Lenin‎ > ‎1915‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19150200 Unter fremder Flagge

Wladimir I. Lenin: Unter fremder Flagge1

[Geschrieben im Februar 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht 1917 im Sammelband des Verlags „Priliw", Moskau. Gez. N. Konstantinow. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 126-149]

In der ersten Nummer von „Nasche Djelo (Petrograd, Januar 1915) erschien ein außerordentlich charakteristischer Programmartikel des Herrn A. Potressow unter dem Titel: „An der Grenzscheide zweier Epochen“. Ebenso wie der vorhergehende Artikel des gleichen Verfassers (etwas früher in einer der Zeitschriften veröffentlicht), legt auch der vorliegende die Grundidee einer ganzen bürgerlichen Strömung in der öffentlichen Gedankenwelt Russlands – wir meinen das Liquidatorentum – in Beziehung auf wichtige und aktuelle Fragen der Gegenwart dar. Im Grunde genommen hat man es nicht mit Artikeln zu tun, sondern mit dem Manifest einer bestimmten Richtung, und jeder, der sie aufmerksam durchliest und sich in ihren Inhalt hineindenkt, wird sehen, dass nur zufällige, d. h. rein literarischen Interessen fremde Erwägungen den Verfasser (und seine Freunde, denn der Autor steht nicht isoliert da) daran gehindert haben, seine Gedanken in der besser entsprechenden Form einer Deklaration oder eines „Credo“ (eines Glaubensbekenntnisses) auszudrücken.

Der Hauptgedanke A. Potressows ist der, dass die heutige Demokratie an der Grenzscheide zweier Epochen stehe, wobei der grundlegende Unterschied zwischen der alten und neuen Epoche im Übergang von der nationalen Begrenztheit zur Internationalität liege. Unter heutiger Demokratie versteht A. Potressow die für den eigentlichen Ausgang des 19. und für den Anfang des 20. Jahrhunderts charakteristische, zum Unterschied von der alten, bürgerlichen Demokratie, die für den Ausgang des 18. und für die ersten zwei Drittel des 19. Jahrhunderts charakteristisch gewesen sei.

Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als sei der Gedanke des Verfassers unbedingt richtig, als hätten wir einen Gegner der in der heutigen Demokratie nunmehr herrschenden national-liberalen Richtung vor uns, als sei der Autor „Internationalist“ und nicht National-Liberaler.

In der Tat, sollte die Verteidigung der Internationalität, sollte die Einrechnung der nationalen Begrenztheit und nationalen Ausschließlichkeit unter die Charakterzüge der alten, abgelaufenen Epoche – sollte das nicht einen entschlossenen Bruch mit der verderblichen Strömung des National-Liberalismus darstellen, mit dieser Seuche, die in der zeitgenössischen Demokratie, oder richtiger: unter ihren offiziellen Vertretern grassiert?

Auf den ersten Blick kann es, nein, muss es sogar fast unvermeidlich so scheinen. Indessen ist dies ein gründlicher Irrtum. Der Verfasser führt seine Ware unter fremder Flagge. Er hat – ob bewusst oder unbewusst, ist im gegebenen Falle gleichgültig – eine kleine Kriegslist angewandt, hat die Flagge der „Internationalität“ gehisst, mit dem Zwecke, die Schmugglerware des National-Liberalismus unter dieser Flagge mit geringerer Gefährdung durchzubringen. Denn A. Potressow ist National-Liberaler von reinstem Wasser. Was das Eigentliche und Wesentliche an seinem Artikel (desgleichen an seinem Programm, an seiner Plattform, an seinem „Credo“) ausmacht, ist eben die Anwendung dieser kleinen, wenn man will: unschuldigen Kriegslist, die Beförderung des Opportunismus unter der Flagge der Internationalität. Die Darstellung dieses Wesentlichen muss mit aller Ausführlichkeit gegeben werden, denn die Frage ist von gewaltiger, von allererster Bedeutung. Dass A. Potressow unter fremder Flagge agiert, ist aber um so gefährlicher, als er sich nicht nur hinter dem Prinzip der „Internationalität“ versteckt, sondern auch hinter dem Pseudonym eines Anhängers der „Marxschen Methodologie“. Mit anderen Worten, A. Potressow will echter Schüler und Repräsentant des Marxismus sein, während er in Wirklichkeit den National-Liberalismus an die Stelle des Marxismus setzt. A. Potressow will Kautsky „verbessern“ – er wirft ihm nämlich vor, er spiele eine „Advokatenrolle“, d. h. er verteidige den Liberalismus bald in den Farben dieser einen, bald in denen jener anderen Nation – in den Farben verschiedener Nationen. Dem National-Liberalismus (es ist allerdings außer jedem Zweifel und ganz unbestreitbar, dass Kautsky heute zum National-Liberalen geworden ist) will A. Potressow die Internationalität und den Marxismus entgegensetzen. In der Tat aber setzt A. Potressow nur dem buntscheckigen National-Liberalismus einen einfarbigen entgegen. Allein, der Marxismus ist jedwedem National-Liberalismus feind – und er ist dies in der gegebenen konkreten geschichtlichen Situation in jeder Hinsicht.

Dass dem wirklich so ist und warum dem so ist, davon soll jetzt die Rede sein.

I.

Der Schlüssel zum Verständnis der Verhängnisse des A. Potressow, die dazu führten, dass er unter national-liberaler Flagge segelt, ist am leichtesten zu finden, wenn der Leser in den Sinn folgender Stelle des Artikels eindringt:

Mit allem ihnen (Marx und seinen Genossen) eigenen Temperament machten sie sich an die Lösung des Problems, wie kompliziert es auch sei, sie gaben eine Diagnose des Konflikts, sie versuchten zu bestimmen, auf welcher Seite der Sieg für die von ihrem Standpunkt wünschenswerten Möglichkeiten den größeren Spielraum schaffe, und in dieser Weise stellten sie eine bestimmte Basis für den Aufbau ihrer Taktik her.“ (S. 73, Hervorhebungen im zitierten Text von uns.)

Auf welcher Seite der Sieg am ehesten erwünscht wäre“, – dies sei es, was man zu bestimmen habe, und zwar nicht von nationalem, sondern von internationalem Standpunkt; eben hierin liege das Wesen der Marxschen Methodologie; eben dies tue Kautsky nicht, der sich so aus einem „Richter“ (aus einem Marxisten) in einen „Advokaten“ (National-Liberalen) verwandle. Das ist A. Potressows Gedanke. A. Potressow ist selbst aufs Tiefste überzeugt, dass er keineswegs „den Advokaten spielt“, wenn er den Sieg gerade der einen Seite (und zwar seiner eigenen) als das Wünschenswerteste verficht, – dass er sich vielmehr von wahrhaft internationalen Erwägungen über die „jede Norm überschreitenden“ Sünden der anderen Seite leiten lässt…

Potressow wie Maslow und Plechanow usw. lassen sich allesamt von wahrhaft internationalen Erwägungen leiten, wobei sie alle zu denselben Schlussfolgerungen kommen wie der erstgenannte … Das ist naiv bis zur … Im übrigen, greifen wir nicht vor, führen wir vielmehr erst die Analyse der rein theoretischen Frage zu Ende.

Auf welcher Seite der Sieg am ehesten erwünscht wäre“ – dies habe Marx z. B. im italienischen Krieg von 1859 festlegen wollen. A. Potressow wählt gerade dieses Beispiel, „das in Anbetracht einiger Besonderheiten spezielles Interesse für uns hat“. Wir unserseits sind ebenfalls bereit, das von A. Potressow gewählte Beispiel vorzunehmen.

Angeblich zur Befreiung Italiens, in Wirklichkeit für seine eigenen dynastischen Zwecke erklärte Napoleon III. 1859 den Krieg an Österreich.

Hinter dem Rücken Napoleons III.“ – schreibt A. Potressow – „zeichnete sich die Figur Gortschakows ab, der kurz vorher noch eine geheime Abmachung mit dem Kaiser der Franzosen abgeschlossen hatte.“

Es ergibt sich ein Knäuel von Widersprüchen: auf der einen Seite eine erzreaktionäre europäische Monarchie, die Italien unterdrückt hielt; auf der andern die Vertreter des nach Freiheit strebenden und revolutionären Italien, eingerechnet Garibaldi, Hand in Hand mit dem Erzreaktionär Napoleon III. usw.

Wäre es nicht einfacher gewesen“ – schreibt A. Potressow –, „der Sünde aus dem Wege zu gehen, indem man sich sagte: ,beide sind das größere Übel'? Doch ließen sich weder Engels noch Marx noch Lassalle von der ,Einfachheit' einer solchen Entscheidung verführen, sondern sie machten sich an die Ausmittelung (A. Potressow will sagen: an das Studium und an die Untersuchung) der Frage: welcher Ausgang des Konflikts die größten Chancen biete für die Sache, die ihnen allen teuer ist.“

Marx und Engels waren im Gegensatz zu Lassalle der Meinung, dass Preußen einzugreifen habe. Wie Potressow selbst zugesteht, zogen sie unter anderem auch

eine möglicherweise aus dem Zusammenstoß mit der feindlichen Koalition resultierende nationale Bewegung in Deutschland“ in Erwägung, „die sich über die Köpfe seiner zahlreichen Potentaten hinweg entwickeln würde; weiter auch die Frage, welche Macht im europäischen Konzert das zentrale Übel darstelle: die reaktionäre Donaumonarchie oder andere hervorragende Vertreter dieses Konzerts“.

Es ist für uns nicht wichtig“ – folgert A. Potressow –, „ob Marx oder Lassalle recht hatte; wichtig ist, dass alle sich über die Notwendigkeit einig sind, vom internationalen Standpunkt festzulegen, auf welcher Seite der Sieg am ehesten erwünscht wäre.“

Dies ist das von A. Potressow gewählte Beispiel; dies der Gedankengang unseres Autors. Wenn Marx damals die „internationalen Konflikte abzuschätzen“ verstand (wie A. Potressow sich ausdrückt), ungeachtet des erzreaktionären Charakters der Regierungen beider kriegführenden Parteien, so haben die Marxisten auch heute die Pflicht, eine ebensolche Abschätzung vorzunehmen, – folgert A. Potressow.

Das ist eine kindlich naive oder eine grob sophistische Schlussfolgerung, denn sie reduziert sich auf das folgende: da Marx im Jahre 1859 die Frage entschied, auf Seiten welcher Bourgeoisie der Sieg am ehesten erwünscht wäre, so haben auch wir, mehr als ein halbes Jahrhundert später, eine Frage von ganz demselben Charakter zu entscheiden.

A. Potressow hat nicht bemerkt, dass für Marx im Jahre 1859 (ebenso in einer ganzen Reihe von späteren Fällen) die Frage: „auf welcher Seite der Sieg am ehesten erwünscht wäre“, der Frage gleichkommt: „auf Seiten welcher Bourgeoisie der Sieg am ehesten erwünscht wäre“80. A. Potressow hat nicht bemerkt, dass Marx über die besagte Frage zu einer Zeit entschied, in der unbedingt fortschrittliche bürgerliche Bewegungen existierten und, mehr noch, in den wichtigsten Staaten Europas im Vordergrunde des geschichtlichen Prozesses standen. Heutigentags wäre es lächerlich, in Hinsicht auf solche unbedingt zentrale und hochwichtige Figuren des europäischen „Konzerts“, wie beispielsweise England und Deutschland, an eine fortschrittliche Bourgeoisie, an eine fortschrittliche bürgerliche Bewegung auch nur zu denken. Die alte bürgerliche „Demokratie“ dieser zentralen und wichtigsten Staaten ist reaktionär geworden. Aber Herr A. Potressow „vergaß“ das und unterschob dem Standpunkt der heutigen (nicht-bürgerlichen) Demokratie den der alten (bürgerlichen) Pseudo-Demokratie. Dieses Hinüberwechseln auf den Standpunkt einer andern und überdies einer alten, überlebten Klasse ist reinster Opportunismus. Es kann keine Rede davon sein, dass ein solches Hinüberwechseln durch die Analyse des objektiven Inhalts des geschichtlichen Prozesses in der alten und in der neuen Epoche zu rechtfertigen wäre.

Gerade die Bourgeoisie ist es, die – z. B. in Deutschland, aber auch in England – das Bestreben zeigt, ganz analog dem von A. Potressow geübten Verfahren die imperialistische Epoche als Epoche bürgerlich-fortschrittlicher, nationaler und demokratischer Befreiungsbewegungen hinzustellen. A. Potressow lässt sich ganz unkritisch von der Bourgeoisie ins Schlepptau nehmen. Das ist um so unverzeihlicher, als A. Potressow selbst in dem von ihm selbst gewählten Beispiel erkennen und angeben musste, von welcher Art die Erwägungen waren, von denen sich Marx, Engels und Lassalle in jener längst abgelaufenen Epoche leiten ließen*.

Es handelte sich erstens um Erwägungen über die nationale Bewegung (in Deutschland und Italien), um ihre Entwicklung über die Köpfe der „Repräsentanten des Mittelalters“ hinweg; zweitens um Erwägungen über das „zentrale Übel“ der reaktionären Monarchien (der österreichischen, der napoleonischen usw.) im europäischen Konzert.

Diese Erwägungen sind vollkommen klar und unbestreitbar. Die Marxisten haben niemals die Fortschrittlichkeit der bürgerlich-nationalen Befreiungsbewegungen gegen die feudal-absolutistischen Kräfte geleugnet. A. Potressow muss wissen, dass es in den zentralen, d. h. in den bedeutendsten und wichtigsten der in den Konflikt verwickelten Staaten unserer Epoche etwas ähnliches nicht gibt und auch nicht geben konnte. Damals gab es in Italien wie in Deutschland jahrzehntelang sich hinziehende Volksbewegungen vom Typus nationaler Emanzipationsbewegungen. Damals war es nicht so, dass die westliche Bourgeoisie gewisse übrige Staatsmächte finanziell unterstützte, sondern im Gegenteil, diese Mächte waren wirklich das „zentrale Übel“. A. Potressow muss wissen – und er selbst gibt das im gleichen Artikel auch zu –, dass in unserer Epoche keine einzige unter diesen übrigen Staatsmächten das „zentrale Übel“ darstellt oder dies auch nur sein könnte.

Die Bourgeoisie (z. B. die deutsche, obwohl keineswegs nur sie allein) wärmt zu Profitmacherzwecken die Ideologie der Nationalbewegungen wieder auf, bemüht, sie auf die Epoche des Imperialismus, d. h. auf eine vollkommen andere Epoche zu übertragen. Im Gefolge der Bourgeoisie schleppen sich, wie immer, die Opportunisten daher, den Standpunkt der heutigen Demokratie preisgebend und auf den Standpunkt der alten (bürgerlichen) Demokratie hinüber wechselnd Gerade das macht in allen Artikeln, in der ganzen Stellungnahme, in der ganzen Linie A. Potressows und seiner liquidatorischen Gesinnungsgenossen die Hauptsünde aus. Marx und Engels hatten in der Epoche der alten (bürgerlichen) Demokratie jeweils die Frage zu entscheiden, auf Seiten welcher Bourgeoisie der Sieg am ehesten erwünscht wäre, und ihr Interesse galt dabei der Entwicklung der Bewegung aus einer bescheiden liberalen zu einer stürmisch demokratischen. A. Potressow predigt in der Epoche der heutigen (nicht-bürgerlichen) Demokratie den bürgerlichen National-Liberalismus, zu einer Zeit, da weder in England noch in Deutschland noch in Frankreich von bürgerlich-fortschrittlichen Bewegungen, weder von bescheiden liberalen noch von stürmisch demokratischen, die Rede sein kann. Marx und Engels gingen von ihrer Epoche, vom Zeitalter der bürgerlich-nationalen fortschrittlichen Bewegungen aus nach vorwärts, bestrebt, diese Bewegungen weiter zu treiben, und bemüht um ihre Entwicklung „über die Köpfe“ der Repräsentanten des Mittelalters hinweg.

A. Potressow strebt, wie alle Sozialchauvinisten, von seiner Epoche, vom Zeitalter der heutigen Demokratie weg, nach rückwärts, indem er auf den längst überlebten, toten und deshalb im Innersten verlogenen Standpunkt der alten (bürgerlichen) Demokratie hinüber springt

Als höchste Geistesverwirrung und als höchst reaktionär ist nach allem der folgende Potressowsche Appell an die Demokratie anzusehen:

.. Geh nicht rückwärts, sondern vorwärts. Nicht zum Individualismus; sondern zum internationalen Bewusstsein in all seiner Geschlossenheit und in all seiner Kraft. Vorwärts, d. h. in einem gewissen Sinne auch rückwärts: zurück zu Engels, Marx, Lassalle, zu ihrer Methode der Einschätzung internationaler Konflikte; zu ihrem Verfahren, auch das internationale Handeln der Staaten in den allgemeinen Kreis der demokratischen Ausnutzung einzubeziehen.

A. Potressow schleppt die heutige Demokratie nicht „in einem gewissen Sinne“, sondern in jedem Sinne rückwärts, zurück zu den Losungen und zu der Ideologie der alten bürgerlichen Demokratie, zur Abhängigkeit der Massen von der Bourgeoisie… Die „Methode“ Marxens besteht vor allem darin, dass der objektive Inhalt des geschichtlichen Prozesses im gegebenen konkreten Augenblick, unter den gegebenen konkreten Umständen in Rechnung gestellt, dass vor allem begriffen werden soll, welche Klasse in ihrer Bewegung die Haupttriebfeder für einen möglichen Fortschritt in dieser konkreten Lage darstellt. Damals, im Jahre 1859 lag der objektive Inhalt des geschichtlichen Prozesses auf dem europäischen Festland nicht im Imperialismus, sondern in den national-bürgerlichen Freiheitsbewegungen. Haupttriebfeder war die Bewegung der Bourgeoisie gegen die feudal-absolutistischen Kräfte. Der superkluge A. Potressow aber will 55 Jahre später, nachdem an die Stelle der reaktionären Feudalherren die ihnen ähnlich gewordenen Finanzkapital-Magnaten der bereits altersschwachen Bourgeoisie getreten sind, die internationalen Konflikte vom Standpunkt der Bourgeoisie und nicht von dem der neuen Klasse einschätzen.**

A. Potressow machte sich keine Gedanken über die Bedeutung der Wahrheit, die er in jenen Worten aussprach. Nehmen wir einmal an, zwei Länder führen miteinander Krieg in der Epoche der bürgerlichen, nationalen Freiheitsbewegungen. Welchem Lande soll man vom Standpunkt der heutigen Demokratie den Sieg wünschen? Es ist klar: dem, dessen Sieg die Freiheitsbewegung der Bourgeoisie kräftiger vorwärts stoßen und stürmischer entwickeln, den Feudalismus kräftiger unterwühlen wird. Nehmen wir weiter an, dass das bestimmende Moment der objektiven geschichtlichen Lage sich geändert hat und dass an die Stelle des sich national emanzipierenden Kapitals das internationale, reaktionäre, imperialistische Finanzkapital getreten ist. Das eine Land beherrsche drei Viertel von Afrika, das andere ein Viertel. Objektiver Inhalt ihres Kriegs ist die Neuaufteilung Afrikas. Welcher Seite soll man den Sieg wünschen? Die Frage ist in ihrer früheren Fassung unsinnig, denn es fehlen uns die früheren Einschätzungskriterien: weder langjährige Entwicklung der bürgerlichen Freiheitsbewegung noch langjähriger Untergangsprozess des Feudalismus. Es ist nicht Sache der heutigen Demokratie, weder dem einen Land bei der Befestigung seines „Rechts“ auf die drei Viertel von Afrika zu helfen noch dem andern (und möge es sich auch ökonomisch rascher entwickeln als das erste) bei der Unterwerfung dieser drei Viertel unter seine Herrschaft beizustehen.

Die heutige Demokratie wird nur in dem Falle sich selbst treu bleiben, wenn sie sich keiner einzigen imperialistischen Bourgeoisie anschließt, wenn sie sagt: „beide sind das größere Übel“, wenn sie in jedem Lande die Niederlage der imperialistischen Bourgeoisie wünscht. Jede andere Entscheidung kann in der Tat nur eine national-liberale sein, die mit wahrhafter Internationalität nichts gemein hat.

Lasse sich der Leser ja nicht täuschen durch A. Potressows verschnörkelte Terminologie, unter der er sein Hinüberwechseln auf den Standpunkt der Bourgeoisie zu verbergen sucht. Wenn A. Potressow ausruft: „nicht zum Individualismus, sondern zum internationalen Bewusstsein in all seiner Geschlossenheit und in all seiner Kraft“, so hat er damit die Entgegensetzung seines eigenen Standpunktes gegen den Kautskyschen im Auge. Die Ansicht von Kautsky (und seinesgleichen) nennt er „Individualismus“, weil – so stellt es sich in seinen Augen dar – Kautsky nicht in Rechnung stellen will, „auf welcher Seite der Sieg am ehesten erwünscht wäre“, und weil Kautsky den National-Liberalismus der Arbeiter in jedem „individuellen“ Lande rechtfertigt. Wir aber, wir, die A. Potressow, Tscherewanin, Maslow, Plechanow u. a. m., wir appellieren an das „internationale Bewusstsein in all seiner Geschlossenheit und Kraft“, denn wir sind für den National-Liberalismus einer einzigen bestimmten Farbe keineswegs vom individuell-staatlichen (oder individuell-nationalen), sondern vom wahrhaft internationalen Standpunkt… Diese Argumentation wäre lächerlich, wenn sie nicht so … schmachvoll wäre.

A. Potressow und Co. wie Kautsky schleppen sich hinter der Bourgeoisie her, sie haben beide den Standpunkt der Klasse verraten, die zu vertreten sie so große Anstrengungen machen.

II.

A. Potressow betitelte seinen Artikel: „An der Grenzscheide zweier Epochen“. Es ist unbestreitbar, wir leben an der Grenzscheide zweier Epochen, und die sich vor unseren Augen abspielenden geschichtlichen Ereignisse von höchster Bedeutung lassen sich nur begreifen, wenn man in erster Linie die objektiven Bedingungen des Übergangs von der einen Epoche zur andern analysiert. Es ist von großen geschichtlichen Epochen die Rede; in jeder Epoche gibt es wie bisher so auch in Zukunft einzelne, partielle Bewegungen bald vorwärtsschreitender, bald rückläufiger Tendenz, – gibt es wie bisher so auch in Zukunft verschiedenartige Abweichungen vom Durchschnittstyp und vom Durchschnittstempo der Bewegungen. Wir können nicht wissen, mit welcher Schnelligkeit und mit welchem Erfolg sich einzelne geschichtliche Bewegungen der betreffenden Epoche entwickeln werden. Wir können aber wissen und wissen auch, welche Klasse im Mittelpunkt dieser oder jener Epoche steht und ihren wesentlichen Inhalt, die Hauptrichtung ihrer Entwicklung, die wichtigsten Besonderheiten der geschichtlichen Situation in der betreffenden Epoche usw. bestimmt. Nur auf dieser Grundlage, d. h. nur wenn wir in erster Linie die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale verschiedener „Epochen“ (nicht etwa einzelner Episoden in der Geschichte einzelner Länder) in Betracht ziehen, können wir unsere Taktik richtig aufbauen; und nur die Kenntnis der Grundzüge einer gegebenen Epoche kann für die Beurteilung der mehr ins einzelne gehenden Besonderheiten dieses oder jenes Landes als Basis dienen.

Gerade in dieser Sphäre liegt nun auch der fundamentale Sophismus von A. Potressow und von Kautsky (dessen Artikel in der gleichen Nummer von „Nasche Djelo abgedruckt ist2) oder der fundamentale geschichtliche Irrtum beider, der den einen wie den andern zu national-liberalen, nicht zu marxistischen Schlussfolgerungen geführt hat.

Es handelt sich darum, dass das von A. Potressow gewählte, ihm „spezielles Interesse“ darbietende Beispiel des italienischen Feldzugs von 1859 und eine ganze Reihe analoger geschichtlicher Beispiele bei Kautsky – „gerade nicht jenen geschichtlichen Epochen“ entstammen, „an deren Grenzscheide“ wir leben. Bezeichnen wir die Epoche, in die wir eben eintreten (oder bereits eingetreten sind, sie steht jedoch noch in ihrem Anfangsstadium), als die heutige (oder als die dritte) Epoche. Bezeichnen wir jene, die wir eben hinter uns gelassen haben, als die gestrige (oder als die zweite) Epoche. Dann werden wir die Epoche, der A. Potressow und Kautsky ihre Beispiele entnehmen, die vorgestrige (oder die erste) Epoche nennen müssen. Der empörende Sophismus, das unerträglich Verlogene in den Argumentierungen A. Potressows wie Kautskys liegt gerade darin, dass sie den Bedingungen der heutigen (der dritten) Epoche die Bedingungen der vorgestrigen (der ersten) Epoche unterschieben.

Erklären wir uns näher.

Die übliche Einteilung der geschichtlichen Epochen, die in der marxistischen Literatur häufig vorkommt, von Kautsky des öfteren gebracht und auch von A. Potressow in seinem Artikel angenommen wird, ist folgende: 1. 1789-1871; 2. 1871-1914; 3. 1914-?. Es versteht sich, die Grenzen sind hier, wie überhaupt alle Grenzen in der Natur und in der Gesellschaft, bedingt und beweglich, relativ und nicht absolut. So nehmen auch wir die besonders hervorstechenden und in die Augen fallenden geschichtlichen Ereignisse nur annähernd, als Marksteine der großen geschichtlichen Bewegungen. Die erste Epoche, von der Großen Französischen Revolution bis zum Preußisch-Französischen Krieg, ist die des Aufstiegs der Bourgeoisie, ihres vollen Siegs. Es ist dies die aufsteigende Linie der Bourgeoisie, die Epoche der bürgerlich-demokratischen Bewegungen überhaupt, der bürgerlich-nationalen im Besonderen, die Epoche der raschen Sprengung der überlebten feudal-absolutistischen Institutionen. Die zweite Epoche ist die der vollen Herrschaft und des Niedergangs der Bourgeoisie, die Epoche des Übergangs von der fortschrittlichen Bourgeoisie zum reaktionären und erzreaktionären Finanzkapital. Es ist dies die Epoche der Vorbereitung und langsamen Kräftesammlung auf Seiten der neuen Klasse, auf Seiten der heutigen Demokratie. Die dritte, eben erst anhebende Epoche bringt die Bourgeoisie in die gleiche „Lage“, in welcher die Feudalherren im Laufe der ersten Epoche gewesen waren. Es ist dies die Epoche des Imperialismus und der imperialistischen, ebenso aber auch der durch den Imperialismus ausgelösten Erschütterungen.

Kein anderer als Kautsky selbst hat in einer Reihe von Artikeln und in seiner (1909 erschienenen) Broschüre „Der Weg zur Macht“ mit vollster Bestimmtheit die Grundzüge der anbrechenden dritten Epoche umrissen, die fundamentale Verschiedenheit dieser und der zweiten (der gestrigen) Epoche bezeichnet und die Veränderung der unmittelbaren Aufgaben, desgleichen der Kampfbedingungen und Kampfformen der heutigen Demokratie anerkannt, – eine Veränderung, die aus der Wandlung der objektiven geschichtlichen Bedingungen entspringt. Heute verbrennt Kautsky, was er früher angebetet hat, er wechselt in der unerwartetsten, in der unanständigsten, in der schamlosesten Weise die Front. In der genannten Broschüre spricht er geradeswegs von den Anzeichen, die auf das Herannahen des Kriegs deuten, und zwar gerade eines derartigen Kriegs, wie er dann 1914 Wirklichkeit wurde. Das einfache Nebeneinanderhalten einer Reihe von Stellen aus dieser Broschüre und der jetzigen Schreibereien Kautskys würde hinreichen, um in voller Anschaulichkeit Kautskys Verrat an seinen eigenen Überzeugungen und an seinen feierlichsten Erklärungen nachzuweisen. Und Kautsky ist in dieser Beziehung nicht als vereinzelter Fall (schon gar nicht als bloß deutscher Fall) anzusehen, vielmehr als typischer Vertreter einer ganzen Oberschicht der heutigen Demokratie, die sich im Moment der Krise auf die Seite der Bourgeoisie schlug.

Alle von A. Potressow und Kautsky angeführten geschichtlichen Beispiele entstammen der ersten Epoche. Den objektiven Hauptinhalt der geschichtlichen Erscheinungen in der Zeit der Kriege von 1855, 1859, 1864, 1866 und 1870, ebenso aber auch von 1877 (russisch-türkischer Krieg) und von 1896/97 (türkisch-griechische Kriege und armenische Unruhen) bildeten bürgerlich-nationale Bewegungen oder „Krämpfe“ der sich von verschiedenen Formen des Feudalismus befreienden bürgerlichen Gesellschaft. Von einem wirklich selbständigen, der Epoche der Überreife und des Niedergangs der Bourgeoisie entsprechenden Auftreten der heutigen Demokratie in einer ganzen Reihe fortgeschrittener Länder konnte damals keine Rede sein. Die wichtigste Klasse, die sich damals, zur Zeit dieser Kriege und beteiligt an diesen Kriegen, auf der aufsteigenden Linie bewegte und die einzig und allein imstande war, mit überwältigender Kraft gegen die feudal-absolutistischen Institutionen aufzutreten, war die Bourgeoisie. In den verschiedenen Ländern, durch verschiedene Schichten von besitzenden Warenproduzenten repräsentiert, war diese Bourgeoisie in verschiedenem Grade fortschrittlich, mitunter sogar revolutionär (so z. B. ein Teil der italienischen Bourgeoisie im Jahre 1859), der gemeinsame Zug der Epoche aber war gerade die Fortschrittlichkeit der Bourgeoisie, das heißt der noch nicht entschiedene, noch nicht abgeschlossene Stand ihres Kampfes mit dem Feudalismus. Ganz selbstverständlich, dass die Elemente der modernen Demokratie – und Marx als Vertreter dieser Elemente –, geleitet von dem unbestreitbar richtigen Prinzip: Unterstützung der fortschrittlichen (der zum Kampfe fähigen) Bourgeoisie gegen den Feudalismus, zu jener Zeit jeweils das Problem zu entscheiden hatten, „auf welcher Seite“, d. h. auf Seiten welcher Bourgeoisie der Sieg am ehesten erwünscht wäre. Die Volksbewegung in den wichtigsten vom Krieg erfassten Ländern war damals allgemein-demokratisch, d. h. ihrem ökonomischen Inhalt und ihrem Klasseninhalt nach bürgerlich-demokratisch. Ganz selbstverständlich, dass damals eine andere Frage nicht einmal gestellt werden konnte, als eben diese: welche Bourgeoisie, welche Kombination muss durch ihren Sieg, – welche von den reaktionären (den feudal-absolutistischen, den Aufstieg der Bourgeoisie hemmenden) Mächten muss durch ihre Niederlage der heutigen Demokratie größeren „Spielraum“ in Aussicht stellen.

Und zwar ließ sich Marx, wie dies sogar A. Potressow zuzugeben gezwungen ist, bei der „Abschätzung“ internationaler Konflikte auf Basis bürgerlicher und nationaler Freiheitsbewegungen von Erwägungen darüber leiten: auf welcher Seite der Sieg eher imstande sei, die „Entwicklung“ (S. 74 des Potressowschen Artikels) nationaler Bewegungen, überhaupt allgemein-demokratischer Volksbewegungen zu fördern. Das bedeutet: bei kriegerischen Konflikten, wenn sie den Aufstieg der Bourgeoisie zur Macht in den einzelnen Nationen zur Basis hatten, war es Marx ebenso wie im Jahre 1848 in allererster Linie um die Ausdehnung und Verschärfung der bürgerlich-demokratischen Bewegungen durch Beteiligung breiterer und mehr „plebejischer“ Massen aus dem Kleinbürgertum im Allgemeinen, aus der Bauernschaft im Besonderen und schließlich aus den besitzlosen Klassen zu tun. Gerade dieses Marxsche Interesse an der Verbreiterung der sozialen Basis der Bewegung und an ihrer Entwicklung unterschied auch die konsequent demokratische Taktik Marxens von der nicht konsequenten, stets zum Bündnis mit den Nationalliberalen neigenden Taktik Lassalles

Die internationalen Konflikte sind auch in der dritten Epoche ihrer Form nach ebensolche internationale Konflikte geblieben, wie in der ersten Epoche, aber ihr sozialer Inhalt, ihr Klassen-Inhalt hat sich in grundlegender Weise geändert. Die objektive geschichtliche Lage ist eine völlig andere geworden.

An die Stelle des Kampfs, den das aufsteigende, national sich emanzipierende Kapital gegen den Feudalismus führte, ist der des erzreaktionären, abgelebten und sich überlebenden, dem Niedergang und Verfall entgegengehenden Finanzkapitals, – sein Kampf gegen die neuen Kräfte getreten. Die bürgerlich-nationalen Rahmen der Staaten, einst, in der ersten Epoche, eine Stütze für die Entwicklung der Produktivkräfte einer Menschheit, die sich vom Feudalismus emanzipierte, sie sind nunmehr, in der dritten Epoche, zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Die Bourgeoisie hat sich aus einer aufsteigenden, vorwärtsschreitenden Klasse in eine absteigende, verfallende, innerlich leblose, reaktionäre Klasse verwandelt. Eine ganz andere Klasse ist – in großen geschichtlichen Umrissen genommen – zur aufsteigenden Klasse geworden.

A. Potressow und Kautsky haben den Standpunkt dieser Klasse verlassen und sind rückwärts gegangen; sie machen sich den bürgerlichen Schwindel zu eigen, nämlich die Behauptung, dass den objektiven Inhalt des geschichtlichen Prozesses auch heute die fortschrittliche Bewegung der Bourgeoisie gegen den Feudalismus ausmache. Tatsächlich kann heutzutage keine Rede davon sein, dass sich die heutige Demokratie nicht von der reaktionären, imperialistischen Bourgeoisie habe ins Schlepptau nehmen lassen, – ganz gleichgültig, von welcher „Farbe“ auch immer diese Bourgeoisie sei.

In der ersten Epoche stand objektiv die geschichtliche Aufgabe folgendermaßen: in welcher Weise hat die fortschrittliche Bourgeoisie in ihrem Kampfe mit den wichtigsten Vertretern des absterbenden Feudalismus die internationalen Konflikte „auszunutzen“, damit für die bürgerliche Demokratie der ganzen Welt insgesamt und überhaupt ein maximaler Nutzen dabei herausspringe. Damals, in dieser ersten Epoche, vor mehr als einem halben Jahrhundert, war es natürlich und unausbleiblich, dass die vom Feudalismus unterjochte Bourgeoisie „ihrem“ feudalen Unterdrücker die Niederlage wünschte, wobei die in Betracht kommenden feudalen Hochburgen von Rang, von zentraler Bedeutung, von gesamteuropäischem Gewicht, keineswegs zahlreich waren. Und Marx hatte „abzuschätzen“, in welchem Lande bei einer gegebenen konkreten Lage (Situation) der Erfolg der bürgerlichen Emanzipationsbewegung für die Schleifung der feudalen Hochburgen in ganz Europa wesentlicher sei.

Heute, in der dritten Epoche, gibt es überhaupt keine feudalen Hochburgen von gesamteuropäischer Bedeutung mehr. Natürlich ist die Taktik des „Ausnutzens“ Aufgabe der heutigen Demokratie, aber das internationale Ausnutzen soll sich – trotz A. Potressow und Kautsky – gerade nicht gegen einzelne nationale Finanzkapitale, sondern gegen das internationale Finanzkapital richten. Und wer ausnutzen soll, ist nicht jene Klasse, die vor 50-100 Jahren im Aufstieg begriffen war. Damals handelte es sich (wie A. Potressow sich ausdrückt) um das „internationale Handeln“ der fortschrittlichsten bürgerlichen Demokratie; heutzutage ist geschichtlich eine Aufgabe ähnlicher Art vor einer ganz andern Klasse emporgewachsen und ihr durch die objektive Sachlage gestellt.

III.

A. Potressow charakterisiert die zweite Epoche, oder – wie er sich ausdrückt – den „45-jährigen Zeitabschnitt“ (1870-1914), sehr unvollständig. An der gleichen Unvollständigkeit leidet die Charakteristik dieser Epoche in Trotzkis deutscher Schrift3, obwohl dieser in den praktischen Konsequenzen mit A. Potressow nicht übereinstimmt (was zu den Vorzügen Trotzkis vor dem letzteren gerechnet werden muss) – wobei die beiden genannten Schriftsteller über den Grund der in gewissem Grade zwischen ihnen bestehenden Verwandtschaft sich wohl im Unklaren bleiben.

Über die Epoche, die wir die zweite oder die gestrige genannt haben, schreibt A. Potressow folgendes:

Die Beschränkung der Arbeit und des Kampfes auf das Detail und die alles durchdringende Idee einer schrittweisen Entwicklung, diese Wahrzeichen der Epoche, von den einen zum Prinzip erhoben, wurden für die andern zur gewohnten Tatsache ihres Seins und gingen als solche als Element in ihre Psyche, als Schattierung in ihre Ideologie ein“ (S. 71). „Ihr (dieser Epoche) Talent zur planmäßig durchgehaltenen und vorsichtigen Vorwärtsbewegung hatte zur Kehrseite erstens den klar zum Ausdruck gekommenen Mangel an Anpassungsfähigkeit in Momenten der Störung jener schrittweisen Entwicklung, ebenso bei Katastrophen-Erscheinungen jeder Art, zweitens das vollständige Eingeschlossensein im Kreise des nationalen Handelns – des nationalen Milieus“ (S. 72) … „Weder Revolution noch Kriege“ (S. 70)… „Die Demokratie nationalisierte sich um so erfolgreicher, je mehr sich die Periode ihres ,Stellungskriegs' hinzog, je länger jene Periode der europäischen Geschichte nicht von der Bühne abtreten wollte, die … im Herzen Europas keinerlei internationale Konflikte kannte und folglich keine über die Grenzen der nationalstaatlichen Territorien hinausgehende Beunruhigungen durchmachte, die also Interessen von gesamteuropäischer oder von Weltreich weite keineswegs scharf zu fühlen bekam“ (S. 75 u. 76).

Der Hauptmangel dieser Charakteristik, wie auch der entsprechenden Charakteristik derselben Epoche bei Trotzki, liegt in der Abneigung vor unumwundener Konstatierung der tiefen inneren Widersprüche innerhalb der heutigen Demokratie, die sich auf der beschriebenen Grundlage entwickelt hat. Es kommt so heraus, als wäre die heutige Demokratie der gegebenen Epoche ein einheitliches Ganzes geblieben, das, allgemein gesprochen, von der Idee der schrittweisen Entwicklung durchdrungen worden sei, sich nationalisiert, der Störung der schrittweisen Entwicklung und der Katastrophen sich entwöhnt, mit Schimmel sich überzogen habe und verflacht sei.

In Wirklichkeit konnte es sich so nicht verhalten, da zusammen mit den angegebenen Tendenzen unbestreitbar andere, entgegengesetzte Tendenzen wirksam waren: das „Sein“ der Arbeitermassen internationalisierte sich – Zug in die Stadt und Nivellierung (Ausgleichung) der Lebensbedingungen in den großen Städten der ganzen Welt, Internationalisierung des Kapitals, Durcheinanderwürfelung der städtischen und der ländlichen, der einheimischen und der fremdnationalen usw. Bevölkerung in den größten Fabrikbetrieben –, die Klassengegensätze verschärften sich, die Unternehmerverbände drückten schwerer auf die Arbeitergewerkschaften, schärfere und wuchtigere Kampfformen, z. B. in Gestalt von Massenstreiks, kamen auf, die Teuerung wuchs, das Joch des Finanzkapitals wurde unerträglich usw. usw.

In Wirklichkeit verhielt es sich nicht so, – das wissen wir genau. Kein einziges, buchstäblich nicht ein einziges unter den großen kapitalistischen Ländern Europas blieb im Laufe dieser Epoche von dem Kampf zwischen den zwei sich widersprechenden Strömungen innerhalb der heutigen Demokratie verschont. In jedem der großen Länder nahm dieser Kampf, ungeachtet des „friedlichen“, „bewegungslosen“, verschlafenen Allgemeincharakters der Epoche, zuweilen die stürmischsten Formen an und konnte bis zu Spaltungen führen. Diese sich widersprechenden Strömungen kamen ausnahmslos in allen den vielfältigen Sphären des Lebens und in allen Problemen der heutigen Demokratie zum Wort: im Verhältnis zur Bourgeoisie, bei Bündnissen mit den Liberalen, bei Kreditbewilligungen, in der Stellungnahme zur Kolonialpolitik, zu Reformen, zum Charakter des ökonomischen Kampfes, zur Neutralität der Gewerkschaften usw.

Die alles durchdringende Idee einer schrittweisen Entwicklung“ war keineswegs, wie es bei Potressow und Trotzki aussieht, ungeteilt herrschende Stimmung in der ganzen heutigen Demokratie. Nein, diese Idee der schrittweisen Entwicklung kristallisierte sich zu einer bestimmten Richtung heraus, die es in dem Europa dieser Periode nicht selten zur Schaffung von besonderen Fraktionen, mitunter sogar zur Schaffung besonderer Parteien innerhalb der heutigen Demokratie brachte. Diese Richtung hatte ihre Führer, ihre Presseorgane, ihre Politik, ihren besonderen – und auch besonders organisierten – Einfluss auf die Massen der Bevölkerung. Damit nicht genug. Diese Richtung gewann mehr und mehr ihren Stützpunkt – und „fixierte“ ihn, wenn man so sagen darf, schließlich endgültig – in den Interessen einer bestimmten sozialen Schicht innerhalb der heutigen Demokratie.

Die alles durchdringende Idee einer schrittweisen Entwicklung“ lockte natürlich eine ganze Anzahl von kleinbürgerlichen Mitläufern in die Reihen der heutigen Demokratie; weiter entstanden bei einer bestimmten Schicht von Parlamentariern, Journalisten und Beamten der Gewerkschaftsorganisationen kleinbürgerliche Besonderheiten der Existenz und folglich auch der politischen „Orientierung“ (der Richtung, der Bestrebungen); es sonderte sich zu einem größeren oder geringerem Grade der Schärfe und Abgegrenztheit eine spezielle Art von Bürokratie und Aristokratie der Arbeiterklasse ab.

Nehmen wir z. B. den Kolonialbesitz, die Erweiterung der kolonialen Herrschaften. Zweifellos war dies einer der hervorstechendsten Charakterzüge der geschilderten Epoche und der Mehrzahl der Großmächte. Was besagte dies aber ökonomisch? Eine Masse von bestimmten Extraprofiten und von besonderen Privilegien für die Bourgeoisie, dann aber auch zweifellos die Möglichkeit, Brocken von diesen „Kuchenstücken“ zu erhalten, für eine kleine Minderheit der Kleinbürger; dasselbe dann auch für die bestsituierten Angestellten und Beamten der Arbeiterbewegung usw. Dass es eine derartige brockenweise „Nutznießung“ der aus den Kolonien, aus den Privilegien entspringenden Vorteile durch eine verschwindend geringe Minderheit der Arbeiterklasse beispielsweise in England wirklich auch gab, ist eine unbestrittene Tatsache, die schon Marx und Engels konstatiert und vermerkt haben. Was aber seinerzeit ausschließlich englisches Phänomen gewesen war, wurde zur Allgemeinerscheinung für alle großen kapitalistischen Länder Europas im selben Maße, in dem alle diese Länder zur Kolonialherrschaft in großen Ausmaßen übergingen, und überhaupt in dem Grade, in dem sich Entwicklung und Wachstum der imperialistischen Periode des Kapitalismus vollzog.

Mit einem Wort, „die alles durchdringende Idee einer schrittweisen Entwicklung“ in der zweiten (oder gestrigen) Epoche schuf nicht nur einen gewissen „Mangel an Anpassungsfähigkeit bei Störungen der schrittweisen Entwicklung“, wie A. Potressow denkt, und nicht nur gewisse „possibilistische“ Neigungen, wie Trotzki annimmt: sie schuf eine ganze opportunistische Richtung, die sich auf eine bestimmte soziale Schicht innerhalb der heutigen Demokratie stützt, – auf eine Gesellschaftsschicht, die mit der Bourgeoisie ihrer eigenen National-„Farbe“ durch zahllose Fäden gemeinsamer ökonomischer, sozialer und politischer Interessen verknüpft ist –, sie schuf eine Richtung, die direkt, offen, völlig bewusst und systematisch jedem Gedanken an „Störungen der schrittweisen Entwicklung“ feind ist.

Die Wurzel für eine ganze Reihe von taktischen und organisatorischen Fehlern bei Trotzki (von A. Potressow schon ganz zu schweigen) liegt gerade in der Furcht oder Abneigung oder Unfähigkeit zur Anerkennung dieser Tatsache, dass die opportunistische Richtung voll „ausgereift“ ist und dass sie mit den National-Liberalen (oder dem Sozial-Nationalismus) unserer Tage in ganz engem, in unzertrennlichem Zusammenhang steht. In der Praxis führt die Leugnung dieser faktischen „Reife“ und dieses unzertrennlichen Zusammenhanges zum Mindesten zu vollständiger Kopflosigkeit und Hilflosigkeit gegenüber dem herrschenden sozial-nationalistischen (oder national-liberalen) Unheil.

Den Zusammenhang von Opportunismus und Sozial-Nationalismus leugnen, allgemein gesprochen, A. Potressow wie Martow, Axelrod und Wl. Kossowski (der sich bis zur Verteidigung der deutschen national-liberalen Kriegskredit-Bewilligung durch die Demokraten verstiegen hat) und ebenso Trotzki.

Ihr hauptsächliches „Argument“ besagt: die gestrige Scheidung der Demokratie „nach dem Opportunismus“ und ihre heutige Scheidung „nach dem Sozial-Nationalismus“ fallen nicht vollkommen zusammen. Dieses Argument ist erstens faktisch unrichtig, wie wir sofort zeigen werden, und zweitens vollkommen einseitig, unvollständig, prinzipiell marxistisch nicht haltbar. Personen und Gruppen können wohl von der einen Seite auf die andere überlaufen – das ist nicht nur möglich, das ist sogar unausbleiblich bei jedem großen gesellschaftlichen „Ruck“; der Charakter einer bestimmten Strömung ändert sich dadurch nicht im Geringsten; ebenso wenig ändert sich auch der ideelle Zusammenhang bestimmter Strömungen, ebenso wenig ihre Klassen-Bedeutung. Alle diese Gedankengänge, sollte man meinen, sind so allgemein bekannt und unbestreitbar, dass es schon geradezu etwas peinlich ist, so besonderen Nachdruck auf sie zu legen. Indessen wurden gerade diese Gedankengänge von den genannten Schriftstellern vergessen. Die grundlegende Klassenbedeutung – oder, wenn man will, der sozial-ökonomische Inhalt – des Opportunismus besteht darin, dass gewisse Elemente der heutigen Demokratie in einer ganzen Reihe einzelner Probleme auf die Seite der Bourgeoisie übergelaufen sind (faktisch übergelaufen sind, d. h. auch wenn sie selbst sich dessen nicht bewusst sein sollten). Opportunismus ist liberale Arbeiterpolitik. Wer sich vor dem „fraktionellen“ Anstrich dieser Ausdrücke fürchtet, dem werden wir den Rat geben: mach dir die Mühe, Äußerungen von Marx, Engels und Kautsky, und seien es nur die über den englischen Opportunismus, einmal zu studieren (und Kautsky ist doch eine für die Gegner des „Fraktionswesens“ besonders bequeme „Autorität“ – nicht wahr?). Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass die Anerkennung der grundsätzlichen und wesentlichen Kongruenz des Opportunismus mit der liberalen Arbeiterpolitik das Resultat eines solchen Studiums sein wird. Die grundlegende Klassenbedeutung des Sozial-Nationalismus unserer Tage ist vollkommen die gleiche. Die grundlegende Idee des Opportunismus heißt: Bündnis oder Annäherung (zuweilen Übereinkunft, Blockbildung usw.) zwischen der Bourgeoisie und ihrem Antipoden. Die grundlegende Idee des Sozial-Nationalismus ist vollkommen die gleiche. Die ideell-politische Verwandtschaft, der Zusammenhang, ja die Identität des Opportunismus und des Sozial-Nationalismus unterliegt keinem Zweifel. Dass wir aber nicht Personen noch Gruppen, sondern gerade die Analyse des Klassen-Inhalts der gesellschaftlichen Strömungen und die ideell-politische Untersuchung ihrer hauptsächlichen, wesentlichen Prinzipien zur Grundlage nehmen müssen, versteht sich von selbst.

Wenn wir an dasselbe Thema von einer etwas anderen Seite herantreten, müssen wir die Frage stellen: woher kommt der Sozial-Nationalismus? Wie entwickelte er sich, wie wuchs er heran? Was gab ihm Bedeutung und Kraft? Wer sich auf diese Fragen keine Antwort gibt, der hat den Sozial-Nationalismus durchaus nicht verstanden und der ist selbstverständlich völlig unfähig, „sich ideell von ihm abzugrenzen“, mag er auch Stein und Bein schwören, dass er zu dieser „ideellen Abgrenzung“ vom Sozial-Nationalismus bereit sei.

Auf diese Frage kann es aber nur eine einzige Antwort geben: der Sozial-Nationalismus ist aus dem Opportunismus hervorgewachsen, und gerade dieser hat ihm Kraft verliehen. Wie konnte der Sozial-Nationalismus „auf einen Schlag“ zur Welt kommen? Ganz genau so, wie „auf einen Schlag“ ein Kind zur Welt kommt, wenn seit der Empfängnis neun Monate verflossen sind. All die zahlreichen Erscheinungsformen, die der Opportunismus im Verlauf der zweiten (oder gestrigen) Epoche in allen europäischen Ländern annahm, waren kleine Wasserläufe, die sich nunmehr alle miteinander „auf einen Schlag“ zu einem großen, wenn auch sehr seichten (in Klammern kann man noch hinzufügen: zu einem trüben und schmutzigen) sozialnationalistischen Strom vereinigt haben. Neun Monate nach der Empfängnis muss sich die Frucht von der Mutter absondern; viele Jahrzehnte nach der Empfängnis des Opportunismus wird seine reife Frucht, der Sozial-Nationalismus, sich nach einer (im Verhältnis zu den Jahrzehnten) mehr oder minder kurzen Frist von der heutigen Demokratie absondern müssen. Wie sehr auch verschiedene gute Leute über solche Gedanken und Erklärungen schreien, zürnen und wüten mögen, ist dies doch unausbleiblich, da es aus der ganzen sozialen Entwicklung der heutigen Demokratie und aus der objektiven Lage der dritten Epoche entspringt.

Besteht aber keine volle Kongruenz zwischen der Scheidung „nach dem Opportunismus“ und der „nach dem Sozial-Nationalismus“, ist das dann nicht Beweis dafür, dass zwischen den gegebenen Erscheinungen kein wesentlicher Zusammenhang besteht? Erstens ist das nicht dieser Beweis, so wenig wie Ende des 18. Jahrhunderts das Überlaufen einzelner Personen aus der Bourgeoisie bald zu den Feudalherren bald zum Volke beweisen kann, dass zwischen dem Wachstum der Bourgeoisie und der Großen Französischen Revolution von 1789 „kein Zusammenhang“ besteht. Zweitens: im Großen und Ganzen – und es ist hier gerade vom Großen und Ganzen die Rede – besteht tatsächlich eine solche Kongruenz. Nehmen wir nicht ein einziges Land, sondern eine ganze Reihe von Ländern, z. B. die zehn europäischen: Deutschland, England, Frankreich, Belgien, Russland, Italien, Schweden, die Schweiz, Holland und Bulgarien. Eine gewisse Ausnahme scheinen nur die drei hervorgehobenen Länder zu bilden, in den übrigen wurden durch Strömungen der entschiedenen Gegner des Opportunismus gerade Strömungen erzeugt, die dem Sozial-Nationalismus feind sind. Man stelle einmal die bekannten „Monatshefte“ und ihre Gegner in Deutschland, „Nasche Djelo und seine Gegner in Russland, die Partei Bissolatis und ihre Gegner in Italien nebeneinander; ebenso die Anhänger Greulichs und Grimms in der Schweiz, Brantings und Höglunds in Schweden, Troelstras und die von Pannekoek und Gorter in Holland; schließlich die„Obschtschodelzi“ und „Tesnjaki in Bulgarien. Die allgemeine Übereinstimmung zwischen der alten und der neuen Scheidung ist eine Tatsache, eine vollkommene Übereinstimmung aber gibt es nicht einmal bei den einfachsten Naturerscheinungen, so wenig wie es zwischen der Wolga nach Einmündung der Kama und der Wolga vor deren Einmündung eine vollkommene Übereinstimmung gibt, oder wie es keine volle Ähnlichkeit zwischen dem Kinde und seinen Eltern geben kann. England ist eine scheinbare Ausnahme; tatsächlich bestanden dort vor dem Kriege zwei Hauptströmungen, die sich um zwei Tages Zeitungen gruppierten – das sicherste objektive Zeichen für den Massencharakter einer Strömung –, und zwar meinen wir das Blatt „Daily Citizen“ bei den Opportunisten und den „Daily Herald“ bei den Gegnern des Opportunismus. Beide Blätter überschwemmte die Woge des Nationalismus; Opposition aber wurde von weniger als einem Zehntel der Anhänger der ersteren und von etwa drei Siebenteln der Anhänger der letzteren gemacht. Die gewöhnliche Vergleichsmethode, bei der man nur die „British Socialist Party und die „Independent Labour Party einander gegenüberstellt, ist nicht richtig, denn man vergisst dabei den faktischen Block, in dem diese letztere mit den Fabiern sowohl wie mit der „Labour Party steht. Als Ausnahme bleiben also nur zwei Länder von zehn übrig; aber auch hier handelt es sich nicht um eine volle Ausnahme, weil nicht etwa die Richtungen ihre Plätze wechselten, sondern nur die Woge (aus so leicht begreiflichen Ursachen, dass man darauf nicht näher einzugehen braucht) fast sämtliche Gegner des Opportunismus wegriss. Dies beweist die Stärke der Woge, unbestreitbar, aber es widerlegt keineswegs die allgemein-europäische Übereinstimmung zwischen der alten und der neuen Scheidung.

Man sagt uns, die Scheidung „nach dem Opportunismus“ sei veraltet; es habe nur Sinn, nach Anhängern der Internationalität und solchen der nationalen Beschränktheit zu scheiden. Das ist eine von Grund auf falsche Meinung. Der Begriff „Anhänger der Internationalität“ entbehrt jeglichen Inhalts und jeglichen Sinnes, wenn man ihn nicht konkret entwickelt, und jeder Schritt in einer solchen konkreten Entwicklung wird zur Aufzählung von lauter Momenten, die Feindschaft gegen den Opportunismus bedeuten. In der Praxis ist dies noch richtiger. Ein Anhänger der Internationalität, der nicht auch der konsequenteste und entschlossenste Gegner des Opportunismus wäre, – das ist eine bloße Luftspiegelung und nichts weiter. Möglich, dass einzelne Personen dieses Typs sich aufrichtig zu den „Internationalisten“ zählen, aber man beurteilt die Leute nicht nach dem, was sie von sich selber denken, sondern nach ihrer politischen Haltung: die politische Haltung solcher „Internationalisten“, die nicht als konsequente und entschlossene Gegner des Opportunismus in Erscheinung treten, wird immer Förderung oder Unterstützung der nationalistischen Strömung bedeuten. Anderseits nennen sich die Nationalisten gleichfalls „Internationalisten“ (Kautsky, Lensch, Haenisch, Vandervelde, Hyndman u. a.) und sie nennen sich nicht nur so, sondern erklären sich durchaus für internationale Annäherung, Übereinkunft und Vereinigung der Menschen und ihrer Denkweise. Die Opportunisten sind nicht gegen die „Internationalität“, sie sind nur für die internationale Billigung des Opportunismus und für die internationale Vereinbarung der Opportunisten.

1 Der Artikel „Unter fremder Flagge" wurde von Lenin für ein legales marxistisches Sammelbuch verfasst, dessen Herausgabe für das Jahr 1915 in Russland geplant wurde. Das Sammelbuch wurde aber von der zaristischen Zensur zurückgehalten und kam erst nach der Februarrevolution in Moskau (Verlag „Priliw") in der Gestalt heraus, in der es sich nach Umarbeitung durch die Zensur erhalten hatte.

* Unter anderem: A. Potressow verzichtet auf einen Entscheid in der Frage, ob in der Einschätzung der Kriegsumstände von 1859 Marx oder Lassalle recht gehabt habe. Wir sind (entgegen Mehring) der Auffassung, dass Marx im Rechte war und dass Lassalle auch damals, ebenso wie in seinem Kokettieren mit Bismarck, Opportunist war. Lassalle passte seine Haltung dem Siege Preußens und Bismarcks, dem Fehlen ausreichender Stoßkraft bei den demokratischen Nationalbewegungen in Italien und Deutschland an. Eben damit schwankte er nach der Seite einer national-liberalen Arbeiterpolitik. Marx dagegen förderte und entwickelte eine selbständige, eine konsequent demokratische, der national-liberalen Feigheit feindlich entgegengesetzte Politik (Preußens Einmischung gegen Napoleon im Jahre 1859 hätte der Volksbewegung in Deutschland einen Anstoß gegeben). Lassalle schaute mehr nach oben als nach unten, er vergaffte sich in Bismarck. Bismarcks „Erfolg“ ist nicht im mindesten geeignet, Lassalles Opportunismus zu rechtfertigen.

** „Tatsächlich – schreibt A. Potressow – sind gerade in dieser Periode eines vermeintlichen Stillstands im Innern eines jeden Landes gewaltige Molekularprozesse vor sich gegangen, ja auch die internationale Lage hat sich allmählich umgestaltet, da die Politik der Kolonialerwerbungen, des kriegerischen Imperialismus immer augenscheinlicher zu ihrem bestimmenden Moment geworden ist.“

2 Nr. 1 von „Nasche Djelo“ brachte den Anfang des aus der Neuen Zeit (Nr. 8 vom 27. September 1914) übersetzten Artikels von Kautsky: „Internationalität und Krieg“.

3 Es handelt sich um die November 1914 in Zürich in deutscher Sprache erschienene Broschüre Trotzkis: „Der Krieg und die Internationale“.

Kommentare