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Wladimir I. Lenin 19160800 Über die Junius-Broschüre

Wladimir I. Lenin: Über die Junius-Broschüre

[Verfasst im August 1916 Veröffentlicht im Oktober 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 1 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 212-228]

Endlich ist in Deutschland illegal, ohne Anpassung an die niederträchtige junkerliche Zensur, eine sozialdemokratische Broschüre erschienen, die den Fragen des Krieges gewidmet ist! Der Verfasser, der offenbar dem „linksradikalen“ Flügel der Partei angehört, hat seine Broschüre mit Junius gezeichnet (was lateinisch „der Jüngere“ heißt) und sie „Die Krise der Sozialdemokratie“ benannt. In einem Anhang sind die „Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“ abgedruckt, die bereits der Berner ISK (Internationale Sozialistische Kommission) vorgelegt worden und in Nr. 3 ihres Bulletins veröffentlicht sind; sie stammen von der Gruppe „Internationale“, die im Frühjahr 1915 unter diesem Titel eine Nummer einer Zeitschrift (mit Beiträgen von Clara Zetkin, Mehring, Rosa Luxemburg, Thalheimer, Duncker, Ströbel u. a.) herausbrachte und die im Winter 1915/16 eine Konferenz von Sozialdemokraten aus allen Teilen Deutschlands abhielt1, die diesen Thesen zustimmte.

Die Broschüre ist im April 1915 geschrieben, wie der Verfasser in der vom 2. Januar 1916 datierten Einleitung sagt, und „ganz unverändert“ gedruckt worden. Ihr früheres Erscheinen wurde durch „äußere Umstände“ verhindert. Sie befasst sich nicht so sehr mit der „Krise der Sozialdemokratie“, als mit der Analyse des Krieges, mit der Widerlegung der Legende von seinem freiheitlichen, nationalen Charakter, mit dem Nachweis, dass dies sowohl von Seiten Deutschlands als auch von Seiten der anderen Großmächte ein imperialistischer Krieg ist, ferner mit revolutionärer Kritik am Verhalten der offiziellen Partei. Die überaus lebendig geschriebene Broschüre von Junius hat zweifellos im Kampf gegen die auf die Seite der Bourgeoisie und der Junker übergegangene ehemals Sozialdemokratische Partei Deutschlands eine große Rolle gespielt und wird sie auch weiterhin spielen, und wir begrüßen den Autor von ganzem Herzen.

Dem russischen Leser, der mit der 1914-1916 im Auslande in russischer Sprache erschienenen sozialdemokratischen Literatur bekannt ist, bietet die Junius-Broschüre nichts prinzipiell Neues. Wenn man diese Broschüre liest und den Argumenten des deutschen revolutionären Marxisten das gegenüberstellt, was z. B. im Manifest des Zentralkomitees unserer Partei (September/November 1914), in den Berner Resolutionen (März 1915) und den zahlreichen Kommentaren zu ihnen niedergelegt worden ist, so muss man sich nur von der großen Unvollständigkeit der Argumente Junius’ und von zwei Fehlern, die er begeht, überzeugen. Wenn wir die nachfolgenden Ausführungen der Kritik der Mängel und Fehler Junius’ widmen, müssen wir ausdrücklich unterstreichen, dass wir dies um der für die Marxisten so notwendigen Selbstkritik willen und zur allseitigen Überprüfung der Anschauungen tun, die als ideelle Grundlage der III. Internationale dienen sollen. Die Junius-Broschüre ist im großen Ganzen eine ausgezeichnete marxistische Arbeit, und es ist sehr wohl möglich, dass ihre Mängel bis zu einem gewissen Grade zufälligen Charakters sind.

Der Hauptmangel der Junius-Broschüre und ein direkter Rückschritt im Vergleich zur legalen (wenn auch sofort nach ihrem Erscheinen verbotenen) Zeitschrift „Die Internationale“ ist das Verschweigen des Zusammenhanges zwischen dem Sozialchauvinismus (der Verfasser gebraucht weder diesen Terminus noch den weniger präzisen Ausdruck Sozialpatriotismus) mit dem Opportunismus. Der Verfasser spricht ganz richtig von der „Kapitulation“ und dem Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratischen Partei, vom „Verrat“ ihrer „offiziellen Führer“, aber weiter geht er nicht. Indes hat aber schon „Die Internationale“ eine Kritik des „Zentrums“, d. h. des Kautskyanertums, gegeben und seine Charakterlosigkeit, die Prostituierung des Marxismus durch dasselbe, seine Liebedienerei vor dem Opportunisten gerechterweise mit Spott überschüttet. Diese selbe Zeitschrift begann die wahre Rolle der Opportunisten zu enthüllen, indem sie z. B. die äußerst wichtige Tatsache mitteilte, dass die Opportunisten am 4. August 1914 mit einem Ultimatum, mit dem fertigen Entschluss, in jedem Falle für die Kredite zu stimmen, erschienen waren. Sowohl in der Junius-Broschüre als auch in den Thesen ist weder vom Opportunismus noch vom Kautskyanertum die Rede! Das ist theoretisch unrichtig, denn man kann den „Verrat“ nicht erklären, ohne ihn mit dem Opportunismus als Richtung in Zusammenhang zu bringen, die schon auf eine lange Geschichte, die ganze Geschichte der II. Internationale, zurückblickt. Das ist praktisch-politisch falsch, da man die „Krise der Sozialdemokratie“ weder verstehen noch überwinden kann, ohne die Bedeutung und die Rolle der zwei Richtungen: der offen opportunistischen (Legien, David usw.) und der verkappt opportunistischen (Kautsky und Konsorten) klargestellt zu haben. Das ist ein Rückschritt im Vergleich z. B. zum historischen Artikel von Otto Rühle im „Vorwärts vom 11. Januar 1916, in dem er klar und offen die Unvermeidlichkeit einer Spaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nachweist (die Redaktion des „Vorwärts“ antwortete ihm mit der Wiederholung süßlicher, heuchlerischer kautskyanischer Phrasen, ohne ein einziges sachliches Argument gegen den Umstand anführen zu können, dass bereits zwei Parteien vorhanden sind, die nicht mehr miteinander versöhnt werden können). Das ist erstaunlich inkonsequent, denn in der 12. These der „Internationale“ ist direkt von der Notwendigkeit einer „neuen“ Internationale die Rede „infolge des Verrates der offiziellen Vertretungen der sozialistischen Parteien der führenden Länder“ und ihres „Überganges … auf den Boden der bürgerlich-imperialistischen Politik“. Es ist klar, dass es einfach lächerlich wäre, von einer Teilnahme der alten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands oder einer Partei, die sich mit Legien, David und Konsorten abfindet, an der „neuen“ Internationale zu sprechen.

Wie sich dieser Rückschritt der Gruppe „Internationale“ erklären lässt, wissen wir nicht. Der größte Mangel des gesamten revolutionären Marxismus in Deutschland ist das Fehlen einer festgefügten illegalen Organisation, die systematisch ihre Linie verfolgt und die Massen im Geiste der neuen Aufgaben erzieht: eine solche Organisation müsste sowohl dem Opportunismus als auch dem Kautskyanertum gegenüber eine klare Stellung einnehmen. Das ist um so notwendiger, als die deutschen revolutionären Sozialdemokraten die beiden letzten Tageszeitungen verloren haben – die „Bremer Bürgerzeitung“ und den Braunschweiger „Volksfreund“, die beide zu den Kautskyanern übergegangen sind. Nur die Gruppe der „Internationalen Sozialisten Deutschlands (ISD) bleibt ihrer Meinung, klar und deutlich für alle, treu.

Einige Mitglieder der Gruppe „Internationale“ sind anscheinend wieder in den Sumpf des prinzipienlosen Kautskyanertums hinab geglitten Ströbel z. B. ist so weit gegangen, in der Neuen Zeit Bernstein und Kautsky Komplimente zu machen2! Und ganz kürzlich, am 15. August 1916, hat er in den Zeitungen unter dem Titel: „Pazifismus und Sozialdemokratie“3 einen Artikel veröffentlicht, in dem er den trivialen Pazifismus Kautskys verteidigt. Was Junius anbetrifft, so wendet er sich in entschiedenster Weise gegen die kautskyanische Projektmacherei im Geiste der „Abrüstung“, der „Aufhebung der Geheimdiplomatie“ usw. Es ist möglich, dass es in der Gruppe „Internationale“ zwei Strömungen gibt: eine revolutionäre und eine schwankende, zum Kautskyanertum neigende.

Von den irrigen Auffassungen Junius’ ist die erste in der fünften These der Gruppe „Internationale“ festgelegt:

In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen … “

Der Anfang der fünften These, die mit diesem Satze endigt, ist der Charakteristik des jetzigen Krieges als eines imperialistischen gewidmet. Es ist möglich, dass die Leugnung nationaler Kriege schlechthin entweder ein Versehen oder aber eine zufällige Übertreibung bei der Betonung des ganz richtigen Gedankens ist, dass der jetzige Krieg ein imperialistischer und kein nationaler Krieg ist. Da aber auch das Gegenteil der Fall sein kann, da die irrige Negierung aller nationalen Kriege als Reaktion auf die fälschliche Darstellung des gegenwärtigen Krieges als eines nationalen Krieges bei verschiedenen Sozialdemokraten festzustellen ist, so sind wir gezwungen, auf diesen Fehler näher einzugehen.

Junius hat vollkommen recht, wenn er den entscheidenden Einfluss des „imperialistischen Milieus“ im gegenwärtigen Kriege hervorhebt, wenn er sagt, dass hinter Serbien Russland, hinter dem „serbischen Nationalismus der russische Imperialismus steht“ und dass die Teilnahme z. B. Hollands am Kriege ebenfalls imperialistischen Beweggründen entspringen würde, da es erstens seine Kolonien verteidigen würde und zweitens der Verbündete einer der imperialistischen Koalitionen wäre. Das ist unbestreitbar – in Bezug auf den jetzigen Krieg. Und wenn Junius hierbei besonders hervorhebt, was für ihn in erster Linie wichtig ist: den Kampf gegen das „Phantom des nationalen Krieges, das die sozialdemokratische Politik gegenwärtig beherrscht“ (S. 81), so muss man seine Ausführungen als richtig und durchaus angebracht anerkennen.

Es wäre nur ein Fehler, wollte man in Übertreibung dieser Wahrheit, abweichend von der marxistischen Forderung, konkret zu bleiben, die Beurteilung des gegenwärtigen Krieges auf alle unter dem Imperialismus möglichen Kriege übertragen und die nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus vergessen. Das einzige Argument zur Verteidigung der These: „nationale Kriege kann es nicht mehr geben“, ist, dass die Welt unter einem kleinen Häuflein imperialistischer „Großmächte“ aufgeteilt ist und sich darum jeder, wenn auch ursprünglich nationaler Krieg sich in einen imperialistischen verwandelt, da er die Interessen einer der imperialistischen Mächte oder Koalitionen berührt (S. 81 bei Junius).

Die Unrichtigkeit dieses Argumentes ist augenfällig. Selbstverständlich besteht der Grundsatz der marxistischen Dialektik darin, dass alle Grenzen in der Natur und in der Geschichte bedingt und verschiebbar sind, dass es keine einzige Erscheinung gibt, die nicht unter gewissen Bedingungen in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Ein nationaler Krieg kann in einen imperialistischen umschlagen und umgekehrt. Ein Beispiel: Die Kriege der großen französischen Revolution begannen als nationale Kriege und waren auch solche. Diese Kriege waren revolutionär: sie verteidigten die große Revolution gegen eine Koalition konterrevolutionärer Monarchien. Als aber Napoleon das französische Kaiserreich schuf und eine ganze Reihe seit langem bestehender, großer, lebensfähiger Nationalstaaten Europas unterjochte, da wurden die nationalen französischen Kriege zu imperialistischen, die ihrerseits wieder nationale Befreiungskriege gegen den Imperialismus Napoleons erzeugten.

Nur ein Sophist könnte den Unterschied zwischen einem imperialistischen und einem nationalen Kriege mit der Begründung verwischen, dass der eine in den andern umschlagen kann. Die Dialektik hat nicht selten – auch in der Geschichte der griechischen Philosophie – als Brücke zur Sophistik gedient. Wir bleiben aber Dialektiker, indem wir die Sophismen nicht durch die Leugnung jeder Möglichkeit irgendwelchen Umschlagens überhaupt bekämpfen, sondern mit Hilfe der konkreten Analyse des Gegebenen in seinem Milieu und seiner Entwicklung.

Dass der gegebene imperialistische Krieg, der von 1914-1916, sich in einen nationalen Krieg verwandelt, ist deshalb in hohem Grade unwahrscheinlich, weil die Klasse, die die Vorwärtsentwicklung vertritt, das Proletariat ist, das objektiv danach strebt, diesen Krieg in den Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie zu verwandeln, ferner aber auch deshalb, weil die Kräfte beider Koalitionen sich nur unerheblich voneinander unterscheiden und das internationale Finanzkapital überall eine reaktionäre Bourgeoisie geschaffen hat. Aber man kann eine solche Verwandlung nicht für unmöglich erklären: wenn das Proletariat Europas auf 20 Jahre hinaus ohnmächtig bliebe; wenn dieser Krieg mit Siegen in der Art der Siege Napoleons und mit der Versklavung einer Reihe lebensfähiger Nationalstaaten endete; wenn der außereuropäische Imperialismus (der japanische und der amerikanische in erster Linie) sich ebenfalls noch 20 Jahre halten könnte, ohne z. B. infolge eines japanisch-amerikanischen Krieges in den Sozialismus umzuschlagen, dann wäre ein großer nationaler Krieg in Europa möglich. Das wäre eine Rückentwicklung Europas um einige Jahrzehnte. Das ist unwahrscheinlich. Es ist aber nicht unmöglich, denn zu glauben, die Weltgeschichte ginge glatt und gleichmäßig vorwärts, ohne manchmal Riesensprünge nach rückwärts zu machen, ist undialektisch, unwissenschaftlich, theoretisch unrichtig.

Weiter. Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich. In den Kolonien und Halbkolonien (China, Türkei, Persien) leben bis zu tausend Millionen Menschen, d. h. über die Hälfte der gesamten Bevölkerung der Erde. Nationale Freiheitsbewegungen sind hier entweder schon sehr stark, oder sie sind im Wachsen und in Entwicklung begriffen. Jeder Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Die Fortsetzung der Politik der nationalen Befreiung in den Kolonien werden unvermeidlicherweise nationale Kriege der Kolonien gegen den Imperialismus sein. Solche Kriege können zu einem imperialistischen Kriege der jetzigen imperialistischen „Großmächte“ führen, oder auch nicht – das hängt von vielen Umständen ab.

Ein Beispiel: England und Frankreich haben im siebenjährigen Krieg um Kolonien gekämpft, d. h. sie führten einen imperialistischen Krieg (der sowohl auf der Basis der Sklaverei oder der des primitiven Kapitalismus als auch auf der gegenwärtigen Basis des hochentwickelten Kapitalismus möglich ist). Frankreich wird besiegt und verliert einen Teil seiner Kolonien. Einige Jahre später beginnt der nationale Befreiungskrieg der nordamerikanischen Staaten gegen England allein. Frankreich und Spanien, die selbst noch Teile der Vereinigten Staaten von heute besitzen, schließen aus Feindschaft gegen England, d. h. aus ihren imperialistischen Interessen heraus, einen Freundschaftsvertrag mit den Staaten, die sich gegen England erhoben haben. Französische Truppen schlagen zusammen mit den amerikanischen die Engländer. Wir haben es hier mit einem nationalen Befreiungskrieg zu tun, in dem der imperialistische Wettstreit ein hinzugekommenes Element ohne ernste Bedeutung ist – im Gegensatz zu dem, was wir im Kriege 1914-1916 sehen (das nationale Element im österreichisch-serbischen Krieg hat keine ernste Bedeutung im Vergleich zu dem alles bestimmenden imperialistischen Wettstreit). Daraus ist ersichtlich, wie sinnlos es wäre, den Begriff Imperialismus schablonenhaft anzuwenden und aus ihm die „Unmöglichkeit“ nationaler Kriege zu folgern. Ein nationaler Befreiungskrieg, z. B. eines Bündnisses von Persien, Indien und China gegen diese oder jene imperialistischen Mächte ist durchaus möglich und wahrscheinlich, da er sich aus der nationalen Befreiungsbewegung dieser Länder ergeben würde, wobei das Umschlagen eines solchen Krieges in einen imperialistischen Krieg zwischen den jetzigen imperialistischen Mächten von sehr vielen konkreten Umständen abhinge, für deren Eintreten zu bürgen lächerlich wäre.

Drittens kann man selbst in Europa nationale Kriege in der Ära des Imperialismus nicht für unmöglich halten. Die „Ära des Imperialismus“ hat den jetzigen Krieg zu einem imperialistischen gemacht, sie wird unvermeidlich (solange nicht der Sozialismus kommt) neue imperialistische Kriege erzeugen, sie hat die Politik der jetzigen Großmächte zu einer durch und durch imperialistischen gemacht, aber diese „Ära“ schließt keineswegs nationale Kriege aus, z. B. von Seiten der kleinen (nehmen wir an, annektierten oder national unterdrückten) Staaten gegen die imperialistischen Mächte, wie sie auch im Osten Europas nationale Bewegungen in großem Umfange nicht ausschließt. In Bezug auf Österreich z. B. hat Junius ein sehr gesundes Urteil, wenn er nicht nur das „Ökonomische“, sondern auch das eigenartige Politische in Betracht zieht, die „innere Lebensunfähigkeit Österreichs“ hervorhebt und erkennt, dass „die Habsburgische Monarchie nicht die politische Organisation eines bürgerlichen Staates, sondern bloß ein lockeres Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten“ darstellt und dass die „Liquidierung Österreich-Ungarns historisch nur eine Fortsetzung des Zerfalles der Türkei und zusammen mit ihm ein Erfordernis des geschichtlichen Entwicklungsprozesses“ ist. Mit einigen Balkanstaaten und mit Russland steht es nicht besser. Und unter der Voraussetzung einer starken Erschöpfung der „Großmächte“ in diesem Kriege oder unter der Voraussetzung des Sieges der Revolution in Russland sind nationale Kriege, sogar siegreiche, durchaus möglich. Die Einmischung der imperialistischen Mächte ist in der Praxis nicht unter allen Umständen durchführbar, das – einerseits.

Wenn man andererseits aber so „ins Blaue hinein“ urteilt, dass der Krieg eines kleinen Staates gegen einen Riesenstaat aussichtslos sei, so ist darauf zu sagen, dass ein aussichtsloser Krieg auch ein Krieg ist; überdies können gewisse Erscheinungen im Innern der „Staatenriesen“, z. B. der Beginn der Revolution, einen „aussichtslosen“ Krieg sehr „aussichtsreich“ machen.

Wir sind nicht nur darum so ausführlich auf die Unrichtigkeit der Behauptung, dass es „keine nationalen Kriege mehr geben kann“, eingegangen, weil sie theoretisch offensichtlich falsch ist. Es wäre natürlich sehr traurig, wenn die „Linken“ der Theorie des Marxismus gegenüber einen Mangel an Sorgfalt bekundeten in einer Zeit, in der die Gründung der III. Internationale nur auf dem Boden des nicht vulgarisierten Marxismus möglich ist. Aber auch in praktisch-politischer Hinsicht ist dieser Fehler sehr schädlich: aus ihm wird die unsinnige Propaganda für die „Entwaffnung“ abgeleitet, da es angeblich keine anderen Kriege als reaktionäre mehr geben könne; aus ihm leitet man die noch sinnlosere und direkt reaktionäre Gleichgültigkeit den nationalen Bewegungen gegenüber ab. Eine solche Gleichgültigkeit wird zum Chauvinismus, wenn Angehörige der europäischen „großen“ Nationen, d. h. der Nationen, die eine Masse kleiner und kolonialer Völker unterdrücken, mit hoch gelahrter Miene erklären: „Nationale Kriege kann es nicht mehr geben!“ Nationale Kriege gegen imperialistische Mächte sind nicht nur möglich und wahrscheinlich, sie sind unvermeidlich, sie sind fortschrittlich und revolutionär, obgleich natürlich zu ihrem Erfolge entweder die vereinten Anstrengungen einer ungeheuren Zahl von Bewohnern unterdrückter Länder (hunderte Millionen in dem von uns angeführten Beispiel Indiens und Chinas) erforderlich sind oder eine besonders günstige Konstellation der internationalen Lage (z. B. Lähmung der Intervention der imperialistischen Staaten infolge ihrer Schwächung, ihres Krieges, ihres Antagonismus usw.) oder der gleichzeitige Aufstand des Proletariats einer der Großmächte gegen die Bourgeoisie (dieser in unserer Aufzählung letzte Fall ist der erste vom Standpunkt des Wünschenswerten und für den Sieg des Proletariats Vorteilhaften).

Es muss jedoch bemerkt werden, dass es ungerecht wäre, Junius der Gleichgültigkeit den nationalen Bewegungen gegenüber zu bezichtigen. Hebt er doch wenigstens unter den Sünden der sozialdemokratischen Fraktion ihr Schweigen anlässlich der Hinrichtung eines Führers der Eingeborenen in Kamerun wegen „Hochverrats“ hervor (offenbar wegen eines versuchten Aufstandes aus Anlass des Krieges) und betont an anderer Stelle (speziell für die Herren Legien, Lensch und ähnliche als „Sozialdemokraten“ geltende Lumpe), dass Kolonialvölker auch Völker sind. Er erklärt mit absoluter Entschiedenheit:

Der Sozialismus gesteht jedem Volke das Recht auf Unabhängigkeit und Freiheit, auf selbständige Verfügung über die eigenen Geschicke zu … Der internationale Sozialismus erkennt das Recht freier, unabhängiger, gleichberechtigter Nationen, aber nur er kann solche Nationen schaffen, erst er kann das Selbstbestimmungsrecht der Völker verwirklichen. Auch diese Losung des Sozialismus ist, wie alle anderen, nicht eine Heiligsprechung des Bestehenden, sondern ein Wegweiser und Ansporn für die revolutionäre, umgestaltende, aktive Politik des Proletariats“ (S. 77 u. 78).

Es würden also jene gewaltig irren, die glauben, dass alle linken deutschen Sozialdemokraten in jene Engherzigkeit und jene Karikatur des Marxismus verfallen seien, zu der verschiedene holländische und polnische Sozialdemokraten gelangt sind, die das Selbstbestimmungsrecht selbst im Sozialismus nicht anerkennen. Übrigens, über die speziellen holländischen und polnischen Quellen dieses Irrtums ist an anderer Stelle die Rede.

Ein anderer irriger Gedankengang Junius’ ist mit der Frage der Vaterlandsverteidigung verbunden. Das ist eine politische Kardinalfrage in der Zeit des imperialistischen Krieges. Und Junius hat uns in der Überzeugung bestärkt, dass unsere Partei diese Frage auf die einzig richtige Art gestellt hat: das Proletariat ist gegen die Vaterlandsverteidigung in diesem, imperialistischen, Kriege in Anbetracht seines räuberischen, sklavenhalterischen, reaktionären Charakters, in Anbetracht der Möglichkeit und Notwendigkeit, ihm den Bürgerkrieg für den Sozialismus entgegenzustellen (und danach streben, jenen Krieg in diesen umzuwandeln). Junius hat einerseits den imperialistischen Charakter des jetzigen Krieges – zum Unterschied von einem nationalen Krieg – ausgezeichnet aufgedeckt, ist aber andererseits in einen äußerst seltsamen Fehler verfallen, indem er sich bemüht hat, ein nationales Programm für den gegenwärtigen, nicht nationalen Krieg an den Haaren herbeizuziehen! Das klingt fast unglaublich, ist aber eine Tatsache.

Die offiziellen Sozialdemokraten Legienscher wie Kautskyscher Schattierung wiederholten mit besonderem Eifer das Argument von der „Invasion“, aus Liebedienerei vor der Bourgeoisie, die am meisten über die ausländische „Invasion“ zeterte, um die Volksmassen über den imperialistischen Charakter des Krieges hinwegzutäuschen. Kautsky, der jetzt naiven und leichtgläubigen Leuten versichert (unter anderem auch durch den in Russland lebenden OK-Anhänger Spektator), dass er Ende 1914 zur Opposition übergegangen sei, beruft sich nach wie vor auf dieses „Argument“! Zur Widerlegung dieses Arguments führt Junius äußerst lehrreiche historische Beispiele an, um zu beweisen, dass „Invasion und Klassenkampf in der bürgerlichen Geschichte nicht Gegensätze sind, wie es in der offiziellen Legende heißt, sondern eines Mittel und eine Äußerung des anderen ist“.

Beispiele: Die Bourbonen in Frankreich riefen die ausländische Invasion gegen die Jakobiner, die Bourgeois im Jahre 1871 – gegen die Kommune. Marx schrieb in seinem „Bürgerkrieg in Frankreich“:

Der höchste heroische Aufschwung, dessen die alte Gesellschaft noch fähig war, ist der Nationalkrieg, und dieser erweist sich jetzt als reiner Regierungsschwindel, der keinen anderen Zweck mehr hat, als den Klassenkampf hinauszuschieben, und der beiseite fliegt, sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert.“

Aber das klassische Beispiel aller Zeiten ist die Große Französische Revolution“, schreibt Junius, mit Bezug auf das Jahr 1793. Und aus alldem wird die Schlussfolgerung gezogen, dass

wie Jahrhunderte bezeugen, also nicht der Belagerungszustand, sondern der rücksichtslose Klassenkampf, der das Selbstgefühl, den Opfermut und die sittliche Kraft der Volksmassen wachrüttelt, der beste Schutz und die beste Wehr des Landes gegen äußere Feinde ist.“

Die praktische Schlussfolgerung, die Junius zieht, ist folgende:

Ja, die Sozialdemokraten sind verpflichtet, ihr Land in einer großen historischen Krise zu verteidigen. Und darin gerade liegt eine schwere Schuld der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, dass sie in ihrer Erklärung vom 4. August feierlich verkündete: ,Wir lassen das Vaterland in der Stunde der Gefahr nicht im Stich“, ihre Worte aber im gleichen Augenblick verleugnete. Sie hat das Vaterland in der Stunde der größten Gefahr im Stiche gelassen. Denn die erste Pflicht gegenüber dem Vaterland in jener Stunde war: ihm den wahren Hintergrund dieses imperialistischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war; laut und vernehmlich auszusprechen, dass für das deutsche Volk in diesem Kriege Sieg wie Niederlage gleich verhängnisvoll sind; sich der Knebelung des Vaterlandes durch den Belagerungszustand bis zum äußersten zu widersetzen; die Notwendigkeit der sofortigen Volksbewaffnung und der Entscheidung des Volkes über Krieg und Frieden zu proklamieren; die permanente Tagung der Volksvertretung für die Dauer des Krieges mit allem Nachdruck zu fordern, um die wachsame Kontrolle der Regierung durch die Volksvertretung und der Volksvertretung durch das Volk zu sichern; die sofortige Abschaffung aller politischen Entrechtung zu verlangen, da nur ein freies Volk sein Land wirksam verteidigen kann; endlich dem imperialistischen, auf die Erhaltung Österreichs und der Türkei, d. h. der Reaktion in Europa und in Deutschland gerichteten Programm des Krieges das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848, das Programm von Marx, Engels und Lassalle: die Losung der einigen großen deutschen Republik entgegenzustellen. Das war die Fahne, die dem Lande vorangetragen werden musste, die wahrhaft national, wahrhaft freiheitlich gewesen wäre und in Übereinstimmung mit den besten Traditionen Deutschlands, wie mit der internationalen Klassenpolitik des Proletariats …

So ist das schwere Dilemma zwischen Vaterlandsinteressen und internationaler Solidarität des Proletariats, der tragische Konflikt, der unsere Parlamentarier nur ,mit schwerem Herzen“ auf die Seite des imperialistischen Krieges fallen ließ, reine Einbildung, bürgerlich-nationalistische Fiktion. Zwischen den Landesinteressen und dem Klasseninteresse der proletarischen Internationale besteht vielmehr im Krieg wie im Frieden vollkommene Harmonie: beide erfordern die energischste Entfaltung des Klassenkampfes und die nachdrücklichste Vertretung des sozialdemokratischen Programms.“

So argumentiert Junius. Das Irrige seiner Ausführungen springt in die Augen, und wenn unsere offenen und verkappten Lakaien des Zarismus, die Herren Plechanow und Tschchenkeli, und vielleicht sogar die Herren Martow und Tschcheïdse, mit Schadenfreude nach den Worten Junius’ greifen werden, nicht auf die theoretische Wahrheit, sondern nur darauf bedacht, sich herauszuwinden, die Spuren zu verwischen, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen, müssen wir uns ausführlicher mit dem theoretischen Ursprung der Fehler von Junius befassen.

Er schlägt vor, dem imperialistischen Krieg ein nationales Programm „entgegenzustellen“. Der fortschrittlichen Klasse schlägt er vor, sich der Vergangenheit und nicht der Zukunft zuzuwenden!

1793 und 1848 stand objektiv sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und in ganz Europa die bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung. Dieser objektiven historischen Lage der Dinge entsprach das „wahrhaft-nationale“, d. h. national-bürgerliche Programm der damaligen Demokratie, das im Jahre 1793 von den revolutionärsten Elementen der Bourgeoisie und des „vierten Standes“ verwirklicht und im Jahre 1848 von Marx im Namen der gesamten fortschrittlichen Demokratie verkündet wurde. Den feudal-dynastischen Kriegen wurden damals objektiv revolutionär-demokratische, nationale Befreiungskriege entgegengestellt. Das war der Inhalt der historischen Aufgaben der Epoche.

Jetzt ist für die führenden, größten Staaten Europas die objektive Lage eine andere. Die Vorwärtsentwicklung – wenn man von möglichen, vorübergehenden Rückschlägen absieht – ist zu verwirklichen nur in der Richtung der sozialistischen Gesellschaft, der sozialistischen Revolution. Dem imperialistisch-bürgerlichen Krieg, dem Krieg des hochentwickelten Kapitalismus kann unter dem Gesichtspunkt der Vorwärtsentwicklung, unter dem Gesichtspunkt der fortgeschrittenen Klasse, objektiv nur ein Krieg gegen die Bourgeoisie entgegenstehen, d. h. in erster Linie der Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie um die Macht, der Krieg, ohne den es eine ernste Vorwärtsbewegung nicht geben kann, ferner – nur unter bestimmten besonderen Bedingungen – ein eventueller Krieg für die Verteidigung des sozialistischen Staates gegen die bürgerlichen Staaten. Aus diesem Grunde blieben jene Bolschewiki (die zum Glück sehr vereinzelt waren und von uns auch sofort an die „Prisyw-Leute abgegeben wurden), die bereit waren, sich auf den Standpunkt der bedingten Verteidigung, der Verteidigung des Vaterlandes unter der Bedingung der siegreichen Revolution und des Sieges der Republik in Russland zu stellen, nur dem Buchstaben des Bolschewismus treu, verrieten aber seinen Geist; denn das in einen imperialistischen Krieg der führenden europäischen Mächte verwickelte Russland würde auch als Republik einen ebenfalls imperialistischen Krieg führen!

Wenn Junius sagt, dass der Klassenkampf das beste Mittel gegen die Invasion sei, so wendet er die Marxsche Dialektik nur halb an, er macht einen Schritt auf dem richtigen Wege, weicht aber dann gleich von ihm ab. Die Marxsche Dialektik erfordert die konkrete Analyse der jeweiligen historischen Lage. Dass der Klassenkampf das beste Mittel gegen die Invasion ist – das ist richtig sowohl in Bezug auf die Bourgeoisie, die den Feudalismus stürzt, als auch in Bezug auf das Proletariat, das die Bourgeoisie niederwirft. Eben weil das richtig ist in Bezug auf jede Klassenunterdrückung, ist es zu allgemein und darum für den gegebenen besonderen Fall unzureichend. Der Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie ist auch eine der Arten des Klassenkampfes, und nur diese Art des Klassenkampfes würde Europa (ganz Europa und nicht nur ein Land) von der Gefahr der Invasion befreien. Die „großdeutsche Republik“ hätte, wenn sie in den Jahren 1914-1916 existiert hätte, einen ebensolchen imperialistischen Krieg geführt.

Junius kommt ganz nahe an die richtige Antwort auf diese Frage und an die richtige Lösung heran: Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie für den Sozialismus, gleichsam als scheute er sich, die Wahrheit bis zu Ende auszusprechen, kehrt er aber wieder zurück zur Phantasie von einem „nationalen Kriege“ in den Jahren 1914, 1915 und 1916. Wenn man die Frage nicht von der theoretischen, sondern von der rein praktischen Seite aus betrachtet, so wird der Fehler Junius’ nicht weniger klar. Die ganze bürgerliche Gesellschaft, alle Klassen Deutschlands, die Bauernschaft inbegriffen, waren für den Krieg (in Russland war wahrscheinlich dasselbe der Fall – wenigstens befand sich die Mehrzahl des wohlhabenden und mittleren Bauerntums und ein sehr bedeutender Teil der armen Bauern offenbar im Bann des bürgerlichen Imperialismus). Die Bourgeoisie war bis an die Zähne bewaffnet. In einer solchen Situation ein Programm der Republik, des Parlaments in Permanenz, der Wahl der Offiziere durch das Volk („Volksbewaffnung“) usw. „proklamieren“, hätte in der Praxis bedeutet – die Revolution (mit einem unrichtigen revolutionären Programm!) „proklamieren“.

An derselben Stelle sagt Junius durchaus mit Recht, dass man eine Revolution nicht „machen“ könne. Die Revolution stand in den Jahren 1914-1916 auf der Tagesordnung, im Schoße des Krieges verborgen, aus dem Kriege hervorgehend. Das hätte man im Namen der revolutionären Klasse „proklamieren“ müssen, man hätte konsequent, furchtlos ihr Programm darlegen müssen: den Sozialismus, den in der Epoche des Krieges zu erreichen ohne Bürgerkrieg gegen die erzreaktionäre, verbrecherische, dass Volk zu unsagbaren Leiden verurteilende Bourgeoisie unmöglich ist. Man hätte die systematischen, konsequenten, praktischen, bei jedem beliebigen Entwicklungstempo der revolutionären Krise unbedingt durchführbaren Aktionen, die in der Richtung der heranreifenden Revolution liegen, überlegen sollen. Diese Aktionen sind in der Resolution unserer Partei angeführt worden: 1. Das Stimmen gegen die Kredite; 2. Sprengung des „Burgfriedens“; 3. Schaffung einer illegalen Organisation; 4. Verbrüderung der Soldaten; 5. Unterstützung aller revolutionären Massenaktionen. Der Erfolg aller dieser Schritte führt unausbleiblich zum Bürgerkrieg.

Die Proklamierung eines großen historischen Programms wäre zweifellos von ungeheurer Bedeutung; aber nicht die eines alten und für die Jahre 1914-1916 schon veralteten national-deutschen, sondern die eines proletarisch-internationalen und sozialistischen Programms. Ihr Bourgeois führt Krieg um des Raubes willen; wir, die Arbeiter aller kriegführenden Länder, erklären euch den Krieg, den Krieg für den Sozialismus, – das ist der Inhalt der Rede, mit der am 4. August 1914 die Sozialisten in den Parlamenten hätten auftreten sollen, die nicht, wie die Legien, David, Kautsky, Plechanow, Guesde, Sembat u. a., das Proletariat verraten haben.

Augenscheinlich konnten irrige Erwägungen zweierlei Art den Fehler Junius’ verursachen. Zweifellos ist Junius entschieden gegen den imperialistischen Krieg und entschieden für die revolutionäre Taktik: diese Tatsache wird keine Schadenfreude der Herren Plechanow über das „Oboronzentum“ Junius’ aus der Welt schaffen. Auf mögliche und wahrscheinliche Verleumdungen dieser Art muss sofort und klar geantwortet werden.

Junius hat sich aber erstens nicht völlig freigemacht von dem „Milieu“ der deutschen, sogar linken Sozialdemokraten, die eine Spaltung fürchten, die Angst haben, die revolutionären Losungen zu Ende auszusprechen.* Das ist eine falsche Furcht, und die linken Sozialdemokraten Deutschlands müssen und werden sich von ihr befreien. Die Entwicklung ihres Kampfes gegen die Sozialchauvinisten wird dazu führen. Und ihr Kampf gegen die eigenen Sozialchauvinisten ist entschieden, energisch, aufrichtig, das ist der gewaltige, prinzipielle, kardinale Unterschied zwischen ihnen und den Herren Martow und Tschcheïdse, die mit der einen Hand (à la Skobeljew) das Banner entfalten mit dem Gruß: „An die Liebknechte aller Länder“4 und mit der anderen Hand die Tschchenkeli und Potressow zärtlich umarmen!

Zweitens wollte Junius offenbar etwas in der Art der menschewistischen „Stadientheorie“ traurigen Angedenkens zustande bringen, er wollte das revolutionäre Programm durchführen, indem er mit dem „bequemsten“, „populärsten“, für die Kleinbourgeoisie annehmbarsten Ende begann. Eine Art Plan, „die Geschichte zu überlisten“, die Philister zu überlisten. Gegen die beste Verteidigung des wahren Vaterlandes kann doch niemand sein: das wirkliche Vaterland aber ist die großdeutsche Republik, die beste Verteidigung ist die Miliz, das Parlament in Permanenz usw. Einmal angenommen, würde ein solches Programm ganz von selbst zum nächsten Stadium führen: zur sozialistischen Revolution.

Wahrscheinlich haben solche Erwägungen bewusst oder unbewusst die Taktik Junius’ bestimmt. Unnötig zu sagen, dass sie falsch sind. In der Junius-Broschüre spürt man den allein Dastehenden, der keine Genossen in einer illegalen Organisation hat, die gewohnt wäre, revolutionäre Losungen bis zu Ende zu durchdenken und die Masse systematisch in deren Geiste zu erziehen. Aber dieser Mangel – und es wäre grundfalsch, das zu vergessen – ist nicht ein persönlicher Mangel Junius’, sondern das Resultat der Schwäche aller deutschen Linken, die von allen Seiten in das niederträchtige Netz der kautskyanischen Heuchelei, der Pedanterie, der „Friedfertigkeit“ den Opportunisten gegenüber verstrickt sind. Die Anhänger von Junius haben es, trotzdem sie allein dastanden, fertiggebracht, die Herausgabe illegaler Flugblätter und den Kampf gegen das Kautskyanertum aufzunehmen. Sie werden es verstehen, auch weiter auf dem richtigen Wege vorwärtszuschreiten.

1 Eine Konferenz linker SozialdemokratenLenin meint die Besprechung der Gruppe „Internationale“, die am 1. Januar 1916 in Berlin in der Wohnung Karl Liebknechts stattfand.

[Anmerkung 89 der „Ausgewählten Werke“, Band 5:] Mit der Konferenz linker Sozialdemokraten meint Lenin die Besprechung der Gruppe „Internationale, die am 1. Januar 1916 in Berlin in der Wohnung Karl Liebknechts stattfand.

2 Gemeint ist der Artikel Ströbels „Die Ursachen der sozialistischen Krise“ („Die Neue Zeit“ Nr. 12 vom 17. Dezember 1915, S. 353-361).

3 Gemeint ist der Artikel Ströbels „Pazifismus und Sozialdemokratie“, „Sozialistische Auslandspolitik, Korrespondenz“, Nr. 27 vom 12. Juli 1916.

* Denselben Fehler begeht Junius in seinen Ausführungen über das Thema, was besser sei: Sieg oder Niederlage? Er zieht die Schlussfolgerung, dass beides gleich schlecht sei (Zerstörung, vermehrte Rüstungen usw.). Das ist nicht der Standpunkt des revolutionären Proletariats, sondern des pazifistischen Kleinbürgers. Wenn man von der „revolutionären Intervention“ des Proletariats spricht, – davon aber sprechen, leider zu allgemein, Junius und die Thesen der Gruppe „Internationale“ – so muss unbedingt die Frage von einem anderen Standpunkte aus gestellt werden. 1. Ist eine „revolutionäre Intervention“ ohne die Gefahr einer Niederlage möglich? 2. Ist es möglich, die Bourgeoisie und die Regierung des eigenen Landes zu geißeln, ohne dieselbe Gefahr heraufzubeschwören? 3. Haben wir nicht immer gesagt, und hat die historische Erfahrung der reaktionären Kriege nicht gezeigt, dass Niederlagen das Werk der revolutionären Klasse erleichtern?

4 Gemeint ist die Rede Skobeljews in der Dumasitzung vom 23. Mai 1916, in der er sagte: „Wir senden Genossen Liebknecht unseren Gruß … und können nur allen in den Krieg einbezogenen Völkern mehr Liebknechte wünschen“. [Anmerkung 95 der „Sämtlichen Werke“, Band 19 und Anm. 93 der „Ausgewählten Werke“, Band 5]

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