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Wladimir I. Lenin 19040916 Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts

Wladimir I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts

Eine Abwehr v. N. Lenin.

[Zweite Septemberhälfte 1904. Genf. Gedruckt nach einem von unbekannter Hand geschriebenen Manuskript des manchmal etwas holprigen deutschen Texts in der von Lenin geänderten Fassung. Nach Ленинский Сборник Nr. 15, Moskau 1930, S. 186-197]

Der Artikel der Genossin Rosa Luxemburg in den 42-43 Nummern der «Neue Zeit» übt eine Kritik über mein russisches Buch über die Krise in unserer Partei. Ich kann mich nicht von dem Dank, den wir unsern deutschen Genossen für ihre Aufmerksamkeit zu unserer Parteiliteratur, für ihre Versuche die deutsche Sozialdemokratie mit dieser Literatur bekannt zu machen, schulden enthalten, aber dabei bin ich genötigt darauf aufmerksam zu machen, dass Rosa Luxemburgs Artikel die Leser der «Neue Zeit» nicht mit meinem Buch, sondern mit etwas anderem bekannt macht. Man möge darüber an folgenden Beispielen urteilen. Gen. Luxemburg sagt z. B., dass die Auffassung, die hier (d. h. in meinem Buche in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines «rücksichtslosen Zentralismus». Gen. Luxemburg meint also, dass ich ein Organisationssystem gegen ein anderes verteidige. Das ist aber tatsächlich nicht wahr. Von der ersten Seite bis zur letzten verteidige ich die elementaren Grundsätze eines jeden Systems, einer jeden denkbaren Parteiorganisation. Mein Buch beschäftigt sich nicht mit dem Unterschiede eines Organisationssystems von einem andern, sondern mit der Frage, wie ein jegliches System auf einer dem Parteibegriff nicht widersprechenden Weise eingehalten, kritisiert und korrigiert werden muss. Rosa Luxemburg sagt weiter, dass «nach seiner (Lenins) Auffassung das Zentralkomitee die Befugnis hat, alle Teilkomitees der Partei zu organisieren». Das ist tatsächlich nicht wahr. Meine Auffassung in dieser Frage kann dokumentarisch durch den von mir eingebrachten Entwurf eines Parteiorganisationsstatuts bewiesen werden. In diesem Entwurf ist von dem Rechte die Teilkomitees zu organisieren keine Rede. Die von dem Parteitag zwecks der Ausarbeitung des Parteistatuts gewählte Kommission fügte dies Recht ein und der Parteitag nahm den Kommissionsentwurf an. In der Kommission aber außer mir und noch einem Anhänger der Majorität waren drei Anhänger der Minorität des Parteitags gewählt, d. h. dass in der Kommission, die dem Zentralkomitee das Recht die Teilkomitees zu organisieren gegeben hat, hatten gerade meine Gegner die Oberhand. Gen. Rosa Luxemburg hat zwei verschiedene Tatsachen verwechselt. Erstens, hat sie meinen Organisationsentwurf mit dem umgestalteten Kommissionsentwurf, einerseits, und mit dem vom Parteitag angenommenen Organisationsstatut, anderseits, verwechselt; zweitens, verwechselte sie die Verteidigung eines bestimmten Antrags über einen bestimmten Paragraph des Statuts (in dieser Verteidigung war ich keineswegs rücksichtslos, da im Plenum ich nicht gegen das Amendment, das die Kommission eingebracht hat, gestritten habe) mit der Verteidigung jener (nicht wahr echt «ultrazentralistischer»?) Thesis, dass ein Statut, das von einem Parteitag angenommen wurde, auch befolgt werden muss, bis es vom nächsten Parteitag umgeändert wird. Diese Thesis (eine echt blanquistische, wie der Leser leicht ersehen kann) wurde wirklich von mir in meinem Buch recht «rücksichtslos» verteidigt. Gen. Luxemburg sagt, dass nach meiner Auffassung erscheint das Zentralkomitee als der einzige aktive Kern der Partei. Es ist tatsächlich unwahr. Ich habe diese Auffassung nirgends vertreten. Im Gegenteil, meine Opponenten (die Minorität des II. Parteitags) haben mich in ihren Schriften beschuldigt, dass ich nicht genügend die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit des Zentralkomitees in Schutz nehme, dass ich ihn viel zu sehr den im Ausland lebenden Redaktion und Parteirat unterjoche. Auf diese Beschuldigung antwortete ich in meinem Buch, dass als die Parteimajorität die Oberhand im Parteirat hatte sie niemals den Versuch machte in die Selbstständigkeit des Zentralkomitees einzugreifen; das geschah aber sogleich, wie der Parteirat zum Kampfmittel der Minorität wurde. Gen. Rosa Luxemburg sagt, dass es in der Sozialdemokratie Russlands keine Frage über die Notwendigkeit einer einheitlichen Partei existiert und dass der ganze Streit sich nur um das Maß einer Zentralisation dreht. Das ist tatsächlich nicht wahr. Hätte Gen. Luxemburg sich die Mühe gegeben die Resolutionen der vielen Lokalkomitees der Partei, die die Majorität bilden, kennen zu lernen, so hätte sie leicht einsehen können (das tritt übrigens auch klar aus meinem Buch hervor), dass der Streit bei uns hauptsächlich darüber geführt wird, ob das Zentralkomitee und das Zentralorgan die Richtung der Majorität des Parteitags vertreten sollen, oder nicht. Über diese ultrazentralistische und rein blanquistische Forderung spricht die werte Genossin kein Wort, sie zieht es vor gegen die mechanische Unterwerfung eines Teils dem Ganzen, gegen den Kadavergehorsam, gegen die blinde Unterordnung und dergleichen Schreckensgespenste zu deklamieren. Ich bin sehr der Gen. Luxemburg für die Auseinandersetzung des tiefgeistreichen Gedanken, dass der Kadavergehorsam sehr für die Partei schädlich ist, dankbar, aber ich möchte doch wissen, hält es die Genossin für normal, kann sie es zulassen, hat sie je in irgendwelcher Partei es gesehen, dass in den Zentralbehörden, die sich Parteibehörden nennen wollen, die Minorität des Parteitags dominieren könnte? Die Gen. Rosa Luxemburg unterschiebt mir geradezu den Gedanken, dass alle Vorbedingungen zur Durchführung einer großen und äußerst zentralisierten Arbeiterpartei in Russland bereits vorhanden sind. Wieder eine tatsächliche Unwahrheit. Nirgends in meinem Buche habe ich diesen Gedanken ausgesprochen, geschweige vertreten. Etwas anders lautete und lautet die von mir vertretene These: ich bestand nämlich darauf, dass alle Vorbedingungen bereits vorhanden sind um die Beschlüsse des Parteitags anzuerkennen und dass es schon die Zeit vorbei sei ein Parteikollegium durch ein Privatzirkel zu ersetzen. Ich brachte die Beweise ein, dass gewisse Akademiker in unserer Partei ihre Unkonsequenz und Unstandhaftigkeit offenbarten und dass sie gar kein Recht hatten ihre Disziplinlosigkeit in den Schuh der russischen Proletarier zu schieben. Die Arbeiter Russlands haben schon oft bei den verschiedenen Gelegenheiten sich für das Befolgen der Parteitagsbeschlüsse ausgesprochen. Es ist geradezu lächerlich, wenn die Gen. Luxemburg eine dahingehende Äußerung für eine «optimistische» erklärt (sollte es nicht eher für «pessimistisch» gelten, ohne dabei ein einzelnes Sterbewörtchen darüber zu verlieren, welch tatsächliche Grundlage meiner Äußerung sei. Gen. Luxemburg sagt, ich verherrliche die erzieherische Wirkung einer Fabrik. Das ist nicht wahr. Nicht ich, sondern mein Gegner behauptete, dass ich mir die Partei als eine Fabrik vorstelle. Ich lachte meinen Gegner tüchtig aus und wies aus den Worten des Gegners nach, dass er zwei verschiedene Seiten der Fabrikdisziplin verwechsele, wie das auch leider mit der Genossin R. Luxemburg der Fall ist.*

Gen. Luxemburg sagt, dass ich meinen Standpunkt vielleicht scharfsinniger gekennzeichnet habe, als es irgend einer meiner Opponenten tun könnte, als ich meinen «revolutionären Sozialdemokraten», als einen mit der Organisation der klassenbewussten Arbeiter verbundenen Jakobiner definierte. Wieder eine tatsächliche Unwahrheit. Nicht ich, sondern P. Axelrod sprach zuerst vom Jakobinismus. [Axelrod] war der erste, der unsere Parteinuancen mit denen aus der Zeit der großen Revolution verglichen hat. Ich bemerkte bloß, dass dieser Vergleich nur in dem Sinne zulässig sei, dass die Teilung der modernen Sozialdemokratie auf die revolutionäre und opportunistische im gewissen Sinne der Teilung auf die Montagnarden und Girondisten entspricht. Einen solchen Vergleich tat recht oft die vom Parteitag anerkannte alte «Iskra». Gerade diese Teilung anerkennend, kämpfte die alte «Iskra» mit dem opportunistischen Zweig unserer Partei, mit der Richtung der «Rabotschee Djelo». Rosa Luxemburg verwechselt hier das Verhältnis zwischen zwei revolutionären Richtungen des XVIII und XX Jahrhunderts mit der Identifizierung dieser Richtungen selbst. Wenn ich z. R. sage, dass das Verhältnis zwischen der «Jungfrau» und dem «Kleinen Scheidegg» dem Verhältnisse zwischen 4- und 2-stöckigen Häusern entspricht, so heißt es doch nicht, dass ich ein 4-stöckiges Haus mit der «Jungfrau» identifiziere. Gen. Luxemburg hat völlig die tatsächliche Analyse der verschiedenen Richtungen unserer Partei außer Acht gelassen. Und gerade dieser Analyse, die sich auf die Protokolle unseres Parteitags fußt, widme ich die größere Hälfte meines Buches und in der Einleitung mache ich darauf besonders aufmerksam. Rosa Luxemburg will über die jetzige Lage unserer Partei sprechen und ignoriert dabei vollständig unsern Parteitag, der eigentlich den echten Grundstein unserer Partei gelegt hat. Es muss als ein gewagtes Unternehmen angesehen werden! Ein um so mehr gewagtes Unternehmen, da ich hundert Mal in meinem Buch darauf hinweise, dass meine Gegner unsern Parteitag ignorieren und eben darum alle ihre Behauptungen jeder tatsächlichen Grundlagen berauben.

Gerade diesen Grundfehler begeht auch die Gen. Luxemburg. Sie wiederholt nackte Worte, ohne sich zu bemühen ihren konkreten Sinn zu begreifen. Sie rückt Schreckensgespenste vor, ohne die reale Lage des Streites kennen zu lernen. Sie schiebt mir Gemeinplätze, allgemeine Prinzipien, allgemeine Erwägungen, absolute Wahrheiten zu und sucht die relativen Wahrheiten, die sich auf scharf bestimmte Tatsachen beziehen und mit denen allein ich operiere, totzuschweigen Und sie klagt noch über Schablone. Sie beruft sich dabei auf Marx' Dialektik. Und gerade der Artikel der geehrten Genossin enthält ausschließlich erdichtete Schablone, gerade ihr Artikel widerspricht dem ABC der Dialektik. Dies ABC besagt, dass es keine abstrakte Wahrheit gibt, die Wahrheit ist immer konkret. Gen. Rosa Luxemburg ignoriert majestätisch die konkreten Tatsachen unseres Parteikampfs und deklamiert großmütig über Fragen die unmöglich ernst diskutiert werden können. Ich führe noch ein letztes Beispiel aus dem zweiten Artikel der Gen. Luxemburg an. Sie zitiert meine Worte darüber, dass die oder jene Fassung eines Organisationsstatuts als ein mehr oder weniger scharfes Kampfmittel gegen den Opportunismus dienen kann. Über welche Fassungen sprach ich in meinem Buch und sprachen wir alle auf dem Parteitag darüber sagt Rosa Luxemburg kein Wort. Welche Polemik auf dem Parteitag geführt wurde, gegen wen rückte ich meine Grundsätze vor, das geht die Genossin gar nicht an. Dagegen geruht sie mir eine ganze Vorlesung über den Opportunismus … in den parlamentarischen Ländern vorzuhalten!! Aber die besondere, spezifische Artung des Opportunismus, die Nuancen, die er bei uns in Russland angenommen hat, und mit denen ich mich in meinem Buch beschäftige, darüber finden wir kein Wort in dem Artikel der Genossin. Die Schlussfolgerung, aller dieser hoch geistreichen Auseinandersetzung ist die: «Das Parteistatut soll nicht etwa (?? verstehe, wer kann) eine Waffe zur Abwehr des Opportunismus sein, sondern bloß ein äußeres Machtmittel zur Ausübung des maßgebenden Einflusses der tatsächlich vorhandenen revolutionär-proletarischen Majorität der Partei». Sehr richtig. Aber wie gestaltete sich die tatsächlich vorhandene Majorität unserer Partei, darüber schweigt Rosa Luxemburg und gerade darüber spreche ich in meinem Buch. Sie schweigt auch darüber, welchen Einfluss ich und Plechanow mit diesem äußern Machtmittel verteidigt haben. Ich kann nur hinzufügen, dass ich niemals und nirgends über einen solchen Unsinn, wie das Parteistatut eine Waffe «an sich» sprach.

Die richtigste Antwort auf eine solche Art und Weise, meine Ansichten zu erläutern, wäre die konkreten Tatsachen unseres Parteikampfs wiederzugeben. Da wird einem jeden klar, wie hübsch solche abstrakten Gemeinplätze und Schablone der Gen. Luxemburg mit den konkreten Tatsachen kontrastieren.

Unsere Partei wurde im Frühling 1898 in Russland auf dem Kongress der Vertreter einiger russischen Organisationen gegründet. Die Partei wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands genannt, als Zentralorgan der Partei wurde die «Rabotschaja Gaseta» (Arbeiterzeitung) ernannt; der Verein der russischen Sozialdemokraten im Auslande wurde zum ausländischen Vertreter der Partei. Sehr bald nach dem Parteitag wurde das Zentralkomitee der Partei von der Polizei verhaftet. Die «Rabotschaja Gaseta» musste nach der zweiten Nummer zu erscheinen aufhören. Die ganze Partei wurde zum formlosen Konglomerat der Lokalorganisationen die Komitees genannt wurden. Das einzige Bindemittel, das diese Lokalkomitees vereinigte, war das ideale, rein geistige Bündnis. Es musste notwendig wieder die Periode des Auseinandergehen, hin und her Schwanken und Spaltungen eintreten. Die Gebildeten, die ein viel größeres Prozent unserer Arbeiterpartei im Vergleich zu den westeuropäischen Parteien ausmachen, begeisterten sich für den Marxismus, wie für eine neue Mode. Diese Begeisterung hat sehr bald dem sklavischen Niederbeugen vor der bürgerlichen Kritik Marx’ einerseits und der rein professionalen Arbeiterbewegung (Streikismus-Ökonomismus) anderseits Platz gemacht. Das Auseinandergehen des intellektuell-opportunistischen und proletarisch-revolutionären Richtungen brachte zur Spaltung des ausländischen «Vereins». Die Zeitung «Rabotschaja Mysl» (Arbeitergedanke) und die ausländische Zeitschrift «Rabotscheje Djelo» (Arbeitersache, die letzte etwas schwächer) vertraten den Standpunkt des Ökonomismus, erniedrigten den politischen Kampf, verneinten die Elemente einer bürgerlichen Demokratie in Russland. Die «legalen» Kritiker von Marx, die Herren Struve, Tugan-Baranowski, Bulgakow, Berdjajew u. a. m. gingen ganz nach rechts über. Nirgends in Europa finden wir, dass das Bernsteinianertum so rasch zu seinem logischen Ende, zur Bildung einer liberalen Fraktion gelangte, wie es bei uns in Russland der Fall war. Bei uns fing Hr. Struve im Namen des Bernsteinianertum mit der «Kritik» an und endete mit der Bildung einer liberalen Zeitschrift «Oswoboschdjenije», liberalen im europäischen Sinne dieses Wortes. Die aus dem ausländischen Verein ausgetretenen Plechanow und seine Freunde wurden von den Gründern der «Iskra» und «Sarja» unterstützt. Diese zwei Zeitschriften führten (darüber hat sogar Gen. Rosa Luxemburg etwas gehört) eine «dreijährige glänzende Kampagne» gegen den opportunistischen Flügel der Partei, eine Kampagne der sozialdemokratischen «Montagne» gegen die sozialdemokratische «Gironde» (das ist der Ausdruck der alten «Iskra»), einen Feldzug gegen «Rabotscheje Djelo» (Gen. Kritschewski, Akimow, Martynow u. a.), gegen den jüdischen «Bund», gegen die russischen Organisationen, die sich für diese Richtung begeisterten (da kommen zuerst die Petersburger sogen. Arbeiterorganisation und das Komitee von Woronesch in Bezug).

Es wurde immer mehr und mehr klar, dass das rein ideale Bündnis zwischen den Komitees schon ungenügend sei. Immer dringlicher äußerte sich das Bedürfnis eine tatsächlich geschlossene Partei zu bilden, das heißt das zu vollführen, was im Jahre 1898 nur angedeutet wurde. Endlich zum Schluss des Jahres 1902 bildete sich ein Organisationskomitee, das sich die Aufgabe machte den II. Parteitag zusammenzurufen. In diesem Organisationskomitee, das hauptsächlich von der russischen Organisation der «Iskra» gegründet wurde, trat auch ein Vertreter des jüdischen «Bundes» ein. Im Herbst 1903 kam endlich der zweite Parteitag zu stände; er endete einerseits mit der formellen Einigung der Partei, anderseits mit der Spaltung auf die «Majorität» und die «Minorität». Diese letzte Teilung existierte nicht vor dem Parteitag. Nur die detaillierte Analyse des Kampfes auf dem Parteitag kann diese Teilung erklären. Leider weichen die Anhänger der Minorität (inklusive Gen. Luxemburg) dieser Analyse ängstlich aus.

In meinem Buch, das so eigentümlich von der Gen. Luxemburg den deutschen Lesern wiedergegeben ist, widme ich mehr als 100 Seiten einer durchgehender Forschung der Parteitagsprotokolle (die in einem ca. 400 S. starken Buch abgedruckt sind). Diese Analyse zwang mich die Delegierten, oder besser gesagt die Stimmen (wir hatten Delegierte mit einer oder zwei Stimmen) in vier Grundgruppen zu teilen: 1) Die Iskristen (Anhänger der Richtung der alten «Iskra») der Majorität – 24 Stimmen, 2) die Iskristen der Minorität – 9 Stimmen, 3) das Zentrum (spottweise auch Sumpf genannt) – 10 Stimmen und endlich 4) Antiiskristen – 8 Stimmen, im Ganzen 51 Stimmen. Ich analysiere die Beteiligung dieser Gruppen bei allen Abstimmungen, die auf dem Parteitag vorgenommen wurden, und beweise, dass bei allen Fragen (des Programms, der Taktik und der Organisation) der Parteitag eine Arena des Kampfes der Iskristen gegen die Antiiskristen bei den verschiedenen Schwankungen des Sumpfes bildete. Einem jeden, der nur ein wenig mit der Geschichte unserer Partei vertraut ist, muss es klar sein, dass es auch anders nicht sein konnte. Aber alle Anhänger der Minorität (inklusive R. Luxemburg) schließen bescheiden ihre Augen vor diesem Kampf zu. Warum? Denn gerade dieser Kampf veraugenscheinlicht die Grundfalschheit der jetzigen politischen Lage der Minorität. Während des ganzen Kampfs auf dem Parteitag in Dutzenden Fragen, in Dutzenden Abstimmungen kämpften die Iskristen gegen die Antiiskristen und den Sumpf, der nur so entschiedener sich auf die Seite der Antiiskristen stellte, je konkreter die debattierte Frage war, je positiver sie die Grundfassung der sozialdemokratischen Arbeit bestimmte, je realer sie die ständigen Pläne der alten «Iskra» ins Leben zu rufen suchte. Die Antiiskristen (besonders Gen. Akimow und der immer mit ihm stimmender Delegierte der Petersburger Arbeiterorganisation Gen. Brucker, fast immer Gen. Martynow und 5 Delegierten des jüdischen «Bundes») verneinten die Anerkennung der Richtung der alten «Iskra». Sie verteidigten die alten Privatorganisationen, stimmten gegen ihre Unterwerfung der Partei, gegen ihren Zusammenschluss mit der Partei (der Inzident mit dem Organisationskomitee, die Auflösung der Gruppe des «Südarbeiters», der wichtigsten Gruppe des Sumpfes u. s. w.). Sie kämpften gegen den zentralistisch formulierten Organisationsstatut (14. Sitzung des Parteitags) und beschuldigten damals alle Iskristen, dass sie ein «organisiertes Missvertrauen», ein «Ausnahmegesetz» und dergleichen Schreckensgespenste einführen wollen. Damals lachten darüber alle Iskristen ohne Ausnahme, jetzt nimmt merkwürdiger Weise die Gen. Rosa Luxemburg diese Gespenste für etwas Ernstes an. In der großen Mehrzahl der Fragen siegten die Iskristen: sie überwiegten auf dem Parteitag, wie es auch leicht aus den erwähnten Zahlenangaben zu ersehen ist. Aber während der zweiten Hälfte der Sitzungen, als es weniger prinzipielle Fragen zu lösen war, siegten die Antiiskristen, da mit ihnen einige Iskristen stimmten. So geschah es z. B. in der Frage über die Gleichberechtigkeit aller Sprachen in unserem Programm, bei welcher Frage es den Antiiskristen beinahe gelang die Programmkommission zu stürzen und uns in der Frage der Programmfassung zu besiegen. So geschah es auch in der Frage über den ersten Paragraph des Statuts, als die Antiiskristen und der Sumpf die Fassung Martows durchgeführt haben. Nach dieser Fassung gelten als Parteimitglieder nicht nur die Mitglieder einer Parteiorganisation (eine solche Fassung verteidigten ich und Plechanow), sondern auch alle Personen, die unter der Kontrolle einer Parteiorganisation arbeiten.**

So geschah es auch in der Frage über die Wahl in das Zentralkomitee und die Redaktion des Zentralorgans. Die zusammengeschlossene Majorität bildeten 24 Iskristen; sie führten die schon lange vorher geplante Erneuerung der Redaktion durch; von den sechs früheren Redakteuren wurden drei gewählt; die Minorität bildeten 9 Iskristen, 10 Mitglieder des Zentrum und 1 Antiiskrist (die übrigen 7 Antiiskristen, die Vertreter des jüdischen «Bundes» und des «Rabotscheje Djelo» verließen schon früher den Parteitag). Diese Minorität war so mit der Wahl unzufrieden, dass sie beschloss sich von den übrigen Wahlen fernzuhalten. Gen. Kautsky hatte vollkommen recht als er in der Tatsache der Erneuerung der Redaktion den Hauptgrund des darauffolgenden Kampfes sah. Aber seine Ansicht, dass ich (sic!) drei Genossen aus der Redaktion «ausgeschlossen» habe, ist nur durch seine vollständige Unkenntnis unsern Parteitags zu erklären. Erstens ist doch eine Nicht-Wahl noch lange kein Ausschluss und ich hatte auf dem Parteitage gewiss kein Recht jemanden auszuschließen, zweitens scheint Gen. Kautsky nicht einmal zu ahnen, dass die Tatsache einer Koalition der Antiiskristen, des Zentrums und eines kleinen Teils der Anhänger der «Iskra» auch eine politische Bedeutung hatte und nicht ohne Einfluss auf das Wahlergebnis bleiben konnte. Wer nicht die Augen vor dem, was auf unserem Parteitag geschah, schließen will, der muss einsehen, dass unsere neue Teilung auf die Minorität und Majorität nur als eine Variierung der alten Teilung auf die proletarisch-revolutionäre und intellektuell-opportunistische Flügel unserer Partei erscheine. Das ist eine Tatsache, die sich weder weg interpretieren, noch weg lachen lässt.

Leider wurde nach dem Parteitag die prinzipielle Bedeutung dieser Scheidung durch ein Kooptationsgezänk getrübt. Die Minorität wollte nämlich nicht unter der Kontrolle der Zentralbehörden arbeiten, falls drei alte Redakteure nicht wieder kooptiert werden. Zwei Monate dauerte dieser Kampf. Als Kampfmittel dienten Boykott und Desorganisierung der Partei. 12 Komitees (aus den 14, die sich darüber geäußert haben) verurteilten scharf diese Kampfesmittel Die Minorität weigerte sich sogar unsern (von mir und Plechanow ausgehenden) Vorschlag anzunehmen und ihren Standpunkt auf den Seiten der «Iskra» zu besprechen. Auf den Kongress der ausländischen Liga kam es so weit, dass die Mitglieder der Zentralorgane mit persönlichen Beleidigungen, Hetzerei und Geschimpf (Selbstherrscher, Bürokraten, Gendarmen, Lügner etc. etc.) überhäuft wurden. Sie wurden beschuldigt, dass sie die individuelle Initiative unterdrücken, Kadavergehorsam, blinde Unterordnung etc. einführen wollen. Die Versuche Plechanows solch eine Kampfesweise der Minorität als eine anarchistische zu kennzeichnen konnten nicht ihr Ziel erreichen. Nach diesem Kongress trat Plechanow mit seinem epochemachenden, gegen mich geschriebenen Artikel «Was man nicht tun darf» (in Nr. 52 der «Iskra»). In diesem Artikel sagte er, dass der Kampf mit dem Revisionismus nicht notwendig einen Kampf gegen die Revisionisten bedeute; es war für jeden klar, dass er dabei an unsere Minorität dachte. Er sagte weiter, dass der individualistische Anarchismus, der so tief in dem russischen Revolutionär steckt, bisweilen nicht bekämpft werden soll; einige Zugeständnisse seien bisweilen ein besseres Mittel zu seiner Unterwerfung und zur Vermeidung einer Spaltung. Ich trat aus der Redaktion aus, da ich diese Ansicht nicht teilen konnte, und die Redakteure aus der Minorität wurden kooptiert. Darauf folgte der Kampf um die Kooptation in das Zentralkomitee. Mein Vorschlag Frieden zu schließen mit der Bedingung, dass die Minorität das Zentralorgan, die Majorität das Zentralkomitee behält, wurde abgewiesen. Der Kampf wurde weiter geführt, man kämpfte «prinzipiell» gegen den Bürokratismus, Ultrazentralismus, Formalismus, Jakobinismus, Schweitzerianismus (ich nämlich wurde russischer Schweitzer genannt) und andere Schreckensgespenste. Ich lachte alle diese Beschuldigungen in meinem Buch aus und bemerkte, dass es entweder bloß ein einfaches Kooptationsgezänk sei, oder (wenn es bedingt als «Prinzipien» anerkannt werden darf) nichts anders als opportunistische, girondistische Phrasen sei. Die heutige1 Minorität wiederholt nur das, was Gen. Akimow und andere anerkannte Opportunisten auf unserem Parteitag gegen den Zentralismus aller Anhänger der alten «Iskra» sagten.

Die russischen Komitees waren gegen diese Verwandlung des Zentralorgans in ein Organ eines Privatzirkels, Organ des Kooptationsgezänks und des Parteiklatsches empört. Mehrere Resolutionen der strengsten Verurteilung wurden angenommen. Nur die schon erwähnte sog. «Arbeiterorganisation von Petersburg» und das Komitee von Woronjesch (beide Anhänger der Richtung des Gen. Akimow) sprachen ihre prinzipielle Zufriedenheit mit der Richtung der neuen «Iskra» aus. Die Stimmen, welche die Einberufung des dritten Parteitags forderten, wurden immer zahlreicher.

Der Leser, der sich die Mühe nehmen wird, die Urquellen unseres Parteikampfs kennen zu lernen, wird leicht begreifen, dass die Äußerungen des Gen. Rosa Luxemburg über den Ultrazentralismus, über die Notwendigkeit einer stufenweisen Zentralisation u.d.m. konkret und praktisch ein Spott über unsern Parteitag sind, abstrakt und theoretisch (wenn es hier von einer Theorie die Rede sein kann) nichts, als eine Verflachung des Marxismus, als Missbrauch der wirklich Marxschen Dialektik etc. sind.

Die letzte Phase unseres Parteikampfs wird dadurch gekennzeichnet, dass die Mitglieder der Majorität teilweise aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen sind, teilweise kaltgemacht, zum Null degradiert. (Das geschah dank den Veränderungen des Bestandes des Zentralkomitees etc.). Der Parteirat (der nach der Kooptation der alten Redakteure auch in die Hände der Minorität kam) und das jetzige Zentralkomitee verurteilen jede Agitation für die Einberufung des III. Parteitags und treten auf den Weg der persönlichen Abmachungen und Verhandlungen mit einigen Mitgliedern der Minorität. Die Organisationen, die wie z. B. das Kollegium der Agenten (Vertrauensleute) des Zentralkomitees sich ein solches Verbrechen erlauben, für die Einberufung des Parteitags zu agitieren, wurden ausgelöst. Der Kampf des Parteirats und des neuen Zentralkomitees gegen die Einberufung des dritten Parteitags wurde auf der ganzen Linie proklamiert. Die Majorität antwortete auf diese Proklamierung mit der Losung: «Nieder mit dem Bonapartismus!» (so lautet der Titel einer Broschüre des Gen. Galerka, der im Namen der Majorität spricht). Es mehren sich die Resolutionen, welche die Parteibehörden, die gegen die Einberufung des Parteitags zu kämpfen sich erlauben, als parteiwidrig und bonapartistisch erklären. Wie heuchlerisch das Gerede der Minorität gegen den Ultrazentralismus, für die Autonomie war, kann leicht daraus ersehen werden, dass ein neuer Verlag der Majorität, den ich mit einem Genossen angefangen habe (wo die erwähnte Broschüre des Gen. Galerka und einige andere veröffentlicht sind) als außer der Partei stehender erklärt wurde. Der neue Verlag gibt der Majorität, da die Seiten der «Iskra» für sie so gut wie geschlossen sind, die einzige Möglichkeit ihre Ansichten zu propagieren. Und doch oder besser gesagt eben darum fasste der Parteirat den eben erwähnten Beschluss aus dem rein formellen Grunde, dass unser Verlag von keiner Parteiorganisation autorisiert worden ist.

Es braucht nicht erwähnt zu werden, wie stark die positive Arbeit vernachlässigt, wie stark die Prestige der Sozialdemokratie gefallen sind, wie stark die ganze Partei durch dieses Niederwerfen aller Beschlüsse, aller Wahlen des II. Parteitags, durch diesen Kampf, den die Parteibehörden, die der Partei Rechenschaft schuldig sind, gegen die Einberufung des III. Parteitags führen, demoralisiert ist.

* Vgl. die russische Broschüre «Unsere Missverständnisse» den Artikel «Rosa Luxemburg contra Karl Marx».

** Gen. Kautsky sprach sich für die Fassung Martows aus, er stellte sich dabei auf den Standpunkt der Zweckmäßigkeit. Erstens wurde auf unserem Parteitage dieser Punkt nicht vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit, sondern vom Standpunkt der Prinzipien beurteilt. So wurde diese Frage von Axelrod gestellt. Zweitens irrt sich Gen. Kautsky, wenn er meint, dass bei den russischen Polizeiverhältnissen so ein wesentlicher Unterschied zwischen der Angehörigkeit zu einer Parteiorganisation und bloßen Arbeiten unter der Kontrolle einer solchen Organisation existiert. Drittens ist es besonders irreführend die jetzige Lage in Russland mit der Lage Deutschlands unter dem Ausnahmegesetz zu vergleichen.

1 Die Worte «als opportunistische, girondistische Phrasen sei. Die heutige» in Lenins Handschrift eingefügt. Red.

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