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Wladimir I. Lenin 19080400 Marxismus und Revisionismus

Wladimir I. Lenin: Marxismus und Revisionismus1

[Geschrieben im April 1908 Veröffentlicht 1908 im Sammelbuch „Karl Marx zum Gedächtnis", St. Petersburg Gez.: Wl. Iljin. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 219-228]

Ein bekannter Ausspruch lautet: Würden geometrische Axiome menschlichen Interessen zuwiderlaufen, so würde man sie sicherlich widerlegen wollen. Naturgeschichtliche Theorien, die an alte theologische Vorurteile rühren, wurden und werden bis zum heutigen Tage aufs Erbittertste bekämpft. Kein Wunder, dass die Marxsche Lehre, die unmittelbar der Aufklärung und Organisierung der fortgeschrittensten Klasse der modernen Gesellschaft dient, auf die Aufgaben dieser Klasse hinweist und die – kraft der ökonomischen Entwicklung – unausbleibliche Ersetzung der heutigen Ordnung durch eine neue aufzeigt, – kein Wunder, dass diese Lehre sich jeden Schritt auf ihrem Lebensweg erst erkämpfen musste.

Von der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie, die von ärarischen Professoren in ärarischem Geiste gelehrt werden, um die heranwachsende Jugend der besitzenden Klassen zu verdummen und sie auf den inneren und äußeren Feind zu dressieren, braucht man gar nicht erst zu reden. Diese Wissenschaft will vom Marxismus nichts wissen, erklärt ihn für widerlegt und vernichtet; sowohl junge Gelehrte, die durch Widerlegung des Sozialismus Karriere machen, als auch Mummelgreise, treue Hüter der verschiedensten veralteten „Systeme", – sie alle fallen mit gleichem Eifer über Marx her. Das Wachstum des Marxismus, die Verbreitung und das Erstarken seiner Ideen in der Arbeiterklasse führen unausbleiblich zu immer häufigerer Wiederkehr und zur Verschärfung dieser bürgerlichen Ausfälle gegen den Marxismus, der aus jeder „Vernichtung" durch die offizielle Wissenschaft immer stärker, gestählter und lebensfähiger hervorgeht.

Doch selbst unter den Lehren, die mit dem Kampf der Arbeiterklasse im Zusammenhang stehen und hauptsächlich unter dem Proletariat verbreitet sind, hat sich der Marxismus bei weitem nicht mit einem Schlage durchgesetzt. In den ersten fünfzig Jahren seiner Existenz (von den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts an gerechnet) kämpfte er gegen Theorien, die ihm von Grund auf feindlich waren. In der ersten Hälfte der 40er Jahre rechneten Marx und Engels mit den radikalen Junghegelianern ab, die auf dem Standpunkt des philosophischen Idealismus standen. Ende der 40er Jahre tritt der Kampf auf dem Gebiet der ökonomischen Lehren in den Vordergrund – der Kampf gegen den Proudhonismus. Die 50er Jahre bilden den Abschluss dieses Kampfes: Kritik an den Parteien und Lehren, die im Sturm und Drangjahr 1848 in Erscheinung getreten waren. In den 60er Jahren verschiebt sich der Kampf vom Gebiet der allgemeinen Theorie auf ein der unmittelbaren Arbeiterbewegung näher liegendes Gebiet: die Vertreibung des Bakunismus aus der Internationale. Zu Anfang der 70er Jahre tritt in Deutschland auf kurze Zeit der Proudhonist Mühlberger in den Vordergrund, Ende der 70er Jahre der Positivist Dühring. Doch der Einfluss des einen wie des anderen auf das Proletariat ist bereits verschwindend gering. Der Marxismus siegt bereits fraglos über alle anderen Ideologien der Arbeiterbewegung.

An der Schwelle der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts war dieser Sieg in den Hauptzügen abgeschlossen. Selbst in den romanischen Ländern, wo die proudhonistischen Traditionen sich am längsten behaupteten, hatten die Arbeiterparteien ihr Programm und ihre Taktik faktisch auf marxistischer Grundlage aufgebaut. Die wiedererstandene internationale Organisation der Arbeiterbewegung – in der Form periodischer internationaler Kongresse – stellte sich in allen wesentlichen Punkten von Anfang an und fast ohne Kampf auf den Boden des Marxismus. Doch als der Marxismus alle einigermaßen geschlossenen ihm entgegenstehenden Lehren verdrängt hatte, begannen die Tendenzen, die in diesen Lehren zum Ausdruck gekommen waren, nach anderen Wegen zu suchen. Formen und Anlässe des Kampfes hatten sich geändert, doch der Kampf selbst ging weiter. Und das zweite Halbjahrhundert der Existenz des Marxismus (90er Jahre des vorigen Jahrhunderts) begann mit dem Kampf gegen ihm feindliche Strömungen in seinen eigenen Reihen.

Der ehemalige orthodoxe Marxist Bernstein, der das größte Aufsehen erregte und der den Korrekturen an Marx, der Überprüfung Marxens, dem Revisionismus, den geschlossensten Ausdruck verlieh, gab dieser Richtung den Namen. Selbst in Russland, wo der nichtmarxistische Sozialismus – infolge der ökonomischen Rückständigkeit des Landes, infolge des Vorherrschens der von feudalen Überresten niedergedrückten bäuerlichen Bevölkerung – sich am längsten behauptete, selbst in Russland wächst er vor unseren Augen deutlich in den Revisionismus hinüber. Sowohl in der Agrarfrage (Programm der Munizipalisierung des ganzen Grund und Bodens) als auch in allgemeinen programmatischen und taktischen Fragen ersetzen unsere Sozial-Narodniki die absterbenden, hinfällig werdenden Überreste des alten, in seiner Art geschlossenen und dem Marxismus von Grund aus gegensätzlichen Systems in immer steigendem Maße durch „Korrekturen" an der Marxschen Lehre.

Der vormarxistische Sozialismus ist zerschlagen. Er kämpft weiter, doch schon nicht mehr auf seinem eigenen Boden, sondern auf dem allgemeinen Boden des Marxismus, er kämpft als Revisionismus. Sehen wir also, welches der gedankliche Inhalt des Revisionismus ist.

Auf dem Gebiete der Philosophie zog der Revisionismus im Fahrwasser der bürgerlichen Professoren-„Wissenschaft" einher. Die Professoren gingen „zurück zu Kant" – und der Revisionismus schleppte sich hinter den Neokantianern her; die Professoren wiederholten bereits tausendmal gesagte Pfaffenbanalitäten gegen den philosophischen Materialismus – und die Revisionisten murmelten, mit nachsichtigem Lächeln (Wort für Wort nach dem letzten Handbuch), der Materialismus sei schon längst „widerlegt"; die Professoren behandelten Hegel als „toten Hund", zuckten über die Dialektik verächtlich die Achseln, trotzdem sie selber einen Idealismus, aber einen tausendmal seichteren und vulgäreren als den Hegelschen predigten – und die Revisionisten folgten ihnen in den Sumpf der philosophischen Verflachung der Wissenschaft, indem sie die ..raffinierte" (und revolutionäre) Dialektik durch „schlichte" (und ruhige) „Evolution" ersetzten; die Professoren verdienten sich ehrlich ihr Gehalt vom Staat, indem sie sowohl ihre idealistischen wie ihre „kritischen" Systeme der herrschenden mittelalterlichen „Philosophie" (d. h. Theologie) anpassten –- und die Revisionisten rückten ihnen an die Seite, bemüht, die Religion nicht dem modernen Staat, sondern der Partei der fortgeschrittensten Klasse gegenüber zur „Privatsache" zu machen.

Auf die wahre Klassenbedeutung dieser an Marx vorgenommenen „Korrekturen" braucht nicht erst hingewiesen zu werden – sie liegt auf der Hand. Wir wollen nur hervorheben, dass Plechanow in der internationalen Sozialdemokratie der einzige Marxist war, der an den ungeheuerlichen Plattheiten, die hier die Revisionisten zusammen redeten, vom Standpunkt des konsequenten dialektischen Materialismus Kritik geübt hat. Dies muss um so mehr nachdrücklich betont werden, als gegenwärtig durchaus verkehrte Versuche gemacht werden, unter der Flagge einer Kritik am taktischen Opportunismus Plechanows alten und reaktionären philosophischen Plunder einzuschmuggeln.*

Zur politischen Ökonomie ist vor allem zu bemerken, dass auf diesem Gebiet die „Korrekturen" der Revisionisten weit vielseitiger und umständlicher waren: man war bestrebt, das Publikum durch „neues Material über die Wirtschaftsentwicklung" zu beeinflussen. Man erklärte, in der Landwirtschaft vollziehe sich überhaupt keine, auf dem Gebiete des Handels und der Industrie nur eine äußerst langsame Konzentration und Verdrängung des Kleinbetriebes durch den Großbetrieb. Man sagte, die Krisen seien jetzt seltener und schwächer geworden, die Trusts und Kartelle würden wahrscheinlich dem Kapital die Möglichkeit geben, die Krisen gänzlich zu beseitigen. Man sagte, die „Zusammenbruchstheorie" sei unhaltbar, denn es trete eine Tendenz zur Abstumpfung und Milderung der Klassengegensätze zutage. Man sagte endlich, es würde nicht schaden, die Marxsche Werttheorie nach Böhm-Bawerk zu korrigieren.

Der Kampf gegen die Revisionisten in diesen Fragen führte zu einer ebenso fruchtbaren Belebung des theoretischen Denkens des internationalen Sozialismus, wie zwanzig Jahre vorher die Polemik von Engels gegen Dühring. Die Beweisgründe der Revisionisten wurden an Hand von Zahlen und Tatsachen geprüft. Es wurde nachgewiesen, dass die Revisionisten in Bezug auf den heutigen Kleinbetrieb systematische Schönfärberei treiben. Die technische und kaufmännische Überlegenheit der großen Produktion über die Kleinproduktion nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft wird durch unwiderlegliche Tatsachen bewiesen. Doch ist in der Landwirtschaft die Warenproduktion ungleich schwächer entwickelt, und die heutigen Statistiker und Ökonomen verstehen es gewöhnlich schlecht, jene einzelnen Zweige (manchmal selbst einzelne Verfahren) der Landwirtschaft herauszugreifen, in denen die fortschreitende Hineinziehung der Landwirtschaft in den Tauschverkehr der Weltwirtschaft zum Ausdruck kommt. Der Kleinbetrieb behauptet sich auf den Ruinen der Naturalwirtschaft nur durch unendliche Verschlechterung der Ernährung, durch chronisches Hungern, durch Verlängerung der Arbeitszeit, durch Verschlechterung der Qualität und der Wartung der Viehs, kurz durch dieselben Mittel, mit deren Hilfe sich auch das Handwerk gegen die kapitalistische Manufaktur behauptete. Jeder Schritt vorwärts, den Wissenschaft und Technik machen, untergräbt unvermeidlich und unerbittlich die Grundlagen des Kleinbetriebs in der kapitalistischen Gesellschaft, und Aufgabe der sozialistischen Ökonomie ist es, diesen Prozess in allen seinen, oft komplizierten und verwickelten Formen zu untersuchen, dem Kleinproduzenten die Unmöglichkeit, sich unter dem Kapitalismus zu behaupten, die Aussichtslosigkeit der Bauernwirtschaft unter dem Kapitalismus, die Notwendigkeit des Übergangs des Bauern zum Standpunkt des Proletariers darzulegen. In wissenschaftlicher Beziehung versündigten sich die Revisionisten in dieser Frage durch oberflächliche Verallgemeinerung einseitig herausgegriffener, aus ihrer Verbindung mit der ganzen kapitalistischen Ordnung gelöster Tatsachen; in politischer Beziehung jedoch war ihr Fehler, dass sie, bewusst oder unbewusst, den Bauer zum Eigentümerstandpunkt (d. h. zum Standpunkt der Bourgeoisie) riefen oder drängten, statt ihn zum Standpunkt des revolutionären Proletariers zu drängen.

In Bezug auf die Krisen- und Zusammenbruchstheorie war es mit dem Revisionismus noch schlechter bestellt. Nur ganz kurzsichtige Leute konnten, und nur ganz kurze Zeit, unter dem Einfluss einiger Jahre industriellen Aufschwungs, industrieller Blüte, an eine Änderung der Grundlagen der Marxschen Lehre denken. Dass die Krisen sich noch lange nicht überlebt haben, das zeigte den Revisionisten die Wirklichkeit sehr rasch: dem Aufschwung folgte die Krise. Die Formen, die Aufeinanderfolge, das Bild der einzelnen Krisen änderte sich, doch die Krisen blieben ein unvermeidlicher Bestandteil der kapitalistischen Ordnung. Die Kartelle und Trusts, die die Industrie zusammenschlossen, steigerten zugleich vor aller Augen die Anarchie der Produktion, die Unsicherheit der Existenz des Proletariats und den Druck des Kapitals, und verschärften so in ungeahntem Maße die Klassengegensätze. Dass der Kapitalismus dem Zusammenbruch entgegengeht – sowohl im Sinne einzelner politischer und ökonomischer Krisen als auch im Sinne des völligen Zusammenbruchs der ganzen kapitalistischen Ordnung –, das erwiesen gerade die neuesten Riesentrusts mit besonderer Anschaulichkeit und in besonders großem Ausmaß. Die jüngste Finanzkrise in Amerika, die schreckliche Steigerung der Arbeitslosigkeit in ganz Europa, ganz abgesehen von der bevorstehenden Industriekrise, auf die viele Anzeichen hindeuten, – dies alles hatte zur Folge, dass die jüngsten „Theorien" der Revisionisten von aller Welt, wie es scheint, sogar von vielen Revisionisten selbst, vergessen sind. Nur darf man die Lehren nicht vergessen, die diese Intelligenzler-Schwankungen der Arbeiterklasse erteilt haben.

Über die Werttheorie ist nur zu sagen, dass die Revisionisten hier, außer höchst unklaren Andeutungen und Seufzern nach Böhm-Bawerk, rein gar nichts geleistet und daher in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens keine Spur hinterlassen haben.

Auf politischem Gebiet hat der Revisionismus tatsächlich versucht, die Grundlage des Marxismus, d. h. die Lehre vom Klassenkampf, zu revidieren. Politische Freiheit, Demokratie, allgemeines Wahlrecht entzögen dem Klassenkampf den Boden, sagte man uns, und dadurch werde der alte Satz des „Kommunistischen Manifestes", „die Arbeiter haben kein Vaterland", aufgehoben. In der Demokratie dürfe man, da ja der „Wille der Mehrheit" herrscht, weder den Staat als Organ der Klassenherrschaft betrachten noch Bündnisse mit der fortschrittlichen, sozialreformerischen Bourgeoisie gegen die Reaktionäre ablehnen.

Unbestreitbar bilden diese revisionistischen Einwände in ihrer Gesamtheit ein ziemlich geschlossenes Anschauungssystem – nämlich das längst bekannte liberal-bürgerliche. Die Liberalen sagten immer, Klassen und Klassenteilung würden durch den bürgerlichen Parlamentarismus aufgehoben, da unterschiedslos alle Bürger das Stimmrecht, das Recht der Beteiligung an den Staatsgeschäften besitzen. Die ganze Geschichte Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die ganze Geschichte der russischen Revolution zu Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt mit aller Deutlichkeit, wie widersinnig solche Ansichten sind. Unter dem Freiheitsregime des „demokratischen" Kapitalismus werden die ökonomischen Unterschiede nicht abgeschwächt, sondern erstarken und verschärfen sich. Der Parlamentarismus beseitigt nicht, sondern enthüllt das Wesen der allerdemokratischsten bürgerlichen Republiken als Organe der Klassenunterdrückung. Indem der Parlamentarismus die Aufklärung und Organisierung ungleich breiterer Bevölkerungsmassen fördert als diejenigen, die sich bisher an den politischen Ereignissen aktiv beteiligten, bereitet er nicht die Beseitigung der Krisen und der politischen Revolutionen vor, sondern die höchste Verschärfung des Bürgerkrieges während dieser Revolutionen. Die Pariser Ereignisse vom Frühjahr 1871 und die russischen im Winter 1905 zeigten mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, wie unabwendbar eine solche Verschärfung eintreten muss. Um die proletarische Bewegung niederzuwerfen, verband sich die französische Bourgeoisie, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken, mit dem Feind der Nation, mit den fremden Truppen, die ihr Vaterland verwüsteten. Wer die unvermeidliche innere Dialektik des Parlamentarismus und des bürgerlichen Demokratismus nicht begreift, die eine noch schärfere Entscheidung der Streitfragen durch Massengewalt mit sich bringt, als wir sie bisher gesehen,– der wird es niemals verstehen, auf dem Boden dieses Parlamentarismus eine prinzipielle, konsequente Propaganda und Agitation zu treiben, die die Arbeitermassen tatsächlich auf die siegreiche Beteiligung an der Entscheidung solcher „Streitfragen" vorbereitet. Die Erfahrungen der Bündnisse, Abkommen. Blocks mit dem sozial-reformerischen Liberalismus im Westen und mit dem Liberal-Reformismus (Kadetten) in der russischen Revolution haben überzeugend gezeigt, dass diese Abkommen dadurch, dass sie die Kämpfenden an die kampfunfähigsten, am stärksten schwankenden, verräterischsten Elemente binden, das Bewusstsein der Massen nur abstumpfen und die wirkliche Bedeutung ihres Kampfes nicht verstärken, sondern schwächen. Der französische Millerandismus – der großzügigste Versuch der Anwendung der revisionistischen politischen Taktik in breitem, wirklich nationalem Maßstab – hat eine solche praktische Bewertung des Revisionismus ergeben, die das Weltproletariat nie vergessen wird.

Die natürliche Ergänzung der wirtschaftlichen und politischen Tendenzen des Revisionismus war seine Stellungnahme zum Endziel der sozialistischen Bewegung. „Das Endziel ist nichts, die Bewegung alles", – dieses geflügelte Wort Bernsteins bringt das Wesen des Revisionismus besser zum Ausdruck als viele langatmige Ausführungen. Stellungnahme von Fall zu Fall, Anpassung an Tagesereignisse, an Wandlungen von politischem Kleinkram, Hinwegsehen über die Grundinteressen des Proletariats, über die Hauptmerkmale der ganzen kapitalistischen Gesellschaft, über die gesamte kapitalistische Evolution, Opferung dieser Grundinteressen um wirklicher oder mutmaßlicher Augenblicksvorteile willen, – das ist revisionistische Politik. Aus dem Wesen dieser Politik folgt sinnfällig, dass sie unendlich mannigfaltige Formen annehmen kann und dass jede einigermaßen „neue" Frage, jede einigermaßen unerwartete und unvermutete Wendung der Ereignisse, die auch nur im allergeringsten Maße und für allerkürzeste Zeit die Hauptentwicklungslinie ändert, stets und unvermeidlich diese oder jene Abarten des Revisionismus ins Leben rufen wird.

Die Unvermeidlicheit des Revisionismus ist durch seine Klassenwurzeln in der modernen Gesellschaft bedingt. Der Revisionismus ist eine internationale Erscheinung. Für jeden einigermaßen gut unterrichteten und denkenden Sozialisten kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das Verhältnis zwischen Orthodoxen und Bernsteinianern in Deutschland, Guesdeisten und Jaurèsisten (jetzt besonders Broussisten) in Frankreich, zwischen der Sozialdemokratischen Föderation und der Unabhängigen Arbeiterpartei in England, zwischen Brouckere und Vandervelde in Belgien, Integralisten und Reformisten in Italien, Bolschewiki und Menschewiki in Russland im Grunde genommen überall gleicher Art ist, trotz gewaltigster Mannigfaltigkeit der nationalen Bedingungen und geschichtlichen Momente in dem gegenwärtigen Zustand aller dieser Länder. Die „Scheidung" innerhalb des zeitgenössischen internationalen Sozialismus verläuft eigentlich in den verschiedenen Ländern der Welt heute schon auf einer Linie und dokumentiert damit einen gewaltigen Fortschritt im Vergleich zu der Lage vor 30 bis 40 Jahren, wo in den einzelnen Ländern innerhalb des internationalen Sozialismus in ihrem Wesen verschiedene Tendenzen kämpften. Jener „Revisionismus von links", der heute in romanischen Ländern als „revolutionärer Syndikalismus" zutage tritt, richtet sich ebenfalls nach dem Marxismus, indem er ihn „korrigieren" will: Labriola in Italien, Lagardelle in Frankreich appellieren auf Schritt und Tritt vom missverstandenen zum richtig verstandenen Marx.

Wir sind nicht in der Lage, an dieser Stelle den ideologischen Inhalt dieses Revisionismus zu erörtern, der noch lange nicht zu solcher Entfaltung gelangt ist wie der opportunistische, der noch nicht internationalisiert ist und noch keine große praktische Schlacht mit einer sozialistischen Partei auch nur eines Landes bestanden hat. Wir beschränken uns daher auf den eben skizzierten „Revisionismus von rechts".

Worin besteht seine Unvermeidlichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft? Warum ist er tiefer als die Unterschiede zwischen den nationalen Eigentümlichkeiten und Entwicklungsgraden des Kapitalismus? Weil jedes kapitalistische Land, neben dem Proletariat, stets auch breite Schichten von Kleinbürgern, von Kleinbesitzern hat. Der Kapitalismus ist entstanden und entsteht immer aufs Neue aus dem Kleinbetrieb. Eine ganze Reihe von „Mittelstandsschichten" werden vom Kapitalismus unausbleiblich immer wieder neu geschaffen(Anhängsel der Fabrik, Heimarbeit, kleine Werkstätten, die infolge der Anforderungen der Großindustrie, z. B. der Fahrrad- und Automobilindustrie, über das ganze Land verstreut sind, usw.). Ebenso unausbleiblich werden diese neuen Kleinproduzenten wieder in die Reihen des Proletariats geschleudert. Es ist ganz natürlich, dass die kleinbürgerliche Weltanschauung immer und immer wieder in den breiten Arbeiterparteien zum Durchbruch kommt. Es ist ganz natürlich, dass es bis zum Augenblick der proletarischen Revolution so sein muss und sein wird, denn es wäre ein großer Fehler zu glauben, die „volle" Proletarisierung der Mehrheit der Bevölkerung sei Voraussetzung für die Durchführbarkeit einer solchen Revolution. Was wir heute oft nur auf ideologischem Gebiete erleben – die Polemik gegen theoretische „Korrekturen" an Marx; was heute in der Praxis nur in Bezug auf einzelne Teilfragen der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kommt, als taktische Meinungsverschiedenheiten mit den Revisionisten und damit zusammenhängende Spaltungen, – dies alles wird die Arbeiterklasse unzweifelhaft noch einmal in ungleich größerem Maßstab durchzumachen haben, wenn einmal die proletarische Revolution alle Streitfragen verschärfen, alle Meinungsverschiedenheiten auf Punkte von unmittelbarster Bedeutung für die Bestimmung des Verhaltens der Massen konzentrieren, wenn sie das Proletariat zwingen wird, mitten im Feuer des Kampfes den Feind vom Freund zu scheiden, die schlechten Bundesgenossen von sich zu weisen, um entscheidende Schläge gegen den Feind zu führen.

Der ideologische Kampf des revolutionären Marxismus gegen den Revisionismus zu Ende des 19. Jahrhunderts ist nur eine Vorstufe zu großen revolutionären Kämpfen des Proletariats, das trotz aller Schwankungen und Schwächen des Kleinbürgertums dem vollen Siege seiner Sache entgegen schreitet.

1 Der Artikel „Marxismus und Revisionismus" erschien zum ersten Mal in dem Sammelband „Karl Marx zum Gedächtnis" (1818–1883) zu seinem 25. Todestag (1883–1908). Verlag von O. und L. Kedrow, St. Petersburg 1908. Die Ankündigung dieses Sammelbandes erschien in einer redaktionellen Notiz des Sammelbandes „Strömungen unserer Zeit", St. Petersburg 1908, Verlag „Twortschestwo". „Im vorliegenden Sammelband – heißt es im Vorwort – bringen wir nur einen Artikel zum 60. Jahrestag des ,Kommunistischen Manifests'. Zum gleichzeitigen 25. Todestag seines genialen Schöpfers Karl Marx werden wir am 1. Mai dieses Jahres einen speziellen Sammelband ,Karl Marx zum Gedächtnis' erscheinen lassen." Verglichen mit dem angekündigten Inhalt weist der „Sammelband" einige Änderungen auf. Manche Verfasser blieben ihre Beiträge schuldig (D. Leschtschenko, I. Slepanow, M. Pokrowski, N.Trotzki, A. Lunatscharski). Die versprochene Bibliographie fehlt ebenfalls. Der tatsächliche Inhalt des Sammelbandes ist folgender: J. Newsorow – „Leben und Tätigkeit von Karl Marx", N. Roschkow – „Karl Marx und der Klassenkampf", W. Basarow – „Über die philosophischen Grundlagen des Marxismus", J. Steklow – „Marx und der Anarchismus", A. Finn-Jenotajewski – „Karl Marx und die Arbeiterklasse", Henriette Roland-Holst – „Marx und das Proletariat in der bürgerlichen Revolution", W. Iljin – „Marxismus und Revisionismus", R. Luxemburg – „Karl Marx zum Gedächtnis", G. Sinowjew – „Marx und Engels", J. Kamenew – „Vom Demokratismus zum Sozialismus", J. Steklow – „Die politische Tätigkeit von Karl Marx", P. Orlowski – „Zur Geschichte des Marxismus in Russland", M. Taganski – „Marx über Russland". Nach seinem Erscheinen wurde der Band beschlagnahmt. Für die Geschichte des Bolschewismus ist dieser Sammelband von großer Bedeutung. Er erschien im Augenblick eines intensiven und sich stetig verschärfenden Kampfes um philosophische Fragen.

* Siehe das Buch „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" von Bogdanow, Basarow u. a. Hier ist nicht der geeignete Ort, auf dieses Buch des näheren einzugehen, und ich muss mich daher vorläufig auf die Erklärung beschränken, dass ich in nächster Zukunft in einer Reihe von Aufsätzen oder in einer besonderen Broschüre nachweisen werde, dass alles, was im Text über die neokantianischen Revisionisten gesagt ist, im Wesen der Sache auch für diese „neuen", auf Hume und Berkeley zurückgreifenden Revisionisten, gilt.

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