Erster Brief

Erster Brief

Tu l'as voulu, Georges Dandin!"1

Gnädiger Herr!

In Heft 7 des „Wjestnik Schisni" von 1907 war Ihr „Offener Brief an Genossen Plechanow" erschienen. Dieser Brief zeigt, dass Sie aus vielerlei Gründen mit mir unzufrieden sind. Der wichtigste Grund ist, wenn ich nicht irre, der, dass ich, nach Ihren Worten, nun schon drei Jahre lang mit dem Empiriomonismus auf Kredit polemisiere2, ohne gegen ihn ernsthafte Argumente ins Feld zu führen, wobei diese meine „Taktik", wiederum nach Ihren eigenen Worten, einen gewissen Erfolg habe. Des Weiteren werfen Sie mir vor, dass ich Sie „systematisch" Herr Bogdanow tituliere. Außerdem sind Sie unzufrieden mit meiner Rezension der Bücher von Dietzgen: „Akquisit der Philosophie" und „Briefe über Logik".3 Nach Ihren Worten fordere ich die Leser auf, gegenüber der Philosophie Dietzgens misstrauisch und vorsichtig zu sein, weil sie sich manchmal der Ihren nähere. Ich nenne noch einen Grund für Ihre Unzufriedenheit mit mir. Sie behaupten, dass einige meiner Gesinnungsfreunde nahezu „kriminelle" Anschuldigungen gegen Sie erheben, und Sie finden, dass ein Teil der Schuld an deren „Demoralisation" bei mir liege. Ich könnte die Liste der Vorwürfe noch fortsetzen, die Sie gegen mich erheben, aber das ist gar nicht nötig: Die von mir angeführten Punkte reichen völlig aus, um zu Erklärungen überzugehen, die durchaus von allgemeinem Interesse sein dürften.

Ich beginne mit einer Frage, die mir nur von zweitrangiger, wenn nicht gar drittrangiger Bedeutung zu sein scheint, die Sie aber offenbar für ziemlich wichtig halten, nämlich mit der Frage Ihres ,,Titels".

Sie empfinden den „Titel" Herr in meinem Umgang mit Ihnen als eine Kränkung, wozu ich Ihnen gegenüber kein Recht hätte. Aus diesem Anlass beeile ich mich, Ihnen zu versichern, gnädiger Herr, dass es niemals in meiner Absicht lag, Sie zu kränken. Da Sie jedoch das Recht erwähnen, nehme ich an, Sie halten es für eine meiner sozialdemokratischen Pflichten, Ihnen den Titel „Genosse" zuzuerkennen. Aber – mögen Gott und unser Zentralkomitee mich dafür verurteilen! – eine solche Pflicht kann ich für mich nicht anerkennen. Ich kann sie aus dem einfachen und einleuchtenden Grunde nicht anerkennen, da Sie mein Genosse nicht sind. Sie sind es deshalb nicht, weil Sie und ich zwei diametral entgegen gesetzte Weltanschauungen vertreten. Und soweit es sich für mich darum handelt, meine Weltanschauung zu verteidigen, sind Sie für mich kein Genosse, sondern ein ganz entschiedener und unversöhnlicher Gegner. Warum soll ich heucheln? Warum soll ich Worten einen völlig falschen Sinn geben?

Schon Boileau hat irgendwann einmal dazu geraten, die Katze als Katze zu bezeichnen usw. Ich folge diesem vernünftigen Rat: Ich bezeichne ebenfalls die Katze als eine Katze und Sie als einen Empiriomonisten. Als Genossen bezeichne ich nur diejenigen, die meine Denkweise teilen und die jene Sache unterstützen, der ich mich verschrieben habe – schon lange, bevor bei uns die Bernsteinianer, Machisten und sonstigen „Marxkritiker" auf den Plan getreten sind. Denken Sie einmal nach, Herr Bogdanow, versuchen Sie einmal unvoreingenommen zu sein und sagen Sie, ob ich denn wirklich „keinerlei Recht" habe, so zu verfahren? Bin ich etwa verpflichtet, mich anders zu verhalten?

Weiter. Sie irren sich gewaltig, gnädiger Herr, wenn Sie glauben, ich machte mehr oder weniger durchsichtige Anspielungen darauf, dass man Sie in möglichst kurzer Zeit, wenn nicht „aufhängen", so doch aus dem Marxismus „ausweisen" sollte. Falls jemand die Absicht hätte, so mit Ihnen zu verfahren, würde er vor allem erkennen müssen, dass es gänzlich unmöglich ist, diesen strengen Vorsatz auszuführen. Nicht einmal Dumbadse wäre – trotz seiner märchenhaften Macht – in der Lage, aus seinem Herrschaftsbereich einen Menschen auszuweisen, der dort gar nicht lebt.4 Ebenso wenig hätte ein ideologischer Pompadour die Möglichkeit, aus dieser oder jener Lehre einen „Denker" auszuweisen, der außerhalb ihrer Grenzen steht. Dass aber Sie eben außerhalb des Marxismus stehen, das ist all denen klar, die wissen, dass das ganze Gebäude dieser Lehre auf dem dialektischen Materialismus beruht, und die begreifen, dass Sie als überzeugter Machist nicht auf dem materialistischen Standpunkt stehen und auch nicht stehen können. Denjenigen, die das nicht wissen und nicht begreifen, möchte ich nachstehende Zeilen entgegenhalten, die aus Ihrer eigenen Feder geflossen sind.

In Bezug auf das Verhältnis verschiedener Philosophen zum „Ding an sich" beliebten Sie folgendes zu schreiben:

Die goldene Mitte bilden Materialisten einer mehr kritischen Nuance, die sich von der unbedingten Nichterkennbarkeit des Dinges an sich losgesagt haben, es aber gleichzeitig für prinzipiell verschieden von der Erscheinung halten, daher für in der Erscheinung stets nur undeutlich erkennbar, dem Inhalt nach außerhalb der Erfahrung (das heißt offenbar den „Elementen" nach, welche anders als die Elemente der Erfahrung sind), aber in den Grenzen dessen liegt, was man als Formen der Erfahrung zu bezeichnen pflegt, also in den Grenzen von Zeit, Raum und Kausalität. Dies ungefähr ist der Standpunkt der französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts und unter den neueren Philosophen der Standpunkt Engels' und seines russischen Anhängers Beltow."A

Diese (ihrem „Inhalt" nach ziemlich linkischen) Zeilen müssten sogar denen zu denken geben, die, allgemein gesprochen, in philosophischen Dingen etwas leichtsinnig sind. Selbst diesen Leuten müsste jetzt klar sein, dass Sie den Standpunkt von Engels ablehnen. Wer aber weiß, dass Engels auch in der Philosophie mit dem Verfasser des „Kapitals" völlig einer Meinung war, der wird leicht verstehen, dass Sie, wenn Sie den Standpunkt von Engels ablehnen, damit den Standpunkt von Marx ablehnen und sich seinen „Kritikern" anschließen.

Bitte erschrecken Sie nicht, gnädiger Herr, halten Sie mich nicht für einen philosophischen Pompadour und bilden Sie sich nicht ein, dass ich Ihre Zugehörigkeit zu den Marxgegnern eigens zum Zwecke Ihrer „Ausweisung" konstatiere. Ich wiederhole, man kann aus den Grenzen einer Lehre keinen Menschen ausweisen, der außerhalb dieser Grenzen steht. Was aber die Marxkritiker anbelangt, so weiß heute jeder, selbst wenn er in keinem Seminar studiert hat, dass diese Herren den Boden des Marxismus verlassen haben und kaum irgendwann einmal dorthin zurückkehren werden.

Der „Entzug des Leibes" ist eine noch um vieles grausamere Maßnahme als die „Ausweisung". Und da ich gelegentlich fähig war, auf Ihre, gnädiger Herr, „Erhängung" (wenn auch nur in Anführungsstrichen) anzuspielen, so könnte ich natürlich gegebenenfalls auch mit dem Gedanken Ihrer „Ausweisung" liebäugeln. Aber auch hier lassen Sie sich ganz unnötigerweise Angst einjagen oder verfallen in eine ganz unbegründete Ironie.

Ich sage Ihnen ein für allemal: Ich hatte niemals die Absicht, irgendwann irgendjemanden „aufzuhängen". Ich wäre ein äußerst schlechter Sozialdemokrat, wenn ich nicht die uneingeschränkte Freiheit der theoretischen Untersuchung anerkennen würde. Aber ich wäre ein ebenso schlechter Sozialdemokrat, wenn ich nicht begreifen würde, dass die Freiheit der Untersuchung einhergehen und ergänzt werden muss durch die Freiheit der Menschen, sich entsprechend ihren Ansichten zu organisieren.

Ich bin überzeugt – und muss man davon nicht überzeugt sein? –, dass Menschen, die in den wichtigsten Fragen der Theorie auseinandergehen, vollauf berechtigt sind, auch in der Praxis auseinanderzugehen, das heißt, sich in verschiedenen Lagern zu organisieren. Ich bin sogar überzeugt, dass es „Situationen" gibt, wo sie verpflichtet sind, das zu tun. Wissen wir doch noch aus der Zeit Puschkins:

Man spanne nicht vor einen Wagen

Ein feurig Ross, ein scheues Reh.5

Im Namen dieser unanfechtbaren und unbestreitbaren Freiheit der Gruppierung habe ich die russischen Marxisten mehr als einmal dazu aufgefordert, sich zur Propaganda ihrer Ideen in einer besonderen Gruppe zu vereinigen und sich von anderen Gruppen, die die einen oder anderen Ideen von Marx nicht teilen, zu distanzieren. Ich habe mehr als einmal, und mit einer durchaus begreiflichen Heftigkeit, den Gedanken geäußert, dass in ideologischer Hinsicht jede Unklarheit großen Schaden stiftet. Und ich glaube, dass gegenwärtig die ideologische Unklarheit bei uns besonders schädlich ist, wo unter dem Einfluss der Reaktion und unter dem Vorwand einer Überprüfung theoretischer Werte der Idealismus aller Couleurs und Schattierungen in unserer Literatur regelrechte Orgien feiert und wo einige Idealisten – sicher im Interesse der Propagierung ihrer Ideen – ihre Ansichten als einen Marxismus vom allerneuesten Schlage ausgeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir es jetzt mehr denn je nötig haben, uns von diesen Idealisten theoretisch abzugrenzen, und ich trete rückhaltlos für diese meine feste Überzeugung ein. Ich verstehe, dass das manchmal für den einen oder anderen Idealisten unangenehm sein kann – besonders, wenn er zu denen gehört, die ihre idealistische Ware unter der Flagge des Marxismus feilbieten möchten. Nichtsdestoweniger behaupte ich ganz entschieden, dass diejenigen, die mir in diesem Zusammenhang einen Anschlag auf irgend jemanden Freiheit („Ausweisung") oder sogar Leben („Erhängen") unterstellen, eine durch und durch engstirnige Auffassung von eben der Freiheit zeigen, in deren Namen sie mich anklagen.

Wenn ich meine Gesinnungsfreunde dazu aufrufe, sich von den Leuten zu trennen, die ihre geistigen Genossen nicht sein können, dann nutze ich das unbestreitbare Recht eines jeden „Menschen und Bürgers". Wenn jedoch Sie, Herr Bogdanow, aus diesem Anlass einen so lachhaften Spektakel entfachen und mich verdächtigen, ich hätte es auf Ihre Person abgesehen, dann demonstrieren Sie damit nur, wie schlecht Sie dieses unbestreitbare Recht begriffen haben.

Sie, der Sie kein Marxist sind, wollen um jeden Preis, dass wir Marxisten Sie als unseren Genossen ansehen. Sie erinnern mich an jene Mutter bei Gleb Uspenski, die ihrem Sohn schrieb, da er so weit von ihr entfernt wohne und keine Anstalten mache, sie wiederzusehen, werde sie sich über ihn bei der Polizei beschweren und verlangen, dass die Obrigkeit ihr die Möglichkeit gibt, ihn „etappenweise zu umarmen". Bei Uspenski hat der Kleinbürger, an den diese mütterliche Drohung gerichtet war, bei der Erinnerung an die Mutter vor Rührung geweint. Wir russischen Marxisten werden bei solchen Anlässen keine Träne vergießen. Aber das hindert uns nicht, Ihnen eindeutig zu erklären, dass wir unser Recht auf Abgrenzung in seinem ganzen Umfang nutzen und dass es weder Ihnen noch sonst jemandem <wer dies auch sei,> gelingen wird, uns „etappenweise zu umarmen".

Aber ich muss noch eines hinzufügen. Selbst wenn ich wirklich diesem oder jenem Inquisitor ähnlich wäre, selbst wenn ich wirklich der Meinung wäre, dass es Menschen geben kann, die wegen ihrer Überzeugungen den Tod verdient hätten (wenn auch nur in Anführungsstrichen), Sie, Herr Bogdanow, würde ich trotzdem nicht dazurechnen. Ich würde mir dann sagen: „Das Recht auf Hinrichtung erwirbt man sich durch Talent. Unser Theoretiker des Empiriomonismus hat nicht die Spur von Talent. Er ist der Todesstrafe nicht würdig!"

Sie, gnädiger Herr, fordern von mir immer wieder Aufrichtigkeit; seien Sie also nicht beleidigt, wenn ich nun auch aufrichtig bin.

Sie kommen mir ungefähr so vor wie der alte Wassili Tredjakowski seligen Angedenkens: wie ein Mann, der zwar einen beträchtlichen Tatendrang entwickelt, aber o weh! – sehr wenig Begabung zeigt. Um sich mit Menschen wie dem seligen Professor der Beredsamkeit und der poetischen Tricks abzugeben, benötigt man gewaltige Kräfte, um der Langeweile zu wehren. Ich besitze nicht so viel davon. Und das ist der Grund, weswegen ich Ihnen bis jetzt nicht geantwortet habe – trotz ihrer direkten Herausforderungen.

Ich habe mir gesagt: J'ai d'autres chats à fouetter.6 Und dass ich ehrlich war und nicht nur einen Vorwand gesucht habe, dem polemischen Geplänkel mit Ihnen zu entrinnen, das wird durch mein Handeln bewiesen. Habe ich doch seit der Zeit, da Sie begannen, mich herauszufordern, in der Tat – traurige Notwendigkeit! – nicht wenige „Katzen durchgeprügelt". Freilich, Sie haben sich mein Schweigen anders erklärt. Sie haben offenbar geglaubt, ich hätte nicht den Mut, Ihre philosophische Festung anzugreifen, und zöge es vor, leere Drohungen gegen Sie auszustoßen, Sie „auf Kredit" zu kritisieren. Ich will Ihnen nicht das Recht auf Selbstbetrug streitig machen, aber ich habe meinerseits auch das Recht, Ihnen zu sagen: Sie betrügen sich selbst. In Wirklichkeit habe ich es ganz einfach nicht für notwendig befunden, mit Ihnen zu streiten, weil ich annahm, dass sich die bewussten Vertreter des russischen Proletariats selbst ein Urteil über Ihre philosophischen Weisheiten zu bilden vermögen. Außerdem – wie ich schon sagte – j' avais d'autres chats à fouetter. So hatten mir schon Ende 1907, also gleich nachdem Ihr Offener Brief an mich im „Wjestnik Schisni" erschienen war, einige meiner Genossen geraten, mich mit Ihnen zu befassen. Ich entgegnete ihnen, dass es nützlicher sei, sich mit Herrn Ar. Labriola zu befassen, dessen Ansichten Ihr Gesinnungsfreund, Herr A. Lunatscharski, in Russland als eine Waffe zu nutzen gedenkt, die „auf orthodoxe Marxisten" zugeschnitten ist. Mit einem Nachwort dieses Herrn Lunatscharski versehen, hat das Buch von Herrn A. Labriola bei uns den Weg für den Syndikalismus frei gemacht. Ich zog es also vor, mich zunächst mit ihm zu beschäftigen7 und meine Antwort auf Ihren Offenen Brief noch zurückzustellen. Ehrlich gesagt, aus Angst vor der Langeweile hätte ich auch jetzt noch gezögert, Ihnen, Herr Bogdanow, zu antworten, wenn es nicht eben jenen Herrn Anatoli Lunatscharski gäbe. Während Sie nach Tredjakowskis Manier in Ihrem „Empiriomonismus" schwelgten, ist er – unser Hansdampf in allen Gassen – als Verkünder einer neuen Religion hervorgetreten.8 Diese Verkündigung könnte weit größere praktische Bedeutung haben als die Propaganda Ihrer (vermeintlich) philosophischen Ideen. Zugegeben, ich bin wie Engels der Meinung, dass gegenwärtig „{alle Möglichkeiten der Religion erschöpft sind}".B Aber ich übersehe nicht, dass diese Möglichkeiten eigentlich nur für bewusste Proletarier erschöpft sind. Außer den bewussten Proletariern gibt es indes auch noch solche mit halbem oder gar keinem Bewusstsein. Im Entwicklungsprozess dieser Elemente der Arbeiterklasse kann die religiöse Predigt zu einer nicht unbedeutenden negativen Größe werden. Und schließlich haben wir neben den Proletariern mit halbem oder gar keinem Bewusstsein noch eine große Zahl von „Intellektuellen", die sich selbstredend für vollkommen bewusst halten, in Wirklichkeit aber unbewusst von jeglicher Modeströmung angetan sind und sich „heutigentags" – alle reaktionären Epochen sind subjektiv, sagte Goethe9 – sehr gerne jeder Art von Mystizismus hingeben. Für solche Leute, gnädiger Herr, sind Phantasien wie die neue Religion Ihres Gesinnungsfreundes ein gefundenes Fressen. Auf so eine Fiktion stürzen sie sich wie die Fliegen auf den Honig. Da aber ziemlich viele dieser Herrschaften, die sich gierig an alles klammern, was ihnen das letzte Buch zu sagen hat, bedauerlicherweise ihre Verbindungen zum Proletariat noch nicht ganz abgebrochen habenC, können sie auch das Proletariat mit ihren mystischen Schwärmereien vergiften. Aus diesem Grunde meine ich, dass wir Marxisten nicht nur dem neuen Evangelium des Anatoli eine entschiedene Abfuhr erteilen müssen, sondern auch der nicht mehr neuen Philosophie von Ernst (Mach), die Sie, Herr Bogdanow, mehr oder weniger für unseren russischen Hausgebrauch zurechtgemacht haben. Und nur darum habe ich mich entschlossen, Ihnen zu antworten.

Ich weiß, viele Genossen waren erstaunt darüber, dass ich es bis jetzt nicht für notwendig befunden hatte, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Aber das ist eine alte Geschichte, die ewig neu bleibt. Schon als Herr Struve seine bekannten „Kritischen Bemerkungen" herausgebracht hatte10, rieten mir einige meiner (damals nicht sehr zahlreichen) Gesinnungsfreunde11, die diese Bemerkungen mit Recht als das Werk eines Menschen ansahen, der noch zu keiner folgerichtigen Denkweise gelangt war, gegen ihn aufzutreten. Noch mehr wurde ich in dieser Richtung bedrängt, nachdem derselbe Herr Struve in den „Woprossy Filossofii i Psichologii" seinen Aufsatz „Über Freiheit und Notwendigkeit" veröffentlicht hatte.12 Ich erinnere mich, wie Lenin, der mit mir im Sommer des Jahres 1900 zusammentraf, mich fragte, warum ich diesen Artikel unbeachtet gelassen hatte.13 Meine Antwort an Lenin war sehr einfach:

Die Gedanken, die Herr Struve in dem Aufsatz „Über Freiheit und Notwendigkeit" darlegt, hatte ich schon vorher in meinem Buch „Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung" widerlegt. Demjenigen, der dieses Buch gelesen und verstanden hatte, musste klar sein, worin der neue Fehler des Autors der „Kritischen Bemerkungen" bestand. Mich aber mit denen zu unterhalten, die mein Buch nicht gelesen oder nicht verstanden hatten, war mir die Zeit zu schade. Ich habe keineswegs die Verpflichtung gefühlt, für unsere marxistische Intelligenz die Rolle einer Schtschedrinschen Eule zu spielen, die unentwegt dem Adler nachjagt, um ihn nach der Lautiermethode zu unterrichten: Ihre Majestät, sagen Sie ABC. Bei Schtschedrin hing die Eule dem Adler dermaßen zum Halse raus, dass er sie zuerst anherrschte („Mach, dass du fort kommst, alte Vogelscheuche!") und gleich darauf in Stücke riss.14 Ich weiß nicht, ob mir von Seiten der mehr oder weniger marxistisch eingestellten russischen Intelligenz irgendwelche Gefahren gedroht hätten, wenn ich ihr als lehrhafte Eule gegenübergetreten wäre. Aber ich war weder geneigt noch in der Lage, diese undankbare Rolle zu spielen, weil ich andere praktische und – vor allem – theoretische Aufgaben zu lösen hatte. Ich wäre wohl in der Theorie weit vorangekommen, wenn ich jedes Mal „reagiert" hätte, wo von mir gefordert wurde und wird, ich solle mich dazu „äußern". So haben beispielsweise einige Leser gewünscht, dass ich zur erotischen Literatur unserer Tage (also zu Herrn Arzybaschew und seiner Zunft) Stellung nehme, während andere mich gefragt haben, wie ich über die Tänze der Frau Isadora Duncan denke. Wehe dem Schriftsteller, der es sich einfallen lässt; auf alle geistigen Schrullen einer so launischen und nervösen Dame wie der (russischen) Intelligenz einzugehen. Nehmen wir allein die philosophischen Grillen dieser Madame! Ist es lange her, dass sie sich über Kant ausgelassen hat? Ist es lange her, dass sie von uns eine Antwort auf die Kantianische „Kritik" an Marx verlangt hat? Gar nicht lange ist es her! Es war erst vor so kurzer Zeit, dass die Bastschuhe, in denen unsere leichtsinnige Dame dem Neukantianismus nachgelaufen ist, noch nicht abgelaufen sind. Nach Kant aber kamen Avenarius und Mach. Und nach diesen beiden Ajaxen des Empiriokritizismus erschien Joseph Dietzgen. Ihm wiederum sind jetzt Poincaré und Bergson gefolgt. „Kleopatra hatte viele Liebhaber!" Aber möge mit ihnen kämpfen, wer immer will, ich habe dazu um so weniger Lust, als ich nicht den geringsten Wert darauf lege, unserer heutigen Intelligenz zu gefallen: Sie ist nicht die Heldin meines Romanes.

Doch wenn ich mich auch nicht verpflichtet fühle, mit den zahlreichen Liebhabern unserer russischen Kleopatra Krieg zu führen, so bedeutet das ja nicht im Mindesten, dass ich kein Recht hätte, beiläufig über sie ein Urteil abzugeben; solch eine Meinungsäußerung gehört gleichfalls zu den unabdingbaren Rechten eines Menschen und Bürgers. So habe ich mich zum Beispiel noch nie mit der Kritik der christlich-dogmatischen Theologie befasst und werde es wahrscheinlich auch niemals tun. Deswegen kann mir aber doch keineswegs das Recht abgesprochen werden, bei passender Gelegenheit über dieses oder jenes christliche Dogma meine Meinung zu sagen. Was würden Sie, Herr Bogdanow, von einem orthodoxen Theologen halten, der aufgrund meiner beiläufigen Bemerkungen über christliche Dogmen – derartige Bemerkungen wird man sicherlich in meinen Werken finden können – gegen mich die Anschuldigung erheben würde, ich kritisierte das Christentum „auf Kredit"? Ich hoffe, Sie hätten genügend gesunden Menschenverstand, um darüber mit den Schultern zu zucken. Wundern Sie sich, gnädiger Herr, daher nicht, dass ich nicht weniger gesunden Menschenverstand besitze, das heißt mit den Schultern zucke, wenn ich höre, wie Sie mir meine beiläufigen Äußerungen über den Machismus anlasten, die Sie als Kritik „auf Kredit" bezeichnen.

Für alle Fälle habe ich weiter oben bereits Ihre Meinung über den philosophischen Standpunkt von Engels angeführt, die selbst bei ganz begriffsstutzigen Leuten keinerlei Zweifel darüber aufkommen lassen dürfte, wie es um Ihr Verhältnis zur Philosophie des Marxismus bestellt ist. Aber jetzt erinnere ich mich daran, dass Sie, als ich Ihnen vor kurzem auf einer russischen Versammlung in Genf15 in meiner Rede diese Zeilen vorhielt, aufzuspringen beliebten und mir zuriefen: „So habe ich früher gedacht, aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe." Das ist eine überaus wichtige Erklärung, und ich, wie auch jeder Leser, der sich für unseren philosophischen Disput interessiert, ist verpflichtet, sie zur Kenntnis zu nehmen und sich nach ihr zu richten…, wenn ihr logischer Sinn nur dazu ausreicht, dass man sich nach ihr richten könnte.

Früher beliebten Sie zu meinen, der philosophische Standpunkt von Engels sei der Standpunkt der goldenen Mitte, und Sie lehnten ihn als einen nicht stichhaltigen Standpunkt ab. Jetzt belieben Sie anders zu denken. Was soll das heißen? Vielleicht, dass Sie den Engelsschen Standpunkt jetzt als befriedigend ansehen? Ich wäre sehr froh, dies von Ihnen zu erfahren – allein schon deshalb, weil ich mir dann das Langweilige einer philosophischen Auseinandersetzung mit Ihnen ersparen könnte. Aber bis jetzt ist mir diese Genugtuung nicht widerfahren: Sie haben nirgends erklärt, dass Sie sich aus einem Saulus in einen Paulus verwandelt, das heißt, dass Sie dem Machismus den Rücken gekehrt haben und ein dialektischer Materialist geworden sind. Ganz im Gegenteil. Im dritten Buch Ihres „Empiriomonismus" äußern Sie genau die gleichen philosophischen Ansichten wie im zweiten Buch desselben Werkes, jenem Buch, aus dem ich das Zitat entnommen habe, das von Ihrer totalen Nichtübereinstimmung mit Engels zeugt. Was hat sich denn da nun geändert, Herr Bogdanow?

Ich werde Ihnen sagen, was <sich geändert hat>. Als das zweite Buch Ihres „Empiriomonismus" gedruckt wurde – und das war keineswegs zu Adams Zeiten, das war frühestens im Jahre 1905 –, da hatten Sie noch Mut genug, Engels und Marx zu kritisieren, von denen Sie so weit abwichen und weiterhin abweichen, wie nur ein Idealist von einem Materialisten abweichen kann. Dieser Mut gereichte Ihnen natürlich zur Ehre. Wenn der Denker schlecht ist, der sich fürchtet, der Wahrheit in die Augen zu sehen, so ist erst recht derjenige schlecht, der ihr in die Augen geschaut hat, aber sich fürchtet, der Welt das mitzuteilen, was er gesehen hat. Am allerschlechtesten jedoch ist der, der seine philosophischen Überzeugungen um irgendeines praktischen Vorteils willen für sich behält. Solch ein Denker gehört offensichtlich zur Gattung der Moltschalins. Noch einmal, Herr Bogdanow, der Mut, den Sie noch 1905 bewiesen haben, macht Ihnen Ehre. Schade nur, dass er Ihnen so schnell wieder abhanden gekommen ist.

Sie haben erkannt, dass das, was Sie „meine Taktik" nennen – und was in Wirklichkeit nichts anderes ist als die einfache Feststellung der (für alle) offenkundigen Tatsache, dass Sie zu den Marx„kritikern" gehören –, einen, wie Sie selbst sich auszudrücken beliebten, gewissen Erfolg hat, das heißt, dass unsere orthodoxen Marxisten aufhören, Sie als ihren Genossen anzusehen. Sie sind darüber erschrocken und haben sich gegen mich ihre eigene „Taktik" zurechtgelegt. Sie haben begriffen, dass es für Sie bequemer ist, mit mir zu kämpfen, wenn Sie sich zugleich mit den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus solidarisch erklären und mich sozusagen zu deren Kritiker stempeln. Anders ausgedrückt, Sie haben sich entschlossen, auf mich jene „Taktik" anzuwenden, die in die Worte gekleidet wird: die Schuld auf einen Unbeteiligten abwälzen. Nachdem der Entschluss gefasst war, schrieben Sie jene kritische Analyse meiner Erkenntnistheorie, die im dritten Buch des „Empiriomonismus" zu finden ist und in der ich – im Gegensatz zum zweiten Buch – nicht mehr als Anhänger von Marx und Engels figuriere. Der Mut hat Sie im Stich gelassen, Herr Bogdanow, und Sie tun mir leid. Aber man muss gerecht selbst gegenüber Leuten sein, die unter dem Mangel an Mut leiden. Darum will ich Ihnen sagen, dass Sie entgegen Ihrer Gewohnheit in diesem Falle nicht wenig Scharfsinn bewiesen haben. In dieser Hinsicht haben Sie hier womöglich sogar den (berühmten) Mönch Gorenflot übertroffen.

Die Franzosen wissen, wer dieser Mönch ist. Den Russen dürfte er weniger bekannt sein, so dass ich sie mit zwei Worten mit ihm bekannt machen muss.

Einmal, an einem – ich weiß nicht welchem – Fastentag gelüstete es dem Mönch Gorenflot, ein Hühnchen zu verspeisen. Aber das war doch Sünde. Wie kann man es anstellen, am Hühnchen zu naschen und trotzdem keine Sünde zu begehen? Der Mönch Gorenflot hatte eine großartige Idee. Er packte das verführerische Huhn und vollzog an ihm die heilige Taufe, wobei er ihm den Namen „Karausche" oder den eines anderen Fisches gab. Der Fisch ist bekanntlich eine Fastenspeise; er darf an Fastentagen gegessen werden. So hat denn unser Gorenflot sein Hühnchen verzehrt, sich darauf berufend, dass es ja bei der heiligen Taufe zum Fisch erklärt worden sei.

Sie, Herr Bogdanow, sind genauso vorgegangen wie dieser <durchtriebene> Mönch. Sie haben sich gelabt und laben sich weiter an der idealistischen Philosophie des „Empiriomonismus". Aber meine „Taktik" ließ Sie spüren, dass dies in den Augen orthodoxer Marxisten eine theoretische Sünde ist. Und so vollzogen Sie, ohne lange zu überlegen, an Ihrem „Empiriomonismus" die heilige Taufe und tauften ihn zur philosophischen Lehre von Marx und Engels. Diese geistige Nahrung wird Ihnen ja kein orthodoxer Marxist jemals versagen. Es war also ein zweifaches Interesse, das Sie dabei verfolgten: Sie können sich auch fernerhin am „Empiriomonismus" gütlich tun und rechnen sich gleichzeitig zur Familie der orthodoxen Marxisten. Und Sie rechnen sich nicht nur dazu, sondern sind (das heißt, Sie erwecken den Anschein, es zu sein) noch böse auf diejenigen, die Sie nicht für „ihresgleichen halten" wollen. Ganz so wie der Mönch Gorenflot! Nur war Gorenflot listig im Kleinen, während Sie es, Herr Bogdanow, im Großen sind. Ebendeshalb meine ich, dass Sie in Ihrem Scharfsinn den berühmten Mönch übertroffen haben.

Aber – o weh! – im Kampf gegen Tatsachen ist sogar der glänzendste Scharfsinn machtlos. Gorenflot konnte seinem Hühnchen den Namen Fisch geben, dadurch hört es nicht auf, ein Hühnchen zu sein. Genauso können auch Sie, Herr Bogdanow, Ihren Idealismus als Marxismus ausgeben, und werden dadurch doch nicht zu einem dialektischen Materialisten. Und je eifriger Sie sich bei diesem Geschäft Ihrer neuen „Taktik" bedienen, umso deutlicher wird sich zeigen, nicht nur dass Ihre philosophischen Anschauungen mit dem dialektischen Materialismus von Marx und Engels gänzlich unvereinbar sind, sondern auch – was weit schlimmer ist –, dass Sie ganz einfach nicht zu begreifen vermögen, was diesen Materialismus in erster Linie auszeichnet.

Im Interesse der Sachlichkeit muss festgestellt werden, dass für Sie der Materialismus insgesamt ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist. Daraus erklären sich auch die zahllosen Schnitzer, die Ihnen bei der Kritik meiner Erkenntnistheorie unterlaufen sind.

Ich will nur einen anführen. Während Sie mich 1905 als Anhänger von Engels bezeichneten, attestieren Sie mir jetzt, dass ich ein Schüler Holbachs sei. Was berechtigt Sie dazu? Nur der Umstand, dass Ihre neue „Taktik" Ihnen vorschreibt, mich nicht als Marxisten anzuerkennen. Einen anderen Grund haben Sie nicht. Und ebendeshalb, weil Sie keinen anderen Grund haben, mich einen Schüler Holbachs zu nennen, als Ihr Bedürfnis, sich die „taktische" Weisheit des Mönches Gorenflot zunutze zu machen, offenbaren Sie uns sogleich Ihre schwache Seite, Ihre völlige Hilflosigkeit in den Fragen der materialistischen Theorie. In der Tat, wenn Sie nur ein wenig über die Geschichte des Materialismus Bescheid wüssten, dann wäre Ihnen klar, dass man mich nicht als einen Holbachianer – einen holbachien, wie sich irgendwann einmal Rousseau ausgedrückt hat – bezeichnen kann. Da Sie mich aufgrund der von mir vertretenen Erkenntnistheorie als Holbachianer bezeichnen, halte ich es nicht für unnütz, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass diese Theorie wesentlich mehr mit der Lehre PriestleysD zu tun hat als mit der Lehre Holbachs. In anderer Hinsicht aber ist die philosophische Weltanschauung, die ich vertrete, von den Ansichten Holbachs weiter entfernt als etwa von denen eines HelvetiusE oder sogar La Mettries. Jeder, der mit den Werken des letzteren vertraut ist, kann sich davon leicht überzeugen. Aber das ist ja gerade das Schlimme, dass Sie weder die Werke La Mettries noch die Werke Helvetius' noch die Werke Priestleys kennen und schließlich auch nicht die Werke Holbachs selbst, für dessen Schüler Sie mich auszugeben beschlossen, womit ich von Ihnen – wahrscheinlich wegen zu geringer Erfolge beim Verstehen des dialektischen Materialismus – aus der Schule von Marx und Engels ausgeschlossen wurde. Das ist ja eben das Schlimme, dass Sie den Materialismus überhaupt nicht kennen, weder seine Geschichte noch seinen jetzigen Entwicklungsstand. Und es ist nicht nur Ihr Elend, Herr Bogdanow, es ist seit langem das Elend aller Gegner des Materialismus. Nicht erst heute erleben wir, dass sich sogar Leute für berechtigt halten, gegen den Materialismus aufzutreten, die von ihm überhaupt keine Vorstellung haben. Es versteht sich, dass dieser löbliche Brauch allein deshalb so zählebig sein konnte, weil er voll und ganz den Vorurteilen der herrschenden Klassen entsprach. Doch darüber später.

Sie geben mich dem Autor des „Systeme de la nature" deshalb in die Lehre, weil ich, nach Ihren Worten, den Materialismus im Namen von Marx mit Hilfe von Holbach-Zitaten darlege.F Aber erstens zitiere ich in meinen philosophischen Aufsätzen nicht nur Holbach. Und zweitens – und das ist die Hauptsache – haben Sie in keiner Weise begriffen, warum ich oftmals Holbach und andere Materialisten des 18. Jahrhunderts zitieren musste. Ich habe das <ganz und gar> nicht zu dem Zwecke getan, um die Ansichten von Marx darzulegen, wie Sie zu behaupten belieben, sondern zu dem Zweck, den Materialismus gegen jene unsinnigen Vorwürfe zu Verteidigen, die von seinen Gegnern im allgemeinen und von den Neukantianern im besonderen gegen ihn erhoben wurden.

Wenn zum Beispiel Lange in seiner berüchtigten, dem Wesen nach aber ganz haltlosen „Geschichte des Materialismus" sagt: „Der Materialismus nimmt hartnäckig die Welt des Sinnenscheins für die Welt der wirklichen Dinge"16, dann halte ich es für meine Pflicht, nachzuweisen, dass Lange die historische Wahrheit entstellt. Und da er dies gerade in einem Kapitel tut, das Holbach gewidmet ist, muss ich, um ihn zu überführen, Holbach zitieren, eben den Schriftsteller, dessen Anschauungen von Lange entstellt werden. Ungefähr aus demselben Grunde musste ich den Autor des „Système de la nature" in meiner Polemik mit den Herren Bernstein und C. Schmidt zitieren. Diese Herrschaften haben gleichfalls über den Materialismus großen Unsinn geredet, und ich war gezwungen, ihnen zu zeigen, wie schlecht sie den Gegenstand kennen, über den sie glaubten, Glossen machen zu können. Übrigens hatte ich in meinem Streit mit ihnen nicht mehr nur Holbach zu zitieren, sondern auch La Mettrie, Helvetius und besonders Diderot. Zugegeben, alle diese Schriftsteller repräsentieren den Materialismus des 18. Jahrhunderts, und jemand, der sich in der Sache nicht auskennt, könnte wohl die Frage stellen: Warum eigentlich verweist Plechanow gerade auf die Materialisten des 18. Jahrhunderts? Meine Antwort darauf ist sehr einfach: Weil die Gegner des Materialismus – nehmen wir zum Beispiel Lange – das 18. Jahrhundert als die ausgesprochene Blütezeit dieser Lehre ansahen. (Lange bezeichnet den Materialismus des 18. Jahrhunderts direkt als klassischen Materialismus.)

Wie sie sehen, Herr Bogdanow, des Rätsels Lösung ist nicht schwer. Aber Sie, der Sie sich die pfiffige Taktik des Mönches Gorenflot einmal zu eigen gemacht haben, sind ja gar nicht daran interessiert, des Rätsels Lösung zu finden, sondern sie zu verbergen. Aber ich kann verstehen, dass es nicht in Ihrem Interesse ist, das Rätsel zu lösen. Aber wissen sie was? Wer des Rätsels Lösung mit Vorbedacht verbirgt, kommt kaum ohne Sophismen aus, zur Sophistik aber benötigt man mehr oder weniger das, was Hegel die Meisterschaft im Umgang mit Gedanken genannt hat. Sie jedoch, obwohl Sie den listigen Gorenflot nachzuahmen versuchen, sind, allgemein gesprochen, von einer solchen Meisterschaft sehr weit entfernt.17 Darum sind Ihre Sophismen in jeder Beziehung plump und ungeschickt. Das ist für Sie sehr unangenehm. Darum würde ich Ihnen raten, sich immer dann, wenn Sie merken, dass Sie Sophismen nötig haben, hilfesuchend an Herrn Lunatscharski zu wenden. Er offeriert Ihnen diese weitaus eleganter und ansprechender. Und das ist für die Kritik wesentlich günstiger. Ich weiß nicht, wie es andere empfinden, aber mir ist es um vieles sympathischer, die elegante Sophistik des Herrn Lunatscharski zu zerpflücken als Ihr, Herr Bogdanow, unbeholfenes sophistisches Gerede.

Ich weiß nicht, ob Sie meinen wohlmeinenden – wenn auch, wie Sie sehen, nicht ganz uneigennützigen – Rat befolgen werden. Einstweilen jedoch muss ich mich mit Ihren linkischen sophistischen Erfindungen begnügen. Inzwischen habe ich auch wieder neue Kräfte gegen die Langeweile gesammelt, und ich kann mit Ihrer Entlarvung fortfahren.

Indem Sie mich zu Holbach in die Lehre schickten, wollten Sie mich in den Augen Ihrer Leser herabsetzen. In Ihrem Vorwort zur russischen Ausgabe der Machschen „Analyse der Empfindungen" schreiben Sie, dass ich und meine Genossen der Philosophie von Mach „die Philosophie der Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts in den Formulierungen des Barons Holbach" entgegensetzen, „eines waschechten Ideologen der Bourgeoisie, der auch den gemäßigt-sozialistischen Sympathien E. Machs sehr fern steht". Da führen Sie uns doch gleich Ihre unwahrscheinliche Unkenntnis des Gegenstandes und Ihre erzkomische Ungeschicklichkeit im „Umgang mit Gedanken" in ihrer hässlichen Nacktheit vor!

Baron Holbach steht tatsächlich den gemäßigt-sozialistischen Sympathien Machs sehr fern. Wie könnte es auch anders sein! Ihn trennen von diesen Sympathien rund anderthalb Jahrhunderte. Man muss aber wirklich schon ein würdiger Nachfolger Tredjakowskis sein, um diesen Umstand Holbach selbst oder einem seiner Gesinnungsfreunde des 18. Jahrhunderts anzulasten. Ist doch Holbach nicht auf seinen eigenen Wunsch hin zeitlich hinter Mach zurückgeblieben. Wollte man so urteilen, dann könnte man zum Beispiel Kleisthenes vorwerfen, dass er selbst dem opportunistischen Sozialismus des Herrn Bernstein „sehr fern stand". Jedes Gemüse zu seiner Zeit, Herr Bogdanow! Aber in einer Gesellschaft, die in Klassen gespalten ist, erscheint zu jeder Zeit nicht wenig philosophisches Gemüse auf Gottes Erdboden, aus dem sich die Menschen nach ihrem Geschmack die eine oder andere Sorte auswählen. Schon Fichte hat richtig gesagt: wie der Mensch, so auch seine Philosophie. Aus diesem Grunde erscheint mir die unbestreitbare und sogar übermäßige Sympathie des Herrn Bogdanow für die gemäßigt-sozialistischen Sympathien E. Machs" recht seltsam.

Bis jetzt hatte ich angenommen, dass Herr Bogdanow nicht nur unfähig sei, sich für gemäßigt-sozialistische Sympathien", welcher Art auch immer, zu erwärmen, sondern dass er als ein Mann der „extremen" Denkart darauf bedacht sei, sie als einen unserer Zeit unwürdigen Opportunismus anzuprangern. Jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Und nach einigem Nachdenken verstehe ich, warum ich mich geirrt habe. Ich hatte für einen Moment außer acht gelassen, dass Herr Bogdanow zu den Marx„kritikern" gehört. Nicht umsonst heißt es: Wer erst ins Stolpern kommt, ist nah dem Fall. Bei Herrn Bogdanow begann es mit der Zurückweisung des dialektischen Materialismus und endete mit einer offensichtlichen und sogar übermäßigen Sympathie für die „gemäßigt-sozialistischen Sympathien" Machs. Das ist ganz natürlich: „{Wer A sagt, muss auch B sagen}."

Dass Holbach ein Baron war, ist eine unbestreitbare historische Wahrheit. Aber warum haben Sie, Herr Bogdanow, Ihre Leser auf seine Baronswürde besonders hingewiesen? Man sollte meinen, dass Sie es nicht aus Liebe zu solchen Titeln taten, sondern einfach deshalb, weil Sie uns, den Verteidigern des dialektischen Materialismus, den angeblichen Schülern des Barons, eins auswischen wollten. Nun gut, das ist Ihr Recht. Aber wenn Sie schon gegen uns sticheln möchten, Verehrtester, dann vergessen Sie doch nicht, dass man von einem Ochsen nicht zwei Häute abziehen kann. Sie selbst sagen ja, dass Baron Holbach ein waschechter Ideologe der Bourgeoisie war. Es ist folglich klar, dass sein Baronstitel für die soziale Bestimmung seiner Philosophie keinerlei Bedeutung haben kann. Es handelt sich ausschließlich darum, welche Rolle diese Philosophie zu ihrer Zeit gespielt hat. Und dass sie zu ihrer Zeit eine im höchsten Grade revolutionäre Rolle gespielt hat, das können Sie aus vielen allgemein zugänglichen Quellen erfahren, wie übrigens auch von Engels, der über die französische philosophische Revolution des 18. Jahrhunderts sagt: „Die Franzosen in offenem Kampf mit der ganzen offiziellen Wissenschaft, mit der Kirche, oft auch mit dem Staat; ihre Schriften jenseits der Grenze, in Holland oder England gedruckt, und sie selbst oft genug drauf und dran, in die Bastille zu wandern."G Sie können mir glauben, gnädiger Herr, wenn ich Ihnen sage, dass auch Holbach zusammen mit anderen Materialisten jener Zeit zu diesen revolutionären Schriftstellern gehörte. Darüber hinaus muss aber noch etwas gesagt werden.

Holbach und überhaupt die damaligen französischen Materialisten waren nicht so sehr Ideologen der Bourgeoisie als vielmehr Ideologen des dritten Standes in jener geschichtlichen Epoche, wo dieser Stand ganz und gar von revolutionärem Geist durchdrungen war. Die Materialisten bildeten den linken Flügel der ideologischen Armee des dritten Standes. Und als sich dieser Stand seinerseits in „cela" aufteilte, als aus ihm einerseits die Bourgeoisie und andererseits das Proletariat hervorging, da stützten sich die Ideologen des Proletariats gerade deshalb auf diese Lehre, weil sie die am meisten revolutionäre philosophische Lehre ihrer Zeit war. Der Materialismus wurde zur Grundlage des Sozialismus und Kommunismus. Darauf hat Marx schon in seinem Buch „{Die heilige Familie}" hingewiesen. Er schrieb dort:

Es bedarf keines großen Scharfsinns, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, der Allmacht der Erfahrung, Gewohnheit, Erziehung, dem Einflüsse der äußern Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen."H

Marx bemerkt weiter: „Bezeichnend für die sozialistische Tendenz des Materialismus ist Mandevilles, eines älteren englischen Schülers von Locke, Apologie der Laster. Er beweist, dass die Laster in der heutigen Gesellschaft unentbehrlich und nützlich sind. Es war dies keine Apologie der heutigen Gesellschaft."I

Marx hat recht. Es bedarf wirklich keines großen Scharfsinns, um den notwendigen Zusammenhang zwischen Materialismus und Sozialismus einzusehen. Aber etwas Scharfsinn ist dazu dennoch erforderlich. Das ist der Grund, weswegen diejenigen {„Kritiker“}, denen jeglicher Verstand abgeht, den von Marx erwähnten Zusammenhang nicht bemerken und denken, man könne für den Sozialismus eintreten und ihn sogar neu „begründen", indem man gegen den Materialismus zu Felde zieht. Mehr noch, jene Anhänger des Sozialismus, denen jeglicher Verstand abgeht, sind bereit, für jede andere Philosophie Interesse zu zeigen, nur nicht für die materialistische. Daraus erklärt sich denn auch, dass sie, wenn sie sich anschicken, über den Materialismus ihre Glossen zu machen, so unverzeihlichen Unsinn reden.

Sie, gnädiger Herr, haben den notwendigen Zusammenhang zwischen Materialismus und Sozialismus gleichfalls nicht bemerkt. Warum? Darauf zu antworten überlasse ich dem Leser. Ich selbst begnüge mich mit dem Hinweis, dass Sie uns Marxisten sogar die Verbreitung der Ideen des französischen Materialismus als eine Tat anlasten; die mit den Aufgaben der sozialistischen Propaganda in unserer Zeit nicht übereinstimmt. Sie haben sich auch hier, wie wir es bei Ihnen gewohnt sind, sehr weit von den Begründern des wissenschaftlichen Sozialismus entfernt.

In dem Artikel „{Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge}", der zuerst 1874 in Nummer 73 der Zeitung „{Volksstaat}" abgedruckt war und später in den Sammelband „{Internationales aus dem Volksstaat'}" aufgenommen wurde, hat Engels mit Genugtuung festgestellt, dass die deutschen sozialdemokratischen Arbeiter {mit Gott einfach fertig sind} und dass sie leben und denken wie Materialisten.J Auf Seite 44 desselben Bandes fügt er hinzu, dass es in Frankreich sicher nicht anders ist. „Aber wenn nicht", räumt er ein, „so wäre doch nichts einfacher, als dafür zu sorgen, dass die prachtvolle französische materialistische Literatur des vorigen Jahrhunderts (also des achtzehnten, Herr Bogdanow – G. P.) massenhaft unter den Arbeitern verbreitet würde, jene Literatur, in der der französische Geist nach Form und Inhalt bisher sein Höchstes geleistet hat und die – den damaligen Stand der Wissenschaft berücksichtigt – {dem Inhalt nach auch heute noch unendlich hochsteht} und der Form nach nie wieder erreicht worden ist."

Wie Sie sehen, Herr Bogdanow, hat Engels nicht nur nicht gefürchtet, dass jene „Philosophie der Naturwissenschaft" im Proletariat Verbreitung findet, die Sie als die Philosophie „waschechter Ideologen der Bourgeoisie" zu bezeichnen belieben, sondern er hat die massenhafte Verbreitung ihrer Ideen unter den französischen Arbeitern direkt empfohlen, falls diese Arbeiter noch keine Materialisten sind. Wir russischen Anhänger von Marx und Engels meinen, dass es nützlich ist, diese Ideen zu verbreiten, unter anderem im russischen Proletariat, dessen bewusste Vertreter leider noch längst nicht alle auf dem materialistischen Standpunkt stehen. Aus dieser Überlegung heraus hatte ich vor zwei Jahren die Absicht, eine Bibliothek des Materialismus in russischer Sprache herauszugeben, in der die Werke der französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts, die wahrhaftig ihrer Form nach unvergleichlich und ihrem Inhalt nach bis jetzt überaus lehrreich sind, den ersten Platz eingenommen hätten. Diese Sache ist nicht zustande gekommen. Bei uns ist es unendlich leichter, die Produkte jener zahlreichen Schulen der modernen Philosophie abzusetzen, die Engels verächtlich als eklektische Bettelsuppe bezeichnete, als Arbeiten, die in der einen oder anderen Weise dem Materialismus gewidmet sind. Ein markantes Beispiel dafür ist die von mir ins Russische übertragene und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Schrift von Engels „Ludwig Feuerbach", die sich sehr schlecht verkauft. Unsere Leserschaft steht dem Materialismus heute gleichgültig gegenüber. Aber frohlocken Sie darüber nicht zu früh, Herr Bogdanow. Das ist ein schlechtes Zeichen. Es lässt erkennen, dass unsere Leserschaft sogar in solchen Zeiten, wo sie sich ganz und gar einem scheinbar sehr mutigen und „fortschrittlichen" theoretischen „Suchen" hingibt, noch immer einen langen konservativen Zopf hinter sich herträgt. Das historische Unglück des armseligen russischen Denkens besteht darin, dass es sich selbst in den Zeiten seines höchsten revolutionären Aufschwungs äußerst selten von dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie des Westens frei zu machen versteht, von dem Einfluss jener Gedanken, die bei den jetzt im Westen herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht anders als konservativ sein können. ,

Der bekannte Renegat der französischen Befreiungsbewegung des 18. Jahrhunderts La Harpe schreibt in seinem Buch „Réfutation du livre de l’Esprit", dass, als er zum ersten Mal mit einer Widerlegung Helvetius' hervortrat, seine Kritik bei den Franzosen fast gar keine Resonanz gefunden hatte. Später dagegen habe sich, nach seinen Worten, ihre Einstellung dazu geändert. La Harpe selbst erklärt das damit, dass sein erstes Auftreten in die vorrevolutionäre Epoche fiel, wo das französische Publikum noch nicht die Möglichkeit hatte, in der Praxis zu sehen, zu welch gefährlichen Folgen die Verbreitung materialistischer Gedanken führt. In diesem Falle hat der Renegat die Wahrheit gesprochen. Die Geschichte der französischen Philosophie nach der Großen Revolution zeigt mit unübertrefflicher Klarheit, dass die ihr eigenen anti-materialistischen Tendenzen ihre Wurzel in den Schutzinstinkten der Bourgeoisie haben, die in der einen oder anderen Weise mit dem alten Regime fertig geworden war und darum ihre frühere revolutionäre Leidenschaft über Bord warf und konservativ wurde. Und mehr oder minder gilt das nicht nur für Frankreich. Wenn die Ideologen der heutigen Bourgeoisie überall voll hochmütiger Verachtung auf den Materialismus blicken, dann muss man schon sehr naiv sein, um nicht zu bemerken, dass sich hinter dieser hochmütigen Verachtung ein gutes Stück ängstlicher Heuchelei verbirgt. Die Bourgeoisie fürchtet den Materialismus als eine revolutionäre Lehre, die imstande ist, dem Proletariat jene theologischen Scheuklappen von den Augen zu reißen, mit deren Hilfe seine Feinde seine geistige Entwicklung aufhalten wollen. Dass es sich tatsächlich so verhält, hat wiederum Engels so gut wie kein anderer aufgezeigt. In seinem Aufsatz „{Über historischen Materialismus}", der in den Nummern 1 und 2 der „{Neuen Zeit}" 1892-1893 abgedruckt war und ursprünglich als Vorwort zur englischen Ausgabe der berühmten Broschüre „Die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus" erschien, gibt Engels dem englischen Leser eine materialistische Erklärung der Tatsache, warum die Ideologen der englischen Bourgeoisie den Materialismus nicht lieben.

Engels weist darauf hin, dass der Materialismus, der zuerst in England und dann in Frankreich einen aristokratischen Charakter hatte, bald darauf in dem zweiten Land zu einer revolutionären Doktrin wurde, „und zwar in solchem Maß, dass während der großen Revolution die von englischen Royalisten in die Welt gesetzte Lehre den französischen Republikanern und Terroristen die theoretische Fahne lieferte und den Text für die ‚Erklärung der Menschenrechte' abgab". Das allein genügte, die „ehrwürdigen" Philister des umnebelten Albion in Schrecken zu versetzen. „Je mehr also der Materialismus", fährt Engels fort, „das Credo der französischen Revolution wurde, desto fester hielt der gottesfürchtige englische Bourgeois an seiner Religion. Hatte nicht die Schreckenszeit in Paris bewiesen, was daraus entsteht, wenn dem Volk die Religion abhanden kommt? Je mehr der Materialismus sich von Frankreich über die Nachbarländer ausbreitete und durch verwandte theoretische Strömungen … Verstärkung erhielt, je mehr in der Tat auf dem Kontinent Materialismus und Freidenkertum überhaupt die notwendige Qualifikation eines gebildeten Menschen wurde, desto zäher hielt die englische Mittelklasse an ihren mannigfachen religiösen Glaubensbekenntnissen. Sie mochten noch so sehr voneinander abweichen, entschieden religiöse, christliche Bekenntnisse waren sie alle."

Die nachfolgende innere Geschichte Europas mit ihrem Klassenkampf und bewaffneten Aufstand der Proletarier hat den englischen Bourgeois noch mehr von der Notwendigkeit der Religion als Zaumzeug für das Volk überzeugt. Heute jedoch wird diese Überzeugung von der Bourgeoisie des ganzen Kontinents geteilt. „Der puer robustus", heißt es weiter bei Engels, „war hier in der Tat täglich mehr malitiosus geworden.K Was blieb dem französischen und deutschen Bourgeois als letzte Hilfsquelle anders, als ihre Freigeisterei stillschweigend fallen zu lassen…? Einer nach dem andern nahmen die Spötter ein äußerlich frommes Wesen an, sprachen mit Achtung von der Kirche, ihren Lehren und Gebräuchen, und machten selbst von den letzteren soviel mit, als nicht zu umgehn war. Französische Bourgeois wiesen am Freitag Fleisch zurück, und deutsche Bourgeois schwitzten in ihren Kirchenstühlen ganze endlose protestantische Predigten durch. Sie waren mit ihrem Materialismus ins Pech geraten. ,Die Religion muss dem Volk erhalten werden' – das war das letzte und einzige Mittel zur Rettung der Gesellschaft vor totalem Untergang."

Damals begann auch – füge ich hinzu – zusammen mit der „Rückkehr auf Kant" jene Reaktion gegen den Materialismus, die bis heute die Richtung des europäischen Denkens überhaupt und insbesondere der Philosophie charakterisiert. Die reumütigen Bürger bezeichnen diese Reaktion mehr oder weniger heuchlerisch als den besten Beweis des Erfolges der philosophischen „Kritik". Aber wir Marxisten, die wir wissen, dass die Entwicklung des Denkens von der Entwicklung des Lebens abhängt, lassen uns nicht ohne weiteres durch solche mehr oder weniger heuchlerischen Hinweise von unserem Standpunkt abbringen. Wir können die soziologische Grundlage dieser Reaktion bestimmen. Wir wissen, dass sie durch das Erscheinen des revolutionären Proletariats auf der historischen Weltbühne ausgelöst wurde. Und da wir nicht den geringsten Grund haben, das revolutionäre Proletariat zu fürchten, es vielmehr für eine Ehre halten, seine Ideologen zu sein, werden wir uns auch nicht vom Materialismus lossagen. Im Gegenteil, wir verteidigen ihn vor der feigen und ungerechten „Kritik" der bürgerlichen Schlauköpfe.

Zu der eben erst von mir angeführten Ursache für die Ablehnung des Materialismus durch die Bourgeoisie muss man noch eine weitere hinzufügen, die übrigens gleichfalls ihren Ursprung in der Psychologie der Bourgeoisie als der herrschenden Klasse der heutigen kapitalistischen Gesellschaft hat. Jede Klasse, die die Macht errungen hat, neigt natürlich zur Selbstzufriedenheit. Die Bourgeoisie aber, die in einer Gesellschaft die Macht ausübt, deren Grundlage der erbitterte Konkurrenzkampf der Warenproduzenten ist, kann natürlich nur zu einer Selbstzufriedenheit neigen, die ohne altruistische Zugaben ist. Das wertvolle „Ich" eines jeden würdigen Vertreters der Bourgeoisie erfüllt völlig sein ganzes Denken und Handeln. Bei Sudermann, „{Das Blumenboot}", II act, I sc, sagt die Baronin Erfflingen belehrend zu ihrer jüngeren Tochter: „Menschenkinder unseres Schlages sind dazu da, aus den Dingen dieser Welt eine Art von heiterem Panorama zu machen, das an uns vorüberzieht. Oder vielmehr vorüberzuziehen scheint."18 Mit anderen Worten, Leute vom Schlage dieser famosen Baronin, die, nebenbei bemerkt, einem bürgerlichen Geschlecht entstammt, müssen sich so erziehen, dass sie alles, was in der Welt sich vollzieht, ausschließlich vom Standpunkt ihrer persönlichen, mehr oder weniger angenehmen Erlebnisse betrachten.L Sittlicher Solipsismus – mit diesen zwei Worten kann man die Stimmung der typischen Repräsentanten des zeitgenössischen Bürgertums am besten charakterisieren. Es braucht uns nicht zu wundern, dass aus einer derartigen Geisteshaltung heraus Systeme entstehen, die außer subjektiven „Erlebnissen" nichts anerkennen und die unausbleiblich zum theoretischen Solipsismus führen, wenn sie nicht durch die Unlogik ihrer Begründer davor bewahrt würden.

Im folgenden Brief, gnädiger Herr, werde ich Ihnen zeigen, mit welcher himmelschreienden Unlogik sich die von Ihnen so geschätzten Mach und Avenarius vor dem Solipsismus retten.19 Dort werde ich auch nachweisen, dass es auch für Sie, der Sie es nützlich finden, in einigen Details von ihnen abzuweichen, keine andere Rettung vor dem Solipsismus gibt als die absurdesten Ungereimtheiten. Jetzt muss ich jedoch die Frage nach meinem Verhältnis zum französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts abschließen.

Ich bin nicht weniger als Engels entzückt von dieser reichen, inhaltlich vielfältigen und der Form nach bestechenden LehreM, aber ebenso wie Engels weiß ich, dass die Naturwissenschaften seit der Blütezeit dieser Lehre weit vorangeschritten sind und dass wir die damaligen Ansichten der Physik, Chemie oder Biologie (und seien es auch nur die von Holbach) heute so nicht mehr vertreten können. Ich unterschreibe nicht nur die kritischen Bemerkungen, die Engels in seinem „Ludwig Feuerbach" über den französischen Materialismus gemacht hat, sondern ich habe diese Bemerkungen meinerseits, wie Ihnen bekannt ist, durch Quellenhinweise ergänzt und untermauert. Darum kann der unvoreingenommene Leser, der das weiß, nur lachen, wenn er von Ihnen hört, dass ich bei der Verteidigung des Materialismus auf der Philosophie der Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts in ihrem Gegensatz zu derselben Philosophie des 20. Jahrhunderts bestehe (Ihr Vorwort zur russischen Ausgabe der „Analyse der Empfindungen"). Noch mehr wird er auflachen, wenn er daran denkt, dass auch Haeckel Materialist ist. Oder würden Sie etwa sagen, dass Haeckel gleichfalls nicht auf der Höhe der Naturwissenschaft unserer Zeit steht? Sie haben, wie ersichtlich, in Ihrem Fensterchen Licht – genauso viel wie Mach und seine Gesinnungsfreunde.

Freilich stimmt es, dass man unter den Naturforschern des 20. Jahrhunderts nicht viele findet, die wie Haeckel am materialistischen Standpunkt festhalten, aber das spricht nicht gegen Haeckel, sondern für ihn, weil es zeigt, dass er sich nicht dem Einfluss der antimaterialistischen Reaktion gebeugt hat, deren soziologische Grundlage ich weiter oben mit Engels' Hilfe bestimmt habe. Hier geht es, gnädiger Herr, nicht um die Naturwissenschaft, nicht in ihr liegt hier die Kraft.N

Wie es auch um die Naturwissenschaft steht, es ist jedenfalls sonnenklar, dass Sie, ein Verteidiger der Machschen Philosophie, sich niemals als Anhänger von Marx und Engels ausgeben dürfen. Hat doch Mach selbst (im Vorwort zur russischen Ausgabe seiner „Analyse der Empfindungen" und auf Seite 292 des russischen Textes) seine Verwandtschaft mit Hume bekannt. Und erinnern Sie sich, was Engels über Hume sagt?

Er sagt: Wenn sich die deutschen Neukantianer bemühen, die Ansichten von Kant zu neuem Leben zu erwecken, und die englischen Agnostiker – die Ansichten von Hume, so „ist das … wissenschaftlich ein Rückschritt".O Das dürfte wohl schon eindeutig genug sein und wird Ihnen kaum gefallen, der Sie uns davon überzeugen möchten, dass man unter der Fahne von Hume und Mach voranschreiten kann und soll.

Sie müssen wirklich von allen guten Geistern verlassen gewesen sein, Herr Bogdanow, als Sie sich ausdachten, mich aus der Schule von Marx und Engels auszuschließen und zu einem Schüler Holbachs zu machen. Damit haben Sie, abgesehen von der Sünde wider die Wahrheit, nur Ihr erstaunliches polemisches Ungeschick demonstriert.

Schauen Sie doch einmal selbst, was Sie da zu sagen belieben: „Grundlage und Wesen des Materialismus ist nach den Worten des Gen. Beltow die Idee von der Priorität der ,Natur' gegenüber dem ,Geist'. Die Definition ist sehr weitläufig, und sie erweist sich im vorliegenden Falle als etwas unbequem."P

Lassen wir die Unbequemlichkeiten zunächst beiseite und erinnern wir uns, dass diese Ihre Zeilen unmittelbar nach Ihrer Erklärung geschrieben wurden, der zufolge ich den Materialismus „im Namen von Marx mit Hilfe von Holbach-Zitaten" darlege. Danach wäre anzunehmen, dass meine Definition über „Grundlage und Wesen" des Materialismus von Holbach übernommen ist und meinem Anspruch, im Namen von Marx zu sprechen, zuwiderläuft. Wie haben denn aber die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus den Materialismus definiert?

Engels schreibt, dass sich die Philosophen hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis des Seins zum Denken in zwei große Lager gespalten haben: „Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen …, bildeten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus."Q

Das ist aber ja genau das, was ich über „Grundlage und Wesen des Materialismus" gesagt habe! Hieraus folgt denn doch, dass ich – zumindest in diesem Falle – sehr wohl das Recht hatte, den Materialismus im Namen von Marx und Engels darzulegen, ohne der Unterstützung von Holbach zu bedürfen.

Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, gnädiger Herr, in welche Lage Sie sich bringen, wenn Sie die von mir akzeptierte Definition des Materialismus angreifen? Sie möchten mich attackieren, und es stellt sich heraus, dass Sie Marx und Engels attackiert haben. Sie möchten mich aus der Schule dieser Denker ausschließen, und es zeigt sich, dass Sie als Marx„kritiker" auftreten. Das ist natürlich kein Verbrechen, aber es ist eine Tatsache, und noch dazu eine in diesem Falle sehr lehrreiche. (Sie zeugt abermals davon, dass es Ihnen an Mut mangelt. Ihr Wunsch ist es, Engels zu kritisieren, aber Sie scheuen sich, offen gegen ihn aufzutreten. Darum schreiben Sie seine Gedanken Holbach und Plechanow zu. Und das ist für Sie im höchsten Grade bezeichnend.) Mir geht es überhaupt nicht darum, Sie zu verfolgen, sondern darum, Sie einzuordnen, d.h. meinen Lesern verständlich zu machen, zu welcher Kategorie von Schlauköpfen Sie eigentlich gehören.

Ich hoffe, dass ihnen das jetzt schon einigermaßen klar ist. Aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen: Das, was wir bei Ihnen bisher gesehen haben, sind nur Blüten: Die Früchte werden wir im folgenden Brief verspeisen, wo wir einen Spaziergang durch den Garten Ihrer Kritik an meiner Erkenntnistheorie unternehmen. Dort werden wir sehr saftige und schmackhafte Früchte finden.

Jetzt aber muss ich schließen. Auf Wiedersehen, gnädiger Herr. Möge Sie der liebe Gott des Herrn Lunatscharski beschützen!

G. W. Plechanow

1 Der allen drei Briefen vorangestellte Epigraph – „Tu l'as voulu, Georges Dandin" -„Du hast es ja selbst so gewollt, George Dandin" – ist Molières Komödie „Georges Dandin" (Erster Akt, siebenter Auftritt) entnommen. Ein vom Pech verfolgter Bauer erfährt von der Untreue seiner leichtsinnigen, aus adligem Hause stammenden Ehefrau. Doch das Weib ist so raffiniert, dass der Mann gezwungen wird, seinen Nebenbuhler wegen eines angeblich ungerechtfertigten Verdachtes um Verzeihung zu bitten. Allein geblieben, gesteht der Bauer sich ein, dass es dumm war, sich mit so einer Frau zu verbinden: „…du hast es ja selbst so gewollt, George Dandin." Georgi Plechanow spielt hier auf Alexander Bogdanow an, der in seinem „Offenen Brief" Plechanow zur Kritik des Empiriomonismus herausgefordert hat.

2 „Sie persönlich haben sich darauf beschränkt, immer wieder nur mitzuteilen, dass Sie mich und meine Ansichten entschieden ablehnen", schreibt Alexander Bogdanow. „Aber ihre Argumente bleiben nach wie vor irgendwo im Verborgenen… Es sind nun schon bald drei Jahre, Genosse Plechanow, dass Sie gegen den ‚Empiriomonismus' auf Kredit polemisieren…" (Вестник жизни [Wjestnik schisni], 1907, N° 7, стр. 48-50.) In der Tat ist Georgi Plechanow bis zum Erscheinen der vorliegenden Briefe mit keiner umfassenden Stellungnahme gegen den Machismus hervorgetreten, sondern hat sich mit einzelnen kritischen Bemerkungen in anderen Arbeiten begnügt. In G. L. Schklowskis Erinnerungen (Пролетарская революция [Proletarskaja rewoljuzija], 1927, No 1) wird geschildert, wie W. I. Lenin im Mai-Juni 1905 seinen Unwillen darüber zum Ausdruck brachte, dass es Georgi Plechanow „mit zornigen Redensarten bewenden lässt und faktisch noch keinen einzigen Artikel gegen Bogdanow und seine Freunde geschrieben hat". (Ebenda, S. 13.) In einem Brief an Maxim Gorki vom 24. März 1908 erklärte W. I. Lenin: „Plechanow ist ihnen gegenüber im Grundsätzlichen, völlig im Recht, ist aber nicht imstande oder nicht gewillt oder zu träge, das konkret, gründlich und einfach darzulegen…" (W. I. Lenin: Briefe, Bd. II, S. 150.) Im Laufe der Zeit wurde es Georgi Plechanow immer klarer, dass man in der Presse gegen den Machismus offensiv auftreten musste. Augenscheinlich haben dazu auch Briefe einfacher Parteiarbeiter beigetragen, die ihn auf diese Notwendigkeit hinwiesen. Einige davon werden im Plechanow-Archiv aufbewahrt. (См.: Литературное наследие Г. В. Плеханова [Sm.: Literaturnoje nasledie G. W. Plechanowa], сб. V, Москва 1938, стр. 308-312.)

3 Georgi Plechanows Aufsatz „Joseph Dietzgen", eine Rezension der Bücher „Das Akquisit der Philosophie und Briefe über Logik" von Joseph Dietzgen sowie „Antonio Labriola und Josef Dietzgen" von Ernest Untermann, erschien 1907 in der Nummer 7–8 der Zeitschrift „Sowremenny Mir".

4 Der Name Dumbadse wurde im ersten Brief dreimal erwähnt. Für den Sammelband „Von der Verteidigung zum Angriff" änderte Georgi Plechanow den Text so ab, dass nur noch eine, die erste Erwähnung übrigblieb. An die Stelle der beiden anderen traten jetzt „ideologischer Pompadour" und „dieser oder jener Inquisitor".

A А. Богданов, Эмпириомонизм [A. Bogdanow, Empiriomonism], кн. II стр. 39, Москва 1905.

5 Alexander Puschkin:. Poltawa (Deutsch von Bruno Tutenberg). In: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 2. Poeme und Märchen, Berlin/Weimar 1973, S. 248.

6 Ich habe andere Katzen zu verprügeln. Soll heißen: genug andere Arbeit.

7 Georgi Plechanows Arbeit „Kritik der Theorie und Praxis des Syndikalismus. Erster Teil. Arturo Labriola", die eine Kritik von dessen Buch „Reformismus und Syndikalismus" enthält, erschien 1907 in Nummer 11 und 12 des „Sowremenny Mir". (См.: Г. В. Плеханов: Сочинения [Sm.: G. W. Plechanow, Sotschinenija], т. XVI, стр. 3 сл.)

8 Anatoli Lunatscharski war ein Vertreter des sogenannten Gottbildnertums und verkündete in mehreren Artikeln die Notwendigkeit einer neuen Religion. Er sah die Zukunft des „wissenschaftlichen Sozialismus in seiner religiösen Bedeutung". 1907 erschien in den Nummern 10 und 11 der Zeitschrift „Obrasowanije" der Artikel „Die Zukunft der Religion", den Georgi Plechanow in seiner Rezension „P. J. Tschaadajew" als eine„religiöse Offenbarung des Propheten A. Lunatscharski bezeichnet. (Г. В. Плеханов: Сочинения, т XXIII, стр. 15) 1908 brachte Anatoli Lunatscharski das Buch „Religion und Sozialismus" heraus, in dem er das Gottbildnertum theoretisch zu begründen versuchte. Georgi Plechanow kritisierte die Ansichten Anatoli Lunatscharskis in dem Artikel „Noch einmal über die Religion", dem zweiten aus der Artikelserie „Über das sogenannte religiöse Suchen in Russland", der 1909 in der Nummer 10 des „Sowremenny Mir" veröffentlicht worden ist. (См.: Г. В. Плеханов: Избранные философские произведения [Isbrannye filosofskie proiswedenija, т. III, Москва 1957, стр. 370-389.)

B Siehe Engels' Artikel {Die Lage Englands}, der zuerst in den „{Deutsch-Französischen Jahrbüchern}" erschien und im „{Nachlass}" etc., Bd. I, S. 484 nachgedruckt wurde.

9 „Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung." (Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, Bd. 1, Leipzig 1968, S. 154.)

C Sie werden sie bald abbrechen. Die gegenwärtige Begeisterung für alle möglichen antimaterialistischen „Ismen" ist der symptomatische Ausdruck dessen, dass sich die „Weltanschauung" unserer Intelligenz dem „Komplex" von Ideen nähert, denen die heutige Bourgeoisie anhängt. Doch vorläufig halten sich viele intelligente Gegner des Materialismus noch für Ideologen des Proletariats und versuchen – zuweilen nicht ohne Erfolg –, das Proletariat zu beeinflussen.

10 Die „Kritischen Bemerkungen zur ökonomischen Entwicklung Russlands" erschienen 1894. W. I. Lenin setzte sich mit dieser Schrift auseinander in „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in dem Buch des Herrn Struve".

11 Im Text des „Golos Sozial-Demokrata": einige von meinen Genossen.

12 Struves Aufsatz „Freiheit und historische Notwendigkeit" ist 1897 in der Zeitschrift „Woprossy Filossofii i Psichologii", Heft 36 (1) erschienen.

13 W. I. Lenin hat mehr als einmal betont, dass Georgi Plechanow in der Presse gegen Peter Struve auftreten müsse. In einem Brief an Alexander Potressow vom 2. September 1898 schreibt er: „… ich bin aufs Äußerste erstaunt darüber, dass der Autor der ,Beiträge zur Geschichte des Materialismus' sich nicht in der russischen Literatur geäußert hat, nicht entschieden gegen den Neukantianismus auftritt und es Struve und Bulgakow überlässt, über Einzelfragen dieser Philosophie zu polemisieren, als gehöre sie bereits zu den Auffassungen der russischen Schüler." (W. I. Lenin: Briefe, Bd. I. S. 15.) In einem Brief an Alexander Potressow vom 27. Juni 1899 zeigt sich W. I. Lenin unzufrieden damit, dass Georgi Plechanow weiterhin schweigt: „Ich begreife nur eins nicht, wie konnte Kamenski die Artikel Struves und Bulgakows gegen Engels im ,Nowoje Slowo' unbeantwortet lassen! Können Sie mir das nicht erklären?" (Ebenda, S.31.) In den Jahren 1901/1902 tritt Georgi Plechanow gegen Peter Struve in seiner Schrift „Eine Kritik unserer Kritiker. Erster Teil. Herr P. Struve in der Rolle eines Kritikers der Marxschen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung" auf. (Siehe vorliegenden Band, S. 108 ff.)

14 Die Eule, die dem Adler nach der Lautiermethode das Abc beibringen will, ist eine Gestalt aus Michail Saltykow-Schtschedrins Märchen „Der Adler als Mäzen".

15 Im Sammelband „Von der Verteidigung zum Angriff" heißt es: auf einer philosophischen Versammlung. Es handelt sich um einen von zwei Disputen, die 1908 in Genf ausgetragen wurden. Auf der Zusammenkunft im Juni hat Alexander Bogdanow ein philosophisches Referat gehalten, und Josif Dubrowinski ist ihm mit einer scharfen Kritik des Machismus entgegengetreten, wobei er sich auf die von W. I. Lenin ausgearbeiteten „Zehn Fragen an den Referenten" stützte. Auf der zweiten Zusammenkunft, von der Georgi Plechanow hier spricht, war Abram Deborin der Referent, und als Opponenten traten auf: seitens der Materialisten – Georgi Plechanow, seitens der Machisten Alexander Bogdanow und Anatoli Lunatscharski. Wie Abram Deborin bezeugt, hat Georgi Plechanow seine dortige Rede in die beiden ersten Briefe einfließen lassen. Im Plechanow-Archiv werden Bleistiftnotizen im Umfang von vier Seiten aufbewahrt, die höchstwahrscheinlich als Konzept dieses Genfer Auftretens zu verstehen sind. (Литературное наследие Г. В. Плеханова, сб. V, стр. 238/ 239.) Am Ende dieser Notizen stellt Georgi Plechanow fest:, „Ich bin der Meinung, dass die Philosophie des Proletariats schon existiert, Bogdanow aber sucht ihre Elemente noch bei Mach."

D Siehe seine „Disquisitions relating to Matter and Spirit" sowie seine Polemik mit Price.

E Siehe seine bemerkenswerten Versuche einer materialistischen Geschichtsinterpretation, auf die ich in dem zweiten meiner „Beiträge zur Geschichte des Materialismus" eingegangen bin.

F „Эмпириомонизм", кн. III, предисловие [predislowie], стр. X-XI.

16 Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus. Erstes Buch, Leipzig 1905, S.494.

17 Im „Golos Sozial-Demokrata" lautet dieser Satz: „Sie jedoch sind, wahrscheinlich wegen Ihrer engen geistigen Verwandtschaft mit dem seligen Tredjakowski, von einer solchen Meisterschaft sehr weit entfernt."

H Anlage I zu Engels „Людвиг Фейербах", СПБ. 1906 г., стр. 87.

I Anlage I zu Engels „Людвиг Фейербах", СПБ. 1906 г., стр. 87. [MEW, Bd. 2, S. 139.]

J Ein Avis für Sie, Herr Bogdanow, und besonders für Ihren Gesinnungsgenossen, den heiligen Anatoli, Gründer einer neuen Religion.

K Puer robustus et malitiosus (der starke und böswillige Knabe) ist eine Anspielung auf die Beurteilung des Volkes durch Hobbes. Übrigens ist der Materialismus selbst im System von Hobbes nicht gänzlich frei von revolutionärem Geist. Die Ideologen der Monarchie haben auch damals schon gut verstanden, dass eine Monarchie von Gottes Gnaden etwas völlig anderes ist als eine Monarchie im Sinne von Hobbes. Lange sagt richtig: {„Dass jede Revolution, welche Macht hat, auch berechtigt ist, sobald es ihr gelingt, irgend eine neue Staatsgewalt herzustellen, folgt aus diesem System von selbst; der Spruch ,Macht geht vor Recht' ist als Trost der Tyrannen unnötig, da Macht und Recht geradezu identisch sind; Hobbes verweilt nicht gern bei diesen Konsequenzen seines Systems und malt die Vorteile eines absolutistischen Erbkönigtums mit Vorliebe aus; allein die Theorie wird dadurch nicht geändert" (F. A. Lange, Geschichte des Materialismus. Erstes Buch, Leipzig 1902, S.244)."} Auf die revolutionäre Rolle des Materialismus in der Antike hat schon Lukrez hingewiesen, der über Epikur sehr schön schreibt: „Als das Leben der Menschen, hässlich anzusehen, auf der Erde lag, von der wuchtigen Last der Religion niedergedrückt, die aus dem Reiche des Himmels ihr Haupt vorstreckte und grässlich anzusehen drohend über den Menschen stand, da wagte ein Mann aus Griechenland zuerst, sein sterbliches Auge dagegen zu erheben und sich dagegen zu stellen. Ihn hielten nicht die Fabeln über die Götter zurück, nicht Blitze, nicht der Himmel mit seinem drohenden Donner usw." [Lukrez: Von der Natur der Dinge, Berlin 1972, S. 39.] Dass der Idealismus in der Athener Gesellschaft eine konservative Funktion erfüllte, wird sogar von Lange zugegeben, der im Allgemeinen gegen den Materialismus sehr ungerecht ist.)

18 Hermann Sudermann: Das Blumenboot, Stuttgart/Berlin 1905, S.49.

LNotre morale, notre religion, notre sentiment de nationalité", sagt Maurice Barres, „sont choses écroulées, contristais-je, auxquelles nous ne pouvons emprunter des règles de vie, et en attendant que nos maîtres nous aient refait des certitudes, il convient que nous nous en tenions à la seule réalité, au Moi. C'est la conclusion du Premier chapitre (assez insuffisant, d'ailleurs) de Sous l’œil des Barbares." (Maurice Barres, Le culte du Moi. Examen de trois idéologies, Paris 1892.) [Unsere Moral, unsere Religion, unser Nationalgefühl sind gescheitert, habe ich festgestellt, wir können ihnen keine Lebensregeln entnehmen, und solange unsere Lehrer uns das Vertrauen in sie nicht zurückgeben, ist die einzige Realität, an die wir uns halten können, unser eigenes Ich. Das ist der Schluss des (übrigens recht unvollständigen) ersten Kapitels des Buches Unter den Augen der Barbaren.] Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Haltung von vornherein auf den Idealismus und noch dazu auf seine schwächste Abart, den subjektiven Idealismus, hinzielt. Für den Materialismus können sich Leute überhaupt nicht erwärmen, deren Horizont durch ihr kostbares „Ich" begrenzt wird. Und es gibt doch Menschen, die den Materialismus für eine unsittliche Lehre halten! Diejenigen, die auch nur ein wenig mit der modernen französischen Literatur vertraut sind, braucht man nicht darauf hinzuweisen, in welchem Hafen Barres mit seiner „Ich"-Kultur schließlich gelandet ist.) [Maurice Barres predigte zunächst einen schrankenlosen Individualismus, später wurde er zu einem militanten Ideologen der imperialistischen Reaktion, was seinen Niederschlag insbesondere in seiner Trilogie „Le roman de l’énergie nationale" (1897–1902) gefunden hat.]

19 Im Text des Sammelbandes „Von der Verteidigung zum Angriff" fehlt der Name Avenarius und der folgende Satz ist weggelassen. Diese Korrektur lässt erkennen, wie sich Georgi Plechanows Absichten hinsichtlich des nächsten Briefes verändert haben. Offensichtlich wollte er darin ursprünglich Kritik sowohl an Ernst Mach als auch an Richard Avenarius üben. Tatsächlich jedoch hat er sich dann im zweiten Brief vornehmlich mit Ernst Mach beschäftigt.

M Ich sage „vielfältig" deshalb, weil es im französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts mehrere Strömungen gab, die zwar untereinander verwandt, aber trotzdem verschieden waren.

N Um sich davon zu überzeugen, braucht man zum Beispiel nur einmal die Rede durchzulesen, die der bekannte Naturforscher Reinke am 10. Mai 1907 im preußischen Herrenhaus anlässlich des von Haeckel gegründeten „[Deutschen] Monistenbundes" gehalten hat. Der Kieler Botaniker scheut keine Mühe, sich und seinen Hörern einzureden, dass der Fanatiker „Haeckel" seinen Unwillen nur durch die wissenschaftliche Haltlosigkeit des von ihm propagierten „materialistischen Monismus" (wie er ganz richtig die Haeckelsche Lehre nennt) hervorgerufen habe. Aber jeder, der sich die Mühe macht, seine Rede aufmerksam zu lesen, wird feststellen, dass Reinke nicht die Wissenschaft verteidigt, sondern das, was er das „{Licht der alten Weltanschauung}" nennt. Es ist müßig, darüber zu meditieren, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen dieses „Licht" entstanden ist, das sich in den Augen Reinkes und ähnlicher Gelehrter so angenehm ausnimmt. (Die Rede ist enthalten in der Broschüre L„Haeckels Monismus und seine Freunde", von J. Reinke, Leipzig 19071.)) [Der „Monistenbund" war 1906 von Ernst Haeckel mit dem Ziel gegründet worden, den religiösen Obskurantismus zu bekämpfen und für die „monistische" Weltanschauung zu werben. Da er nicht völlig konsequent war, verzichtete Ernst Haeckel auf den Begriff „Materialismus" und bezeichnete seinen naturgeschichtlichen Materialismus als „Monismus". Siehe Georgi Plechanow: Grundprobleme des Marxismus, Berlin,1958, S. 27.]

P „Эмпириомонизм", кн. III, стр. 11.

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