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Wladimir I. Lenin 19161200 Die Fraktion Tschcheïdse und ihre Rolle

Wladimir I. Lenin: Die Fraktion Tschcheïdse und ihre Rolle

[Veröffentlicht im Dezember 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 364-368]

Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Herren Tschcheïdse und Konsorten nicht das sozialdemokratische Proletariat vertreten und dass eine wirklich sozialdemokratische Arbeiterpartei sich niemals mit dieser Fraktion aussöhnen oder vereinigen wird. Unsere Beweise bestanden in dem Hinweis auf unbestreitbare Tatsachen: 1. die von Tschcheïdse benutzte Formel „Rettung des Landes“ unterscheidet sich im Grunde durch nichts von der Vaterlandsverteidigung; 2. gegen Herrn Potressow und Konsorten ist die Fraktion Tschcheïdse niemals aufgetreten, sogar damals nicht, als Martow gegen ihn auf trat; 3. gegen die Teilnahme an den Kriegsindustriekomitees – eine entscheidende Tatsache – ist diese Fraktion nicht aufgetreten.

Diese Tatsachen hat niemand auch nur versucht zu bestreiten. Die Anhänger Tschcheïdses gehen über sie einfach mit Schweigen hinweg.

Nasche Slowo und Trotzki, die uns ob unseres „Fraktionismus“ tadelten, gingen unter dem Druck der Tatsachen immer mehr zum Kampf gegen das OK, und Tschcheïdse über, aber die „Nasche-Slowo“-Leute sind eben nur „unter dem Druck“ (unserer Kritik und der Kritik der Tatsachen) Schritt um Schritt zurückgewichen und haben das entscheidende Wort bis jetzt nicht ausgesprochen. Einheit oder Bruch mit der Fraktion Tschcheïdse? – sie haben noch immer Angst davor, zu Ende zu denken!

Nr. 1 des Bulletins des Auslandskomitees des Bund (September 1916) enthält einen Brief aus Petersburg vom 26. Februar 1916.1 Dieser Brief ist ein wertvolles Dokument, das restlos unsere Einschätzung bestätigt. Der Autor des Briefes gibt ohne Umschweife die „unbestreitbare Krise im Lager des Menschewismus selbst zu“, wobei er – was besonders charakteristisch ist – von Menschewiki, die Gegner der Teilnahme an den Kriegsindustriekomitees sind, überhaupt nicht spricht! In Russland hat er sie nicht gesehen und von ihnen nicht gehört!

Er erklärt, dass von den fünf Mitgliedern der Fraktion Tschcheïdse drei gegen „den Standpunkt der Vaterlandsverteidigung“ sind (wie auch das OK) und zwei dafür.

Den zur Verfügung der Fraktion stehenden Persönlichkeiten“ – schreibt er – „will es nicht gelingen, die Fraktionsmehrheit von ihrer Stellungnahme abzubringen. Der Fraktionsmehrheit kommt die örtliche ,Initiativgruppe' zu Hilfe, die den Standpunkt der ,Vaterlandsverteidigung' ablehnt.“

Die zur Verfügung stehenden Persönlichkeiten – das sind die Herren liberalen Intellektuellen vom Typ Potressow, Maslow, Orthodox und Co., die sich Sozialdemokraten nennen. Unsere vielfachen Hinweise darauf, dass diese Gruppe von Intellektuellen der „Herd“ des Opportunismus und der liberalen Arbeiterpolitik ist, hat jetzt ein Bundist bestätigt.

Er schreibt weiter:

Das Leben“ (und nicht Purischkjewitsch und Gutschkow?) … „hat ein neues Organ, die Arbeitergruppe, geschaffen, die immer mehr zum Zentrum der Arbeiterbewegung wird.“ (Der Autor spricht von der Gutschkowschen oder, nach dem früheren Ausdruck, Stolypinschen Arbeiterbewegung; eine andere erkennt er nicht an!) „Bei der Wahl in dieselbe einigte man sich auf einen Kompromiss: nicht Verteidigung und Notwehr, sondern Rettung des Landes, worunter sie sich etwas Umfassenderes vorstellten.“

Da haben wir eine Entlarvung Tschcheïdses und der Lüge Martows über ihn durch einen Bundisten! Tschcheïdse und das OK haben bei der Wahl der jungen Leute Gutschkows (Gwosdjew, Broide u. a.) in die Kriegsindustriekomitees einen Kompromiss abgeschlossen. Die von Tschcheïdse gebrauchte Formel ist ein Kompromiss mit den Potressow und Gwosdjew!

Martow hat dies verschwiegen und verschweigt es auch jetzt.

Aber der Kompromiss war damit nicht zu Ende. Die Deklaration kam ebenfalls durch einen Kompromiss zustande, das der Bundist folgendermaßen charakterisiert:

Die Bestimmtheit verschwand.“ „Die Vertreter der Fraktionsmehrheit und der ,Initiativgruppe' blieben unzufrieden, denn diese Deklaration ist immerhin ein großer Schritt vorwärts im Sinne der Formulierung des Standpunktes der Vaterlandsverteidigung.“ „Der Kompromiss entspricht im Grunde der Stellung der deutschen Sozialdemokratie, auf Russland angewandt.“

So schreibt ein Bundist.

Die Sache ist wohl klar? Es gibt eine Partei – die Partei des OK, Tschcheïdses, Potressows. In ihr kämpfen zwei Flügel und verständigen sich, schließen einen Kompromiss ab, bleiben in einer Partei. Der Kompromiss wird geschlossen auf dem Boden der Teilnahme an den Kriegsindustriekomitees. Man streitet nur um die Formulierung der „Motive“ (d. h. um die Methode, die Arbeiter zu übertölpeln). Das Ergebnis des Kompromisses ist „im Grunde die Stellung der deutschen Sozialdemokratie“.

Also? Haben wir nicht recht gehabt, als wir sagten, dass die Partei des OK sozialchauvinistisch ist? Dass das OK und Tschcheïdse als Partei dasselbe sind wie die Südekum in Deutschland?

Ihre Identität mit den Südekum muss jetzt sogar ein Bundist zugeben!

Nirgends und niemals sind Tschcheïdse und Konsorten oder das OK gegen den Kompromiss aufgetreten, obwohl sie mit ihm „unzufrieden“ waren.

So standen die Dinge im Februar 1916, und im April 1916 erscheint Martow in Kienthal mit einem Mandat der „Initiativgruppe“ und vertritt das ganze OK, das OK überhaupt.

Ist das kein Betrug der Internationale?

Seht, was jetzt herauskommt! Potressow, Maslow, Orthodox gründen ihr Organ „Djelo, das offen für die Vaterlandsverteidigung eintritt, fordern Plechanow zur Mitarbeit auf, sammeln um sich die Herren Dmitrijew, Tscherewanin, Majewski, Gr. Petrowitsch usw., die ganze Gesellschaft von Intellektuellen, die einst die Stützen des Liquidatorentums waren. Was ich im Namen der Bolschewiki im Mai 1910 („Diskussionnij Listok) über den endgültigen Zusammenschluss der Gruppe der unabhängigen Legalisten gesagt habe, bestätigt sich vollkommen.

Das „Djelo“ nimmt eine frech chauvinistische und reformistische Haltung ein. Es verlohnt sich zu sehen, wie Frau Orthodox Marx verfälscht, indem sie ihn durch Verschweigen zum Verbündeten Hindenburgs (mit „philosophischer“ Begründung, Scherz beiseite!) machen will, wie Herr Maslow (besonders Nr. 2 des „Djelo“) den Reformismus auf der ganzen Linie verteidigt2, wie Herr Potressow Axelrod und Martow des „Maximalismus“ und Anarchosyndikalismus beschuldigt3, wie die ganze Zeitschrift die Pflicht der Vaterlandsverteidigung für eine Sache der „Demokratie“ ausgibt, wobei sie diskret die peinliche Frage umgeht, ob nicht der Zarismus diesen reaktionären Krieg aus räuberischen Gründen zur Erdrosselung Galiziens, Armeniens usw. führt.

Die Fraktion Tschcheïdse und das OK schweigen. Skobeljew sendet seinen Gruß „an die Liebknechte aller Länder“, obzwar der wirkliche Liebknecht erbarmungslos seine Scheidemänner und seine Kautskyaner entlarvt und gebrandmarkt hat, während Skobeljew in ständiger Einheit und Freundschaft sowohl mit den russischen Scheidemännern (Potressow und Co., Tschchenkeli u. a.) als auch mit den russischen Kautskyanern (Axelrod u. a.) lebt.

Martow lehnt im „Golos Nr. 2 (Samara, 20. September 1916) für sich und seine ausländischen Freunde die Mitarbeit am „Djelo“ ab4, gleichzeitig aber befasst er sich mit der Reinwaschung Tschcheïdses, gleichzeitig („Iswestija“ Nr. 6, vom 12. September 1916) versichert er dem Publikum, er habe sich von Trotzki und dem „Nasche Slowo“ losgesagt wegen der „trotzkistischen“ Idee der Verneinung der bürgerlichen Revolution in Russland, wo doch alle wissen, dass das eine Lüge ist und dass Martow vom „Nasche Slowo“ wegging, weil dieses nicht die Reinwaschung des OK durch Martow dulden konnte! In derselben Nummer der „Iswestija“ verteidigt Martow seinen, sogar für Roland-Holst empörenden Betrug des deutschen Publikums, den er begangen hat durch die Herausgabe einer deutschen Broschüre, in der gerade der Teil der Deklaration der Petersburger und Moskauer Menschewiki weggelassen ist, wo von ihrer Zustimmung zur Teilnahme an den Kriegsindustriekomitees die Rede ist!

Man erinnere sich an die Polemik zwischen Trotzki und Martow in „Nasche Slowo“ vor dessen Ausscheiden aus der Redaktion. Martow warf Trotzki vor, dass er bis jetzt noch nicht wisse, ob er im entscheidenden Augenblick mit Kautsky gehen werde. Trotzki antwortete Martow, dass dessen Rolle die eines „Lockvogels“, eines „Köders“ zur Gewinnung revolutionärer Arbeiter für die opportunistische und chauvinistische Partei der Potressow, dann des OK usw. sei.

Beide Streitenden wiederholten unsere Argumente. Und beide waren im Recht.

So sehr man auch die Wahrheit über Tschcheïdse und Co. zu verbergen sucht, sie kommt doch an den Tag. Die Rolle Tschcheïdses ist, Kompromisse mit den Potressow zu schließen und mit unbestimmten oder beinahe „linken“ Worten die opportunistische und chauvinistische Politik zu verhüllen. Und die Rolle Martows ist, Tschcheïdse reinzuwaschen.

Gez.: N. Lenin

1 Hier ist ein „Petrograd, 26. Februar 1916“ datierter „Brief aus Russland“ gemeint. Die Korrespondenz, deren Verfasser feststellte, dass unter den Petrograder Arbeitern kriegsfeindliche Stimmungen vorherrschten, wurde von der Redaktion des „Bulletins“ ohne Kommentar gebracht.

2 Gemeint sind die Artikel „Philosophie und Gesellschaft. Elementare Grundsätze von Recht und Moral“ von L. I. Axelrod-Orthodox („Djelo“ Nr. 1, August 1916) und „Über den Imperialismus“ von P. Maslow („Djelo“ Nr. 2 vom September 1916).

3 Gemeint ist der Artikel „Bemerkungen eines Publizisten. Die Maximalisierung des russischen Marxismus“ („Djelo“ Nr. 2, September 1916).

4 Hier meint Lenin den in Nr. 2 abgedruckten „Brief an die Redaktion“ von L. Martow mit dem Untertitel „Antwort auf die Aufforderung, an der Zeitschrift ,Djelo' mitzuarbeiten“, in dem Martow die Mitarbeit abgelehnt. In einer Anmerkung der Redaktion heißt es, dass Martow diesen Brief im Aufträge P. Axelrods, J. Larins und W. Maiskis geschrieben habe.

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