Nachwort. Noch einmal die Oswoboschdjenije-Richtung. Noch einmal der Neu-Iskrismus

Nachwort. Noch einmal die Oswoboschdjenije-Richtung.

Noch einmal der Neu-Iskrismus

Die Nummern 71 und 72 des „Oswoboschdjenije" sowie 102 und 103 der „Iskra" liefern neues, überreiches Material zu der Frage, der wir den § 8 unserer Broschüre gewidmet haben. Da wir keine Möglichkeit haben, hier das ganze reiche Material auszunützen, werden wir uns nur beim wichtigsten aufhalten: erstens, welche Art von „Realismus" in der Sozialdemokratie das „Oswoboschdjenije" so überaus lobt und warum es ihn so überaus loben muss; zweitens die Wechselbeziehungen der Begriffe Revolution und Diktatur.

1. Warum loben die bürgerlich-liberalen Realisten die sozialdemokratischen „Realisten"?

Die Artikel „Die Spaltung in der russischen Sozialdemokratie" und „Ein Triumph des gesunden Menschenverstandes" (Nr. 72 des Oswoboschdjenije") sind an sich ein für jeden klassenbewussten Proletarier hervorragend wertvolles Urteil der Vertreter der liberalen Bourgeoisie über die Sozialdemokratie. Man kann jedem Sozialdemokraten nicht genug empfehlen, sich mit dem ganzen Inhalt dieser Artikel vertraut zu machen und jeden ihrer Sätze zu durchdenken. Wir werden vor allem die Hauptsätze dieser zwei Artikel bringen:

Für den außenstehenden Beobachter“ – sagt das „Oswoboschdjenije" – „ist es ziemlich schwierig, den realen politischen Sinn der Unstimmigkeit, die die Sozialdemokratie in zwei Fraktionen zerschlagen hat, zu erfassen. Die Erklärung, dass die Fraktion der ,Mehrheit' die radikalere und geradlinigere sei, zum Unterschied von der ,Minderheit', die im Interesse der Sache einige Kompromisse zulasse, ist nicht ganz genau und stellt jedenfalls keine erschöpfende Charakteristik dar. Wenigstens hütet die Fraktion der Minderheit die traditionellen Dogmen der marxistischen Orthodoxie vielleicht noch mit größerer Eifersucht als Lenins Fraktion. Genauer erscheint uns die folgende Charakteristik. Die politische Grundstimmung der ,Mehrheit' bilden der abstrakte Revolutionarismus, der Aufruhr, das Bestreben, mit allen irgendwie geeigneten Mitteln den Aufstand der Volksmassen herbeizuführen und in ihrem Namen sofort die Macht zu ergreifen; dies bringt die Anhänger Lenins bis zu einem gewissen Maße den Sozialrevolutionären näher und verdrängt bei ihnen die Idee des Klassenkampfes durch die Idee der allgemeinen russischen Revolution. Während sich die Anhänger Lenins einerseits in ihrer Praxis von vielen engherzigen sozialdemokratischen Doktrinen freimachen, sind sie anderseits von der Engherzigkeit des Revolutionarismus vollkommen durchtränkt, kehren sich von jeder anderen praktischen Arbeit außer der Vorbereitung des sofortigen Aufstandes ab, ignorieren grundsätzlich alle Formen der legalen und halblegalen Agitation und alle Formen praktisch-natürlicher Kompromisse mit anderen oppositionellen Richtungen. Die Minderheit dagegen hält am marxistischen Dogma fest, bewahrt sich aber zugleich die realistischen Elemente der marxistischen Weltanschauung. Die Grundidee dieser Fraktion ist die Gegenüberstellung der Interessen des Proletariats und der Interessen der Bourgeoisie. Aber über den Kampf des Proletariats denkt sie – selbstverständlich in den bestimmten Grenzen, die von den unerschütterlichen Dogmen der Sozialdemokratie gezogen sind – realistisch nüchtern, mit klarer Erkenntnis aller konkreten Bedingungen und Aufgaben dieses Kampfes. Beide Fraktionen führen ihren grundlegenden Standpunkt nicht ganz konsequent durch, da sie in ihrer ideell-politischen Tätigkeit an die strengen Formeln des sozialdemokratischen Katechismus gebunden sind, die die Anhänger Lenins hindern, geradlinige Aufrührer wenigstens nach dem Muster einiger Sozialrevolutionäre zu werden, und es den Anhängern der ,Iskra' verwehren, praktische Führer der realen politischen Bewegung der Arbeiterklasse zu werden."

Der Artikelschreiber des „Oswoboschdjenije" führt dann den Inhalt der hauptsächlichsten Resolutionen an und erläutert durch einige konkrete Bemerkungen zu ihnen seine allgemeinen „Gedanken". „Im Vergleich zum 3. Parteitag", sagt er, „verhält sich die Konferenz der Minderheit ganz anders zum bewaffneten Aufstand." Der Unterschied in den Resolutionen über die provisorische Regierung stehe „mit der Haltung zum bewaffneten Aufstand in Verbindung". „Eine ebensolche Meinungsverschiedenheit stellt sich auch über die Gewerkschaftsverbände heraus. Die Anhänger Lenins haben in ihren Resolutionen über diesen wichtigsten Ausgangspunkt für die politische Erziehung und Organisation der Arbeiterklasse kein Wort verloren. Die Minderheit dagegen hat eine sehr ernste Resolution ausgearbeitet." Gegenüber den Liberalen seien beide Fraktionen sozusagen einig. Aber der 3. Parteitag „wiederholt fast wörtlich die vom 2. Parteitag angenommene Resolution Plechanows über das Verhältnis zu den Liberalen und lehnt die auf demselben Parteitag angenommene, den Liberalen gegenüber wohlwollendere Resolution des Herrn Starowjer ab". Bei sonstiger allgemeiner Gleichartigkeit der Resolutionen des Parteitages und der Konferenz über die Bauernbewegung „unterstreicht die ,Mehrheit' doch mehr die Idee der ,revolutionären Konfiskation der Großgrundbesitze und anderer Ländereien', während die ,Minderheit' die Forderung demokratischer Reformen in Staat und Verwaltung zur Grundlage ihrer Agitation machen will".

Endlich zitiert das „Oswoboschdjenije" aus der Nr. 100 der „Iskra" eine menschewistische Resolution, deren Hauptpunkt lautet:

In Anbetracht dessen, dass heutzutage die illegale Arbeit allein keine genügende Garantie für die Beteiligung der Massen am Parteileben bietet und teilweise dazu führt, dass die Masse als solche der Partei als illegaler Organisation entgegengestellt wird, muss die Partei die Führung des gewerkschaftlichen Kampfes der Arbeiter auf legaler Grundlage in die Hände nehmen, wobei dieser Kampf streng mit den Aufgaben der Sozialdemokratie eng verbunden werden muss."

Angesichts dieser Resolution ruft das „Oswoboschdjenije" aus: „Wir begrüßen diese Resolution aufs Wärmste als einen Triumph des gesunden Menschenverstandes, als taktische Erleuchtung eines bestimmten Teiles der sozialdemokratischen Partei."1

Jetzt hat der Leser alle wesentlichen Betrachtungen des „Oswoboschdjenije" vor sich. Natürlich wäre es der größte Irrtum, diese Betrachtungen in dem Sinne für richtig zu halten, dass sie der objektiven Wahrheit entsprechen. Jeder beliebige Sozialdemokrat wird in ihnen mit Leichtigkeit auf Schritt und Tritt Fehler finden. Es wäre eine Naivität, zu vergessen, dass alle diese Betrachtungen von den Interessen und dem Standpunkte der liberalen Bourgeoisie durchtränkt und in diesem Sinne durch und durch parteiisch und tendenziös sind. Sie widerspiegeln die Ansichten der Sozialdemokratie ebenso, wie ein gebogener oder gewölbter Spiegel Gegenstände widerspiegelt. Es wäre aber ein noch größerer Irrtum, zu vergessen, dass diese im Sinne der Bourgeoisie entstellten Beurteilungen letzten Endes die wirklichen Interessen der Bourgeoisie widerspiegeln, die als Klasse zweifellos richtig versteht, welche Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie für sie, die Bourgeoisie, vorteilhaft, welche ihr nahe, verwandt und sympathisch und welche ihr schädlich, fern, fremd, antipathisch sind. Ein bürgerlicher Philosoph oder ein bürgerlicher Publizist wird die Sozialdemokratie nie richtig verstehen, weder die menschewistische noch die bolschewistische Sozialdemokratie. Wenn es aber ein auch nur einigermaßen vernünftiger Publizist ist, so wird ihn sein Klasseninstinkt nicht trügen und er wird die Bedeutung der einen oder der anderen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie für die Bourgeoisie immer im Wesen richtig erfassen, obschon er sie verkehrt darstellen wird. Der Klasseninstinkt unseres Feindes und die Beurteilungen, die er von seinem Klassenstandpunkt aus gibt, verdienen daher stets die ernsteste Aufmerksamkeit jedes klassenbewussten Proletariers.

Was sagt uns nun der Klasseninstinkt der russischen Bourgeoisie durch den Mund des „Oswoboschdjenije"?

Er drückt in äußerst bestimmter Weise seine Freude über die Tendenzen des Neu-Iskrismus aus, indem er ihn wegen seines Realismus, seiner Nüchternheit und wegen des Triumphes des gesunden Menschenverstandes bei ihm, ferner wegen des Ernstes seiner Resolutionen, wegen seiner taktischen Erleuchtung und seines praktischen Sinnes usw. lobt, und er drückt seinen Unwillen über die Tendenzen des 3. Parteitages aus, indem er ihn wegen seiner Engherzigkeit, seines Revolutionarismus, seines Aufrührertums und wegen seiner Ablehnung praktisch-nützlicher Kompromisse usw. tadelt. Der Klasseninstinkt der Bourgeoisie diktiert ihr gerade dasselbe, was in unserer Literatur schon wiederholt durch genaue Angaben bewiesen wurde: dass die Neu-Iskristen den opportunistischen und ihre Gegner den revolutionären Flügel der heutigen russischen Sozialdemokratie bilden. Die Liberalen können nicht umhin, mit den Tendenzen der ersteren zu sympathisieren und die Tendenzen der zweiten zu tadeln. Als Ideologen der Bourgeoisie verstehen die Liberalen sehr gut, dass für die Bourgeoisie „der praktische Sinn, die Nüchternheit, der Ernst der Arbeiterklasse", d.h. die faktische Begrenzung ihres Tätigkeitsgebietes durch den Rahmen des Kapitalismus, auf Reformen, den gewerkschaftlichen Kampf usw. von Vorteil ist. Der Bourgeoisie ist die „revolutionaristische Engherzigkeit" des Proletariats und sein Bestreben, im Namen seiner Klassenaufgaben die führende Rolle in der russischen Volksrevolution zu erreichen, gefährlich und schrecklich.

Dass das Wort „Realismus" in seiner Anwendung durch das „Oswoboschdjenije" wirklich diesen Sinn hat, ersieht man unter anderem aus der früheren Anwendung dieses Wortes durch das „Oswoboschdjenije" und Herrn Struve. Die „Iskra" selbst konnte nicht umhin, diese Bedeutung des „Realismus" der Oswoboschdjenije-Richtung zuzugeben. Man erinnere sich z.B. an den Artikel „Es ist Zeit" in der Beilage zu Nr. 73/74 der „Iskra". Der Verfasser dieses Artikels (ein konsequenter Vertreter der Ansichten des „Sumpfes" auf dem 2. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands) sagte direkt, dass „Akimow auf dem Parteitag eher die Rolle eines Gespenstes des Opportunismus als die seines wirklichen Vertreters gespielt hat". Und die Redaktion der „Iskra" musste den Verfasser des Artikels „Es ist Zeit" auf der Stelle korrigieren, indem sie in einer Anmerkung erklärte:

Dieser Meinung kann man nicht zustimmen. Die programmatischen Ansichten des Genossen Akimow tragen unverkennbar den Stempel des Opportunismus, was auch der Kritiker des ,Oswoboschdjenije' in einer seiner letzten Nummern zugibt, indem er bemerkt, dass Genosse Akimow zur realistischen, lies: revisionistischen, Richtung gehöre."

Also weiß die „Iskra" selbst sehr gut, dass der „Realismus" des „Oswoboschdjenije" eben Opportunismus ist und nichts anderes. Wenn sie jetzt bei ihren Angriffen gegen den „liberalen Realismus" (Nr. 102, „Iskra")2 verschweigt, wie sie wegen ihres eigenen Realismus von den Liberalen gelobt wurde, so erklärt sich dieses Schweigen dadurch, dass solche Lobpreisungen bitterer schmecken als jeder Tadel. Solche Lobpreisungen (die im „Oswoboschdjenije" nicht zufällig und nicht zum ersten Mal ausgesprochen worden sind) beweisen in Wirklichkeit die Verwandtschaft des liberalen Realismus mit jenen Tendenzen des sozialdemokratischen „Realismus" (lies: Opportunismus), die infolge der Fehlerhaftigkeit der ganzen taktischen Position der Neu-Iskristen in jeder ihrer Resolutionen durchschimmern.

In Wirklichkeit hat die russische Bourgeoisie in der „allgemeinen Volksrevolution" ihre Inkonsequenz und ihren Eigennutz bereits voll aufgezeigt, und zwar sowohl in den Betrachtungen des Herrn Struve als auch durch den ganzen Ton und Inhalt einer Menge liberaler Zeitungen und durch den Charakter der politischen Reden vieler Semstwo-Männer, vieler Intellektuellen, überhaupt aller Anhänger der Herren Trubezkoi, Petrunkjewitsch, Roditschew und Komp. Die Bourgeoisie versteht freilich nicht immer klar, aber im Großen und Ganzen erfasst sie mit ihrem Klasseninstinkt ausgezeichnet das eine, dass das Proletariat und das „Volk" ihr einerseits in ihrer Revolution als Kanonenfutter, als Mauerbrecher gegen die Selbstherrschaft nützlich, dass anderseits aber das Proletariat und die revolutionäre Bauernschaft für sie von großer Gefahr sind. Nämlich dann, wenn sie den „entscheidenden Sieg über den Zarismus" erringen und die demokratische Revolution zu Ende führen. Deshalb strebt die Bourgeoisie mit allen Kräften danach, dass sich das Proletariat mit einer „bescheidenen Rolle" in der Revolution zufrieden gebe, dass es nüchterner, praktischer, realistischer sei und seine Tätigkeit durch das Prinzip bestimmt werde, „… dass die Bourgeoisie nur nicht abschwenke".

Die intellektuellen Bourgeois wissen sehr gut, dass sie sich die Arbeiterbewegung nicht vom Halse schaffen werden. Deshalb treten sie gar nicht gegen die Arbeiterbewegung oder gegen den Klassenkampf des Proletariats auf, sie erweisen sogar der Streikfreiheit und dem kultivierten Klassenkampf ihre Reverenz, indem sie die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf im Brentanoschen oder Hirsch-Dunckerschen Sinne auffassen. Mit anderen Worten, sie sind ganz und gar bereit, den Arbeitern, die (faktisch von ihnen schon selbst beinahe errungene) Streik- und Koalitionsfreiheit „zuzugestehen", nur damit sich die Arbeiter vom „Aufrührertum", vom „beschränkten Revolutionarismus", von der Feindschaft gegen die „praktisch-nützlichen Kompromisse", von den Ansprüchen und Bestrebungen lossagen, der „allgemeinen russischen Volksrevolution" den Stempel ihres Klassenkampfes, den Stempel der proletarischen Konsequenz, der proletarischen Entschiedenheit und des „plebejischen Jakobinertums" aufzudrücken. Die intellektuellen Bourgeois ganz Russlands suchen daher durch tausend Mittel und Wege – Bücher*, Vorlesungen, Reden, Diskussionen usw. – den Arbeitern mit allen Kräften die Ideen der (bürgerlichen) Nüchternheit, des (liberalen) praktischen Sinns, des (opportunistischen) Realismus, des (Brentanoschen) Klassenkampfes, der (Hirsch-Dunckerschen) Gewerkschaftsverbände usw. beizubringen. Die beiden letzten Losungen sind für die Bourgeois der „konstitutionell-demokratischen" Partei oder der Partei des „Oswoboschdjenije" besonders vorteilhaft, weil sie äußerlich mit den marxistischen übereinstimmen und weil man sie, wenn man ein Weniges verschweigt und nicht viel verdreht, leicht mit den sozialdemokratischen Losungen in einen Topf werfen, ja unter Umständen sogar als sozialdemokratische ausgeben kann. Da ist z.B. die legale liberale Zeitung „Rasswjet" (über die wir uns mit den Lesern des „Proletarij" noch einmal ausführlich unterhalten wollen), die über den Klassenkampf, über den möglichen Betrug des Proletariats durch die Bourgeoisie, über die Arbeiterbewegung, die Selbsttätigkeit des Proletariats usw. nicht selten derart „kühne" Dinge schreibt, dass ein unaufmerksamer Leser und ein noch zurückgebliebener Arbeiter ihren „Sozialdemokratismus" leicht für bare Münze nehmen wird. In Wirklichkeit aber ist er eine bürgerliche Zurechtstutzung der sozialdemokratischen Ideen, eine opportunistische Verdrehung und Entstellung des Begriffs des Klassenkampfes.

Dieser (nach dem Umfang der Einwirkung auf die Massen) gigantischen Unterschiebung liegt die Tendenz zugrunde, die Arbeiterbewegung im Wesentlichen auf die Gewerkschaftsbewegung zu beschränken, sie von einer selbständigen (d.h. revolutionären und auf die demokratische Diktatur gerichteten) Politik fernzuhalten, „im Bewusstsein der Arbeiter die Idee der allgemeinen russischen Volksrevolution durch die Idee des Klassenkampfes zu verdrängen".

Wie der Leser sieht, haben wir die Formulierung des „Oswoboschdjenije" auf den Kopf gestellt. Es ist eine prachtvolle Formulierung, die die zwei Ansichten über die Rolle des Proletariats in der demokratischen Revolution, die bürgerliche und die sozialdemokratische Ansicht, ausgezeichnet zum Ausdruck bringt. Die Bourgeoisie will das Proletariat auf die Gewerkschaftsbewegung beschränken und damit „im Bewusstsein des Proletariats die Idee der allgemeinen russischen Volksrevolution durch die (Brentanosche) Idee des Klassenkampfes verdrängen" – ganz im Geiste der bernsteinianischen Verfasser des „Credo", das im Bewusstsein der Arbeiter die Idee des politischen Kampfes durch die Idee der „reinen Arbeiter"-Bewegung verdrängte. Die Sozialdemokratie dagegen will den Klassenkampf des Proletariats bis zu seiner führenden Teilnahme an der allgemeinen russischen Volksrevolution steigern, d.h. diese Revolution bis zur demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft führen.

Wir haben eine allgemeine Volksrevolution, sagt die Bourgeoisie dem Proletariat, deshalb musst du dich, als besondere Klasse, auf deinen Klassenkampf beschränken, musst im Namen des „gesunden Menschenverstandes" deine Hauptaufmerksamkeit auf die Gewerkschaftsverbände und ihre Legalisierung richten. Du musst gerade diese Gewerkschaftsverbände als den „wichtigsten Ausgangspunkt deiner politischen Erziehung und Organisation" betrachten, musst in einem revolutionären Moment hauptsächlich „ernsthafte" Resolutionen in der Art der neu-iskristischen verfassen und die Resolutionen, die „gegenüber den Liberalen wohlwollender" sind, sorgfältig behandeln. Du musst solchen Führern den Vorzug geben, die die Tendenz haben, „praktische Führer der realen politischen Bewegung der Arbeiterklasse zu werden", und dir „die realistischen Elemente der marxistischen Weltanschauung bewahren" (wenn du schon bedauerlicherweise von den „strengen Formeln" dieses „unwissenschaftlichen" Katechismus angesteckt worden bist).

Die Revolution ist bei uns eine allgemeine Volksrevolution, sagt die Sozialdemokratie dem Proletariat. Deshalb musst du, als die fortgeschrittenste und einzige konsequent revolutionäre Klasse, nicht nur die energischste, sondern auch die führende Beteiligung an ihr erstreben. Deshalb darfst du dich nicht in den eng und hauptsächlich im Sinne der Gewerkschaftsbewegung aufgefassten Rahmen des Klassenkampfes einschließen, sondern musst im Gegenteil danach streben, den Rahmen und den Inhalt deines Klassenkampfes so weit auszudehnen, dass er nicht nur alle Aufgaben der gegenwärtigen demokratischen, allgemeinen russischen Volksrevolution, sondern auch die Aufgaben der künftigen sozialistischen Revolution umfasst. Deshalb musst du, ohne die Gewerkschaftsbewegung zu ignorieren und ohne selbst auf die geringste legale Möglichkeit zu verzichten, in der Epoche der Revolution die Aufgaben des bewaffneten Aufstandes, die Bildung einer revolutionären Armee und einer revolutionären Regierung als einzigen Weg zum vollen Sieg des Volkes über den Zarismus, zur Eroberung der demokratischen Republik und einer wirklichen politischen Freiheit in den Vordergrund rücken.

Es erübrigt sich, davon zu sprechen, welche ungenügende, inkonsequente und der Bourgeoisie natürlich sympathische Position die neu-iskristischen Resolutionen dank ihrer falschen „Linie" in dieser Frage bezogen haben.

2. Eine neue „Vertiefung" der Frage durch Genossen Martynow

Gehen wir zu den Artikeln Martynows in Nr. 102 und 103 der „Iskra"3 über. Selbstverständlich werden wir auf die Versuche Martynows, die Unrichtigkeit unserer und die Richtigkeit seiner Deutungen einer Reihe von Zitaten von Engels und Marx nicht eingehen. Diese Versuche sind dermaßen unernst, die Ausflüchte Martynows so offensichtlich und die Frage ist so klar, dass es nicht interessant wäre, sich noch einmal bei ihr aufzuhalten. Jeder denkende Leser wird die primitiven Klügeleien des Martynowschen Rückzuges auf der ganzen Linie leicht selbst durchschauen, besonders wenn die vollständigen Übersetzungen der Broschüre von Engels „Die Bakunisten an der Arbeit" und von Marx' „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund" (der Kommunisten) vom März 1850, die von den Mitarbeitern des „Proletarij" vorbereitet werden, erscheinen werden. Es genügt, aus dem Artikel Martynows nur ein Zitat anzuführen, um dem Leser seinen Rückzug zu veranschaulichen.

Die ,Iskra' erkennt“ – sagt Martynow in der Nummer 103 – „die Errichtung einer provisorischen Regierung als einen der möglichen und zweckmäßigen Entwicklungswege der Revolution an und verneint die Zweckmäßigkeit der Beteiligung der Sozialdemokraten an einer bürgerlichen provisorischen Regierung eben im Interesse der künftigen vollständigen Eroberung der Staatsmaschinerie zur Durchführung der sozialdemokratischen Umwälzung."

Mit anderen Worten: die „Iskra" hat die Unsinnigkeit aller ihrer Ängste vor der Verantwortung der revolutionären Regierung für die Staatskasse und die Banken, vor der Gefahr und der Unmöglichkeit, die „Gefängnisse" in ihre Hände zu nehmen usw. eingesehen. Die „Iskra" verwechselt bloß nach wie vor die demokratische und die sozialistische Diktatur. Diese Konfusion ist unvermeidlich, um den Rückzug zu decken.

Unter den Wirrköpfen der neuen „Iskra" ragt Martynow als ein Wirrkopf ersten Ranges, als ein, mit Verlaub zu sagen, talentierter Wirrkopf hervor. Durch seine Anstrengungen, die Frage zu „vertiefen", verwirrt er sie immer mehr, und bei seinem „Durchdenken" gelangt er fast immer zu neuen Formulierungen, die die Falschheit seiner Position ausgezeichnet beleuchten. Man erinnere sich, wie er in der Epoche des „Ökonomismus" Plechanow „vertiefte" und die Formel schuf: „ökonomischer Kampf gegen die Unternehmer und die Regierung." Man wird in der ganzen Literatur der Ökonomisten schwerlich einen gelungeneren Ausdruck der ganzen Falschheit dieser Richtung finden. So auch jetzt. Martynow dient eifrig der neuen „Iskra" und fast jedes Mal, wenn er das Wort ergreift, bietet er uns neues und prachtvolles Material zur Beurteilung der falschen Position der neuen „Iskra". In Nummer 102 sagt er, dass Lenin „auf unmerkliche Weise die Begriffe Revolution und Diktatur vertauscht hat". (Seite 3, 2. Spalte.)

Auf diese Anschuldigung laufen eigentlich alle Anschuldigungen der Neu-Iskristen gegen uns hinaus. Und wie dankbar sind wir Martynow für diese Beschuldigung! Welch unschätzbaren Dienst erweist er uns im Kampf gegen den Neu-Iskrismus, wenn er der Beschuldigung eine solche Formulierung gibt! Wir sollten die Redaktion der neuen „Iskra" wirklich bitten, Martynow möglichst öfter zur „Vertiefung" der Angriffe gegen den „Proletarij" und zur „wahrhaft-prinzipiellen" Formulierung dieser Angriffe gegen uns loszulassen. Denn je prinzipieller Martynow zu urteilen bemüht ist, um so schlimmer geht die Sache bei ihm aus, um so deutlicher zeigt er die Blößen des Neu-Iskrismus auf und mit um so größerem Erfolg führt er an sich und seinen Freunden die nützliche pädagogische Operation des reductio ad absurdum durch (führt er die Prinzipien der neuen „Iskra" ad absurdum).

Der „Wperjod" und der „Proletarij" „verwechseln" die Begriffe der Revolution und der Diktatur. Die „Iskra" will eine solche „Verwechselung" nicht. So ist es eben, verehrtester Genosse Martynow! Sie haben zufällig eine große Wahrheit ausgesprochen. Sie haben durch eine neue Formulierung unsere These bestätigt, dass die „Iskra" hinter der Revolution hertrottet und sich zu den vom „Oswoboschdjenije" gegebenen Formulierungen ihrer Aufgaben verirrt. Der „Wperjod" und der „Proletarij" dagegen geben Losungen heraus, die die demokratische Revolution vorwärts führen.

Das ist Ihnen unverständlich, Genosse Martynow? In Anbetracht der Wichtigkeit der Frage werden wir uns bemühen, Ihnen eine ausführliche Erläuterung zu geben.

Der bürgerliche Charakter der demokratischen Revolution zeigt sich u. a. darin, dass eine ganze Reihe von Gesellschaftsklassen, Gruppen und Schichten, die durchaus auf dem Boden der unbedingten Anerkennung des Privateigentums und der Warenwirtschaft stehen und nicht imstande sind, über diesen Rahmen hinauszugehen, unter dem Druck der Verhältnisse die Untauglichkeit des Absolutismus und der ganzen feudalen Ordnung einsehen und sich dem Verlangen nach Freiheit anschließen. Dabei tritt der bürgerliche Charakter der Freiheit, die von der „Gesellschaft" gefordert und von den Großgrundbesitzern und Kapitalisten mit einem Strom von Worten (aber nur Worten!) verteidigt wird, immer klarer zutage. Zugleich wird auch der fundamentale Unterschied zwischen dem Kampf der Arbeiter und dem bürgerlichen Kampf für die Freiheit, zwischen dem proletarischen und dem liberalen Demokratismus immer anschaulicher. Die Arbeiterklasse und ihre bewussten Vertreter gehen vorwärts und treiben diesen Kampf vorwärts, wobei sie nicht nur keine Angst davor haben, diesen Kampf zu Ende zu führen, sondern sogar noch viel weiter streben, als selbst das weitest gesteckte Ziel der demokratischen Revolution reicht. Die Bourgeoisie ist inkonsequent und eigennützig und greift die Losungen der Freiheit nur zum Teil und heuchlerisch auf. Jedwede Versuche, durch eine besondere Linie, durch besonders ausgearbeitete „Punkte" (in der Art der Resolutionspunkte Starowjers oder der Konferenzler) die Grenzen festzusetzen, jenseits welcher die Heuchelei der bürgerlichen Freiheitsfreunde oder, wenn man will, der Verrat der Freiheit durch ihre bürgerlichen Freunde beginnt, sind unvermeidlich zum Scheitern verurteilt, weil die Bourgeoisie, die sich zwischen zwei Feuern (Absolutismus und Proletariat) befindet, tausend Mittel und Wege weiß, ihre Position und ihre Losungen zu wechseln, sich dabei um einen Zoll mehr nach links und um einen Zoll mehr nach rechts anzupassen und stets zu markten und zu maklern. Die Aufgabe des proletarischen Demokratismus besteht nicht in der Ersinnung solcher toten „Punkte", sondern in der unermüdlichen Kritik an der sich herausbildenden politischen Situation und in der Bloßlegung der immer wieder sich zeigenden, nicht vorausgesehenen Fälle von Inkonsequenz und Verrat der Bourgeoisie.

Man erinnert sich an die Geschichte des politischen Auftretens des Herrn Struve in der illegalen Literatur, an die Geschichte des Kampfes der Sozialdemokratie gegen ihn, und man wird anschaulich sehen, wie die Sozialdemokratie, die Streiterin für den proletarischen Demokratismus, diese Aufgaben erfüllt hat. Herr Struve begann mit der rein Schipowschen Losung: „Rechte und ein mächtiges Semstwo" (siehe meinen Artikel in der „Sarja": „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus". Die Sozialdemokratie entlarvte ihn und stieß ihn vorwärts zu einem ausgesprochen konstitutionalistischen Programm. Als sich diese „Stöße" dank dem raschen Gang der revolutionären Ereignisse auswirkten, ging der Kampf um die folgende Frage des Demokratismus: Nicht nur eine Konstitution schlechtweg, sondern unbedingt das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht mit geheimer Stimmabgabe. Als wir auch diese neue Position des „Feindes" (die Annahme des allgemeinen Wahlrechts durch den Oswoboschdjenije-Bund „erobert" hatten, begannen wir weiter zu drängen. Wir zeigten die Heuchelei und den Schwindel des Zweikammersystems sowie die Unvollständigkeit der Anerkennung des allgemeinen Wahlrechts durch die Oswoboschdjenije-Leute auf und bewiesen an ihrem Monarchismus den Maklercharakter ihres Demokratismus oder, mit anderen Worten, den Schacher, den diese Oswoboschdjenije-Helden des Geldsacks mit den Interessen der großen russischen Revolution trieben.

Die verbohrte Hartnäckigkeit des Absolutismus, der gigantische Fortschritt des Bürgerkrieges und die hoffnungslose Lage, in die die Monarchisten Russland gebracht hatten, brachten schließlich auch die begriffsstutzigen Köpfe zur Vernunft. Die Revolution wurde zur Tatsache. Man brauchte nicht mehr Revolutionär zu sein, um die Revolution anzuerkennen. Die absolutistische Regierung zersetzte sich tatsächlich und zersetzt sich noch vor aller Augen. Wie ein Liberaler (Herr Gredeskul) in einer legalen Zeitung mit Recht bemerkte, entstand eine faktische Unbotmäßigkeit4 gegenüber dieser Regierung. Trotz seiner scheinbaren Macht erwies sich der Absolutismus als machtlos, die Ereignisse der fortschreitenden Revolution beginnen den bei lebendigem Leibe zerfallenden parasitären Organismus einfach beiseite zu schieben. Gezwungen, sich mit ihrer Tätigkeit (richtiger gesagt: mit ihren politischen Geschäften) auf den Boden der tatsächlichen Verhältnisse zu stellen, sind die liberalen Bourgeois in die Zwangslage gekommen, die Revolution anzuerkennen. Sie tun das nicht, weil sie Revolutionäre sind, sondern trotzdem sie keine Revolutionäre sind. Sie tun das notgedrungen und gegen ihren Willen, sehen mit Ingrimm die Erfolge der Revolution und beschuldigen den Absolutismus des Revolutionarismus, weil er keinen Kompromiss will, sondern den Kampf auf Leben und Tod. Als geborene Krämer hassen sie den Kampf und die Revolution, aber die Umstände zwingen sie, sich auf den Boden der Revolution zu stellen, denn einen anderen Boden haben sie nicht.

Wir wohnen einem höchst lehrreichen und höchst komischen Schauspiele bei. Die Dirnen des bürgerlichen Liberalismus versuchen, sich den Mantel des Revolutionarismus umzuhängen. Die Oswoboschdjenije-Leute – risum teneatis, amici!5 – beginnen im Namen der Revolution zu sprechen! Sie versuchen glauben zu machen, dass sie „die Revolution nicht fürchten" (Herr Struve in der Nummer 72 des „Oswoboschdjenije")6!!! Die Oswoboschdjenije-Leute erheben den Anspruch, „an der Spitze der Revolution zu stehen"!!!

Das ist eine außerordentlich bedeutsame Erscheinung, die nicht nur den Fortschritt des bürgerlichen Liberalismus, sondern noch mehr den Fortschritt der realen Erfolge der revolutionären Bewegung charakterisiert, die sich ihre Anerkennung erzwungen hat. Sogar die Bourgeoisie beginnt zu begreifen, dass es vorteilhafter ist, sich auf den Boden der Revolution zu stellen – so sehr ist der Absolutismus ins Wanken geraten. Anderseits aber stellt uns diese Erscheinung, die vom Aufstieg der ganzen Bewegung auf eine neue, höhere Stufe zeugt, auch neue, höhere Aufgaben. Die Anerkennung der Revolution durch die Bourgeoisie kann nicht aufrichtig sein, daran ändert auch die persönliche Ehrlichkeit des einen oder des anderen bürgerlichen Ideologen nichts. Die Bourgeoisie kann nicht anders als auch in dieses höhere Stadium der Bewegung ihren Eigennutz und ihre Inkonsequenz, ihr Krämertum und ihre kleinlichen reaktionären Winkelzüge mitbringen. Wir müssen jetzt die nächsten konkreten Aufgaben der Revolution unter Berufung auf unser Programm und zur Entfaltung unseres Programmes anders formulieren. Was gestern genügte, ist heute ungenügend. Gestern konnte vielleicht die Forderung der Anerkennung der Revolution als wichtigste demokratische Losung gelten. Jetzt ist das wenig. Die Revolution hat selbst Herrn Struve gezwungen, sie anzuerkennen. Jetzt wird von der fortgeschrittensten Klasse verlangt, dass sie den eigentlichen Inhalt der wichtigsten und dringendsten Aufgaben der Revolution feststelle. Die Herren Struve, die die Revolution anerkennen, zeigen immer wieder ihre Eselsohren, indem sie ihr Liedchen von der Möglichkeit eines friedlichen Ausganges, davon, dass Nikolaus die Herren Oswoboschdjenije-Leute zur Macht berufen wird usw., singen. Die Oswoboschdjenije-Leute anerkennen die Revolution, um sie gefahrloser für sich zu eskamotieren, um sie zu verraten. Unsere Sache ist es jetzt, das Proletariat und das ganze Volk auf die Mangelhaftigkeit der bloßen Losung „Revolution" hinzuweisen und die Notwendigkeit einer klaren und unzweideutigen, konsequenten und entschiedenen Festlegung des eigentlichen Inhaltes der Revolution zu zeigen. Und eine solche Festlegung bedeutet eben die Losung, die allein geeignet ist, den „entscheidenden Sieg" der Revolution richtig auszudrücken, nämlich die Losung der revolutionären demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.

Wir haben gezeigt, dass die „Oswoboschdjenije"-Leute in der Anerkennung des Demokratismus schrittweise vorwärtskommen (nicht ohne die anspornenden Rippenstöße der Sozialdemokratie). Ursprünglich war die Frage in unserer Polemik: Schipowsche Taktik (Rechte und ein mächtiges Semstwo) oder Konstitutionalismus? Dann: eingeschränkte Wahlen oder allgemeines Wahlrecht? Weiter: Anerkennung der Revolution oder ein Maklerkompromiss mit dem Absolutismus? Und schließlich jetzt: Anerkennung der Revolution ohne Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft oder Anerkennung der Forderung einer Diktatur dieser Klassen in der demokratischen Revolution? Es ist möglich und wahrscheinlich, dass auch die Oswoboschdjenije-Leute (ganz gleich, ob die heutigen oder ihre Nachfolger am linken Flügel der bürgerlichen Demokratie) noch einen Schritt weiter gehen, das heißt, dass sie mit der Zeit (vielleicht dann, wenn Genosse Martynow noch einen Schritt weiter macht) die Losung der Diktatur anerkennen werden. Das wird sogar unvermeidlich so kommen, wenn die russische Revolution mit Erfolg vorwärtsgehen und einen entscheidenden Sieg erreichen sollte. Wie wird dann die Position der Sozialdemokratie sein? Der volle Sieg der heutigen Revolution wird das Ende der demokratischen Umwälzung und den Anfang des entscheidenden Kampfes für die sozialistische Umwälzung bedeuten. Die Verwirklichung der Forderungen der heutigen Bauernschaft, die vollständige Zerschlagung der Reaktion und die Erringung der demokratischen Republik wird das vollständige Ende der revolutionären Gesinnung der Bourgeoisie und sogar des Kleinbürgertums und der Anfang des eigentlichen Kampfes des Proletariats für den Sozialismus sein. Je vollständiger die demokratische Umwälzung sein wird, um so rascher, umfassender, reiner und entschiedener wird sich dieser neue Kampf entfalten. Die Losung der „demokratischen" Diktatur bringt denn auch den historisch begrenzten Charakter der heutigen Revolution und die Unerlässlichkeit eines neuen Kampfes auf dem Boden der neuen Ordnung für die volle Befreiung der Arbeiterklasse von jeglichem Joch und jeder Ausbeutung zum Ausdruck. Mit anderen Worten: wenn die demokratische Bourgeoisie oder das Kleinbürgertum noch einen Schritt weiter gehen und nicht nur die Revolution, sondern auch der volle Sieg der Revolution zur Tatsache werden sollte – dann „ersetzen" wir (vielleicht unter dem furchtbaren Geheul neuer, künftiger Martynows) die Losung der demokratischen Diktatur durch die Losung der sozialistischen Diktatur des Proletariats, das heißt der vollständigen sozialistischen Umwälzung.

3. Die vulgär-bürgerliche Darstellung der Diktatur und Marx' Ansicht über die Diktatur

Mehring erzählt in seinen „Anmerkungen" zu den von ihm herausgegebenen Artikeln von Marx in der „Neuen Rheinischen Zeitung" aus dem Jahre 1848, dass die bürgerliche Literatur dieser Zeitung unter anderem den Vorwurf machte, sie habe als einziges „Mittel zur Durchführung der Demokratie die sofortige Einführung der Diktatur verlangt" (Marx u. Engels „Nachlass", 2. Auflage, Band III, S. 53). Vom vulgär-bürgerlichen Standpunkt schließen der Begriff der Diktatur und der Begriff der Demokratie einander aus. Der Bourgeois, der die Theorie des Klassenkampfes nicht begreift und gewöhnt ist, in der politischen Arena den kleinen Streit verschiedener Zirkel und Koterien der Bourgeoisie zu sehen, versteht unter Diktatur die Abschaffung aller Freiheiten und demokratischen Garantien, jegliche Willkür, jeglichen Machtmissbrauch im Interesse der Person des Diktators. Im Wesentlichen dringt gerade dieser vulgär-bürgerliche Standpunkt auch bei unserem Martynow durch, der am Schlusse seines „neuen Feldzuges" in der neuen „Iskra" die Vorliebe des „Proletarij" und des „Wperjod" für die Losung der Diktatur damit erklärt, dass Lenin „leidenschaftlich sein Glück versuchen will". („Iskra", Nr. 103, 3. Seite, 2. Spalte). Um Martynow die Begriffe der Diktatur der Klasse zum Unterschied von der Diktatur der Persönlichkeit und die Aufgaben der demokratischen Diktatur zum Unterschied von der sozialistischen zu erklären, wird es nicht ohne Nutzen sein, sich die Ansichten der „Neuen Rheinischen Zeitung" zu vergegenwärtigen:

Jeder provisorische Staatszustand“ – schrieb die „Neue Rheinische Zeitung" vom 14. September 1848 „nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur. Wir haben es Camphausen (preußischer Ministerpräsident nach dem 18. März 1848) „von Anfang an vorgeworfen, dass er nicht diktatorisch auftrat, dass er die Überbleibsel der alten Institutionen nicht sogleich zerschlug und entfernte. Während also Herr Camphausen sich in konstitutionellen Träumen wiegte, verstärkte die geschlagene Partei (d.h. die reaktionäre Partei) die Position in der Bürokratie und der Armee, ja wagte hier und da selbst den offenen Kampf."7

Die Zeitung fasst hier“ – sagt mit Recht Mehring – „in wenigen Sätzen zusammen, was sie in ihren langen Abhandlungen über das Ministerium Camphausen ausführlich begründete."8

Was sagen uns diese Worte von Marx? Dass eine provisorische revolutionäre Regierung diktatorisch vorgehen muss (ein Gedanke, den die „Iskra", die die Losung der Diktatur von sich wies, durchaus nicht verstehen konnte); dass die Aufgabe dieser Diktatur die Vernichtung der Überreste der alten Einrichtungen ist (eben das, was in der Resolution des 3. Parteitages der SDAPR über den Kampf gegen die Konterrevolution klar hervorgehoben und in der Konferenzresolution, wie wir soeben zeigten, ausgelassen ist). Drittens endlich folgt aus diesen Worten, dass Marx die bürgerlichen Demokraten wegen ihrer „konstitutionellen Illusionen" in der Epoche der Revolution und des offenen Bürgerkrieges geißelte. Den Sinn dieser Worte sieht man besonders anschaulich aus dem Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 6. Juni 1848:

Eine konstituierende Nationalversammlung“ – schrieb Marx – „muss vor allem eine aktive, revolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische Schulübungen und lässt die Regierungen handeln. Gesetzt, es gelänge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nützt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung wenn die Regierung unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung gesetzt?"9

Hier haben wir den Sinn der Losung der Diktatur. Aus diesen Worten können wir ersehen, wie sich Marx zu Resolutionen verhalten würde, die den „Beschluss, eine konstituierende Versammlung zu organisieren", einen entscheidenden Sieg nennen oder die Partei einladen, „die Partei der äußersten revolutionären Opposition zu bleiben".

Große Fragen werden im Leben der Völker nur durch die Gewalt gelöst. Die reaktionärsten Klassen nahmen gewöhnlich als erste ihre Zuflucht zur Gewalt, zum Bürgerkrieg und „setzten die Bajonette auf die Tagesordnung", wie es der russische Absolutismus tat und wie er es seit dem 9. Januar systematisch, beharrlich überall und allenthalben tut. Sobald aber eine solche Sachlage geschaffen worden ist, sobald die Bajonette an die Spitze der politischen Tagesordnung gestellt worden sind und sobald sich der Aufstand als notwendig und dringend herausstellt – dann erweisen sich alle konstitutionellen Illusionen und parlamentarischen Schulübungen nur als Deckmantel für den bürgerlichen Verrat an der Revolution, als Deckmantel für das „Abschwenken" der Bourgeoisie von der Revolution. Und dann muss die wirklich revolutionäre Klasse gerade die Losung der Diktatur aufstellen.

Zur Frage der Aufgaben der Diktatur schrieb Marx schon in der „Neuen Rheinischen Zeitung":

Sie (die Nationalversammlung) brauchte nur überall den reaktionären Übergriffen überlebter Regierungen diktatorisch entgegenzutreten, und sie eroberte sich eine Macht in der Volksmeinung, an der alle Bajonette und Kolben zersplittert wären Sie langweilt das deutsche Volk, statt es mit sich fortzureißen oder von ihm fortgerissen zu werden."10

Die Nationalversammlung wäre nach Marxens Meinung verpflichtet gewesen,

aus dem faktisch bestehenden Zustande Deutschlands alles zu entfernen, was dem Prinzip der Volkssouveränität widersprach," und dann „den revolutionären Boden, auf dem sie steht, zu behaupten, um die Errungenschaft der Revolution, die Volkssouveränität vor allen Angriffen sicherzustellen."11

Folglich bezogen sich die Aufgaben, die Marx im Jahre 1848 der revolutionären Regierung oder der Diktatur stellte, ihrem Inhalte nach vor allem auf eine demokratische Umwälzung: Abwehr gegen die Konterrevolution und wirkliche Beseitigung alles dessen, was mit der Volkssouveränität unvereinbar ist. Das ist nichts anderes als eine revolutionär-demokratische Diktatur.

Nun weiter: welche Klassen konnten und mussten nach der Meinung von Marx diese Aufgaben verwirklichen (das Prinzip der Volkssouveränität in der Tat restlos durchführen und die Angriffe der Konterrevolution abschlagen)? Marx spricht vom „Volk". Wir wissen aber, dass er die kleinbürgerlichen Illusionen von der Einigkeit des „Volkes" und vom Nichtvorhandensein des Klassenkampfes innerhalb des Volkes stets rücksichtslos bekämpfte. Mit dem Wort „Volk" pflegte Marx nicht die Klassenunterschiede zu vertuschen, sondern jene bestimmten Elemente zusammenzufassen, die geeignet sind, die Revolution zu Ende zu führen.

Nach dem Sieg des Berliner Proletariats am 18. März – schrieb die „Neue Rheinische Zeitung" – hätten sich zweierlei Ergebnisse der Revolution gezeigt:

„… auf der einen Seite die Volksbewaffnung, das Assoziationsrecht, die faktisch errungene Volkssouveränität; auf der anderen die Beibehaltung der Monarchie und das Ministerium Camphausen-Hansemann, d.h. die Regierung der Vertreter der hohen Bourgeoisie.

Die Revolution hatte also zwei Reihen von Resultaten, die notwendig auseinandergehen mussten. Das Volk halte gesiegt, es hatte sich Freiheiten entschieden demokratischer Natur erobert, aber die unmittelbare Herrschaft ging über nicht in seine Hände, sondern in die der großen Bourgeoisie. Mit einem Wort, die Revolution war nicht vollendet. Das Volk hatte die Bildung eines Ministeriums von großen Bourgeois zugelassen, und die großen Bourgeois bewiesen ihre Tendenzen sogleich dadurch, dass sie dem altpreußischen Adel und der Bürokratie eine Allianz anboten. Arnim, Canitz, Schwerin traten ins Ministerium.

Die hohe Bourgeoisie, von jeher antirevolutionär, schloss aus Furcht vor dem Volk, d.h. vor den Arbeitern und der demokratischen Bürgerschaft, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der Reaktion." (Von uns gesperrt.)12

Also nicht nur der „Beschluss, eine konstituierende Versammlung zu organisieren", ist für einen entscheidenden Sieg der Revolution noch ungenügend, sogar ihre wirkliche Einberufung genügt noch nicht! Sogar nach einem partiellen Sieg im bewaffneten Kampf (dem Sieg der Berliner Arbeiter über die Truppen am 18. März 1848) ist eine „nicht abgeschlossene", „nicht vollendete" Revolution möglich. Wovon hängt nun ihre Vollendung ab? Davon, in wessen Hände die unmittelbare Herrschaft übergeht: ob in die Hände der Petrunkjewitsch und Roditschew, wollte sagen: der Camphausen und Hansemann, oder in die Hände des Volkes, d.h. der Arbeiter und der demokratischen Bourgeoisie. Im ersten Falle wird die Bourgeoisie die Macht besitzen und das Proletariat – „die Freiheit der Kritik", die Freiheit, „die Partei der äußersten revolutionären Opposition zu bleiben". Die Bourgeoisie wird dann sofort nach dem Siege ein Bündnis mit der Reaktion schließen (das würde unvermeidlich auch in Russland geschehen, wenn z.B. die Petersburger Arbeiter im Straßenkampf nur einen partiellen Sieg errängen und den Herren Petrunkjewitsch und Komp. die Bildung der Regierung überließen). Im zweiten Falle wäre eine revolutionär-demokratische Diktatur, d.h. der volle Sieg der Revolution, möglich.

Es gilt nun, genauer zu formulieren, was Marx unter der „demokratischen Bürgerschaft" verstand, die er zusammen mit den Arbeitern und im Gegensatz zur Großbourgeoisie als Volk bezeichnet.

Eine klare Antwort auf diese Frage gibt die folgende Stelle aus dem Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung" vom 29. Juli 1848:

„… dass die deutsche Revolution von 1848 nur die Parodie der französischen Revolution von 1789 ist.

Am 4. August 1789, drei Wochen nach dem Bastillesturm, wurde das französische Volk auf einen Tag mit den Feudallasten fertig.

Am 11. Juli 1848, vier Monate nach den Märzbarrikaden, werden die Feudallasten mit dem deutschen Volk fertig, teste Gierke cum Hansemanno.*

Die französische Bourgeoisie von 1789 ließ ihre Bundesgenossen, die Bauern, keinen Augenblick im Stich. Sie wusste, die Grundlage ihrer Herrschaft war Zertrümmerung des Feudalismus auf dem Lande, Herstellung der freien, grundbesitzenden Bauernklasse.

Die deutsche Bourgeoisie von 1848 verrät ohne allen Anstand diese Bauern, die ihre natürlichsten Bundesgenossen, die Fleisch von ihrem Fleisch sind, und ohne die sie machtlos ist gegenüber dem Adel.

Die Fortdauer, die Sanktion der Feudalrechte in der Form der (illusorischen) Ablösung, das ist also das Resultat der deutschen Revolution von 1848. Das ist die wenige Wolle von dem vielen Geschrei!"13

Dies ist eine sehr lehrreiche Stelle, die uns vier wichtige Thesen gibt: 1. Die nicht vollendete deutsche Revolution unterscheidet sich von der vollendeten französischen dadurch, dass die Bourgeoisie nicht nur die Demokratie im Allgemeinen, sondern auch die Bauernschaft im Besonderen verraten hat. 2. Die Grundlage einer vollständigen Verwirklichung der demokratischen Umwälzung bildet die Schaffung einer Klasse der freien Bauernschaft. 3. Die Schaffung einer solchen Klasse bedeutet die Abschaffung der Feudallasten und die Zerstörung des Feudalismus, aber noch keineswegs eine sozialistische Umwälzung. 4. Die Bauern sind die „natürlichsten" Bundesgenossen der Bourgeoisie, eben der demokratischen Bourgeoisie, ohne die sie der Reaktion gegenüber „machtlos" wäre.

Berücksichtigt man die entsprechenden Verschiedenheiten der konkreten nationalen Besonderheiten und setzt man an die Stelle des Feudalismus die Leibeigenschaft, so sind alle diese Thesen auch auf das Russland des Jahres 1905 voll anwendbar. Es ist zweifellos, dass man auf Grund der aus der Erfahrung Deutschlands gezogenen und von Marx beleuchteten Lehren zu keiner anderen Losung für den entscheidenden Sieg der Revolution gelangen kann als zu der einen: revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Es steht außer Zweifel, dass die Hauptbestandteile des „Volkes", das Marx im Jahre 1848 der sich zur Wehr setzenden Reaktion und der verräterischen Bourgeoisie entgegenstellte, das Proletariat und die Bauernschaft bilden. Und es ist unzweifelhaft, dass auch bei uns in Russland die liberale Bourgeoisie und die Herren Oswoboschdjenije-Leute die Bauernschaft verraten und noch verraten werden, d.h. sich durch eine Pseudoreform loskaufen, und im entscheidenden Kampf zwischen den Großgrundbesitzern und der Bauernschaft auf die Seite der Grundbesitzer treten werden. Nur das Proletariat ist imstande, die Bauernschaft in diesem Kampfe bis zu Ende zu unterstützen. Schließlich ist nicht zu bezweifeln, dass auch bei uns in Russland der Erfolg des Kampfes der Bauern, d.h. der Übergang des ganzen Grund und Bodens an die Bauern, eine vollständige demokratische Umwälzung bedeuten und die soziale Stütze der vollendeten Revolution sein, nicht aber eine sozialistische Umwälzung und nicht die „Sozialisierung" bedeuten wird, von der die Ideologen des Kleinbürgertums, die Sozialrevolutionäre, sprechen. Der Erfolg des Bauernaufstandes und der Sieg der demokratischen Revolution werden erst den Weg zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik ebnen. Die Bauernschaft wird als grundbesitzende Klasse in diesem Kampfe dieselbe verräterische, schwankende Rolle spielen, die die Bourgeoisie jetzt im Kampfe für die Demokratie spielt. Dies vergessen, heißt den Sozialismus vergessen, heißt sich und die andern über die wahren Interessen und die Aufgaben des Proletariats belügen.

Um in der Wiedergabe der Ansichten von Marx aus dem Jahre 1848 keine Lücken zu lassen, ist es notwendig, einen wesentlichen Unterschied zwischen der damaligen deutschen Sozialdemokratie (oder der kommunistischen Partei des Proletariats, um in der damaligen Sprache zu reden) und der jetzigen russischen Sozialdemokratie anzuführen. Geben wir Mehring das Wort:

„ … als ,Organ der Demokratie' hatte sie (die N. Rh. Ztg.") die politische Bühne beschritten, und so wenig sich der rote Faden verkennen ließ, der sich durch ihre Arbeiten zog, so vertrat sie zunächst noch mehr die Interessen der bürgerlichen Revolution gegenüber dem Absolutismus und Feudalismus, als dass sie schon die Interessen des Proletariats gegen die Bourgeoisie vertreten hätte. Von der besonderen Arbeiterbewegung der Revolutionsjahre ist in ihren Spalten wenig zu finden, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, dass neben ihr unter der Leitung Molls und Schappers ein besonderes Organ des Kölner Arbeitervereins zweimal wöchentlich erschien. Immerhin fällt dem heutigen Leser auf, wie geringes Interesse die „Neue Rheinische Zeitung" der damaligen deutschen Arbeiterbewegung geschenkt hat, obgleich deren fähigster Kopf, Stephan Born, in Paris und Brüssel von Marx und Engels gelernt hatte und auch jetzt von Berlin aus für die Zeitung korrespondierte. In seinen Denkwürdigkeiten erzählt Born, dass sie ihm nie ein Wort der Missbilligung über seine Arbeiteragitation gesagt hätten; dennoch machen es spätere Äußerungen von Engels wahrscheinlich, dass sie wenigstens mit der Art dieser Agitation unzufrieden gewesen sind, mit Recht, insofern als Born dem, in dem weitaus größten Teile Deutschlands noch ganz unentwickelten Klassenbewusstsein des Proletariats manche Zugeständnisse machen musste, die vor dem kommunistischen Manifest nicht bestehen konnten, mit Unrecht, insofern als Born die von ihm geleitete Agitation doch auf einer verhältnismäßig sehr beträchtlichen Höhe zu halten wusste … Ohne Zweifel waren sie historisch und politisch auch in ihrem Rechte, wenn sie das wichtigste Interesse der Arbeiterklasse zunächst in dem möglichen Vorantreiben der bürgerlichen Revolution sahen… Trotz alledem bleibt es ein merkwürdiger Beweis dafür, wie der elementare Instinkt der Arbeiterbewegung die Konzeption der genialsten Denker zu berichtigen weiß, dass sie im April 1849 sich für eine spezifische Arbeiterorganisation entschieden und die Beschickung des Arbeiterkongresses beschlossen, der besonders von dem ostelbischen Proletariat vorbereitet worden war."14

Also erst im April 1849, nach fast einjährigem Erscheinen der revolutionären Zeitung (die „Neue Rheinische Zeitung" begann am 1. Juni 1848 zu erscheinen), sprachen sich Marx und Engels für eine besondere Organisation der Arbeiter aus! Bis dahin leiteten sie einfach ein „Organ der Demokratie", das durch keinerlei organisatorische Bande mit einer selbständigen Arbeiterpartei verbunden war! Diese von unserem heutigen Standpunkt ungeheuerliche und unglaubliche Tatsache zeigt uns klar, welch großer Unterschied zwischen der damaligen deutschen und der heutigen russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei besteht. Diese Tatsache zeigt uns, um wie viel weniger in der deutschen demokratischen Revolution (dank der Rückständigkeit Deutschlands im Jahre 1848 sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht – die staatliche Zersplitterung) die proletarischen Charakterzüge der Bewegung, die proletarische Strömung zum Ausdruck gekommen sind. Das darf bei der Bewertung der wiederholten Erklärungen von Marx aus dieser und der etwas späteren Epoche über die Notwendigkeit einer selbständigen Parteiorganisation des Proletariats nicht vergessen werden. Marx hat erst aus der Erfahrung der demokratischen Revolution und fast ein Jahr später praktisch diese Schlussfolgerung gezogen; so spießbürgerlich und kleinbürgerlich war damals die ganze Atmosphäre in Deutschland. Für uns ist diese Schlussfolgerung eine seit langem feststehende, aus der halbhundertjährigen Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie gezogene Erkenntnis, auf Grund der wir die Organisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands begonnen haben. Bei uns kann z.B. davon nicht die Rede sein, dass die revolutionären Zeitungen des Proletariats außerhalb der sozialdemokratischen Partei des Proletariats stehen, dass sie auch nur für einen Augenblick einfach als „Organe der Demokratie" auftreten könnten.

Allein jene Gegensätzlichkeit, die sich zwischen Marx und Stephan Born kaum zu zeigen begann, existiert bei uns in um so entwickelterer Form, je mächtiger die proletarische Strömung im demokratischen Strom unserer Revolution hervortritt. Wenn Mehring von einer wahrscheinlichen Unzufriedenheit Marx' und Engels' mit der Agitation von Stephan Born spricht, so drückt er sich viel zu mild und ausweichend aus. Hier sei angeführt, was Engels im Jahre 1885 (im Vorwort zu den „Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln", Zürich 1885) über Born schrieb:

Dass aber der Bund (der Kommunisten) eine vorzügliche Schule der revolutionären Tätigkeit gewesen, bewies sich jetzt." „… standen überall Bundesmitglieder an der Spitze der extrem-demokratischen Bewegung." „… in Berlin stiftete der Schriftsetzer Stephan Born, der in Brüssel und Paris als tätiges Bundesmitglied gewirkt hat, eine Arbeiterverbrüderung, die eine ziemliche Verbreitung erhielt und bis 1850 bestand. Born, ein sehr talentvoller junger Mann, der es aber mit seiner Verwandlung in eine politische Größe etwas zu eilig hatte, verbrüderte sich mit den verschiedenartigsten Krethi und Plethi, um nur einen Haufen zusammen zu bekommen, und war keineswegs der Mann, der Einheit in die widerstrebenden Tendenzen, Licht in das Chaos bringen konnte. In den amtlichen Veröffentlichungen des Vereines laufen daher auch die im Kommunistischen Manifest vertretenen Ansichten kunterbunt durcheinander mit Zunfterinnerungen und Zunftwünschen, Abfällen von Louis Blanc, Proudhon, Schutzzöllnerei usw., kurz, man wollte allen alles sein. Speziell wurden Streiks, Gewerksgenossenschaften, Produktivgenossenschaften ins Werk gesetzt und vergessen, dass es sich vor allem darum handelte, durch politische Siege sich erst das Gebiet zu erobern, worauf allein solche Dinge auf die Dauer durchführbar waren.“ (Von uns gesperrt.) „Als dann die Siege der Reaktion den Leitern der Verbrüderung die Notwendigkeit fühlbar machten, direkt in den Revolutionskampf einzutreten, wurden sie von der verworrenen Masse, die sie um sich gruppiert, selbstredend im Stich gelassen. Born beteiligte sich am Dresdner Maiaufstand 1849 und entkam glücklich. Die Arbeiterverbrüderung aber hatte sich, gegenüber der großen politischen Bewegung des Proletariats, als ein reiner Sonderbund bewährt, der größtenteils nur auf dem Papier bestand und eine so untergeordnete Rolle spielte, dass die Reaktion ihn erst 1850 und seine fortbestehenden Ableger erst mehrere Jahre nachher zu unterdrücken für nötig fand. Born, der eigentlich Buttermilch** heißt, wurde keine politische Größe, sondern ein kleiner Schweizer Professor, der nicht mehr den Marx ins Zünftlerische, sondern den sanften Renan in sein eigenes süßliches Deutsch übersetzt."15

So schätzte Engels die zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution ein!

Unsere Neu-Iskristen streben ebenfalls mit so unvernünftigem Eifer zum „Ökonomismus", dass sie für ihre „Erleuchtung" das Lob der monarchistischen Bourgeoisie verdienen. Sie sammeln ebenfalls ein buntscheckiges Publikum um sich, indem sie den „Ökonomisten" schmeicheln und die rückständige Masse mit den Losungen der „Selbsttätigkeit", des „Demokratismus", der „Autonomie" usw. anlocken. Ihre Arbeiterverbände existieren ebenfalls oft nur in den Spalten der Chlestakowschen16 neuen „Iskra". Ihre Losungen und Resolutionen zeigen ein ebensolches Nichtverstehen der Aufgaben der „großen politischen Bewegung des Proletariats".

1 Die zitierten Zeilen sind der „Resolution, angenommen auf der agitatorischen Beratung des Stadtgebiets von Petersburg", entnommen. („Iskra", Nr. 100 vom 15./28. Mai 1905). Dieser Resolution widmete P. Struve in Nr. 72 des „Oswoboschdjenije" vom 8./21. Juni 1905 den mit P. S. gezeichneten Artikel „Ein Triumph des gesunden Menschenverstandes". Auf diesen Artikel spielt Lenin auch in dem letzten Absatz des Aufsatzes „Der Jenaer Parteitag der SPD" und im dritten Absatz des Aufsatzes „Keine Schwindelei! Unsere Kraft liegt in der Aufzeigung der Wahrheit!" mit den Worten „Erleuchtung" und „gesunder Menschenverstand" an.

2 Gemeint ist der (nicht unterzeichnete) Artikel Martows „Liberaler Realismus" in Nr. 102 der „Iskra" vom 15./28. Juni 1905.

* Vgl. Prokopowitsch: „Die Arbeiterfrage in Russland."

3 Gemeint sind die Feuilletons von Martynow „Im Kampfe mit dem marxistischen Gewissen".

4 Der Satz von der „faktischen Unbotmäßigkeit gegen diese Regierung" ist der Rede N. A. Gredeskuls in der Sitzung der Charkower Juristischen Gesellschaft am 19. März/1. April 1905 entnommen.

5 Haltet das Lachen zurück, Freunde!

6 Die zitierten Worte stammen aus dem Artikel Peter Struves „Die russische Revolution und der Friede" in Nr. 72 des „Oswoboschdjenije" vom 8./21. Juni 1905. Interessant ist die Gegenüberstellung zweier Sätze aus dem Artikel. An einer Stelle heißt es: „Für den Abschluss eines erträglichen und dauerhaften Friedens Russlands (mit Japan) ist eine starke Regierung notwendig, die sich vor der Revolution nicht fürchtet, weil sie sich an die Spitze der Revolution stellen wird." Und an einer anderen Stelle: „Dem Kaiser Nikolaus II. bietet sich jetzt noch die volle Möglichkeit eines friedlichen Auswegs aus der russischen Krise: auf dem Wege vernünftiger Zugeständnisse an die öffentliche Meinung, deren erstes die Bildung eines Ministeriums aus lauter angesehenen Vertretern der konstitutionell-demokratischen Opposition sein müsste."

7 S. Marx und Engels „Nachlass", 2. Aufl., III. Bd., S. 54. D. Red.

8 Ebenda, auf derselben Seite. D. Red.

9 Ebenda, S. 92. D. Red.

10 Ebenda, S. 92. D. Red.

11 Ebenda, S. 87. D. Red.

12 Ebenda, S. 98. D. Red.

* „Zeugen: Gierke zusammen mit Hansemann." Hansemann war der Minister der Partei der Großbourgeoisie (also der preußische Trubezkoi oder Roditschew oder so ähnlich). Gierke war Landwirtschaftsminister im Ministerium Hansemann und hatte ein Projekt ausgearbeitet, das als ein „kühnes" Projekt der „entschädigungslosen" „Beseitigung der Feudallasten" erscheinen wollte, in Wirklichkeit aber die Beseitigung nur der kleineren und unbedeutenden, dafür jedoch die Beibehaltung oder die Ablösung der wesentlichen Lasten bedeutete. Gierke war von der Gattung der russischen Kablukow, Manuilow, Herzenstein und der ihnen verwandten bürgerlich-liberalen Bauernfreunde, die eine „Erweiterung des bäuerlichen Grundbesitzes" verlangen, aber den Gutsherren nichts zuleide tun wollen.

13 Ebenda, S. 133. D. Red.

14 Ebenda, S. 133. D. Red.

** Der wirkliche Name Borns war Buttermilch. Bei der Übersetzung aus Engels beging ich in der ersten Ausgabe den Irrtum, das Wort Buttermilch nicht als Eigennamen, sondern als Gattungsnamen aufzufassen. Dieser Irrtum machte natürlich den Menschewiki außerordentlich viel Freude. Kolzow schrieb, dass ich „Engels vertieft" habe (neu gedruckt in dem Sammelwerk „In zwei Jahren"), Plechanow erinnert auch im „Towarischtsch" wieder an diesen Irrtum – mit einem Wort, es fand sich ein ausgezeichneter Vorwand, die Frage der zwei Tendenzen in der Arbeiterbewegung im Jahre 1848 in Deutschland, der Tendenz Borns (der unseren Ökonomisten verwandt ist) und der marxistischen Tendenz, zu verwischen. Dass man einen Irrtum des Gegners, und sei es auch nur in Bezug auf den Familiennamen Borns, ausnützt, das ist mehr als natürlich. Aber die Richtigstellung eines Irrtums dazu zu benutzen, um den Kern der Frage der zwei Taktiken zu verwischen, heißt vor dem Wesen des Streites die Waffen strecken. [Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von 1908. D. Red. Der Artikel Kolzows, der später in die Sammlung „In zwei Jahren" aufgenommen wurde, erschien unter dem Titel „Wie Lenin Engels vertiefte" in Nr. 108 der „Iskra" vom 26. (13.) August 1905. In Nr. 381 des „Towarischtsch" vom 9. Oktober (26. September) 1907 „Ist das möglich?" erinnert Plechanow wiederum an den Irrtum Lenins.]

15 Ausgabe von 1914, S. 43. D. Red.

16 Chlestakow ist der Name des Titelhelden in Gogols „Revisor". D. Red.

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