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Wladimir I. Lenin 19150800 Imperialismus und Sozialismus in Italien

Wladimir I. Lenin: Imperialismus und Sozialismus in Italien

Eine Notiz

[Kommunist Nr. 1/2, 1915 gez. N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 382-392]

Zur Beleuchtung der Fragen, vor die der gegenwärtige imperialistische Krieg den Sozialismus gestellt hat, ist es nicht unnütz, einen Blick auf die verschiedenen europäischen Länder zu werfen, um die nationalen Modifikationen und die Einzelheiten des Gesamtbildes vom Wesentlichen und Grundlegenden unterscheiden zu lernen. Von der Seite, sagt man, sieht man besser. Je geringer die Ähnlichkeit zwischen Italien und Russland ist, um so interessanter ist es daher in mancher Beziehung, den Imperialismus und den Sozialismus in diesen beiden Ländern miteinander zu vergleichen.

In dieser Notiz möchten wir nur das Material behandeln, das zu dieser Frage die nach Kriegsausbruch erschienenen Werke des bürgerlichen Professors Robert Michels: „Der italienische Imperialismus“, und des Sozialisten T. Barboni: „Internationalismus oder Klassen-Nationalismus? (Das italienische Proletariat und der europäische Krieg)“ liefern.* Der geschwätzige Michels bleibt hier ebenso oberflächlich wie in seinen anderen Werken. Die ökonomische Seite des Imperialismus berührt er kaum, doch ist in seinem Buche wertvolles Material gesammelt über den Ursprung des italienischen Imperialismus und über den Übergang, der das Wesen der gegenwärtigen Epoche darstellt und der besonders anschaulich in Italien in Erscheinung tritt, nämlich den Übergang von der Epoche der nationalen Freiheitskriege zur Epoche der imperialistischen und reaktionären Eroberungskriege. Das revolutionär-demokratische, d. h. das revolutionär-bürgerliche Italien, das um seine Befreiung vom Joch Österreichs kämpfte, das Italien der Garibaldi-Zeiten, verwandelt sich vor unseren Augen endgültig in das Italien, das andere Völker unterdrückt, das die Türkei und Österreich ausräubern will, in das Italien einer groben, widerwärtig-reaktionären, schmutzigen Bourgeoisie, der das Wasser im Munde zusammenläuft vor Vergnügen darüber, dass man auch sie zur Teilung der Beute zugelassen hat. Wie jeder anständige Professor hält selbstverständlich auch Michels seine Liebedienerei vor der Bourgeoisie für „wissenschaftliche Objektivität“ und bezeichnet diese Teilung der Beute als „Aufteilung jenes Teiles der Welt, der noch in den Händen schwacher Völker verblieben ist“. (S. 179.) Indem Michels den Standpunkt jener Sozialisten, die jeder Kolonialpolitik feind sind, verächtlich als „utopisch“ verwirft, wiederholt er die Argumente der Leute, die der Ansicht sind, Italien „müsste die zweite Kolonialmacht sein“ und dürfte entsprechend der Bevölkerungsdichte und der Stärke der Auswanderungsbewegung nur England den Vorrang lassen. Dass aber in Italien 40 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, dass dort auch jetzt noch Cholera-Aufstände Vorkommen usw., – dies Argument wird mit dem Hinweis auf England widerlegt: war denn England nicht das Land der unglaublichsten Verarmung, der Erniedrigung, des Hungersterbens der Arbeitermassen, des Alkoholismus und des ungeheuerlichen Elends und Schmutzes in den Armenvierteln der Städte in jener ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die englische Bourgeoisie so erfolgreich den Grundstein zu ihrer jetzigen Kolonialmacht legte?

Und man muss sagen, dass vom bürgerlichen Standpunkt diese Argumentierung unwiderlegbar ist. Kolonialpolitik und Imperialismus sind keineswegs etwa krankhafte und heilbare Auswüchse des Kapitalismus (wie die Philister, unter ihnen auch Kautsky, denken), sondern unvermeidliche Konsequenz der Grundlagen des Kapitalismus selbst: die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmungen stellt die Frage nur so: geh selbst zugrunde oder richte andere zugrunde; die Konkurrenz zwischen den einzelnen Ländern stellt die Frage nur so: bleib an letzter Stelle und riskiere ewig das Los Belgiens, oder ruiniere und erobere andere Länder, wenn du dir ein Plätzchen unter den „Großmächten“ sichern willst.

Den italienischen Imperialismus hat man den „Imperialismus der armen Leute“ (l’imperialismo della povera gente) genannt – im Hinblick auf die Armut Italiens und auf die verzweifelte Notlage der italienischen Auswanderermassen. Der italienische Chauvinist Arturo Labriola, der sich von seinem früheren Gegner G. Plechanow nur dadurch unterscheidet, dass er ein klein wenig früher als dieser seinen Sozialchauvinismus offenbarte und dass er zu diesem Sozialchauvinismus über den kleinbürgerlichen Halbanarchismus und nicht über den kleinbürgerlichen Opportunismus kam, dieser Arturo Labriola schrieb in seinem Büchlein über den Tripoliskrieg (1912)1:

Es ist klar, dass wir nicht nur gegen die Türken kämpfen, … sondern auch gegen die Intrigen, Drohungen, Gelder und Armeen des plutokratischen Europa, das nicht dulden kann, dass die kleinen Nationen auch nur einen Finger zu rühren oder auch nur ein Wort zu sagen wagen, durch das seine eiserne Hegemonie kompromittiert werden könnte“ (S. 22).

Und der Führer der italienischen Nationalisten, Corradini, erklärte:

Wie der Sozialismus die Methode für die Befreiung des Proletariats von der Bourgeoisie war, so wird der Nationalismus für uns Italiener die Methode sein für die Befreiung von den Franzosen, Deutschen, Engländern, Nord- und Südamerikanern, – die uns gegenüber die Bourgeoisie darstellen.“

Jedes Land, das mehr Kolonien, mehr Kapitalien und Armeen hat als „wir“, nimmt „uns“ gewisse Privilegien, einen gewissen Profit oder Extraprofit weg. Wie unter den einzelnen Kapitalisten derjenige einen Extraprofit einsteckt, der Maschinen von überdurchschnittlicher Qualität besitzt oder über bestimmte Monopole verfügt, so erhält auch unter den Ländern dasjenige einen Extraprofit, das ökonomisch besser gestellt ist als die anderen. Sache der Bourgeoisie ist es, für Privilegien und Vorrechte zugunsten ihres nationalen Kapitals zu kämpfen und das Volk oder das gemeine Volk (mit Hilfe Labriolas und Plechanows) irre zu führen, indem sie den imperialistischen Kampf um das „Recht“, die anderen zu plündern, für einen nationalen Befreiungskampf ausgibt.

Vor dem Tripoliskrieg hat Italien – wenigstens im großen Ausmaß – andere Völker nicht geplündert. Ist das nicht eine unerträgliche Schmach für den Nationalstolz? Die Italiener werden von anderen Nationen unterdrückt und erniedrigt. Die italienische Auswanderung betrug rund 100.000 Personen jährlich in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und erreicht jetzt 0,5-1 Million; all das sind Bettler, die geradeswegs der Hunger im buchstäblichsten Sinne dieses Wortes aus ihrem Lande treibt; all das sind Lieferanten von Arbeitskraft für die am schlechtesten bezahlten Industriezweige; diese ganze Masse bevölkert die engsten, ärmsten und schmutzigsten Viertel der amerikanischen und europäischen Städte. Die Zahl der im Ausland lebenden Italiener ist von 1 Million im Jahre 1881 auf 5,5 Millionen im Jahre 1910 gestiegen, wobei die große Masse auf die reichen und „großen“ Länder entfällt, in denen die Italiener im Verhältnis die gröbste und unqualifizierteste, die ärmste und rechtloseste Arbeitermasse darstellen. Die Hauptländer, die die billige italienische Arbeitskraft konsumieren, sind folgende: Frankreich – 400.000 Italiener im Jahre 1910 (240.000 im Jahre 1881); die Schweiz – 135.000 (41.000) – (in Klammern die Zahlen des Jahres 1881); Österreich – 80.000 (40.000); Deutschland – 180.000 (7000); die Vereinigten Staaten – 1.779.000 (170.000); Brasilien – 1.500.000 (82.000); Argentinien – 1.000.000 (254.000). Das „glorreiche“ Frankreich, das vor 125 Jahren für die Freiheit gekämpft hat und aus diesem Grunde seinen jetzigen Krieg um sein und Englands Sklavenhalter-„Recht auf Kolonien“ einen „Befreiungskampf“ nennt, dieses Frankreich hält geradezu in besonderen Ghettos Hunderttausende von italienischen Arbeitern, von denen das kleinbürgerliche Geschmeiß der „großen“ Nation sich möglichst abzusondern sucht, die es in jeder Weise zu erniedrigen und zu beleidigen trachtet. Die Italiener werden verächtlich „maccaroni“ genannt (der großrussische Leser mag sich erinnern, wie viel verächtliche Spitznamen auch in Russland im Schwange sind zur Bezeichnung der „Fremdstämmigen“, die nicht das Glück hatten, mit dem Recht auf jene hohen Privilegien zur Welt gekommen zu sein, die der Zugehörigkeit zu einer Großmacht entspringen und die den Purischkjewitschen als Werkzeug zur Unterdrückung des großrussischen ebenso wie aller anderen Völker Russlands dienen). Das große Frankreich schloss 1896 einen Vertrag mit Italien, auf Grund dessen Italien verpflichtet ist, die Zahl der italienischen Schulen in Tunis nicht zu erhöhen! Die italienische Bevölkerung in Tunis hat sich jedoch seitdem auf das Sechsfache vermehrt. In Tunis leben 105.000 Italiener neben 35.000 Franzosen, doch sind unter den ersteren nur 1167 Grundeigentümer mit 83.000 Hektar, während 2395 französische Grundeigentümer in ihrer Kolonie 700.000 Hektar zusammen geräubert haben. Nun, wie sollte man da Labriola und den übrigen italienischen „Plechanowisten“ nicht zustimmen, wenn sie behaupten, Italien habe ein „Recht“ auf eine eigene Kolonie in Tripolis, auf die Unterdrückung der Slawen in Dalmatien, auf die Aufteilung Kleinasiens usw.!**

Wie Plechanow den „Befreiungskampf“ Russlands gegen Deutschlands Bestreben, es zu seiner Kolonie zu machen, unterstützt, so zieht auch der Führer der Reformistenpartei L. Bissolati gegen die „Invasion des fremden Kapitals in Italien“ ins Feld (S. 97): deutsches Kapital in der Lombardei, englisches in Sizilien, französisches im Piacentino, belgisches in den Straßenbahn-Unternehmungen usw. usw. ohne Ende.

Die Frage ist kategorisch gestellt, und man kann nicht umhin, anzuerkennen, dass der europäische Krieg der Menschheit den ungeheuren Nutzen gebracht hat, dass er viele Millionen von Menschen verschiedener Nation tatsächlich vor die kategorische Frage stellt: entweder verteidigt ihr, mit der Flinte oder mit der Feder, direkt oder indirekt, in welcher Form auch immer, die Großmachts- und überhaupt die nationalen Privilegien oder Vorränge oder Ansprüche der „eigenen“ Bourgeoisie, und das heißt dann ihr Anhänger oder Lakai sein; oder ihr nutzt jeden, insbesondere aber den bewaffneten Kampf um die Großmachts-Privilegien aus zur Entlarvung und zum Sturz jeder, vor allem aber der eigenen Regierung mit Hilfe revolutionärer Aktionen des international solidarischen Proletariats. Einen Mittelweg gibt es hier nicht, oder mit anderen Worten: der Versuch, eine mittlere Linie zu beziehen, bedeutet in Wirklichkeit den verkappten Übergang auf die Seite der imperialistischen Bourgeoisie.

Die ganze Schrift Barbonis ist eigentlich nur dazu da, um dieses Überlaufen zu verhüllen. Barboni spielt den Internationalisten ganz genau so, wie unser Herr Potressow; er setzt nämlich auseinander, man müsse vom internationalen Standpunkt aus bestimmen, auf welcher Seite der Sieg für das Proletariat nützlicher oder weniger schädlich sei, und er beantwortet diese Frage selbstredend zuungunsten von Österreich und Deutschland. Ganz im Geiste Kautskys schlägt Barboni der italienischen sozialistischen Partei vor, die Solidarität der Arbeiter aller – vor allem natürlich der kriegführenden – Länder feierlich zu verkünden, er empfiehlt internationalistische Überzeugungen, ein Friedensprogramm auf Basis der Abrüstung und nationaler Unabhängigkeit aller Nationen, weiter die Gründung einer „Liga aller Nationen zur gegenseitigen Garantierung der Unantastbarkeit und Unabhängigkeit“ (S. 126). Und gerade im Namen dieser Prinzipien erklärt Barboni, dass der Militarismus eine „parasitäre“ und „keineswegs notwendige“ Erscheinung im Kapitalismus sei; – dass Deutschland und Österreich vom „militaristischen Imperialismus“ durchtränkt seien, dass ihre aggressive Politik eine „ständige Bedrohung des europäischen Friedens“ bedeutet habe, dass Deutschland „die von Russland (sic!!) und England gemachten Vorschläge zur Einschränkung der Rüstungen stets abgelehnt“ habe usw. usw. – und dass die italienische sozialistische Partei sich für die Einmischung Italiens zugunsten der Triple-Entente im passenden Moment erklären müsse!

Es bleibt unbekannt, auf Grund welcher Prinzipien man dem bürgerlichen Imperialismus Deutschlands, das sich im 20. Jahrhundert ökonomisch rascher entwickelt hat als die übrigen europäischen Länder und das bei der Verteilung der Kolonien besonders „zu kurz gekommen“ ist, den bürgerlichen Imperialismus Englands vorziehen kann, das sich viel langsamer entwickelt, das eine Unmenge von Kolonien zusammengeraubt hat, das dort (fern von Europa) zum Teil nicht weniger bestialische Methoden der Unterdrückung anwendet als die Deutschen, und das für seine Milliarden die Millionenarmeen verschiedener Kontinentalmächte dingt – zum Zwecke der Ausplünderung Österreichs und der Türkei usw. Der Internationalismus Barbonis läuft, ebenso wie auch der Kautskys, im Wesentlichen auf ein Lippenbekenntnis zu den sozialistischen Prinzipien hinaus, während er unter dem Deckmantel dieser Heuchelei in Wirklichkeit für seine eigene, die italienische Bourgeoisie eintritt. Es muss vermerkt werden, dass Barboni, der sein Buch in der freien Schweiz herausgab (die Schweizer Zensur verklebte nur eine halbe Zeile auf Seite 75, die offenbar eine Kritik an Österreich enthalten hatte), auf dem ganzen Raum seiner 145 Seiten die Grundthesen des Baseler Manifests nicht zu zitieren und nicht gewissenhaft zu analysieren beliebte. Dafür zitiert unser Barboni mit tiefster Sympathie (S. 103) zwei russische Exrevolutionäre, für die jetzt die gesamte frankophile Bourgeoisie Reklame macht, den Spießbürger Kropotkin aus dem anarchistischen und den Philister Plechanow aus dem sozialdemokratischen Lager. Wie sollte er auch nicht! Plechanows Sophismen unterscheiden sich im Wesen der Sache von den Sophismen Barbonis in gar nichts. Nur vermag die politische Freiheit in Italien diese Sophismen leichter ihrer Hülle zu berauben und die wahre Position Barbonis, als eines Agenten der Bourgeoisie im Lager der Arbeiter, klarer zu enthüllen.

Barboni bedauert das „Fehlen des wahren und echten revolutionären Geistes“ in der deutschen Sozialdemokratie (ganz wie Plechanow); er begrüßt mit heißen Worten Karl Liebknecht (wie ihn auch die französischen Sozialchauvinisten begrüßen, die den Balken in ihrem eigenen Auge nicht sehen); aber er erklärt entschieden, dass „von einem Bankrott der Internationale nicht die Rede sein“ könne (S. 92), dass die Deutschen „dem Geiste der Internationale nicht untreu geworden“ seien (S. 111), sofern sie in der „aufrichtigen“ Überzeugung gehandelt hätten, ihr Vaterland zu verteidigen. Und in demselben salbungsvollen Ton wie Kautsky, nur mit romantischer Schönrednerei, erklärt Barboni, die Internationale sei bereit (nach dem Siege über Deutschland…)

den Deutschen zu verzeihen, so wie Christus dem Petrus die Minute des Unglaubens verziehen hat, die vom militaristischen Imperialismus geschlagenen tiefen Wunden durch Vergessen zu heilen und zu einem würdigen und brüderlichen Frieden die Hand zu bieten“ (S. 113).

Ein rührendes Bild: Barboni und Kautsky – wahrscheinlich nicht ohne Teilnahme unserer Kossowski und Axelrod – gewähren sich gegenseitige Verzeihung!!

Barboni, der mit Kautsky und Guesde, Plechanow und Kropotkin durchaus zufrieden ist, ist mit seiner sozialistischen Arbeiterpartei in Italien nicht zufrieden. In dieser Partei, die das Glück hatte, noch vor dem Kriege die Reformisten Bissolati und Co. loszuwerden, herrscht jetzt – hört ihr – eine solche „Atmosphäre,dass man nicht mehr atmen kann“ (S. 7),wenn man (wie Barboni) die Parole der „absoluten Neutralität“ (d. h. des entschlossenen Kampfes gegen die Einmischung Italiens in den Krieg) nicht teilt. Der arme Barboni vergießt bittere Tränen darüber, dass man in der italienischen sozialistischen Partei Leute wie ihn als „Intellektuelle“ bezeichnet, als „Menschen, die den Kontakt mit den Massen verloren haben“, als „Abkömmlinge der Bourgeoisie“, als „Leute, die vom geraden Weg des Sozialismus und des Internationalismus abgeirrt sind“ (S. 7). Unsere Partei – so macht Barboni seiner Empörung Luft – „phantasiert mehr, als dass sie die Massen erzieht“ (S. 4).

Die alte Leier! Eine italienische Variante des bekannten Lieds der russischen Liquidatoren und Opportunisten von der „Demagogie“ der bösen Bolschewiki, die die Massen „loshetzen“ auf die ausgezeichneten Sozialisten aus „Nascha Sarja, aus dem OK und aus der Fraktion Tschcheïdse! Aber welch wertvolles Eingeständnis des italienischen Sozialchauvinisten, dass in dem einzigen Lande, in dem man mehrere Monate lang die Plattform der Sozialchauvinisten und die der revolutionären Internationalisten frei besprechen konnte, gerade die Arbeitermassen, gerade das klassenbewusste Proletariat sich auf die Seite der letzteren gestellt hat, die kleinbürgerlichen Intellektuellen und Opportunisten aber auf die Seite der ersteren.

Neutralität ist engherziger Egoismus, ist ein Verkennen der internationalen Situation, ist eine Niedertracht Belgien gegenüber, ist „Abseitsstehen“, – aber „die Abseitsstehenden haben immer unrecht“, argumentiert Barboni ganz im Geiste Plechanows und Axelrods. Da aber in Italien zwei legale Parteien bestehen, eine reformistische Partei und eine sozialdemokratische Arbeiterpartei, da man in diesem Lande das Publikum nicht irreführen kann, indem man die Blöße der Herren Potressow, Tscherewanin, Lewizki und Co. mit dem Feigenblatt der Fraktion Tschcheïdse oder des OK. deckt, so bekennt Barboni offen:

Von diesem Gesichtspunkte aus sehe ich mehr revolutionären Geist in den Handlungen der reformistischen Sozialisten, die rasch begriffen, welch ungeheure Bedeutung für den künftigen antikapitalistischen Kampf diese Neugestaltung der politischen Situation haben würde“ (im Gefolge eines Sieges über den deutschen Militarismus), „und die sich ganz konsequent auf die Seite der Triple-Entente stellten, – als in der Taktik der offiziellen revolutionären Sozialisten, die sich wie Schildkröten unter dem Schild der absoluten Neutralität verstecken“ (S. 81).

Einem so wertvollen Bekenntnis gegenüber bleibt uns nur noch übrig, dem Wunsch Ausdruck zu verleihen: von den mit der italienischen Bewegung vertrauten Genossen möge jemand das von den beiden Parteien Italiens gelieferte umfangreiche und hochinteressante Material sammeln und systematisch bearbeiten, das über die Frage Aufschluss gibt: von welchen Schichten der Gesellschaft und von welchen Elementen, mit wessen Hilfe und mit was für Argumenten die revolutionäre Politik des italienischen Proletariats, – auf der anderen Seite aber das Lakaientum vor der italienischen imperialistischen Bourgeoisie vertreten wurde. Je mehr Material darüber in den verschiedenen Ländern gesammelt sein wird, um so klarer wird den klassenbewussten Arbeitern die Wahrheit über die Ursachen und die Bedeutung des Zusammenbruchs der II. Internationale einleuchten.

Zum Schluss sei bemerkt, dass Barboni, da er es ja mit einer Arbeiterpartei zu tun hat, sich den revolutionären Instinkten der Arbeiter sophistisch anzupassen bemüht ist. Die internationalistischen Sozialisten in Italien, die gegen den in Wirklichkeit für die imperialistischen Interessen der italienischen Bourgeoisie zu führenden Krieg auftreten, schildert er als Vertreter einer feigen Drückebergerei, als Egoisten, die sich vor den Gräueln des Kriegs in Sicherheit zu bringen wünschen.

Ein Volk, das in Angst vor den Gräueln des Kriegs erzogen wurde, wird wahrscheinlich auch vor den Gräueln der Revolution zurückschrecken“ (S. 83).

Und neben diesem widerwärtigen Versuch, sich bei den Revolutionären anzubiedern, –ein brutal geschäftsmäßiger Verweis auf die „klaren“ Worte des Ministers Salandra: „Die Ordnung wird unter allen Umständen aufrechterhalten werden“; – der Versuch eines Generalstreiks gegen die Mobilmachung würde nur zu einem „unnützen Gemetzel“ führen; „wir konnten den libyschen (tripolitanischen) Krieg nicht verhindern, wir werden noch weniger den Krieg mit Österreich verhindern können“ (S. 82).

Ebenso wie Kautsky, Cunow und alle Opportunisten, – bewusst und mit der ganz infamen Berechnung, diesen oder jenen aus der Masse hinters Licht zu führen, unterstellt Barboni den Revolutionären den reichlich dummen Plan, „mit einem Schlage“ „den Krieg abzubrechen“ und sich in dem für die Bourgeoisie bequemsten Augenblick niederknallen zu lassen, – er tut das, um sich hinwegzureden über die in Stuttgart und Basel klar gestellte Aufgabe: die revolutionäre Krise für die systematische revolutionäre Propaganda und Vorbereitung revolutionärer Massenaktionen auszunutzen. Dass aber Europa einen revolutionären Moment durchmacht, das sieht Barboni vollkommen klar:

Es gibt einen Punkt, den besonders zu betonen ich für notwendig halte, selbst auf die Gefahr hin, dem Leser lästig zu werden, denn man kann die jetzige politische Situation nicht richtig einschätzen, ohne diesen Punkt geklärt zu haben: die Periode, in der wir leben, ist eine Katastrophen-Periode, eine Periode der Aktion, in der es sich nicht um die Klärung von Ideen handelt, nicht um die Abfassung von Programmen, nicht um die Festlegung der Linie für das politische Verhalten in der Zukunft, sondern um die Einsetzung der lebendigen und aktiven Kraft zwecks Erreichung eines Resultats in einem Zeitraum von Monaten, vielleicht sogar nur von Wochen. Unter diesen Umständen handelt es sich nicht darum, über die Zukunft der proletarischen Bewegung zu philosophieren, sondern darum, den Standpunkt des Proletariats angesichts des gegenwärtigen Moments festzulegen“ (S. 87 u. 88).

Noch ein Sophismus, der revolutionäre Haltung Vortäuschen soll! 44 Jahre nach der Kommune, nachdem sie beinahe ein halbes Jahrhundert der Sammlung und Vorbereitung der Massenkräfte hinter sich hat, soll die revolutionäre Klasse Europas in einem Moment, da sie eine Katastrophen-Periode durchmacht, sich darüber Gedanken machen, wie sie möglichst rasch zum Lakaien ihrer nationalen Bourgeoisie werde, wie sie ihr bei der Plünderung, Vergewaltigung, Ruinierung, Unterjochung fremder Völker Beistand leiste, – nicht aber darüber, wie in Massenausmaßen die unmittelbar revolutionäre Propaganda und Vorbereitung revolutionärer Aktionen zu entfalten sei.

* Roberto Michels, „L’imperialismo italiano“. Milano 1914. – T. Barboni, „Internazionalismo o Nazionalismo di Classe? (II proletariato d’Italia e la guerra europea).“ Edito dall’autore a Campione d’Intelvi (provincia di Como) 1915.

1 Es handelt sich um das Buch von Arturo Labriola: „La guerra di Tripoli e l’opinione socialista“ („Der Tripolis-Krieg und die Meinung der Sozialisten“), erschienen in Neapel 1912.

** Höchst lehrreich ist der Zusammenhang zwischen dem Übergang Italiens zum Imperialismus und der Bewilligung der Wahlreform durch die Regierung. Diese Reform erhöhte die Zahl der Wähler von 3.219.000 auf 8.562.000, d. h. sie brachte „nahezu“ das allgemeine Wahlrecht. Vor dem Tripoliskriege war derselbe Giolitti, der die Reform durchführte, entschiedener Gegner dieser Reform. „Die Motivierung für die Änderung des Kurses durch die Regierung“ und die gemäßigten Parteien, schreibt Michels, war ihrem Wesen nach patriotisch. „Trotz ihrer alten theoretischen Abneigung gegen Kolonialpolitik haben die Industriearbeiter und noch mehr die ungelernten Arbeiter – wider alles Erwarten – außerordentlich diszipliniert und willig gegen die Türken gekämpft. Ein solch sklavisches Verhalten gegenüber der Regierungspolitik verdiente eine Belohnung, die das Proletariat anfeuern sollte, auf diesem neuen Weg weiterzugehen. Im Parlament erklärte der Ministerpräsident, die italienische Arbeiterklasse habe durch ihr patriotisches Verhalten auf den Schlachtfeldern Libyens der Heimat bewiesen, dass sie nunmehr die höchste Stufe politischer Reife erreicht habe. Wer imstande sei, sein Leben einem edlen Ziele zu opfern, der sei auch imstande, als Wähler für die Interessen der Heimat einzutreten und habe daher ein Recht darauf, dass der Staat ihn für politisch voll berechtigt halte“ (S. 177). Wie schön reden doch die italienischen Minister! Aber noch schöner die deutschen „radikalen“ Sozialdemokraten, die gegenwärtig diese lakaienhafte Argumentierung wiederholen: „Wir“ haben unsere Pflicht getan, haben „euch“ geholfen, fremde Länder zu plündern, und „ihr“ wollt „uns“ nicht das allgemeine Wahlrecht in Preußen geben …

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