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Wladimir I. Lenin 19190304 Thesen und Referat über die bürgerliche Demokratie und die Diktatur des Proletariats auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale

Wladimir I. Lenin: Thesen und Referat über die bürgerliche Demokratie

und die Diktatur des Proletariats auf dem I. Kongress

der Kommunistischen Internationale1

(4. März 1919)

[Nach Ausgewählte Werke, Band 7, Die Lehre vom Staat. Die Aufgaben der Kommunistischen Partei nach der Machtergreifung. Zürich 1934, S. 222-240]

1. Das Anwachsen der revolutionären Bewegung des Proletariats in allen Ländern hat bei der Bourgeoisie und ihren Agenten in den Arbeiterorganisationen krampfhafte Bemühungen hervorgerufen, ideologisch-politische Argumente zur Verteidigung der Herrschaft der Ausbeuter zu finden. Unter diesen Argumenten treten die Ablehnung der Diktatur und die Verteidigung der Demokratie besonders hervor. Die Verlogenheit und Heuchelei dieses Arguments, das von der kapitalistischen Presse und auch auf der im Februar 1919 in Bern abgehaltenen Konferenz der gelben Internationale in allen Tonarten wiederholt wird, ist für jeden klar, der nicht die Grundprinzipien des Sozialismus verraten will.

2. Diese Argumentation operiert vor allem mit den Begriffen „Demokratie überhaupt“ und „Diktatur überhaupt“, ohne die Frage zu stellen, um welche Klasse es sich handelt. Eine solche Fragestellung von einem außerhalb der Klassen oder über ihnen stehenden, angeblich gesamt-nationalen Gesichtspunkt ist ein direkter Hohn auf die Grundlehre des Sozialismus, nämlich die Lehre vom Klassenkampf, die die in das Lager der Bourgeoisie übergegangenen Sozialisten in Worten anerkennen, in Wirklichkeit aber vergessen. Denn in keinem zivilisierten kapitalistischen Land besteht eine „Demokratie überhaupt", sondern nur die bürgerliche Demokratie, und es handelt sich nicht um die „Diktatur überhaupt“, sondern um die Diktatur der unterdrückten Klasse, d.h. des Proletariats, über die Unterdrücker und Ausbeuter, d.h. über die Bourgeoisie, zum Zweck der Überwindung des Widerstandes, den die Ausbeuter im Kampf um ihre Herrschaft leisten.

3. Die Geschichte lehrt uns, dass noch niemals irgendeine unterdrückte Klasse zur Macht gelangt ist und auch nicht gelangen konnte ohne eine Periode der Diktatur, d.h. der Eroberung der politischen Macht und der gewaltsamen Unterdrückung der verzweifeltsten, wildesten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Widerstandes durchzumachen, den die Ausbeuter immer leisteten. Die Bourgeoisie, deren Herrschaft jetzt die Sozialisten verteidigen, die sich gegen die „Diktatur überhaupt“ aussprechen und mit Leib und Seele für die „Demokratie überhaupt“ eintreten, hat ihre Macht in den vorgeschrittenen Ländern um den Preis einer Reihe von Aufständen, Bürgerkriegen, durch die gewaltsame Niederhaltung der Könige, der Feudalherren, der Sklavenhalter und die Unterdrückung ihrer Restaurierungsversuche erobert. Tausend und Millionen Mal haben die Sozialisten aller Länder in ihren Büchern, Broschüren, in den Resolutionen ihrer Kongresse, in ihren Agitationsreden dem Volk den Klassencharakter dieser bürgerlichen Revolutionen, dieser bürgerlichen Diktatur erläutert. Deshalb ist die gegenwärtige Verteidigung der bürgerlichen Demokratie in Form von Reden über die „Demokratie überhaupt“, ist das gegenwärtige Gezeter und Geschrei gegen die Diktatur des Proletariats in Form eines Geschreis über die „Diktatur überhaupt“ ein direkter Verrat am Sozialismus, ein tatsächlicher Übergang in das Lager der Bourgeoisie, eine Verleugnung des Rechts des Proletariats auf seine, die proletarische Revolution, eine Verteidigung des bürgerlichen Reformismus gerade in dem historischen Augenblick, wo der bürgerliche Reformismus in der ganzen Welt zusammengebrochen ist und der Krieg eine revolutionäre Situation geschaffen hat.

4. Alle Sozialisten haben bei der Darlegung des Klassencharakters der bürgerlichen Zivilisation, der bürgerlichen Demokratie, des bürgerlichen Parlamentarismus den Gedanken zum Ausdruck gebracht, den Marx und Engels mit der größten wissenschaftlichen Genauigkeit in die Worte kleideten, dass die demokratischste bürgerliche Republik nichts anderes sei als eine Maschine zur Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie, der Masse der Werktätigen durch eine Hand voll Kapitalisten: Es gibt unter denen, die jetzt gegen die Diktatur ihr Geschrei erheben und für die Demokratie eintreten, keinen einzigen Revolutionär, keinen einzigen Marxisten, der vor den Arbeitern nicht immer hoch und heilig beteuert hätte, dass er diese Grundwahrheit des Sozialismus anerkenne; jetzt aber, wo das revolutionäre Proletariat in Gärung und Bewegung geraten ist, die auf die Vernichtung dieser Unterdrückungsmaschine und die Erkämpfung der Diktatur des Proletariats abzielt, stellen diese Verräter am Sozialismus die Sache so dar, als ob die Bourgeoisie den Werktätigen die „reine Demokratie“ geschenkt hätte, als ob die Bourgeoisie auf Widerstand verzichtet habe und gewillt sei, sich der Mehrheit der Werktätigen zu fügen, als ob in der demokratischen Republik keine Staatsmaschine zur Niederhaltung der Arbeit durch das Kapital bestanden hätte und bestände.

5. Die Pariser Kommune, die alle jene mit dem Munde feiern, die als Sozialisten gelten wollen – denn sie wissen, dass die Arbeitermassen große und aufrichtige Sympathie für sie hegen –, hat die historische Bedingtheit und den begrenzten Wert des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie besonders anschaulich aufgezeigt. Diese sind zwar im Vergleich mit dem Mittelalter sehr fortschrittliche Einrichtungen, in der Epoche der proletarischen Revolution aber erfordern sie unvermeidlich eine radikale Änderung. Gerade Marx, der die historische Bedeutung der Kommune ganz besonders hoch einschätzte, hat in seiner Analyse den Ausbeutercharakter der bürgerlichen Demokratie und des bürgerlichen Parlamentarismus nachgewiesen, die der unterdrückten Klasse das Recht gewähren, einmal im Laufe mehrerer Jahre zu entscheiden, welcher Vertreter der besitzenden Klassen das Volk im Parlament „ver- und zertreten“ wird. Gerade jetzt, wo die die ganze Welt ergreifende Rätebewegung vor aller Augen das Werk der Kommune weiterführt, vergessen die Verräter am Sozialismus die konkrete Erfahrung und die konkreten Lehren der Pariser Kommune und wiederholen das alte bürgerliche Gerede über die „Demokratie überhaupt“. Die Kommune war keine parlamentarische Einrichtung.

6. Die Bedeutung der Kommune besteht ferner darin, dass sie den Versuch unternahm, den bürgerlichen Staatsapparat, den Beamten-, Justiz-, Militär- und Polizeiapparat zu zerschlagen, bis auf den Grund zu zerstören und ihn durch eine sich selbst verwaltende Massenorganisation der Arbeiter zu ersetzen, die keine Trennung der gesetzgebenden von der vollziehenden Gewalt kannte. Alle bürgerlich-demokratischen Republiken unserer Zeit, darunter die deutsche, die die Verräter am Sozialismus zum Hohn auf die Wahrheit als proletarische bezeichnen, behalten diesen Staatsapparat bei. Auf diese Weise wird zum soundsovielten Mal durchaus anschaulich bestätigt, dass das Geschrei zur Verteidigung der „Demokratie überhaupt“ in Wirklichkeit Verteidigung der Bourgeoisie und ihrer Ausbeuterprivilegien ist.

7. Als Beispiel der Forderungen der „reinen Demokratie“ kann die „Versammlungsfreiheit“ dienen. Jeder klassenbewusste Arbeiter, der mit seiner Klasse nicht gebrochen hat, versteht sofort, dass es Unsinn wäre, den Ausbeutern die Versammlungsfreiheit in der Periode und in der Situation zu versprechen, wo sie sich ihrem Sturz widersetzen und ihre Privilegien verteidigen. Die Bourgeoisie hat, als sie revolutionär war, weder in England im Jahre 1649 noch in Frankreich im Jahre 1793, den Monarchisten und Adligen, die fremde Truppen ins Land riefen und Kräfte zur Organisierung von Restaurationsversuchen sammelten, die „Versammlungsfreiheit“ gewährt. Wenn die heutige Bourgeoisie, die schon längst reaktionär geworden ist, vom Proletariat fordert, es solle den Ausbeutern ohne Rücksicht darauf, in welcher Weise sich die Kapitalisten ihrer Expropriation widersetzen werden, im Voraus „Versammlungsfreiheit“ garantieren, so werden die Arbeiter über die Heuchelei der Bourgeoisie nur lachen.

Andrerseits wissen die Arbeiter sehr gut, dass die „Versammlungsfreiheit“ selbst in der demokratischsten bürgerlichen Republik eine leere Phrase ist, denn den Reichen stehen die besten öffentlichen und privaten Gebäude zur Verfügung, sie haben auch genügend freie Zeit für Versammlungen und erfreuen sich dabei des Schutzes des bürgerlichen Machtapparates. Die Proletarier in Stadt und Land wie auch die Kleinbauern, d.h. die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung, haben nichts von alledem. Solange sich dies so verhält, ist die „Gleichheit“, d.h. die „reine Demokratie“, ein Betrug. Um eine wirkliche Gleichheit zu erobern, um tatsächlich eine Demokratie für die Werktätigen zu verwirklichen, muss man zuerst den Ausbeutern alle öffentlichen und alle luxuriösen privaten Gebäude wegnehmen, muss man zuerst den Werktätigen Muße verschaffen und dafür sorgen, dass die Freiheit ihrer Versammlungen von bewaffneten Arbeitern geschützt wird und nicht von den Herrensöhnchen des Adels oder Offizieren aus kapitalistischen Kreisen mit Hilfe eingeschüchterter Soldaten.

Erst nach einer solchen Änderung kann man von Versammlungsfreiheit, von Gleichheit sprechen, ohne die Arbeiter, die Werktätigen, die Armen zu verhöhnen. Verwirklichen kann diese Änderung jedoch nur die Avantgarde der Werktätigen, das Proletariat, das die Ausbeuter, die Bourgeoisie, stürzt.

8. Die „Pressefreiheit“ ist auch eine der Hauptlosungen der „reinen Demokratie“. Auch da wissen die Arbeiter – und die Sozialisten aller Länder haben es Millionen Mal anerkannt –, dass diese Freiheit ein Betrug ist, solange die besten Druckereien und die größten Papiervorräte sich in den Händen der Kapitalisten befinden und die Presse von der Kapitalmacht beherrscht wird, die in der ganzen Welt um so deutlicher, schärfer und zynischer auftritt, je entwickelter die Demokratie und das republikanische Regime sind, wie z. B. in Amerika. Um eine tatsächliche Gleichheit und eine wirkliche Demokratie für die Werktätigen, für die Arbeiter und Bauern, zu erobern, muss man zunächst den Kapitalisten die Möglichkeit nehmen, Schriftsteller in ihren Dienst zu nehmen, Verlagsanstalten anzukaufen und Zeitungen zu bestechen. Dazu aber ist es notwendig, das Joch des Kapitals abzuschütteln, die Ausbeuter zu stürzen, ihren Widerstand zu brechen. Die Kapitalisten haben stets die Freiheit der Reichen, Profite zu erzielen, und die Freiheit der Arbeiter, Hungers zu sterben, „Freiheit“ genannt. Die Kapitalisten bezeichnen als Pressefreiheit die Freiheit der Bestechung der Presse durch die Reichen, die Freiheit der Ausnützung des Reichtums, um die sogenannte öffentliche Meinung zu fabrizieren und auszuhalten. Die Verteidiger der „reinen Demokratie“ erweisen sich also wiederum in Wirklichkeit als Verteidiger des schmutzigsten und korruptesten Systems der Herrschaft der Reichen über die Mittel zur Aufklärung der Massen, als Volksbetrüger, die das Volk mit wohlklingenden, schönen und durch und durch verlogenen Phrasen von der konkreten historischen Aufgabe der Befreiung der Presse vom Joch des Kapitals ablenken. Wirkliche Freiheit und Gleichheit wird die Gesellschaftsordnung bringen, die die Kommunisten aufrichten und in der es keine Möglichkeit geben wird, sich auf Kosten anderer zu bereichern, in der es keine objektive Möglichkeit geben wird, die Presse – direkt oder indirekt – der Macht des Geldes zu unterwerfen, in der jeder beliebige Werktätige (oder jede beliebig große Gruppe von Werktätigen) das gleiche Recht auf die der Gesellschaft gehörenden Papiervorräte besitzen und ungehindert ausüben können wird.

9. Die Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts hat uns noch vor dem Krieg gezeigt, was die viel gerühmte „reine Demokratie“ unter dem Kapitalismus in Wirklichkeit bedeutet. Die Marxisten haben immer behauptet, dass sich der Klassenkampf um so unverhüllter, schärfer, schonungsloser gestaltet, das Joch des Kapitals und die Diktatur der Bourgeoisie um so „reiner“ hervortreten, je entwickelter, je „reiner“ die Demokratie ist. Die Affäre Dreyfus im republikanischen Frankreich, die blutige Abrechnung der von den Kapitalisten bewaffneten Söldnertrupps mit streikenden Arbeitern in der freien und demokratischen Republik Amerika – diese und tausende ähnliche Tatsachen enthüllen die Wahrheit, die die Bourgeoisie vergeblich zu verbergen sucht: dass in den demokratischsten Republiken in Wirklichkeit der Terror und die Diktatur der Bourgeoisie herrschen, die jedes Mal offen zutage treten, wenn die Ausbeuter zu glauben beginnen, dass die Macht des Kapitals ins Wanken gerät.

10. Der imperialistische Krieg von 1914-1918 hat sogar den rückständigen Arbeitern ein für allemal diesen wirklichen Charakter der bürgerlichen Demokratie selbst in den freiesten Republiken als den Charakter der Diktatur der Bourgeoisie enthüllt. Zur Bereicherung der deutschen bzw. der englischen Gruppe der Millionäre und Milliardäre wurden Dutzende von Millionen Menschen hingemordet, und in den freiesten Republiken wurde die Militärdiktatur der Bourgeoisie aufgerichtet. Diese Militärdiktatur besteht in den Ländern der Entente auch nach dem Sieg über Deutschland weiter. Gerade der Krieg hat den Werktätigen mehr als jemals irgendein Ereignis die Augen geöffnet; er hat die bürgerliche Demokratie alles falschen Flitterkrams beraubt und dem Volk den ganzen Abgrund von Spekulation und Gewinnsucht gezeigt, der sich während des Krieges und in Verbindung mit ihm aufgetan hatte. Im Zeichen von „Freiheit und Gleichheit“ hat die Bourgeoisie diesen Krieg geführt, im Zeichen von „Freiheit und Gleichheit“ haben sich die Kriegslieferanten unerhört bereichert. Keinerlei Bemühungen der gelben Berner Internationale werden imstande sein, den jetzt restlos aufgedeckten Ausbeutercharakter der bürgerlichen Freiheit, der bürgerlichen Gleichheit, der bürgerlichen Demokratie vor den Massen zu verheimlichen.

11. In dem kapitalistisch am höchsten entwickelten Land des europäischen Festlandes, in Deutschland, haben schon die ersten Monate der vollen republikanischen Freiheit im Gefolge der Zertrümmerung des imperialistischen Deutschlands den deutschen Arbeitern und der ganzen Welt gezeigt, worin der wirkliche Klasseninhalt der bürgerlichen demokratischen Republik besteht. Die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, nicht nur deshalb, weil die besten Menschen und Führer der wirklich proletarischen, der Kommunistischen Internationale tragisch ums Leben gekommen sind, sondern auch deswegen, weil sich für den führenden europäischen Staat – man kann ohne Übertreibung sagen: den führenden Staat der Welt –, restlos sein Klassencharakter offenbart hat. Wenn verhaftete, d.h. unter dem Schutz der Staatsmacht stehende Menschen unter einer Regierung der Sozialpatrioten von Offizieren und Kapitalisten ungestraft ermordet werden konnten, so ist die demokratische Republik, in der so etwas möglich war, eine Diktatur der Bourgeoisie. Leute, die ihre Entrüstung über die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Ausdruck bringen, aber diese Wahrheit nicht begreifen, beweisen damit nur ihre Beschränktheit oder ihre Heuchelei. In einer der freiesten und fortgeschrittensten Republiken der Welt, der deutschen Republik, besteht die „Freiheit“ darin, dass man verhaftete Führer des Proletariats ungestraft ermorden kann. Und das kann nicht anders sein, solange der Kapitalismus bestehen bleibt, da die Entwicklung der Demokratie den Klassenkampf, der jetzt, dank allen Ergebnissen und Einflüssen des Krieges und seinen Folgen, auf den Siedepunkt gelangt ist, nicht abschwächt, sondern verschärft.

In der ganzen zivilisierten Welt finden jetzt Ausweisungen, Verfolgungen und Einkerkerungen von Bolschewiki statt, so z. B. in einer der freiesten bürgerlichen Republiken, der Schweiz; in Amerika kommt es zu Bolschewistenpogromen usw. Vom Gesichtspunkt der „Demokratie überhaupt“ oder der „reinen Demokratie“ ist es geradezu lächerlich, dass vorgeschrittene, zivilisierte, demokratische, bis an die Zähne bewaffnete Staaten die Anwesenheit von einigen Dutzend Leuten aus dem rückständigen, ruinierten, hungrigen Russland fürchten, das die in Millionen Exemplaren erscheinenden bürgerlichen Zeitungen als barbarisch, verbrecherisch usw. bezeichnen. Es ist klar, dass die gesellschaftlichen Zustände, die einen so schreienden Widerspruch erzeugen konnten, in Wirklichkeit die Diktatur der Bourgeoisie sind.

12. Unter diesen Umständen ist die Diktatur des Proletariats als Mittel zum Sturz der Ausbeuter und zur Niederhaltung ihres Widerstandes nicht nur völlig berechtigt, sondern auch durchaus notwendig für die ganze Masse der Werktätigen als einziger Schutz gegen die Diktatur der Bourgeoisie, die zum Krieg geführt hat und neue Kriege vorbereitet.

Das Wichtigste, das die Sozialisten nicht begreifen und das ihre theoretische Kurzsichtigkeit, ihr Befangensein in bürgerlichen Vorurteilen und ihren politischen Verrat am Proletariat ausmacht, das ist der Umstand, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft bei jeder einigermaßen ernsthaften Verschärfung des ihr zugrunde liegenden Klassenkampfes kein Mittelding zwischen der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats geben kann. Jeder Traum von etwas Drittem ist reaktionäre Heulmeierei des Kleinbürgers. Das bezeugt sowohl die Erfahrung einer mehr als hundertjährigen Entwicklung der bürgerlichen Demokratie und der Arbeiterbewegung in allen vorgeschrittenen Ländern als auch insbesondere die Erfahrung der letzten fünf Jahre. Dafür spricht auch die ganze Wissenschaft der politischen Ökonomie, der ganze Inhalt des Marxismus, der die ökonomische Unvermeidlichkeit der Diktatur der Bourgeoisie in jedweder Warenwirtschaft darlegt, einer Diktatur, die nur von der Klasse beseitigt werden kann, die durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst immer weiter entwickelt, vermehrt, zusammengeschlossen und gestärkt wird, d.h. von der Klasse der Proletarier.

13. Ein weiterer theoretischer und politischer Fehler der Sozialisten besteht darin, dass sie nicht verstehen, dass die Formen der Demokratie, von ihren Keimen im Altertum angefangen, im Laufe der Jahrtausende je nach der Ablösung der einen herrschenden Klasse durch eine andere notwendigerweise gewechselt haben. In den Republiken des alten Griechenlands, in den Städten des Mittelalters, in den vorgeschrittenen kapitalistischen Staaten weist die Demokratie verschiedene Formen und verschiedene Grade der Anwendung auf. Es wäre die größte Albernheit anzunehmen, dass sich die tiefst greifende Revolution in der Geschichte der Menschheit, in der zum ersten Mal in der Welt die Macht von der Minderheit der Ausbeuter auf die Mehrheit der Ausgebeuteten übergegangen ist, im Rahmen der alten bürgerlichen parlamentarischen Demokratie vollziehen könne, ohne die schärfsten Krisen, ohne Hervorbringen neuer Formen der Demokratie, neuer Institutionen, die die neuen Bedingungen der Anwendung der Demokratie verkörpern usw.

14. Die Diktatur des Proletariats ist der Diktatur anderer Klassen insofern ähnlich, als sie, wie jede andere Diktatur auch, durch die Notwendigkeit hervorgerufen wird, den gewaltsamen Widerstand der Klasse zu unterdrücken, die ihre politische Herrschaft verliert. Der grundlegende Unterschied zwischen der Diktatur des Proletariats und der Diktatur anderer Klassen – der Diktatur der Grundherren im Mittelalter, der Diktatur der Bourgeoisie in allen zivilisierten kapitalistischen Ländern – besteht darin, dass die Diktatur der Grundherren und der Bourgeoisie die gewaltsame Unterdrückung des Widerstandes der gewaltigen Mehrheit der Bevölkerung, nämlich der Werktätigen, war. Die Diktatur des Proletariats dagegen ist die gewaltsame Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter, d.h. der verschwindenden Minderheit der Bevölkerung, der Grundherren und der Kapitalisten.

Hieraus ergibt sich wiederum, dass die Diktatur des Proletariats unvermeidlich nicht nur, allgemein gesprochen, eine Veränderung der Formen und Institutionen der Demokratie, sondern eben eine solche Veränderung derselben mit sich bringen muss, die eine in der Welt noch nie dagewesene Ausdehnung der wirklichen Ausübung der Demokratie durch die vom Kapitalismus Unterdrückten, durch die werktätigen Klassen zur Folge hat.

Und in der Tat: die Form der Diktatur des Proletariats, die bereits tatsächlich herausgearbeitet ist, d.h. die Sowjetmacht in Russland, das Rätesystem in Deutschland, die Shop Stewards Committees und andere ähnliche Räteinstitutionen in anderen Ländern – sie alle bedeuten und verwirklichen eben für die werktätigen Klassen, d.h. für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, eine solche tatsächliche Möglichkeit, von den demokratischen Rechten und Freiheiten Gebrauch zu machen, wie sie noch niemals, auch nicht in den besten und demokratischsten bürgerlichen Republiken, auch nur annähernd vorhanden war.

Das Wesen der Sowjetmacht besteht darin, dass die Massenorganisation gerade der Klassen, die von dem Kapitalismus unterdrückt worden sind, d.h. der Arbeiter und der Halbproletarier (Bauern, die keine fremde Arbeitskraft ausbeuten und dauernd zum Verkauf wenigstens eines Teils ihrer Arbeitskraft gezwungen sind), die ständige und einzige Grundlage der ganzen Staatsmacht, des ganzen Staatsapparats ist. Gerade die Massen, die sogar in den demokratischsten bürgerlichen Republiken zwar nach dem Gesetz gleichberechtigt waren, in der Tat aber durch tausenderlei Mittel und Kniffe von der Beteiligung am politischen Leben und von der Ausnützung der demokratischen Rechte und Freiheiten ferngehalten wurden, werden jetzt zur dauernden, unbedingten und dabei entscheidenden Beteiligung an der demokratischen Verwaltung des Staates herangezogen.

15. Jene Gleichheit der Bürger ohne Rücksicht auf Geschlecht, Religion, Rasse, Nationalität, die die bürgerliche Demokratie immer und überall versprochen, aber nirgends durchgeführt hat und infolge der Herrschaft des Kapitalismus nicht durchführen konnte, verwirklicht die Sowjetmacht oder die Diktatur des Proletariats auf einmal und restlos; denn dies vermag nur die Macht der Arbeiter, die am Privateigentum an den Produktionsmitteln und am Kampf um ihre Teilung und Neuverteilung nicht interessiert sind.

16. Die alte, d.h. bürgerliche Demokratie und der Parlamentarismus waren so organisiert, dass gerade die Massen der Werktätigen dem Regierungsapparat am meisten entfremdet waren. Die Sowjetmacht, d.h. die Diktatur des Proletariats hingegen ist so organisiert, dass sie die Massen der Werktätigen dem Regierungsapparat näher bringt Dem gleichen Ziele dient auch die Vereinigung der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt in der Organisation des Rätestaates und die Ersetzung der territorialen Wahlkreise durch Produktionseinheiten; Werk, Fabrik.

17. Das Heer diente nicht nur in der Monarchie als Unterdrückungsapparat. Ein solcher ist es auch in allen bürgerlichen, selbst in den demokratischsten Republiken geblieben. Nur die Sowjetmacht als dauernde staatliche Organisation eben der vom Kapitalismus unterdrückt gewesenen Klassen ist imstande, die Unterordnung des Heeres unter die bürgerliche Kommandogewalt aufzuheben und das Proletariat wirklich mit dem Militär zu verschmelzen, die Bewaffnung des Proletariats und die Entwaffnung der Bourgeoisie wirklich zu vollbringen. Und ohne das ist der Sieg des Sozialismus unmöglich.

18. Die Organisation des Staates auf der Grundlage der Räte ist so beschaffen, dass das Proletariat als die durch den Kapitalismus am meisten konzentrierte und am meisten aufgeklärte Klasse die führende Rolle innehat. Die Erfahrung aller Revolutionen und aller Bewegungen unterdrückter Klassen, die Erfahrung der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt lehrt uns, dass allein das Proletariat imstande ist, die zersplitterten und rückständigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung zu vereinigen und zu führen.

19. Nur die Organisation des Staates auf der Grundlage der Räte ist imstande, den alten, d.h. den bürgerlichen Beamten- und Justizapparat, der unter dem Kapitalismus selbst in den demokratischsten Republiken erhalten blieb und erhalten bleiben musste und tatsächlich das größte Hindernis der Verwirklichung der Demokratie für die Arbeiter und Werktätigen ist, sofort zu zerschlagen und endgültig zu zerstören. Die Pariser Kommune hat auf diesem Wege den ersten weltgeschichtlichen Schritt getan. Die Sowjetmacht tat den zweiten.

20. Die Aufhebung der Staatsmacht ist das Ziel, das sich alle Sozialisten, unter ihnen und an ihrer Spitze Marx, setzten. Ohne Erreichung dieses Zieles ist die wahre Demokratie, d.h. die Freiheit und Gleichheit, nicht zu erreichen. Zu diesem Ziel führt jedoch praktisch nur die Räte- oder proletarische Demokratie, denn dadurch, dass sie die Massenorganisationen der Werktätigen zur dauernden und unbedingten Teilnahme an der Staatsverwaltung heranzieht, beginnt sie sofort das restlose Absterben jeglichen Staates vorzubereiten

21. Der völlige Bankrott der Sozialisten, die sich in Bern versammelt haben, ihr völliger Mangel an Verständnis für die neue, d.h. die proletarische Demokratie ist aus dem Folgenden besonders klar ersichtlich. Am 10. Februar 1919 erklärte Branting in Bern die Internationale Konferenz der gelben Internationale für geschlossen. Am 11. Februar 1919 veröffentlichte eine Zeitung ihrer Teilnehmer, die in Berlin erscheinende „Freiheit“, einen Aufruf der Partei der „Unabhängigen“ an das Proletariat. In diesem Aufruf wird der bürgerliche Charakter der Scheidemann-Regierung zugegeben, es wird ihr der Vorwurf gemacht, dass sie die Räte abschaffen wolle, die Träger und Schützer der Revolution genannt werden, und es wird der Vorschlag gemacht, die Räte zu legalisieren, ihnen staatliche Rechte zu verleihen, ihnen das Recht zu geben, Beschlüsse der Nationalversammlung zu sistieren, die dann einer Volksabstimmung unterzogen werden müssten.

Dieser Vorschlag zeugt von dem völligen ideellen Bankrott der Theoretiker, die die Demokratie verteidigt und ihren bürgerlichen Charakter nicht verstanden haben. Der lächerliche Versuch, das Rätesystem, d.h. die Diktatur des Proletariats, mit der Nationalversammlung, d.h. der Diktatur der Bourgeoisie, zu vereinigen, enthüllt endgültig sowohl die Geistesarmut der gelben Sozialisten und Sozialdemokraten als auch ihre reaktionäre, kleinbürgerliche Politik sowie ihre feigen Konzessionen an die unaufhaltsam wachsenden Kräfte der neuen, proletarischen Demokratie.

22. Durch ihre Verurteilung des Bolschewismus hat die Mehrheit der gelben Internationale in Bern, die aus Furcht vor der Arbeitermasse es nicht wagte, über eine entsprechende Resolution in aller Form abzustimmen, vom Klassenstandpunkt aus richtig gehandelt. Gerade diese Mehrheit ist mit den russischen Menschewiki und Sozialrevolutionären sowie mit den Scheidemännern in Deutschland völlig solidarisch. Die russischen Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, die sich über die Verfolgungen durch die Bolschewiki beklagen, versuchen die Tatsache zu verheimlichen, dass diese Verfolgungen durch die Teilnahme der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre am Bürgerkrieg auf der Seite der Bourgeoisie gegen das Proletariat hervorgerufen worden sind. Genau so haben die Scheidemänner und ihre Partei in Deutschland bereits bewiesen, dass sie ebenso am Bürgerkrieg auf der Seite der Bourgeoisie gegen die Arbeiter teilnehmen.

Es ist daher völlig natürlich, dass sich die Mehrheit der Teilnehmer der Berner gelben Internationale für die Verurteilung der Bolschewiki ausgesprochen hat. Darin hat jedoch nicht die Verteidigung der „reinen Demokratie“, sondern die Selbstverteidigung von Leuten ihren Ausdruck gefunden, die erkennen und fühlen, dass sie im Bürgerkrieg auf der Seite der Bourgeoisie gegen das Proletariat stehen.

Aus diesem Grunde muss man den Beschluss der Mehrheit der gelben Internationale als vom Klassenstandpunkt aus richtig anerkennen. Das Proletariat darf die Wahrheit nicht fürchten, es muss ihr offen ins Antlitz schauen und daraus alle politischen Folgerungen ziehen.

Genossen! Ich möchte den letzten zwei Punkten noch etwas hinzufügen. Ich glaube, dass uns die Genossen, die uns über die Berner Konferenz Bericht erstatten sollen, darüber ausführlicher erzählen werden.

Im Verlauf der ganzen Berner Konferenz ist kein Wort über die Bedeutung der Sowjetmacht gesagt worden. In Russland diskutieren wir diese Frage schon seit zwei Jahren. Schon im April 1917 haben wir auf unserer Parteikonferenz theoretisch und politisch die Frage gestellt: „Was ist die Sowjetmacht, was ist ihr Inhalt, was ist ihre historische Bedeutung?“ Fast seit zwei Jahren diskutieren wir schon diese Frage, und auf unserem Parteitag werden wir eine Resolution darüber beschließen.

Die Berliner „Freiheit“ druckte am 11. Februar einen Aufruf an das deutsche Proletariat ab, der nicht nur von den Führern der unabhängigen Sozialdemokraten Deutschlands, sondern auch von allen Mitgliedern der Fraktion der Unabhängigen unterschrieben ist. Im August 1918 schrieb der bedeutendste Theoretiker dieser Unabhängigen, Kautsky, in seiner Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“, dass er ein Anhänger der Demokratie und der Räteorgane sei, die Räte dürften aber nur wirtschaftliche Bedeutung haben und keineswegs als staatliche Organisationen anerkannt werden. Kautsky wiederholt das in den Nummern der „Freiheit“ vom 11. November und 12. Januar. Am 9. Februar erscheint ein Artikel von Rudolf Hilferding, der auch als eine der größten theoretischen Autoritäten der II. Internationale gilt. Er schlägt bereits vor, das Rätesystem juristisch, auf dem Wege der staatlichen Gesetzgebung, mit der Nationalversammlung zu verbinden. Das war am 9. Februar. Am 11. wird dieser Vorschlag von der ganzen Partei der Unabhängigen angenommen und in der Form eines Aufrufs veröffentlicht.

Obwohl die Nationalversammlung schon existiert, sogar nachdem schon die „reine Demokratie“ Wirklichkeit geworden ist, nachdem die größten Theoretiker der Unabhängigen Sozialdemokraten erklärt haben, dass die Räteorganisationen keine staatlichen Organisationen sein dürfen – trotz alledem wieder Schwankungen! Das beweist, dass diese Herrschaften wirklich von der neuen Bewegung und ihren Kampfbedingungen nichts verstanden haben. Aber das beweist auch noch etwas anderes, und zwar: es müssen Umstände vorhanden sein, Ursachen, die diese Schwankungen hervorrufen! Nach all diesen Ereignissen, nach fast zwei Jahren siegreicher Revolution in Russland dürfen wir, wenn man uns solche Resolutionen vorlegt wie die auf der Berner Konferenz angenommenen, in denen von den Räten und ihrer Bedeutung nichts gesagt wird – und wobei auf dieser Konferenz kein einziger Delegierter auch nur ein Wort über die Räte hat fallen lassen –, da dürfen wir mit vollem Recht erklären: alle diese Herrschaften sind als Sozialisten und Theoretiker für uns gestorben.

Aber praktisch, vom politischen Standpunkt aus, Genossen, ist es ein Beweis dafür, dass in den Massen ein gewaltiger Umschwung vor sich geht, wenn diese Unabhängigen, die theoretisch und prinzipiell gegen diese staatlichen Organisationen waren, plötzlich so eine Dummheit wie die „friedliche“ Verbindung der Nationalversammlung mit dem Rätesystem, d.h. die Verbindung der Diktatur der Bourgeoisie mit der Diktatur des Proletariats, vorschlagen. Wir sehen, wie sie alle als Sozialisten und als Theoretiker bankrott gegangen sind und welch gewaltige Veränderung in den Massen vor sich geht. Die rückständigen Massen des deutschen Proletariats kommen zu uns, sind zu uns gekommen! Die Bedeutung der Partei der unabhängigen deutschen Sozialdemokraten, des besten Teils der Berner Konferenz, ist also vom theoretischen und sozialistischen Gesichtspunkt gleich Null; eine gewisse Bedeutung bleibt ihr jedoch, und diese besteht darin, dass diese schwankenden Elemente uns als Barometer für die Stimmung der rückständigen Teile des Proletariats dienen. Darin besteht nach meiner Überzeugung eben die außerordentliche historische Bedeutung dieser Konferenz. Wir haben so etwas Ähnliches in unserer Revolution erlebt. Bei unseren Menschewiki hat sich fast Schritt für Schritt dieselbe Entwicklung vollzogen wie bei den Theoretikern der Unabhängigen in Deutschland. Anfangs, als sie in den Sowjets die Mehrheit hatten, waren sie für die Sowjets. Damals hörte man nichts anderes als: „Hoch die Sowjets!“ und „Für die Sowjets!“, „Die Sowjets sind die revolutionäre Demokratie!“. Als aber wir, die Bolschewiki, die Mehrheit in den Sowjets erobert hatten, begannen sie ein anderes Lied zu singen: die Sowjets dürfen nicht neben der Konstituierenden Versammlung bestehen; und verschiedene Theoretiker der Menschewiki machten fast dieselben Vorschläge hinsichtlich einer Verbindung des Sowjetsystems mit der Konstituierenden Versammlung und der Verankerung der Sowjets in der Staatsorganisation. Es zeigt sich hier noch einmal, dass der allgemeine Gang der proletarischen Revolution in der ganzen Welt der gleiche ist. Zuerst spontane Bildung von Räten, dann ihre Ausbreitung und Entwicklung, dann in der Praxis das Auftauchen der Frage: Räte oder Nationalversammlung, Räte oder Konstituierende Versammlung, Räte oder bürgerlicher Parlamentarismus, völlige Zerfahrenheit der Führer und schließlich die proletarische Revolution. Aber ich halte dafür, dass wir nach fast zwei Jahren Revolution die Frage nicht so stellen dürfen, sondern konkrete Beschlüsse fassen müssen, da die Ausbreitung des Rätesystems für uns und insbesondere für die meisten westeuropäischen Länder die wichtigste Aufgabe ist. Ich möchte hier nur eine Resolution der Menschewiki anführen. Ich habe Genossen Obolenski gebeten, sie ins Deutsche zu übersetzen. Er hat es mir versprochen, aber er ist leider nicht hier. Ich will mich bemühen, sie nach dem Gedächtnis wiederzugeben, da ich den vollen Text dieser Resolution nicht habe.

Es ist für einen Ausländer, der nichts vom Bolschewismus gehört hat, sehr schwer, sich über unsere Streitfragen eine eigene Meinung zu bilden. Alles, was die Bolschewiki behaupten, bestreiten die Menschewiki und umgekehrt. Natürlich, in der Zeit des Kampfes kann es nicht anders sein; deshalb ist es besonders wichtig, dass die letzte Konferenz der menschewistischen Partei im Dezember 1918 eine lange, ausführliche Resolution angenommen hat, die in der menschewistischen „Gaseta Petschatnikow“2 vollinhaltlich abgedruckt war. In dieser Resolution geben die Menschewiki selbst eine kurze Darstellung der Geschichte des Klassenkampfes und des Bürgerkrieges. Die Resolution besagt, dass sie jene Gruppen in ihrer Partei verurteilen, die im Ural, im Süden, in der Krim, in Georgien im Bunde mit den besitzenden Klassen sind, sie zählt alle diese Gebiete auf. Diejenigen Gruppen der menschewistischen Partei, die im Bunde mit den besitzenden Klassen gegen die Sowjetmacht gingen, werden jetzt in einer Resolution verurteilt, und der letzte Punkt verurteilt auch diejenigen, die zu den Kommunisten übergegangen sind. Daraus folgt: die Menschewiki sind gezwungen zuzugeben, dass in ihrer Partei keine Einheit besteht, sondern dass sie entweder auf der Seite der Bourgeoisie oder auf der Seite des Proletariats stehen. Ein großer Teil der Menschewiki ist auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen und hat im Bürgerkrieg gegen uns gekämpft. Wir verfolgen selbstverständlich die Menschewiki, wir erschießen sie sogar, wenn sie im Krieg gegen uns, gegen unsere Rote Armee kämpfen und unsere roten Kommandeure erschießen. Auf den Krieg der Bourgeoisie haben wir mit dem Krieg des Proletariats geantwortet – einen anderen Ausweg kann es nicht geben. Somit ist all das, vom politischen Standpunkt betrachtet, nur menschewistische Heuchelei. Historisch ist es nicht zu verstehen, wie auf der Berner Konferenz Leute, die offiziell nicht für verrückt erklärt worden sind, im Auftrag der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre vom Kampf der Bolschewiki gegen sie sprechen, jedoch ihren eigenen Kampf im Bunde mit der Bourgeoisie gegen das Proletariat verschweigen konnten.

Sie alle treten mit Erbitterung gegen uns auf, weil wir sie verfolgen. Das stimmt. Aber sie sagen kein Sterbenswörtchen darüber, welchen Anteil sie selbst am Bürgerkrieg genommen haben! Ich glaube, ich werde den vollständigen Text der Resolution dem Protokoll beifügen müssen, und bitte die ausländischen Genossen, dieser Resolution ihre Aufmerksamkeit zu schenken, da sie ein historisches Dokument ist, in dem die Frage richtig gestellt wird und das glänzendes Material zur Frage der Einschätzung des Streites der „sozialistischen“ Richtungen in Russland untereinander gibt. Zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie gibt es noch eine Klasse von Leuten, die bald auf die eine, bald auf die andere Seite hin neigen; so war es immer und in allen Revolutionen, und es ist absolut unmöglich, dass es in der kapitalistischen Gesellschaft, wo Proletariat und Bourgeoisie zwei feindliche. Lager bilden, zwischen ihnen keine Mittelschichten geben sollte. Das Vorhandensein dieser schwankenden Elemente ist historisch unvermeidlich, und leider werden diese Elemente, die selbst nicht wissen, auf wessen Seite sie morgen kämpfen werden, noch ziemlich lange fortbestehen.

Ich will einen praktischen Vorschlag machen, dahingehend, eine Resolution anzunehmen, in der drei Punkte besonders festgehalten werden.

Erstens: Eine der wichtigsten Aufgaben für die Genossen der westeuropäischen Länder besteht in der Aufklärung der Massen über die Bedeutung, die Wichtigkeit und die Notwendigkeit des Rätesystems. Diese Frage wird nicht recht verstanden. Wenn auch Kautsky und Hilferding als Theoretiker bankrott sind, so beweisen doch die letzten Artikel in der „Freiheit“, dass sie die Stimmung der rückständigen Teile des deutschen Proletariats richtig wiedergeben. Auch bei uns war es so: in den ersten acht Monaten der russischen Revolution diskutierte man die Frage der Sowjetorganisation sehr viel, und den Arbeitern war es unklar, worin das neue System besteht und ob man aus den Sowjets einen Staatsapparat bilden könnte. In unserer Revolution haben wir uns nicht auf dem Weg der Theorie, sondern auf dem der Praxis vorwärts bewegt Die Frage der Konstituierenden Versammlung z. B. haben wir früher nicht theoretisch gestellt und nicht gesagt, dass wir die Konstituante nicht anerkennen. Erst später, nachdem die Sowjetorganisationen sich im ganzen Lande ausgebreitet und die politische Macht erobert hatten, erst dann entschlossen wir uns, die Konstituierende Versammlung auseinanderzujagen. Jetzt sehen wir, dass die Frage in Ungarn und in der Schweiz viel akuter gestellt ist. Das ist einerseits sehr gut: wir schöpfen daraus die feste Zuversicht, dass die Revolution in den westeuropäischen Ländern schneller vorwärtsschreitet und uns große Siege bringen wird. Andrerseits besteht aber darin auch eine gewisse Gefahr, und zwar die, dass der Kampf so stürmisch wird, dass das Bewusstsein der Arbeitermassen mit dieser Entwicklung nicht wird Schritt halten können. Die Bedeutung des Rätesystems ist für die große Masse der politisch gebildeten Arbeiter Deutschlands auch heute noch nicht klar, weil sie im Geiste des Parlamentarismus und in bürgerlichen Vorurteilen erzogen sind.

Zweitens: über die Ausbreitung des Rätesystems. Wenn wir hören, wie schnell sich der Rätegedanke in Deutschland und sogar in England verbreitet, so ist das für uns der wichtigste Beweis dafür, dass die proletarische Revolution siegen wird. Man kann ihren Gang nur für kurze Zeit aufhalten. Etwas anderes ist es, wenn Genosse Albert und Genosse Platten uns erklären, dass es bei ihnen auf dem flachen Lande bei den Landarbeitern und den Kleinbauern fast gar keine Räte gibt. Ich habe in der „Roten Fahne“ einen Artikel gegen Bauernräte, aber, ganz richtig, für Landarbeiter- und Kleinbauernräte gelesen. Die Bourgeoisie und ihre Lakaien, wie Scheidemann und Konsorten, haben schon die Losung der Bauernräte ausgegeben. Wir brauchen aber nur Landarbeiter- und Kleinbauernräte. Leider sehen wir jedoch aus den Berichten der Genossen Albert, Platten und anderer, dass mit Ausnahme Ungarns3 für die Ausbreitung des Rätesystems auf dem Lande sehr wenig getan wird. Darin besteht vielleicht noch eine praktische und ziemlich große Gefahr für den sicheren Sieg des deutschen Proletariats. Der Sieg kann nur dann gesichert sein, wenn nicht nur die städtischen Arbeiter, sondern auch die ländlichen Proletarier, und zwar nicht wie früher in Gewerkschaften und Konsumvereinen, sondern in Räten organisiert sein werden. Uns fiel der Sieg dadurch leichter zu, weil wir im Oktober mit der Bauernschaft, mit der ganzen Bauernschaft gingen. In diesem Sinne war unsere Revolution damals eine bürgerliche. Der erste Schritt unserer proletarischen Regierung bestand darin, dass die alten Forderungen der gesamten Bauernschaft, die schon unter Kerenski in den Bauernräten und in Bauern Versammlungen ihren Ausdruck gefunden hatten, von unserer Regierung mit dem Gesetz vom 8. November (26. Oktober) 1917, einen Tag nach der Revolution, anerkannt wurden. Darin lag unsere Kraft, deshalb war es uns so leicht, die überwiegende Mehrheit für uns zu gewinnen. Für das Dorf blieb unsere Revolution noch weiter eine bürgerliche, und erst später, nach einem halben Jahr, waren wir gezwungen, im Rahmen der Staatsorganisation den Klassenkampf auf dem Lande zu beginnen, in jedem Dorf Komitees der Dorfarmut, der Halbproletarier zu organisieren und systematisch gegen die Dorfbourgeoisie zu kämpfen. Bei uns war das unvermeidlich, weil Russland ein rückständiges Land ist. In Westeuropa werden sich die Dinge anders entwickeln, deshalb müssen wir auch betonen, dass die Ausbreitung des Rätesystems auch auf die ländliche Bevölkerung in entsprechenden, vielleicht neuen Formen absolut notwendig ist.

Drittens: Wir müssen sagen, dass die Eroberung der Mehrheit in den Räten durch die Kommunisten die Hauptaufgabe in allen Ländern ist, in denen die Rätemacht noch nicht gesiegt hat. Unsere Resolutionskommission hat gestern diese Frage diskutiert. Vielleicht werden noch andere Genossen dazu ihre Meinung äußern; ich aber möchte beantragen, dass wir diese drei Punkte als besondere Resolution annehmen. Wir sind natürlich nicht in der Lage, der Entwicklung ihren Weg vorzuschreiben. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass in vielen westeuropäischen Ländern die Revolution sehr bald beginnen wird, aber wir streben als organisierter Teil der Arbeiterschaft, als Partei danach, die Mehrheit in den Räten zu gewinnen, und müssen dies tun. Dann ist unser Sieg sicher, und keine Macht wird imstande sein, etwas gegen die kommunistische Revolution zu unternehmen. Im anderen Falle wird der Sieg nicht so leicht zu erringen und nicht von langer Dauer sein. So möchte ich vorschlagen, die drei Punkte in Form einer besonderen Resolution anzunehmen.

1 Die Thesen und das Referat Lenins über die bürgerliche Demokratie und die Diktatur des Proletariats auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale (2. – 6. März 1919) ziehen mit außerordentlicher Präzision den Trennungsstrich zwischen den Grundprinzipien des revolutionären Marxismus-Leninismus und allen pseudomarxistischen Ansichten in der Grundfrage der proletarischen Revolution, d, h. in der Frage der Diktatur des Proletariats. Der I. Kongress der Komintern wurde zur Zeit der gewaltigsten Klassenkämpfe auf der ganzen Welt einberufen. In allen Ländern führte das Proletariat eine Offensive auf die kapitalistische Ordnung und auf den bürgerlichen Staat durch. Die organisatorische Form seiner Offensivaktionen sah es auf Grund der Erfahrungen der russischen Revolution in den Räten. Doch waren die jungen kommunistischen Parteien, die sich eben erst gebildet hatten, sich noch nicht zu Massenorganisationen entfaltet, sich noch nicht bolschewisiert hatten und noch über keine genügende Kampferfahrung verfügten, nicht imstande, die Führung der breiten Massenbewegung zu erlangen. Die Folge davon war, dass verschiedene angeblich „linke“, kautskyanische Gruppierungen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien bei der Führung der Massenbewegung eine große Rolle spielten. Sie redeten dem Proletariat ein, dass es notwendig sei, die „reine“ Demokratie beizubehalten, und dass es möglich sei, diese mit den Räten zu kombinieren. Dadurch entwaffneten sie das Proletariat in seinem Kampf gegen die bürgerliche Demokratie, d.h. gegen die Herrschaft der Bourgeoisie für die Sowjetmacht.

Am krassesten kam diese Haltung bei den deutschen Kautskyanern zum Ausdruck, die damals die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ mit Kautsky, Hilferding und Konsorten an der Spitze bildeten. Die Haltung der „Unabhängigen“ wird von Lenin in den erwähnten Thesen eingehend kritisiert. Der Hauptzweck der Thesen besteht darin, den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der bürgerlichen Demokratie und der Diktatur des Proletariats, zwischen dem bürgerlichen und dem proletarischen, dem Sowjetstaat nachzuweisen. Die Thesen lenkten die Aufmerksamkeit auf die Kernfrage der proletarischen Revolution – auf die Diktatur des Proletariats, auf die Sowjetmacht als Form dieser Diktatur und auf den Kampf gegen die trügerischen Hoffnungen, die die Arbeitermassen des Westens auf den bürgerlichen Parlamentarismus und die bürgerliche Demokratie setzten. Auf der Grundlage der in den Thesen niedergelegten präzisen Auffassung vom Wesen der Klassenaufgaben des Proletariats in der sozialistischen Revolution fand in der Folge die Abgrenzung der Anhänger der Kommunistischen Internationale von ihren Gegnern statt.

2Buchdruckerzeitung". D. Red.

3 In Ungarn wurden 1919 nach der Errichtung der Sowjetmacht sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Gegenden Maßnahmen zur Organisierung der Räte getroffen.

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