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Wladimir I. Lenin 19161000 Über die Losung der „Entwaffnung"

Wladimir I. Lenin: Über die Losung der „Entwaffnung"

[Geschrieben Anfang Oktober 1916 Veröffentlicht im Dezember 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2. Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 396-407]

In einer ganzen Reihe von Ländern, hauptsächlich in den kleinen und im jetzigen Kriege abseitsstehenden, z. B. in Schweden, Norwegen, Holland, der Schweiz, werden Stimmen laut zugunsten der Ersetzung des alten Punktes des sozialdemokratischen Minimalprogramms: „Miliz“ oder „Volksbewaffnung“ durch einen neuen: „Entwaffnung“. Das Organ der internationalen Jugendorganisation „Jugendinternationale bringt in Nr. 3 einen redaktionellen Artikel für die Entwaffnung1. In R. Grimms „Thesen“ zur Kriegsfrage, die für den Parteitag der schweizerischen sozialdemokratischen Partei verfasst wurden, finden wir eine Konzession an die Idee der „Entwaffnung“. In der schweizerischen Zeitschrift „Neues Leben2 vom Jahre 1915 tritt Roland-Holst gewissermaßen für eine „Aussöhnung“ beider Forderungen, in Wirklichkeit aber für die gleiche Konzession ein. Im Organ der internationalen Linken, imVorboten, steht in Nr. 2 ein Artikel des holländischen Marxisten Wijnkoop, in dem dieser für die alte Forderung der Volksbewaffnung eintritt3. Die skandinavischen Linken akzeptieren die „Entwaffnung“, wie aus den unten veröffentlichten Artikeln4 hervorgeht, obwohl sie manchmal zugeben, dass in dieser Forderung ein pazifistisches Element enthalten ist.

Wir wollen die Argumente der Entwaffnungsanhänger untersuchen.

I

Eines der Hauptargumente zugunsten der Entwaffnung ist der nicht immer direkt ausgesprochene Gedanke: wir sind gegen den Krieg, überhaupt gegen jeden Krieg, und der bestimmteste, klarste, unzweideutigste Ausdruck dieser unserer Ansicht ist eben die Forderung der Entwaffnung.

Mit diesem unrichtigen Argument haben wir uns im Artikel über die Junius-Broschüre befasst, worauf wir den Leser auch verweisen. Sozialisten können nicht gegen jeden Krieg sein, ohne damit aufzuhören, Sozialisten zu sein. Man darf sich durch den jetzigen imperialistischen Krieg nicht blenden lassen. Für die imperialistische Epoche sind gerade solche Kriege zwischen „Großmächten“ typisch, aber auch demokratische Kriege und Aufstände, z. B. Kriege unterdrückter Nationen gegen ihre Unterdrücker, für ihre Befreiung von der Unterdrückung, sind keineswegs unmöglich. Unvermeidlich sind Bürgerkriege des Proletariats gegen die Bourgeoisie, für den Sozialismus. Möglich sind Kriege des in einem Lande siegreichen Sozialismus gegen andere, bürgerliche oder reaktionäre Länder.

Die Entwaffnung ist das Ideal des Sozialismus. In der sozialistischen Gesellschaft wird es keine Kriege geben, folglich wird die Entwaffnung verwirklicht werden. Aber der ist kein Sozialist, der die Verwirklichung des Sozialismus ohne soziale Revolution und Diktatur des Proletariats erwartet. Diktatur ist Staatsmacht, die sich unmittelbar auf Gewalt stützt. Gewalt in der Epoche des 20. Jahrhunderts – wie überhaupt in der Epoche der Zivilisation – ist weder die Faust noch der Knüttel, sondern das Heer. Die „Entwaffnung“ in das Programm aufnehmen, hieße schlechthin sagen: wir sind gegen die Anwendung von Waffen. Darin ist genau so wenig Marxismus, als wenn wir sagen wollten: wir sind gegen die Gewaltanwendung!

Wir wollen bemerken, dass die internationale Diskussion über diese Frage hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, in deutscher Sprache geführt worden ist. Und im Deutschen werden zwei Worte gebraucht, deren Unterschied im Russischen nicht leicht wiederzugeben ist. Das eine heißt „Abrüstung“ und wird z. B. von Kautsky und den Kautskyanern im Sinne der Einschränkung der Rüstungen gebraucht. Das andere heißt „Entwaffnung“ und wird hauptsächlich von den Linken im Sinne der Abschaffung des Militarismus, der Abschaffung eines jeden Militär-(Heeres)-Systems gebraucht. Wir sprechen in diesem Artikel von der zweiten, unter gewissen revolutionären Sozialdemokraten üblichen Forderung.

Die kautskyanische Predigt der „Abrüstung“, die ausgerechnet an die Adresse der jetzigen Regierungen der imperialistischen Großmächte gerichtet ist, ist trivialster Opportunismus, bürgerlicher Pazifismus, der in Wirklichkeit – trotz der „frommen Wünsche“ der süßlichen Kautskyaner – nur dazu dient, die Arbeiter vom revolutionären Kampf abzulenken. Denn den Arbeitern wird durch solche Predigten der Gedanke eingeimpft, als ob die jetzigen bürgerlichen Regierungen der imperialistischen Mächte nicht in Tausenden von Fäden des Finanzkapitals und in Dutzenden oder Hunderten von entsprechenden (d. h. räuberischen, mörderischen, imperialistische Kriege vorbereitenden) gegenseitigen Geheimverträgen verstrickt wären.

II

Eine unterdrückte Klasse, die nicht darnach strebt, die Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, als Sklave behandelt zu werden. Wir dürfen, ohne uns zu bürgerlichen Pazifisten und Opportunisten zu degradieren, nicht vergessen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass außer dem Klassenkampf und der Niederwerfung der Macht der herrschenden Klasse keine Rettung daraus möglich und denkbar ist.

In jeder Klassengesellschaft, sie möge auf der Sklaverei, Leibeigenschaft oder, wie heute, Lohnsklaverei beruhen, ist die unterdrückende Klasse bewaffnet. Nicht nur das heutige stehende Heer, sondern auch die heutige Miliz – selbst in den demokratischsten Republiken, z. B. in der Schweiz – ist Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat. Ich glaube, diese elementare Wahrheit nicht beweisen zu brauchen; es genügt, die Einsetzung von Militär (einschließlich der republikanisch-demokratischen Miliz) gegen Streikende zu erwähnen, eine Erscheinung, die allen kapitalistischen Ländern ohne Ausnahme gemeinsam ist. Die Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist eine der größten, kardinalsten, wichtigsten Tatsachen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft.

Und angesichts dieser Tatsache will man den revolutionären Sozialdemokraten zumuten, sie sollen die „Forderung“ der „Entwaffnung“ aufstellen! Das wäre eine vollständige Preisgabe des Klassenkampfstandpunktes und jedes Gedankens an die Revolution. Wir sagen: Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen – das ist die einzig mögliche Taktik der revolutionären Klasse, eine Taktik, die durch die ganze objektive Entwicklung des kapitalistischen Militarismus vorbereitet, fundiert und gelehrt wird. Nur nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen, was es auch ganz sicher dann – aber nicht früher – tun wird.

Und wenn der heutige Krieg in reaktionären Sozialpfaffen, in weinerlichen Kleinbürgern nur Schrecken, nur Erschrockenheit, nur Abscheu vor Waffengebrauch, Tod, Blut usw. erzeugt, so sagen wir dagegen: die kapitalistische Gesellschaft war und ist immer ein Schrecken ohne Ende. Und wenn jetzt dieser Gesellschaft durch diesen reaktionärsten aller Kriege ein Ende mit Schrecken vorbereitet wird, so haben wir keinen Grund, zu verzweifeln. Nichts anderes als Ausfluss der Verzweiflung ist objektiv die Predigt, die „Forderung“ – besser zu sagen: der Traum – von der „Entwaffnung“ in jetziger Zeit, wenn offenbar vor aller Augen der einzig legitime und revolutionäre Krieg, der Bürgerkrieg gegen die imperialistische Bourgeoisie, durch diese Bourgeoisie selber vorbereitet wird.

Wer das für eine „graue Theorie“, „bloße Theorie“ hält, den erinnern wir an zwei weltgeschichtliche Tatsachen: an die Rolle der Trusts und der Fabrikarbeit der Frauen einerseits, an die Kommune 1871 und die Dezembertage 1905 in Russland andererseits.

Es ist die Sache der Bourgeoisie, die Trusts zu fördern, Kinder und Frauen in die Fabriken zu jagen, sie dort zu martern, zu korrumpieren, unsäglichem Elend preiszugeben. Wir „unterstützen“ diese Entwicklung nicht, wir „fordern“ so was nicht, wir kämpfen dagegen. Aber wie kämpfen wir? Wir erklären: die Trusts und die Fabrikarbeit der Frauen sind progressiv. Wir wollen nicht zurück zum Handwerk, zum vormonopolistischen Kapitalismus, zur Hausarbeit der Frauen. Vorwärts, über die Trusts usw. hinaus und durch sie zum Sozialismus.

Die gleiche Erwägung, die den objektiven Gang der Entwicklung in Rechnung zieht, gilt – mutatis mutandis – von der heutigen Militarisierung des Volkes. Heute militarisiert die imperialistische Bourgeoisie nicht nur das ganze Volk, sondern auch die Jugend. Morgen wird sie meinetwegen die Frauen militarisieren. Wir antworten darauf: desto besser! Nur immer schneller voran – je schneller, desto näher dem bewaffneten Aufstande gegen den Kapitalismus. Wie können sich die Sozialdemokraten durch die Militarisierung der Jugend usw. einschüchtern oder entmutigen lassen, wenn sie das Beispiel der Kommune nicht vergessen. Es ist doch keine „Theorie“, kein Traum, sondern Tatsache. Und wäre es wirklich zum Verzweifeln, wenn die Sozialdemokraten allen ökonomischen und politischen Tatsachen zum Trotz daran zu zweifeln begännen, dass die imperialistische Epoche und die imperialistischen Kriege naturnotwendig, unvermeidlich zur Wiederholung dieser Tatsachen führen müssen.

Es war ein bürgerlicher Beobachter der Kommune, der im Mai 1871 in einer englischen Zeitung schrieb: „Wenn die französische Nation nur aus Frauen bestände, was wäre das für eine schreckliche Nation.“ Die Frauen und die Jugend vom dreizehnten Jahr an kämpften während der Kommune neben den Männern, und es wird nicht anders sein in kommenden Kämpfen um die Niederwerfung der Bourgeoisie. Die proletarischen Frauen werden nicht passiv zusehen, wie die gut bewaffnete Bourgeoisie die schlecht bewaffneten oder gar nicht bewaffneten Proletarier niederschießt, sie werden wieder, wie 1871, zu den Waffen greifen, und aus der heutigen „erschrockenen“ oder entmutigten Nation – richtiger: aus der heutigen, durch die Opportunisten mehr als durch die Regierungen desorganisierten Arbeiterbewegung – wird ganz sicher, früher oder später, aber ganz sicher ein internationaler Bund „schrecklicher Nationen“ des revolutionären Proletariats erstehen.

Jetzt durchdringt die Militarisierung das ganze öffentliche Leben. Der Imperialismus ist erbitterter Kampf der Großmächte um Teilung und Neuteilung der Welt – er muss daher zur weiteren Militarisierung in allen, auch in kleinen, auch in neutralen Ländern führen. Was sollen dagegen die proletarischen Frauen tun?? Nur jeden Krieg und alles Militärische verwünschen, nur die Entwaffnung fordern? Niemals werden sich die Frauen einer unterdrückten Klasse, die revolutionär ist, auf solche schändliche Rolle bescheiden. Sie werden vielmehr ihren Söhnen sagen:

Du wirst bald groß sein, man wird dir das Gewehr geben. Nimm es und erlerne gut alles Militärische – das ist nötig für die Proletarier, nicht, um gegen deine Brüder zu schießen, wie es jetzt in diesem Räuberkrieg geschieht und wie dir die Verräter des Sozialismus raten, sondern um gegen die Bourgeoisie deines ,eigenen“ Landes zu kämpfen, um der Ausbeutung, dem Elend und den Kriegen nicht durch fromme Wünsche, sondern durch das Besiegen der Bourgeoisie und deren Entwaffnung ein Ende zu bereiten.“

Wenn man nicht eine solche Propaganda und eben eine solche im Zusammenhang mit dem jetzigen Krieg treiben will, dann höre man gefälligst auf, große Worte von der internationalen revolutionären Sozialdemokratie, von der sozialen Revolution, von dem Krieg gegen den Krieg im Munde zu führen.

III

Die Anhänger der Entwaffnung sind gegen die Volksbewaffnung unter anderem auch deshalb, weil die letztere Forderung zu Konzessionen an den Opportunismus leichter führen soll. Wir haben das Wichtigste untersucht: das Verhältnis der Entwaffnung zum Massenkampf und zu der sozialen Revolution. Jetzt wollen wir die Frage von dem Verhältnis zum Opportunismus untersuchen. Einer der wichtigsten Gründe der Unannehmbarkeit der Forderung der Entwaffnung besteht eben darin, dass durch diese Forderung und die dadurch unvermeidlich zu erweckenden Illusionen unser Kampf gegen den Opportunismus geschwächt und entkräftigt wird.

Kein Zweifel, dieser Kampf steht auf der Tagesordnung in der Internationale. Der Kampf gegen den Imperialismus, wenn dieser Kampf nicht unzertrennlich mit dem Kampf gegen den Opportunismus verbunden ist, ist hohle Phrase oder ein Betrug. Einer der Hauptfehler von Zimmerwald und Kienthal und eine der Hauptursachen des möglichen Fiaskos dieser Keime der III. Internationale bestehen eben darin, dass die Frage vom Kampf gegen den Opportunismus nicht offen gestellt worden ist, geschweige denn entschieden im Sinne des unvermeidlichen Bruches mit den Opportunisten. Der Opportunismus hat – für eine gewisse Zeit – gesiegt in der europäischen Arbeiterbewegung. In allen größeren Ländern bildeten sich zwei Hauptschattierungen desselben: erstens der offene, zynische und darum weniger gefährliche Sozialimperialismus der Plechanows, Scheidemänner, Legiens usw., Albert Thomas und Sembat, Vandervelde, Hyndman, Henderson usw.; zweitens der verdeckte kautskyanische: Kautsky-Haase und „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ in Deutschland, Longuet, Pressemane, Mayéras usw. in Frankreich, Ramsay MacDonald und andere Führer der „Unabhängigen Arbeiterpartei in England, Martow, Tschcheïdse usw. in Russland, Treves und andere sogenannte linke Reformisten in Italien.

Der offene Opportunismus arbeitet offen und direkt gegen die Revolution und gegen die beginnenden revolutionären Bewegungen und Ausbrüche, im direkten Bunde mit den Regierungen, mögen die Formen dieses Bündnisses verschieden sein: von einer Teilnahme an der Regierung an bis zur Teilnahme an Kriegsindustriekomitees (in Russland). Die verdeckten Opportunisten, die Kautskyaner, sind für die Arbeiterbewegung viel schädlicher und gefährlicher, weil sie ihre Verteidigung des Bundes und der „Einigkeit“ mit den ersteren durch wohlklingende „marxistische“ Worte und „Friedens“losungen verdecken und plausibel machen.

Der Kampf gegen beide Formen des herrschenden Opportunismus kann nur auf allen Gebieten der proletarischen Politik geführt werden: parlamentarische Tätigkeit, Gewerkschaften, Streiks, Wehrfragen usw.

Worin besteht nun die Haupteigentümlichkeit, die beide Formen des herrschenden Opportunismus auszeichnet?

Darin, dass man die konkrete Frage vom Zusammenhang des jetzigen Krieges mit der Revolution und andere konkrete Fragen der Revolution verschweigt, vertuscht oder im Polizeisinn „beantwortet“. Und das, nachdem man unmittelbar vor diesem Krieg unzählige Male unoffiziell und im Basler Manifest offiziell ganz unzweideutig auf den Zusammenhang eben dieses kommenden Krieges mit der proletarischen Revolution hingewiesen hatte.

Und der Hauptfehler der Forderung der Entwaffnung ist auch der, dass alle konkreten Fragen der Revolution dadurch umgangen werden. Oder sind etwa die Entwaffnungsanhänger für eine ganz neue Art entwaffneter Revolution?

IV

Weiter. Wir sind absolut nicht gegen den Kampf um Reformen. Wir wollen nicht die unangenehme Möglichkeit ignorieren, dass die Menschheit im schlimmsten Falle noch einen zweiten imperialistischen Krieg überleben wird, wenn die Revolution trotz den mehrfachen Ausbrüchen der Massengärung und Massenempörung und trotz unseren Bemühungen aus diesem Krieg noch nicht geboren wird. Wir sind Anhänger eines Reformprogramms, das auch gegen die Opportunisten gerichtet werden muss. Die Opportunisten wären nur froh, wenn wir ihnen allein den Kampf um Reformen freiließen, uns selbst aber in ein Wolkenkuckucksheim einer „Entwaffnung“ von der schlechten Wirklichkeit drückten. Entwaffnung ist nämlich Flucht aus der schlechten Wirklichkeit, kein Kampf gegen sie.

Nebenbei gesagt, ist ein Hauptmangel der Fragestellung gewisser Linker z. B. in Bezug auf die Vaterlandsverteidigung die nicht genügend konkrete Antwort. Es ist theoretisch weit richtiger und praktisch unermesslich wichtiger zu sagen, dass in diesem imperialistischen Krieg die Vaterlandsverteidigung ein bürgerlich-reaktionärer Schwindel ist, als eine „allgemeine“ These gegen „jede“ Verteidigung des Vaterlandes aufzustellen. Das ist falsch und trifft auch nicht den unmittelbaren Feind der Arbeiter innerhalb der Arbeiterparteien – die Opportunisten.

Was die Miliz betrifft, so würden wir, auf eine konkrete und praktisch notwendige Antwort bedacht, sagen: Wir sind nicht für eine bürgerliche, sondern nur für eine proletarische Miliz. Deshalb keinen Mann und keinen Groschen nicht nur für das stehende Heer, sondern auch für die bürgerliche Miliz auch in solchen Ländern, wie die Vereinigten Staaten, die Schweiz, Norwegen usw., um so mehr, als wir selbst in den freiesten republikanischen Staaten (z. B. in der Schweiz) die fortschreitende Verpreußung der Miliz, besonders seit 1907 und 1911, und deren Prostituierung zu Militäraufgeboten gegen die Streiks sehen. Wir können fordern: Wahl der Offiziere durch Mannschaften, Abschaffung jeder Militärjustiz, Gleichstellung der ausländischen Arbeiter mit den einheimischen (besonders wichtig für imperialistische Länder, die fremde Arbeiter in steigender Zahl, wie z. B. die Schweiz, schamlos ausbeuten und rechtlos machen), weiter das Recht jeder, sagen wir, hundert Einwohner des Staates, freie Vereinigungen zur Erlernung des Kriegshandwerks zu bilden, freie Wahl der Instruktoren, Entschädigung derselben auf Staatskosten usw. Nur so könnte das Proletariat alles Militärische wirklich für sich und nicht für seine Sklavenhalter erlernen, was absolut in seinem Interesse liegt. Und jeder Erfolg, sei es auch nur ein Teilerfolg der revolutionären Bewegung – z. B. Eroberung einer Stadt, eines Industrieortes, eines Teiles der Armee – wird naturnotwendig, das hat auch die russische Revolution bewiesen, dazu führen, dass das siegreiche Proletariat eben dieses Programm zu verwirklichen gezwungen sein wird.

Endlich kann man natürlich den Opportunismus nicht allein mit Programmen, sondern nur dadurch besiegen, dass man unnachgiebig darauf drängt, dass die Programme auch wirklich durchgeführt werden. Der größte und verhängnisvollste Fehler der zusammengebrochenen Zweiten Internationale bestand darin, dass man Worte und Taten trennte, Heuchelei und revolutionäre Phrase (siehe das jetzige Verhältnis von Kautsky und Co. zum Basler Manifest) gewissenlos förderte. Indem wir an die Forderung der Entwaffnung von dieser Seite herangehen, müssen wir vor allem nach ihrer objektiven Bedeutung fragen. Entwaffnung als soziale Idee, d. h. eine solche Idee, die von irgendeiner sozialen Umgebung geboren wird und auf eine soziale Umgebung wirken kann und nicht nur eine persönliche Schrulle bleibt, entspringt offenbar aus den kleinlichen und ausnahmsweise „ruhigen“ Verhältnissen einiger Kleinstaaten, die abseits der blutigen Weltstraße des Krieges liegen und weiter zu liegen hoffen. Man betrachte die Argumentation der norwegischen Entwaffnungsanhänger: wir sind klein, unser Heer ist klein, wir können nichts gegen Großmächte (und darum auch nichts gegen die gewalttätige Einbeziehung in einen imperialistischen Bund mit irgendeiner Gruppe der Großmächte …), wir wollen ruhig bleiben in unserem Winkel und Winkelpolitik treiben, wir fordern Entwaffnung, bindende Schiedsgerichte, „permanente“ (etwa wie für Belgien) Neutralität usw.

Kleinstaatliches Beiseite-sein-wollen, kleinbürgerliches Streben, von großen Weltkämpfen fernzubleiben, seine etwaige Monopolstellung zum engherzigen Passivsein ausnützen – das ist die objektive gesellschaftliche Umgebung, die der Idee der Entwaffnung einen gewissen Erfolg und Verbreitung in einigen Kleinstaaten sichern kann. Natürlich ist solches Streben illusionär und reaktionär, der Imperialismus wird so wie so die Kleinstaaten in den Wirbel der Weltwirtschaft und der Weltpolitik einbeziehen.

Dies sei am Beispiel der Schweiz erläutert. Durch ihre imperialistische Umgebung sind ihr zwei Linien der Arbeiterbewegung objektiv vorgeschrieben: die Opportunisten streben im Bunde mit der Bourgeoisie darnach, aus der Schweiz einen republikanisch-demokratischen Verein zum Profitempfangen von den Touristen der imperialistischen Bourgeoisie zu machen und eine „ruhige“ Monopolstellung recht hübsch und ruhig zu wahren. Praktisch ist dies eine Politik des Bündnisses einer dünnen privilegierten Arbeiterschicht eines kleinen Landes in privilegierter Lage mit der Bourgeoisie ihres Landes gegen die Massen des Proletariats. Die wirklichen Sozialdemokraten der Schweiz streben darnach, die relative Freiheit und die „internationale“ Lage der Schweiz (die Nachbarschaft kulturell höchst entwickelter Länder), ferner den Umstand, dass die Schweiz Gott sei dank keine „selbständige“ Sprache, sondern drei Weltsprachen spricht, zur Erweiterung, Festigung, Stärkung des revolutionären Bundes der revolutionären Elemente des europäischen Proletariats auszunützen. Helfen wir unserer Bourgeoisie, noch möglichst lange die Monopolstellung des ruhigen Handels mit den Schönheiten der Alpen beizubehalten, vielleicht werden dann auch für uns ein paar Pfennige abfallen – das ist der objektive Inhalt der Politik der schweizerischen Opportunisten. Helfen wir dem Bund des revolutionären Proletariats Frankreichs, Deutschlands, Italiens zur Niederwerfung der Bourgeoisie – das ist der objektive Inhalt der Politik der schweizerischen revolutionären Sozialdemokraten. Leider wird diese Politik von den „Linken“ in der Schweiz noch ganz ungenügend durchgeführt, und der schöne Beschluss ihres Parteitags in Aarau im Jahre 1915 (die Anerkennung des revolutionären Massenkampfes) ist vorläufig mehr auf dem Papier geblieben. Aber nicht davon ist jetzt die Rede.

Die Frage, die uns hier interessiert, ist die: entspricht dieser Richtung der sozialdemokratischen Arbeit die „Entwaffnungs“forderung? Offenbar nicht. Objektiv entspricht die Entwaffnung der opportunistischen, eng-nationalen, beschränkt kleinstaatlichen Linie der Arbeiterbewegung. Objektiv ist die Entwaffnung das nationalste, das spezifisch nationale Programm der Kleinstaaten, kein internationales Programm der internationalen revolutionären Sozialdemokratie.

PS. In der letzten Nummer der englischen „Sozialistischen Rundschau“ – „The Socialist Review (September 1916), dem Organ der opportunistischen „Unabhängigen Arbeiterpartei“, finden wir auf Seite 287 die Resolution der Newcastler Konferenz dieser Partei: Verweigerung der Unterstützung jedes beliebigen Krieges jeder beliebigen Regierung, auch wenn dieser Krieg „nominell“ ein „Verteidigungskrieg“ sein sollte. Und auf Seite 205 finden wir im Leitartikel folgende Erklärung:

Wir billigen den Aufstand der Sinnfeiner nicht“ (den irischen Aufstand von 1916). „Wir billigen überhaupt keinen bewaffneten Aufstand, wie wir auch keine andere Form des Militarismus und des Krieges billigen.“5

Ist es noch nötig zu beweisen, dass diese „Antimilitaristen“, dass solche Anhänger der Entwaffnung nicht in einem kleinen, sondern in einem großen Staate die schlimmsten Opportunisten sind? Und doch haben sie theoretisch vollkommen recht, wenn sie den bewaffneten Aufstand auch als „eine der Formen“ des Militarismus und des Krieges betrachten.

1 Lenin meint den Artikel „Volksheer oder Entwaffnung?“ in der „Jugendinternationale Nr. 3 vom 1. März 1916.

2 Der von Lenin hier erwähnte Artikel von H. Roland-Holst „Miliz oder Abrüstung?“ ist in Nr. 10/11 und 12 (Oktober-Dezember 1915) erschienen.

3 Der Artikel Wijnkoops „Volksbewaffnung. Eine Grundlage zur Diskussion“ ist im „Vorboten“ Nr. 2 (April 1916) erschienen.

4 Lenin meint folgende, im „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2 erschienene Artikel: Karl Kilbom, „Die schwedische Sozialdemokratie und der Weltkrieg“ und Arvid Hansen, „Einige Momente der gegenwärtigen Arbeiterbewegung in Norwegen“.

5 Hier sind zwei Beiträge aus der Nr. 78 (August-September 1916) gemeint: eine Rezension des Buches „Socialism and War“ („Sozialismus und Krieg“) von Louis Boudin (New York 1915), gezeichnet L. E., der als Motto ein Zitat aus der Resolution der Konferenz von Newcastle vorausgeschickt ist, und ein Artikel „Die irische Revolte“ von J. B. G. auf S. 204-207.

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