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Wladimir I. Lenin 19050724 Brief an das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros

Wladimir I. Lenin: Brief an das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros1

[Geschrieben 11./24. Juli 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in der Zeitschrift „Krassnaja Ljetopis", Nr. 1. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 9-13]

24. Juli 1905.

Werte Genossen! Vor einigen Tagen erhielten wir Euren Brief vom 28. Juni und zusammen mit ihm interessante Dokumente (Briefe der Genossen Bebel und Plechanow), aber da wir äußerst beschäftigt waren, war es uns nicht möglich, Euch unverzüglich zu antworten.

I. Was den Brief des Genossen Plechanow anbelangt, so sind wir zu den folgenden Bemerkungen genötigt:

1. Die Behauptung des Genossen Plechanow, dass nach dem 2. Parteitag unserer Partei (im August 1903) zwischen uns Differenzen nur in der organisatorischen Frage bestanden, entspricht nicht ganz der Wirklichkeit. Die „Minderheit" des 2. Parteitages (mit den Genossen Axelrod, V. Sassulitsch und Martow an der Spitze) hat die Partei tatsächlich unmittelbar nach dem Parteitag gespalten, indem sie den vom Parteitag gewählten Zentralinstanzen den Boykott erklärte und eine geheime Organisation der „Minderheit" gründete, die erst im Herbst 1904 aufgelöst wurde. Genosse Plechanow selbst, der auf dem 2 Parteitag und auf dem Kongress der Auslandsliga der russischen Sozialdemokratie (Oktober 1903) auf unserer Seite stand, dachte über unsere Meinungsverschiedenheiten offenbar ein wenig anders, als er im November 1903 in Nr. 52 der „Iskra“ öffentlich erklärte, man müsse den „Revisionisten" (Ausdruck Plechanows) Zugeständnisse zu machen verstehen, um die Spaltung der Partei zu vermeiden.

2. Die Behauptung, der 3. Parteitag sei „völlig eigenmächtig einberufen worden, entspricht ebenso wenig den Tatsachen. Den Parteistatuten gemäß ist der Rat verpflichtet, einen Kongress einzuberufen, sobald die Hälfte der Komitees es verlangt. Wie Euch aus der französischen Übersetzung der Resolutionen des 3. Parteitages bekannt ist, hat der Rat das Parteistatut ignoriert. Die Parteikomitees und das von ihnen gewählte „Büro der Komitees der Mehrheit" waren moralisch und formell verpflichtet, den Kongress einzuberufen, wenn auch gegen den Willen des Rates, der seiner Einberufung ausweichen wollte.

3. Aus denselben Resolutionen des 3. Parteitages wisst Ihr, dass auf diesem Parteitag nicht „so ungefähr die Hälfte der vertretungsberechtigten Organisationen", sondern die bedeutende Mehrheit der stärksten Komitees vertreten war.

4. Es ist wahr, dass es in unserer Partei Genossen gibt, die scherzweise „der Sumpf" genannt werden. Die Mitglieder dieses „Sumpfes" sind im Verlauf der Auseinandersetzungen im Schoße unserer Partei ständig von einer Seite auf die andere übergegangen. Der erste dieser Überläufer war Genosse Plechanow, der bereits im November 1903 von der „Mehrheit" zur „Minderheit" überging, um im Mai dieses Jahres die „Minderheit" von neuem zu verlassen, indem er aus der Redaktion der „Iskra“ austrat. Wir halten solche Schwankungen in keiner Weise gut, doch glauben wir, dass man es uns nicht als Schuld anrechnen kann, wenn die Genossen vom „Sumpf" nach endlosem Schwanken beschlossen haben, sich uns anzuschließen.

5. In seinem Brief an das Büro (3./16. Juni 1905) vergisst Genosse Plechanow, sehr unpassenderweise, seinen Brief vom 29. Mai 1905 zu erwähnen, der in der „Iskra" (Nr. 101) gedruckt wurde und dessen genaue und vollständige Übersetzung wir Euch bereits zugestellt haben.

6. Indem er von der andern, der „Iskra"-Fraktion der Partei spricht, vergisst Genosse Plechanow wiederum, hinzuzufügen, dass die Konferenz der „Minderheit“ (Mai 1905) das auf dem 2. Parteitag ausgearbeitete Statut aufgehoben und kein neues Zentralorgan geschaffen hat. Wir sind der Meinung, dass das Internationale Sozialistische Büro eine vollständige Übersetzung aller Resolutionen dieser Konferenz haben muss. Wenn die „Iskra" sie aber dem Büro nicht zustellen will, so sind wir bereit, dies auf uns zu nehmen.

7. Genosse Plechanow sagt, es hätten sich nur die zwei verbliebenen Mitglieder des ZK (die übrigen waren verhaftet) für die Einberufung des 3. Parteitages ausgesprochen. Der Brief des Genossen Plechanow ist vom 3/16. Juni 1905 datiert; am nächsten Tage, dem 4./17., erschien in Nr. 4. des „Proletarij", des vom 3. Parteitag gegründeten Zentralorgans der Partei, die folgende Erklärung:

Nach Kenntnisnahme des Offenen Briefes des ZK an den Vorsitzenden des Parteirats, Genossen Plechanow, und in völliger Übereinstimmung mit dem ZK, halten wir es für nötig – aus Gründen, die die Genossen, die mit dem Verlauf des innerparteilichen Lebens vertraut sind, verstehen werden –, unsere Solidarität mit dem ZK öffentlich zu erklären. Gezeichnet: Ma, Bem, Wladimir, Innokentij, Andrej, Woron."

Diese Unterschriften sind Pseudonyme. Vertraulich können wir Euch mitteilen, dass es die Pseudonyme der verhafteten Mitglieder des ZK sind.2 Daraus folgt: sobald die Mitglieder des ZK von dem Konflikt zwischen dem ZK und Genossen Plechanow und somit auch mit dem Rat) über die Frage der Einberufung des Parteitages erfahren hatten, sprach sich ihre Mehrzahl sofort für das ZK und gegen den Genossen Plechanow aus. Wir bitten das Internationale Sekretariat dringend, uns zu benachrichtigen, ob es Genosse Plechanow für nötig gehalten hat, das Büro von dieser wichtigen Erklärung der verhafteten Mitglieder des ZK, die die Behauptung des Genossen Plechanow in seinem Briefe vom 3./16. Juni vollständig widerlegt, in Kenntnis zu setzen.

8. Genosse Plechanow irrt sich, wenn er sagt, beide Fraktionen hätten ihn ersucht, als Vertreter der Partei im Internationalen Büro zu verbleiben. Bis jetzt hat das ZK unserer Partei in dieser Angelegenheit keinerlei Bitte ausgesprochen. Wie wir Euch vor einigen Tagen mitteilten, ist diese Frage noch nicht endgültig entschieden, obwohl sie bereits auf die Tagesordnung gestellt ist.

9. Genosse Plechanow glaubt, es falle ihm nicht schwer, in der Frage unserer Meinungsverschiedenheiten unparteiisch zu sein. Nach allem oben Angeführten sind wir der Meinung, dass ihm dies schwer genug fällt und, im gegenwärtigen Zeitpunkt wenigstens, fast unmöglich ist.

II. Ich gehe zum Vorschlag des Genossen Bebel über, der sich auf unsern Fall bezieht.

Hier muss ich notwendigerweise das Folgende bemerken:

1. Ich bin nur eines der Mitglieder des ZK und verantwortlicher Redakteur des Zentralorgans der Partei, des „Proletarij". Im Namen des gesamten ZK kann ich nur Auslandsangelegenheiten und einige andere, mit denen ich speziell betraut bin, entscheiden. In jedem Falle können alle meine Entscheidungen vom Plenum des ZK aufgehoben werden. Ich kann folglich die Frage der Einmischung des Büros in die Angelegenheiten unserer Partei nicht entscheiden. Doch habe ich Euren Brief und auch die Briefe der Genossen Bebel und Plechanow unverzüglich an alle Mitglieder des ZK in Russland geschickt.

2. Um die Antwort des ZK zu beschleunigen, wäre es sehr nützlich, vom Büro einige notwendige Aufklärungen zu erhalten: a) Sollen unter dem Wort „Einmischung" (Intervention3) nur eine friedensstiftende Vermittlung und ein Rat verstanden werden, mit nur moralischer und nicht zwingender Kraft? b) Oder hat das Büro etwa einen bindenden Beschluss vermittels eines Schiedsgerichtes im Auge? c) Schlägt das Exekutivkomitee des Büros vor, das Recht der endgültigen und unwiderruflichen Entscheidung in der Frage unserer Meinungsverschiedenheiten dem Plenum des Internationalen Sozialistischen Büros einzuräumen?

3. Meinerseits halte ich mich für verpflichtet, das Büro davon in Kenntnis zu setzen, dass Genosse Bebel kurz vor dem 3. Parteitag mir und meinen Gesinnungsgenossen schon einen ähnlichen Vorschlag gemacht hat, indem er uns seine Dienste oder die Dienste des gesamten deutschen Parteivorstandes als Schiedsrichter im Konflikt zwischen der „Mehrheit" und der „Minderheit" antrug.

Ich antwortete, dass bald ein Parteitag stattfinden werde und dass ich persönlich für die Partei oder in ihrem Namen nicht entscheiden könne.

Das Büro der Komitees der Mehrheit lehnte den Vorschlag Bebels ab. Der 3. Parteitag fasste über diesen Vorschlag keinen Beschluss und drückte dadurch sein stillschweigendes Einverständnis mit der Antwort des Büros der Komitees der Mehrheit aus.

4. Da das Internationale Büro es für möglich hält, aus „einigen deutschen Zeitungen" seine Informationen zu schöpfen, bin ich gezwungen zu erklären, dass fast alle deutschen sozialistischen Zeitungen, besonders aber die „Neue Zeit" und die „Leipziger Volkszeitung", ganz auf der Seite der „Minderheit" stehen und unsere Angelegenheiten sehr einseitig und unrichtig beleuchten. Kautsky z.B. nennt sich ebenfalls unparteiisch, während er in Wirklichkeit so weit gegangen ist, sich zu weigern, in der „Neuen Zeit" die Widerlegung eines Artikels Rosa Luxemburgs, in dem sie die Desorganisation der Partei verteidigte, aufzunehmen. In der „Leipziger Volkszeitung" hat Kautsky geraten, die deutsche Übersetzung der Resolutionen des 3. Parteitages nicht zu verbreiten!! Nach alledem ist es nicht schwer, zu verstehen, warum viele Genossen in Russland geneigt sind, die deutsche Sozialdemokratie in der Frage der Spaltung in den Reihen der russischen Sozialdemokratie als parteiisch und äußerst voreingenommen zu betrachten.

Empfangt, werte Genossen, unsern brüderlichen Gruß

Wl. Uljanow (N. Lenin)

1 Von diesem Briefe befinden sich im Lenin-Institut ein mit der Hand geschriebener russischer Text und ein mit der Maschine geschriebener französischer Text. Der Veröffentlichung in der russischen Ausgabe der „Sämtliche Werke" wurden die französische Fassung und die Korrekturen im russischen Text zugrunde gelegt. Die deutsche Übersetzung erfolgte aus dem französischen Text mit Berücksichtigung der russischen Korrekturen.

2 Die Verhaftung dieser Mitglieder des ZK erfolgte während einer Sitzung des ZK am 9,/22. Februar 1905 in Moskau in der Wohnung des Schriftstellers L. N. Andrejews.

3 Das Wort „Intervention" wurde aus dem französischen Original im russischen Text des Briefes zitiert. Die Red.

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