahrgang 1901, habe ich darauf hingewiesen, dass Maslow in der Zeitschrift Schisn'" die Rententheorie von Marx entstellt hat. Doch bald darauf wiederholte Peter Maslow diesen anmaßenden und entschiedenen Unsinn – nämlich im Jahre 1906 (das Vorwort zur 3. Auflage ist vom 26. April 1906 datiert), nach dem Erscheinen der „Theorien über den Mehrwert", wo Marx die Theorie der absoluten Rente mit voller Klarheit dargelegt hat. Das ist ja geradezu köstlich! Es fehlt mir hier die Möglichkeit, die in meinem Buch gegebene eingehende Analyse der Maslowschen „Korrekturen" an Marx zu wiederholen, und ich beschränke mich auf den Hinweis, dass sie sich bei näherem Zusehen als abgedroschene Argumente der bürgerlichen politischen Ökonomie entpuppen. Peter Maslow geht so weit, der Marxschen Theorie der absoluten Rente die „Ziegelsteinproduktion" entgegenzustellen (Seite 111), er wärmt das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages" wieder auf, behauptet, dass „ohne dieses Gesetz die Überseekonkurrenz nicht erklärt werden kann" (Seite 107), und versteigt sich schließlich zu der Behauptung, ohne Widerlegung von Marx könne der Standpunkt der Narodniki nicht widerlegt werden:

Wäre nicht die Tatsache des Rückgangs der Produktivität des wiederholten Arbeitsaufwandes auf einem bestimmten Bodenareal, so könnte vielleicht das Idyll…. der Narodniki verwirklicht werden" (Maslow in der Zeitschrift „Obrasowanije", 1907, Nr. 2, Seite 123).

Kurz, die ökonomische Theorie Peter Maslows in der Frage der absoluten Rente, von der „Tatsache" des abnehmenden Bodenertrages, von den Grundfehlern des „Narodnikitums", vom Unterschied zwischen Hebung der Kultur und Hebung der Technik enthält kein einziges lebendiges Wort. Nach derWiderlegung" der Rententheorie mit Hilfe rein bürgerlicher, von den ärarischen Verteidigern des Kapitals bis zur Unmöglichkeit vulgarisierter Argumente musste sich Maslow unvermeidlich den Reihen jener anschließen, die den Marxismus entstellen. Doch war er dabei schlau genug, in der deutschen Übersetzung seiner „Agrarfrage" alle seine Korrekturen an den Konzepten von Karl Marx zu streichen. Den Europäern verheimlichte Maslow seine Theorie! Unwillkürlich musste ich – so schrieb ich in Kapitel 3 – dabei an die Erzählung von jenem Fremdling denken, der einer Diskussion von Philosophen des Altertums zum ersten Mal beiwohnte und dabei beharrlich schwieg. „Bist du klug – sagte ihm darauf einer der Philosophen –, so handelst du dumm. Bist du dumm, so handelst du klug".

Es versteht sich von selbst, dass, wer die Theorie der absoluten Rente ablehnt, sich dadurch jede Möglichkeit nimmt, die Bedeutung der Bodennationalisierung in der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, da durch die Nationalisierung nur die absolute, nicht aber die Differentialrente aufgehoben werden kann. Wer die absolute Rente ablehnt, leugnet alle wirtschaftliche Bedeutung des Privateigentums am Grund und Boden als Hindernis für die Entwicklung des Kapitalismus. Infolgedessen spitzen Maslow und Co. die Frage: Nationalisierung oder Munizipalisierung unvermeidlich auf eine politische Frage zu („wem soll man den Boden geben?") und ignorieren ihren wirtschaftlichen Kern. Die Verbindung des Privateigentums am Anteilland (d. h. am qualitativ schlechteren und von schlechteren Wirten bewirtschafteten Boden) mit gesellschaftlichem Eigentum an der anderen (besseren) Hälfte des Bodens ist in einem einigermaßen entwickelten und freien kapitalistischen Staat absurd. Es ist nichts mehr und nichts weniger als agrarischer Bimetallismus.

Dieser Fehler der Menschewiki hatte zur Folge, dass die Sozialdemokraten die Kritik des Privateigentums am Grund und Boden den Sozialrevolutionären überließen. Im „Kapital" gab Marx ein Musterbeispiel dieser Kritik.E Bei uns aber gestalteten sich die Dinge so, dass die Sozialdemokraten sich mit dieser Kritik vom Standpunkt der Entwicklung des Kapitalismus überhaupt nicht befassen und dass nur die Kritik der Narodniki. d. h. die kleinbürgerlich entstellte Kritik des Privateigentums am Grund und Boden, die Massen erreicht.

Als auf ein Detail verweise ich darauf, dass in der russischen Literatur auch folgendes Argument gegen die Nationalisierung ins Feld geführt worden ist: sie würde, bei bäuerlichem Kleinbesitz, „Geldrente" bedeuten. Das ist nicht richtig. „Geldrente (siehe „Kapital", III.) ist für den Grundbesitzer ein Zins in moderner Gestalt. Bei der heutigen bäuerlichen Bodenpacht ist der Pachtzins zweifellos in gewissem Grade Geldrente. Die Vernichtung fronherrlicher Latifundien wird die Differenzierung der Bauernschaft beschleunigen, wird die bäuerliche Bourgeoisie, die heute bereits kapitalistische Pacht erzeugt, verstärken: man vergegenwärtige sich die schon angeführten Angaben über Bodenpacht in den oberen Bauerngruppen.

Schließlich sei auch bemerkt, dass die Auffassung, die Nationalisierung könne nur auf sehr hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus verwirklicht werden, unter den Marxisten ziemlich verbreitet ist. Sie ist aber falsch. Auf solcher Entwicklungsstufe wird es sich nicht mehr um eine bürgerliche, sondern um die sozialistische Revolution handeln. Nationalisierung des Bodens ist aber die konsequenteste bürgerliche Maßnahme. Marx hat das mehrfach behauptet, schon im „Elend der Philosophie". In den „Theorien über den Mehrwert" sagt Marx (Band II , Teil 1, S. 208):

Der radikale Bourgeois … geht theoretisch zur Leugnung des privaten Eigentums fort In der Praxis fehlt ihm aber die Courage, da der Angriff auf eine Eigentumsform – eine Form des Privateigentums an Arbeitsbedingungen – sehr bedenklich für die andere Form wäre. Außerdem hat der Bourgeois sich selbst territorialisiert".

Die Bedingungen, unter denen die bürgerliche Revolution in Russland sich vollzieht, sind derartige, dass es einen radikalen Bourgeois (den Bauern) gibt, der „die Courage hat", im Namen der Millionenmassen ein Nationalisierungsprogramm aufzustellen, und der sich noch nicht „territorialisiert hat", d. h. der vom (mittelalterlichen) Privateigentum am Grund und Boden mehr Schaden hat als Vorteil und „Profit" vom (bürgerlichen) Eigentum am Grund und Boden. Die russische Revolution kann nicht anders siegen, als wenn dieser „radikale Bourgeois", der zwischen den Kadetten und den Arbeitern schwankt, den revolutionären Kampf des Proletariats durch eine Massenaktion unterstützt. Die russische Revolution kann nicht anders siegen als in Gestalt der revolutionär-demokratischen Diktatur von Proletariat und Bauernschaft.

Kapitel 4 des Buches handelt von „politischen und taktischen" Erwägungen in Fragen des Agrarprogramms. An erster Stelle steht hier das „berühmte" Argument Plechanows:

Der Schlüssel zu meinem Standpunkt – rief er in Stockholm aus – , das ist der Hinweis auf die Möglichkeit der Restauration!" (Protokoll, S. 11),

Es ist das aber ein vollkommen verrosteter Schlüssel, der kadettische Schlüssel des Kompromisses mit der Reaktion unter dem Deckmantel einer „Garantie gegen Restauration". Das Argument Plechanows ist die jämmerlichste Sophisterei, denn er erklärt selber, gegen Restauration gäbe es keine Garantie – und erfindet doch eine:

Sie (die Munizipalisierung) liefert den Boden nicht den Vertretern der alten Ordnung aus" (Protokoll S. 45, Rede Plechanows).

Was ist Restauration? Übergang der Staatsmacht in die Hände von Vertretern der alten Ordnung. Kann es gegen die Restauration eine Garantie geben? Nein, eine solche Garantie „kann es gar nicht geben" (Protokoll, S. 44, Rede Plechanows). Darum … erfindet er eine Garantie – „die Munizipalisierung liefert den Boden nicht aus".

Der ökonomische Unterschied zwischen gutsherrlichem und Anteilland bleibt bei der Munizipalisierung bestehen, d. h. die Restauration oder die Wiederherstellung dieses Unterschiedes de jure wird durch sie erleichtert. In politischer Beziehung ist Munizipalisierung ein Gesetz über die Änderung der Besitzform in Bezug auf den gutsherrlichen Boden. Was ist ein Gesetz? Der Ausdruck des Willens der herrschenden Klassen. Bei der Restauration werden dieselben Klassen wieder zur Herrschaft gelangen. Werden sie sich etwa durch das Gesetz binden lassen, Genosse Plechanow? Wenn Sie darüber nachdächten, so würden Sie begreifen, dass kein Gesetz den Willensausdruck der herrschenden Klassen zu binden vermag. Die Nationalisierung erschwert aber die Restauration in ökonomischer Beziehung, da sie alle Schranken niederreißt, das ganze mittelalterliche Eigentum am Grund und Boden vernichtet und ihn den neuen kapitalistischen Produktionsverhältnissen anpasst.

Die Sophistik Plechanows ist im Grunde eine Annahme der kadettischen Taktik, die darin besteht, das Proletariat nicht dem vollen Sieg, sondern einem Kompromiss mit der alten Macht entgegen zu führen. Die einzige absolute „Garantie gegen die Restauration" ist in Wirklichkeit die sozialistische Umwälzung im Westen, eine relative Garantie wird aber durch Vollendung der Revolution, durch radikalste Vernichtung des Alten, durch die höchste Stufe der Demokratie (Republik) in der Politik und das Freimachen der Bahn für den Kapitalismus in der Ökonomik gegeben.

Ein anderes Argument Plechanows lautet:

Aus den Selbstverwaltungsorganen, die über den Boden verfügen, schafft die Munizipalisierung einen Schutzwall gegen die Reaktion, und zwar einen sehr starken" (Protokoll, S. 45).

Das ist nicht wahr. Unter dem Kapitalismus ist die lokale Selbstverwaltung nie und nirgends ein Schutzwall gegen die Reaktion gewesen, sie kann es nicht sein. Der Kapitalismus führt unvermeidlich zur Zentralisierung der Staatsmacht, und jede lokale Selbstverwaltung wird unbedingt besiegt werden, wenn die Staatsmacht reaktionär ist. Plechanow predigt Opportunismus, denn er wendet seine Aufmerksamkeit nicht der „zentralen Demokratie", d. h. der Republik zu, diesem einzigen in der kapitalistischen Gesellschaft denkbaren Schutzwall gegen die Reaktion, sondern den lokalen Selbstverwaltungen, die großen historischen Aufgaben gegenüber stets kraftlos, die klein, kleinlich, unselbständig und zersplittert sind. Die „bäuerliche Agrarrevolution" kann in Russland nicht siegen, ohne die Zentralmacht besiegt zu haben, Plechanow aber will den Menschewiki Auffassungen einreden, wie sie in Stockholm vom Menschewik Nowossedski ausgesprochen wurden:

Sind die lokalen Selbstverwaltungen im wahren Sinne demokratisch, so ist das heute beschlossene Programm durchführbar (hört, hört!), auch wenn der Demokratisierungsgrad der Zentralregierung nicht gerade als höchster bezeichnet werden kann. Selbst bei einer sozusagen relativen Demokratisierung wird die Munizipalisierung nicht von Schaden, sondern von Nutzen sein" (Protokoll, S. 138).

Das ist so klar wie nur möglich. Lasst uns das Volk lehren, sich der Monarchie anzupassen, vielleicht wird man unsere Tätigkeit in der Provinz „unbeachtet lassen" und „uns das Leben schenken", wie dem Gründling in Schtschedrins Märchen.7 Die III. Duma ist eine gute Illustration für die Möglichkeit der Munizipalisierung und der lokalen Demokratie bei „relativer", menschewistischer Demokratie im Zentrum.

Ferner wird durch die Munizipalisierung der Föderalismus und die Zersplitterung der einzelnen Gebiete verankert. Nicht umsonst wetterte in der II. Duma der rechte Kosak Karaulow – ganz wie Plechanow – gegen die Nationalisierung (Protokoll, S. 1366) und sprach sich für die Munizipalisierung nach Einzelgebieten aus. Die Kosakenländereien in Russland sind schon ein Stück Munizipalisierung. Eben diese Zersplitterung des Staates in Einzelgebiete war eine der Ursachen der Niederlage der Revolution in ihrem ersten dreijährigen Feldzug!

Die Nationalisierung – so lautet das nächste Argument – stärkt die Zentralmacht des bürgerlichen Staates. Erstens: dieses Argument wird aufgestellt, um das Misstrauen der sozialdemokratischen Parteien der einzelnen Nationalitäten zu wecken. P. Maslow schrieb im „Obrasowanije", 1907, Nr. 3, S. 104:

Vielleicht würden die Bauern mancher Gegenden sich mit der Aufteilung ihres Bodens einverstanden erklären, doch es genügt, dass die Bauern eines großen Gebiets (z. B. Polens) eine solche Aufteilung ablehnen, damit der Plan der Nationalisierung des gesamten Bodens Sich als Absurdum erweise."

Ein nettes Argument! Sollten wir nicht auf die Republik verzichten, weil „es genügt, dass die Bauern eines großen Gebiets" usw.? Das ist kein Argument, sondern Demagogie. Unser politisches Programm schließt jede Gewalt und Ungerechtigkeit aus, indem es für die Einzelprovinzen umfassende Autonomie verlangt (siehe Punkt 3 des Parteiprogramms). Das bedeutet, dass es sich nicht darum handelt, neue, in der bürgerlichen Gesellschalt unerreichbare „Garantien" zu erfinden, sondern darum, dass die proletarische Partei in ihrer propagandistischen und agitatorischen Tätigkeit zum Zusammenschluss und nicht zur Zersplitterung, zur Lösung der höheren Aufgaben zentralisierter Staaten, nicht aber zu krähwinklerischer Verwilderung und nationaler Beschränktheit auffordern soll. Die Agrarfrage wird im zentralen Russland gelöst, in den Grenzgebieten darf man nicht anders wirken als durch das Beispiel.F Das ist sogar für jeden Demokraten klar, geschweige denn für einen Sozialdemokraten. Die Frage ist nur die, oh das Proletariat die Bauernschaft zu den höheren Zielen emporheben oder selber auf das spießbürgerliche Niveau der Bauernschaft herabsinken soll.

Zweitens: es wird behauptet, die Nationalisierung werde die Möglichkeit der Willkür der Zentralbehörden steigern, die Bürokratie usw. stärken. Was die Bürokratie anbetrifft, so ist dazu zu bemerken, dass die Verwaltung des Bodens auch bei Nationalisierung den lokalen Selbstverwaltungen vorbehalten bleibt. Somit ist obiges Argument nicht stichhaltig. Die Zentralmacht wird die allgemeinen Bestimmungen festlegen, sie wird z. B. jede Weitergabe von Boden verbieten usw. Und unser heutiges, d. h. menschewistisches Programm es überlässt ja nicht nur den „Übersiedlungsfonds", sondern auch „Gewässer und Forste von allgemein-staatlicher.Bedeutung" „dem demokratischen Staat zur Verfügung"! Vogelstraußpolitik wäre also unvernünftig: auch hier ist schrankenlose Willkür möglich, denn die zentrale Staatsmacht selbst wird darüber zu entscheiden haben, welche Gewässer und Forste allgemein-staatliche Bedeutung haben. Die Menschewiki suchen nach „Garantien" nicht dort, wo sie zu finden sind: nur volle Demokratie im Zentrum, nur die Republik kann die geringste Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Zentralmacht und Einzelgebieten garantieren.

Der bürgerliche Staat wird erstarken" – rufen die Menschewiki, die heimlich bürgerliche Monarchisten (die Kadetten) unterstützen, öffentlich aber beim bloßen Gedanken an Unterstützung bürgerlicher Republikaner entsetzt tun. Die wirkliche geschichtliche Frage, die uns von der objektiven geschichtlichen, sozialen Entwicklung gestellt wird, lautet: preußischer oder amerikanischer Typus der Agrarrevolution? Gutsbesitzermonarchie mit Pseudoverfassung als Feigenblatt oder Bauern- (Farmer-) Republik? Gegenüber einer solchen, durch die Geschichte gegebenen objektiven Fragestellung die Augen verschließen, heißt, sich selbst und andere täuschen, heißt vor dem scharfen Klassenkampf, vor der scharfen, einfachen und entschlossenen Stellung der Frage der demokratischen Revolution wie ein Philister den Kopf in den Sand stecken.

Um den „bürgerlichen" Staat" kommen wir nicht herum. Nur der Philister kann davon träumen. Unsere Revolution ist gerade aus dem Grunde eine bürgerliche, weil in ihr nicht Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwei Formen des Kapitalismus, zwei Wege seiner Entwicklung, zwei Formen bürgerlich-demokratischer Institutionen miteinander kämpfen. Auch die oktobristische oder kadettische Monarchie ist vom Standpunkt des Menschewiks Nowossedski eine „relative" bürgerliche „Demokratie". Auch die proletarisch-bäuerliche Republik ist bürgerliche Demokratie. In unserer Revolution können wir keinen Schritt tun – und haben auch keinen getan –, ohne die einen oder anderen Schichten der Bourgeoisie gegen das alte Regime zu unterstützen.

Wenn man uns sagt, Nationalisierung bedeute, dass Geld für die Armee verwendet werde, Munizipalisierung aber – für Gesundheitswesen und Volksbildung, so ist das eine des Philisters würdige Sophistik. Maslow sagt wörtlich:

„… Nationalisierung, das heißt (sic!) Verausgabung der Bodenrente für Armee und Flotte; Munizipalisierung des Bodens, das heißt Verwendung der Rente für die Bedürfnisse der Bevölkerung" („Obrasowaniie", 1907, Nr. 3, S. 103).

Das ist Philistersozialismus oder Bekämpfung der Fliegen mit einem Pulver, das den erwischten Fliegen auf den Schwanz gestreut werden soll! Auf den Gedanken ist der gute Maslow nicht gekommen, dass, wenn die Semstwos in Russland und die Munizipalitäten im Westen für Gesundheitswesen usw. verhältnismäßig mehr ausgeben als der Staat, so nur aus dem einzigen Grunde, weil der bürgerliche Staat seine bedeutendsten Ausgaben (für die Sicherung der Klassenherrschaft der Bourgeoisie) bereits aus den bedeutendsten Einnahmequellen gedeckt hat und den lokalen Selbstverwaltungen für die sogenannten „Bedürfnisse der Bevölkerung" nur minder bedeutende Quellen übrig ließ. Hunderttausende für die Armee, armselige Groschen für die Bedürfnisse des Proletariats – das ist das wahre Verhältnis zwischen den einzelnen Ausgaben des bürgerlichen Staates, und man muss wahrlich ein Maslow sein, um zu glauben, es genüge, die Bodenrente den Munizipalitäten „zur Verfügung zu stellen", damit der bürgerliche Staat von den raffinierten menschewistischen „Politikern" betrogen werde! Dank dieser „feingesponnenen Politik" sollte der bürgerliche Staat beginnen, den Proletariern Hunderttausende, der Armee und Flotte aber nur Groschen zuzuwenden?!

In Wirklichkeit treiben die Menschewiki eine Spießerpolitik: in den lokalen Selbstverwaltungen provinzieller Krähwinkel wollen sie sich vor der Beantwortung der durch die Geschichte gestellten brennenden Frage drücken – der Frage, ob wir eine zentralisierte bürgerliche Farmerrepublik oder eine zentralisierte bürgerliche Junkermonarchie bekommen sollen. Das wird euch nicht gelingen, Herrschaften! Kein Provinzialismus, kein Liebäugeln mit dem Munizipalsozialismus wird euch von der unabwendbaren Beteiligung an der Entscheidung dieser brennenden Frage retten. Eure Ausflüchte bedeuten in Wirklichkeit nur das eine: versteckte Unterstützung der kadettischen und Nichtverstehen der Bedeutung der republikanischen Tendenz.

Dass die Menschewiki durch ihre Verteidigung der Munizipalisierung mit dem „Munizipalsozialismus" der Fabier in Europa kokettieren, davon zeugen die Protokolle des Stockholmer Parteitages deutlich genug.

Manche Genossen – führte dort Kostrow aus – scheinen zum ersten Mal vom Munizipaleigenlum am Grund und Boden zu hören. Ich möchte sie daran erinnern, dass es in Westeuropa eine ganze Richtung gibt (sehr richtig!! Kostrow hat unversehens die Wahrheit gesagt!), den ,Munizipalsozialismus' (England)" (Protokoll, S. 88).

Dass diese Richtung" eine extrem-opportunistische ist, daran haben weder Kostrow noch LarinG gedacht. Den Sozialrevolutionären steht es an, den Aufgaben der bürgerlichen Revolution kleinbürgerliches Reformertum beizumischen, aber für Sozialdemokraten schickt sich das nicht! Die bürgerlichen Intellektuellen in Westeuropa (Fabier in England, Bernsteinianer in Deutschland, Broussisten in Frankreich) verlegen natürlich den Schwerpunkt von den Fragen der Staatsverfassung auf Fragen der lokalen Selbstverwaltung. Vor uns steht aber gerade die Frage der Staatsverfassung, ihrer Agrarbasis, und hier den „Munizipalsozialismus" vertreten, heißt Agrarsozialismus spielen. Mögen die Spießbürger es eilig haben, in den ruhigen Munizipalitäten des künftigen demokratischen Russland „sich ein warmes Nest zu bauen". Aufgabe des Proletariats ist aber die Organisierung der Massen nicht um dieses Zieles willen, sondern zum revolutionären Kampf für die volle Demokratisierung heute, für die sozialistische Umwälzung morgen.

Uns Bolschewiki wird oft vorgeworfen, unsere revolutionären Anschauungen seien utopisch, phantastisch, und gerade wegen der Nationalisierung bekommen wir diese Vorwürfe besonders oft zu hören. Aber gerade hier sind sie am wenigsten begründet. Wer die Nationalisierung als „Utopie" betrachtet, der macht sich keine Gedanken über die notwendige Übereinstimmung des Umfanges der politischen und der Agrarwandlungen. Die Nationalisierung ist – vorn Standpunkt des Durchschnittsspießbürgers! – nicht weniger „utopisch" als die Republik. Die eine wie die andere ist nicht weniger utopisch als die „bäuerliche Agrarrevolution", d. h. der Sieg des Bauernaufstandes in einem kapitalistischen Lande. Im Sinne einer banalen, ruhigen Entwicklung sind alle diese Wandlungen gleich „schwierig". Das Geschrei über die Utopisterei gerade und nur wegen der Nationalisierung zeugt vor allem vom Nichtverstehen des notwendigen und unzerreißbaren Zusammenhangs zwischen ökonomischer und politischer Umwälzung. Konfiskation des Großgrundbesitzes (eine sowohl von den Bolschewiki wie von den Menschewiki vertretene Programmforderung) ist unmöglich ohne Vernichtung des gutsherrlichen (zugleich auch oktobristischen, nicht nur gutsherrlichen) Absolutismus. Der Absolutismus kann aber nicht vernichtet werden ohne die revolutionäre Aktion politisch bewusster Millionenmassen, ohne ein gewaltiges Anschwellen des Heldentums der Massen, ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, „den Himmel zu stürmen", wie Karl Marx sich über die Pariser Arbeiter während der Kommune ausgedrückt hat.8 Diese revolutionäre Flut ist ihrerseits unmöglich ohne radikale Beseitigung sämtlicher Überreste der Hörigkeit, die Jahrhunderte hindurch auf den Bauern gelastet haben, folglich ohne Beseitigung des ganzen mittelalterlichen Grundeigentums, aller Fesseln der fiskalischen „Gemeinde", der behördlichen „Gnaden"geschenke verfluchten Angedenkens usw. usw. usw.

Wegen Raummangels – ich habe den mir von der Redaktion des „Przeglad" zur Verfügung gestellten Raum bereits überschritten– übergehe ich das fünfte Kapitel meines Buches („Klassen und Parteien an Hand der Agrardebatten in der II. Duma").

Die Reden der Bauern in der Duma sind von gewaltiger politischer Bedeutung, da in ihnen jener leidenschaftliche Drang zur Befreiung von gutsherrlicher Unterdrückung, jener flammende Hass gegen Mittelalter und Bürokratie, jener elementare, unmittelbare, oft naive und unklare und doch stürmische revolutionäre Geist einfacher Bauern zum Ausdruck kommt, der besser als alle langatmigen Argumentationen zeigt, eine wie gewaltige potentielle Zerstörungsenergie sich in den Bauernmassen gegen den Adel, die Gutsbesitzer und die Romanows angehäuft hat. Aufgabe des klassenbewussten Proletariats ist die rücksichtslose Aufzeigung, Entlarvung und Beseitigung all der so zahlreichen kleinbürgerlichen Trugbilder, scheinsozialistischen Phrasen, kindlich-naiven Erwartungen, die die Bauern oft an die Agrarumwälzung knüpfen. Doch hat diese Beseitigung nicht den Zweck, den Bauer zu beschwichtigen und zu beruhigen (wie das in den beiden Dumas die Verräter an der Volksfreiheit, die Herren Kadetten bezweckt haben), sondern im Gegenteil, in den Massen einen eisernen, unerschütterlichen Revolutionsgeist zu wecken. Ohne diesen revolutionären Geist, ohne zähen und rücksichtslosen Kampf der Bauernmassen sind sowohl Konfiskation als auch Republik und allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht hoffnungslos „utopisch". Daher müssen die Marxisten die Frage mit aller Schärfe so stellen: zwei Richtungen der ökonomischen Entwicklung Russlands, zwei Entwicklungswege des Kapitalismus sind deutlich zutage getreten. Das sollen sich alle gründlich überlegen. Im Laufe der ersten revolutionären Periode, in den drei Jahren 1905-1907, traten uns diese beiden Richtungen nicht als theoretische Verallgemeinerungen entgegen, nicht als logische Schlüsse aus bestimmten Charakterzügen der seit 1861 vor sich gegangenen Evolution. Nein, sie stehen heute vor uns als Richtungen, die von den feindlichen Klassen ins Auge gefasst sind. Die Gutsbesitzer und die Kapitalisten (Oktobristen) sind sich ganz klar darüber geworden, dass es einen anderen Entwicklungsweg nicht gibt als den kapitalistischen und dass es ihnen unmöglich ist, diesen Weg ohne beschleunigte, zwangsweise Zerstörung der „Gemeinde" zu gehen, und zwar ohne eine Zerstörung, die identisch ist mit … offenem, wucherischen Raub, mit Massenplünderung von Hab und Gut durch die Polizei oder mit „Strafexpeditionen". Das ist ein „Unternehmen", bei dem man sich leicht das Genick brechen kann! Ebenso klar geworden sind sich aber in diesen drei Jahren auch die Bauernmassen über die Aussichtslosigkeit aller Hoffnungen auf „Väterchen Zar", aller Hoffnungen auf einen friedlichen Weg und über die Notwendigkeit eines revolutionären Kampfes zur Vernichtung des ganzen mittelalterlichen Spuks überhaupt und des ganzen mittelalterlichen Eigentums am Grund und Boden im Besonderen.

Die ganze Propaganda und Agitation der Sozialdemokratie muss darauf gegründet sein, den Massen diese Resultate ins Bewusstsein zu prägen, die Massen auf die Ausnutzung dieser Erfahrungen für eine möglichst gut organisierte, entschlossene und energische Offensive während der zweiten Revolutionsperiode vorzubereiten.

Deshalb sind denn auch die Ausführungen Plechanows in Stockholm, die Machteroberung durch Proletariat und Bauernschaft bedeute die Wiederentstehung der Richtung der „Narodnaja Wolja", so stockreaktionär. Plechanow hat sich selbst ad absurdum geführt: „bäuerliche Agrarrevolution" ohne Machteroberung durch das Proletariat, durch die Bauernschaft: Kautsky dagegen, der zu Beginn des Bruchs zwischen Bolschewiki und Menschewiki offenkundig mit den Menschewiki sympathisierte, steht nunmehr ideologisch auf Seiten der Bolschewiki, da er anerkennt, dass der Sieg der Revolution nur unter der Voraussetzung einer „Koalition von Proletariat und Bauernschaft" möglich ist.9

Ohne vollständige Vernichtung des ganzen mittelalterlichen Eigentums am Grund und Boden, ohne vollständige „Säuberung" des Grund und Bodens, d. h. ohne seine Nationalisierung, ist eine solche Revolution undenkbar. Aufgabe der proletarischen Partei ist es, diese Losung der konsequentesten und radikalsten bürgerlichen Agrarumwälzung zu verbreiten. Und wenn wir das geleistet haben, werden wir sehen, welche weiteren Perspektiven sich eröffnen, werden wir sehen, ob sich diese Umwälzung nur als Grundlage für ein amerikanisch-rasches Entwicklungstempo der Produktivkräfte unter dem Kapitalismus erweisen oder ein Vorspiel zur sozialistischen Revolution im Westen sein wird.

18. Juni 1908

P. S. Ich wiederhole hier nicht noch einmal meinen Agrarprogrammentwurf, der dem Stockholmer Parteitag der SDAPR vorgelegt und in der sozialdemokratischen Literatur bereits mehrfach veröffentlicht wurde. Nur noch ein paar Worte. Da es zwei mögliche Richtungen der kapitalistischen Agrarrevolution gibt, muss das Programm unbedingt ein „Wenn" enthalten (technischer Ausdruck auf dem Stockholmer Parteitag), d. h. das Programm muss beide Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Anders gesagt: solange die Dinge so gehen wie bisher, verlangen wir freie Bodennutzung, Gerichte zur Herabsetzung des Pachtzinses, Aufhebung des Ständewesens usw. Zugleich bekämpfen wir die heutige Richtung, unterstützen die revolutionären Forderungen der Bauern im Interesse einer raschen Entwicklung der Produktivkräfte, eines breiten Aufschwungs des Klassenkampfes und seiner freien Entwicklung. Indem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei den revolutionären Kampf der Bauernschaft gegen das Mittelalter unterstützt, erklärt sie zugleich, dass die beste Form der Agrarverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft (zugleich auch die beste Form der Vernichtung der Hörigkeitsverhältnisse) die Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens ist, dass eine radikale Umwälzung der Agrarverhältnisse, Konfiskation des Grundbesitzes der Gutsherren und Nationalisierung des Grund und Bodens, nur im Zusammenhang mit einer radikalen politischen Umwälzung, mit der Vernichtung des Absolutismus und der Aufrichtung der demokratischen Republik möglich ist.

Dies ist der Inhalt meines Agrarprogrammentwurfes. Jener Teil desselben, der die Charakteristik der bürgerlichen Eigentümlichkeiten der ganzen gegenwärtigen Agrarumgestaltung und die Darlegung des rein proletarischen Standpunktes der Sozialdemokratie enthält, wurde in Stockholm angenommen und bildet einen Teil des gegenwärtigen Programms.


1 Der vorliegende Artikel wurde von Lenin auf Aufforderung von Rosa Luxemburg und L. Jogiches-Tyszka zur Informierung der polnischen Genossen über die in der russischen Sozialdemokratie über das Agrarprogramm bestehenden Meinungsverschiedenheiten geschrieben. Der menschewistische Standpunkt wurde von P. P. Maslow in dem Aufsatz „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der russischen Revolution" in Nr. 7 des „Przeglad S.-D." dargelegt, der zugleich eine Antwort auf den Artikel Lenins ist. Zugleich protestierte Maslow in einem „Brief an die Redaktion" des „Golos Sozialdemokrata" (Nr. 8–9, Juni-September 1908), worauf Lenin in der polnischen Presse Antwort gab („Einige Bemerkungen zur ,Antwort' P. Maslows"). Den russischen Brief beantwortete er mit dem Artikel „Ein hysterischer Anfall P. Maslows", „Proletarij" Nr. 37, siehe Seite 455 des vorliegenden Bandes.

Für die vorliegende Ausgabe wurde die Übersetzung aus dem Polnischen neu redigiert. In dem Artikel gibt Lenin ein ausführliches Autoreferat über sein Buch „Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie in der ersten Revolution 1905–1907", das damals von der russischen Zensur vernichtet worden ist.

A Die liberalen und die Narodniki-Ökonomen argumentieren folgendermaßen: Da im Zentralgebiet Bodenmangel herrscht, da sich Sibirien, Mittelasien usw. für Kolonisation nicht eignen, ist eine ergänzende Bodenzuteilung notwendig. Dies bedeutet: man könnte die gutsherrlichen Latifundien einstweilen ungeschoren lassen, wenn der Bodenmangel nicht wäre. Marxisten müssen aber ganz anders argumentieren: solange die Latifundien der Großgrundbesitzer nicht beseitigt sind, ist weder im Zentralgebiet noch in den Kolonien (in den Randgebieten Russlands) eine rasche Entwicklung der Produktivkräfte möglich.

2 Der Artikel P. Maslows im „Obrasowanije", 1907, Heft 1–2, trägt den Titel „Über die prinzipiellen und theoretischen Grundlagen des Agrarprogramms."

3 Der Antrag, die Worte „zur Verfügung" durch die Worte „als Eigentum“ zu ersetzen, wurde in Stockholm mit den Stimmen der Menschewiki abgelehnt (s. Protokoll, S. 152)

5 Bd. II, T. 2, S. 6/7

6 In den Klammern Zusatz Lenins. Die Red.

B „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland", 2. Aufl., S. 51, 54, 82.. (Bd. III der Sämtl. Werke, S. 57, 60, 92. Die Red.)

C M. Schanin betonte in seiner Schrift „Munizipalisierung oder Zuteilung als Eigentum", erschienen in Wilna 1907, jene Seite der Frage die die Agrikultur betrifft, begriff aber nicht die zwei Entwicklungswege und die Bedeutung der Vernichtung der heutigen Grandbesitzverfassung.

D „Die Agrarfrage", 3. Auflage, Seile 108, Anmerkung.

E Siehe z. B. „Das Kapital" III, 2. T. S. 346–347 über den Bodenpreis als Hindernis für die Entwicklung des Kapitalismus. Ebenda S 344–345 341 u. 342.

7 Der weise Gründling – eine Verkörperung der Erbärmlichkeit im gleichnamigen Märchen von Saltykow-Schtschedrin.

F Im kapitalistischen Staat ist ein Nebeneinander von Privateigentum am Grund und Boden und Nationalisierung nicht möglich Eine dieser beiden Formen wird die Oberhand gewinnen müssen. Sache der Arbeiterpartei ist es, iur die höhere Form einzutreten.

G »Die Bauernfrage und die Sozialdemokratie." Ein besonders unklarer Kommentar zum menschewistischen Programm. Siehe S. 66. Auf S. 103 verweist dieser unglückselige Verfechter der Munizipalisierung auf die Nationalisierung als auf den besten Ausweg!

8 Diesen Ausdruck gebraucht Marx in dem Brief an Kugelmann vom 12. April 1871

9 Davon spricht Kautsky im Aufsatz „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution" und in der zweiten Auflage der „Sozialen Revolution" (S. 62).

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