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Wladimir I. Lenin 19161100 Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus

Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus

[Geschrieben im Herbst 1916 Veröffentlicht im Dezember 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 378-397]

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und jenem unerhört widerwärtigen Sieg, den der Opportunismus (in Gestalt des Sozialchauvinismus) über die Arbeiterbewegung in Europa davongetragen hat?

Das ist die Grundfrage des modernen Sozialismus. Und nachdem wir in unserer Parteiliteratur erstens den imperialistischen Charakter unserer Epoche und dieses Krieges und zweitens den unlösbaren historischen Zusammenhang des Sozialchauvinismus mit dem Opportunismus wie auch ihren gleichen politischen Ideengehalt festgestellt haben, können und müssen wir zur Analyse dieser Grundfrage übergehen.

Wir müssen mit einer möglichst genauen und vollständigen Definition des Imperialismus beginnen. Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: Der Imperialismus ist: (1.) monopolistischer Kapitalismus; (2.) parasitärer oder verwesender Kapitalismus; (3.) sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der grundlegende ökonomische Zug, das Wesen des Imperialismus. Der Monopolcharakter offenbart sich in fünf Hauptformen: 1. Kartelle, Syndikate und Trusts; die Konzentration der Produktion hat eine Stufe erreicht, auf der sie diese monopolistischen Kapitalistenverbände entstehen ließ; 2. die Monopolstellung der Großbanken: drei bis fünf Riesenbanken beherrschen das ganze Wirtschaftsleben Amerikas, Frankreichs, Deutschlands; 3. die Aneignung der Rohstoffquellen durch die Trusts und die Finanzoligarchie (das Finanzkapital ist das monopolistische Industriekapital, das sich mit dem Bankkapital verschmolzen hat); 4. die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch die internationalen Kartelle hat begonnen. Solche internationalen Kartelle, die den gesamten Weltmarkt beherrschen und ihn „gütlich“ aufteilen – solange der Krieg ihn nicht neu verteilt –, gibt es bereits über hundert! Der Kapitalexport als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport des nicht-monopolistischen Kapitalismus steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und politisch-territorialen Aufteilung der Welt; 5. Die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen.

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus in Amerika und Europa und später auch in Asien hat in den Jahren 1898-1914 feste Gestalt angenommen. Der spanisch-amerikanische Krieg (1898), der Burenkrieg (1900,02), der russisch-japanische Krieg (1904/05) und die Wirtschaftskrise in Europa im Jahre 1900 – das sind die wichtigsten historischen Marksteine der neuen Epoche der Weltgeschichte.

Dass der Imperialismus ein parasitärer oder verwesender Kapitalismus ist, zeigt sich vor allem in der Tendenz zur Verwesung, die jedes Monopol unter der Herrschaft des Privateigentums an Produktionsmitteln kennzeichnet. Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie wird eben darum verwischt, weil die eine sowohl wie die andere bei lebendigem Leibe verfault (was die erstaunlich rasche Entfaltung des Kapitalismus in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern, in einzelnen Perioden keineswegs ausschließt). Zweitens macht sich die Verwesung des Kapitalismus bemerkbar in der Bildung einer gewaltigen Schicht von Rentnern – von Kapitalisten, die vom „Kuponschneiden“ leben. In den vier vorgeschrittensten imperialistischen Ländern – England, Nordamerika, Frankreich und Deutschland – beträgt das Kapital in Wertpapieren je 100 bis 150 Milliarden Frank, was ein Jahreseinkommen von mindestens 5 bis 8 Milliarden pro Land ausmacht. Drittens ist Kapitalexport zum Quadrat erhobener Parasitismus. Viertens „strebt das Finanzkapital nach Herrschaft, nicht nach Freiheit“. Politische Reaktion auf der ganzen Linie, das ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Käuflichkeit, Bestechung in ungeheuren Dimensionen, Panama jeder Art. Fünftens verwandelt die Ausbeutung der unterdrückten Nationen, die untrennbar verknüpft ist mit Annexionen, und insbesondere die Ausbeutung der Kolonien durch ein Häuflein von „Großmächten“ die „zivilisierte“ Welt immer mehr in einen Schmarotzer an dem Körper von Hunderten von Millionen Angehöriger unzivilisierter Völker. Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Gesellschaft. Die jetzige Gesellschaft lebt auf Kosten des modernen Proletariers. Diese scharfsinnige Bemerkung Sismondis pflegte Marx besonders zu unterstreichen. Der Imperialismus verändert die Sachlage einigermaßen. Die privilegierte Schicht des Proletariats der imperialistischen Mächte lebt zum Teil auf Kosten von Hunderten von Millionen Angehöriger unzivilisierter Völker.

Es ist begreiflich, warum der Imperialismus sterbender Kapitalismus ist, der den Übergang zum Sozialismus darstellt: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist bereits das Absterben des Kapitalismus, der Beginn seines Überganges in den Sozialismus. Die gewaltige Vergesellschaftung der Arbeit durch den Imperialismus (das, was seine Apologeten, die bürgerlichen Ökonomen, „Verflechtung“ nennen) bedeutet dasselbe.

Wenn wir den Imperialismus so definieren, gelangen wir in vollen Gegensatz zu K. Kautsky, der es ablehnt, im Imperialismus eine „Phase des Kapitalismus“ zu sehen, und der den Imperialismus definiert als die vom Finanzkapital „bevorzugte“ Politik , als das Bestreben der industriellen Länder, Agrargebiete zu annektieren.* Diese Definition Kautskys ist theoretisch durch und durch falsch. Die Eigentümlichkeit des Imperialismus ist gerade die Herrschaft nicht des Industrie-, sondern des Finanzkapitals, das Bestreben, nicht nur Agrarländer, sondern alle möglichen Länder zu annektieren. Kautsky trennt die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik, trennt die Herrschaft des Monopols in der Politik von der Herrschaft des Monopols in der Ökonomik, um seinem banalen bürgerlichen Reformismus, wie der „Abrüstung“, dem „Ultra-Imperialismus“ und ähnlichem Unsinn, den Weg zu ebnen. Sinn und Zweck dieser theoretischen Verfälschung ist, die tiefsten Gegensätze im Imperialismus zu vertuschen und auf diese Weise die Theorie der „Einheit“ mit den Apologeten des Imperialismus, den offenen Sozialchauvinisten und Opportunisten, zu rechtfertigen.

Mit diesem Bruch Kautskys mit dem Marxismus haben wir uns bereits im Sozialdemokrat wie auch im „Kommunist hinreichend befasst. Unsere russischen Kautskyaner, die OK-Leute mit Axelrod und Spektator an der Spitze, Martow und in hohem Maße auch Trotzki nicht ausgenommen, haben es vorgezogen, die Frage des Kautskyanertums als Richtung mit Schweigen zu umgehen. Sie wagten nicht, zu verteidigen, was Kautsky während des Krieges geschrieben hat, ,und beschränkten sich entweder auf eine einfache Lobpreisung Kautskys (Axelrod in seiner deutschen Broschüre1, die das OK russisch zu veröffentlichen versprach) oder auf Hinweise auf Privatbriefe Kautskys (Spektator), in denen dieser versichert, dass er zur Opposition gehöre, und jesuitisch die Bedeutung seiner chauvinistischen Erklärungen zu annullieren sucht.

Wir stellen fest, dass die „Auffassung“ Kautskys vom Imperialismus – die einer Beschönigung gleichkommt -- ein Rückschritt ist nicht nur gegenüber Hilferdings „Finanzkapital“ (wie eifrig Hilferding jetzt Kautsky und die „Einheit“ mit den Sozialchauvinisten auch verteidigen mag!), sondern auch gegenüber dem Sozialliberalen J. A. Hobson. Dieser englische Ökonom, der nicht im Geringsten den Anspruch erhebt, Marxist zu sein, definiert den Imperialismus viel besser und enthüllt in seinem Werk aus dem Jahre 1902** dessen Widersprüche viel gründlicher. Sehen wir, was dieser Schriftsteller (bei dem man fast alle pazifistischen und auf „Versöhnung“ gerichteten Banalitäten Kautskys finden kann) zu der besonders wichtigen Frage des parasitären Charakters des Imperialismus schreibt:

Zweierlei Umstände haben nach Hobsons Meinung die Macht der alten Weltreiche geschwächt: 1. der „ökonomische Parasitismus“ und 2. die Zusammensetzung des Heeres aus abhängigen Völkern.

Der erste Umstand ist die Gewohnheit des ökonomischen Parasitismus, kraft dessen der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien und abhängigen Länder ausnutzt zur Bereicherung seiner herrschenden Klasse und zur Bestechung seiner niederen Klassen, um diese in Ruhe zu halten.“

Über den zweiten Umstand schreibt Hobson:

Zu den seltsamsten Symptomen der Blindheit des Imperialismus“ (im Munde des Sozialliberalen Hobson sind diese Weisen von der „Blindheit“ der Imperialisten mehr am Platze als bei dem „Marxisten“ Kautsky) „gehört jene Sorglosigkeit, mit der Großbritannien, Frankreich und andere imperialistische Nationen diesen Weg beschreiten. Großbritannien ist weiter als alle gegangen. Den größten Teil der Schlachten, durch die wir unser indisches Reich erobert haben, haben unsere Eingeborenenarmeen geschlagen; in Indien – und in der letzten Zeit auch in Ägypten – befinden sich große stehende Heere unter britischem Kommando; fast alle Kriege, die mit der Eroberung Afrikas, mit Ausnahme seines südlichen Teiles, verbunden sind, haben Eingeborene für uns geführt.“

Die Perspektive der Aufteilung Chinas veranlasste Hobson zu folgender ökonomischen Einschätzung:

Der größte Teil Westeuropas würde dann die Gestalt und den Charakter annehmen, die jetzt Teile dieser Länder – Süd-England, die Riviera, die frequentiertesten und von reichen Leuten bewohnten Plätze Italiens und der Schweiz – haben, nämlich: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Renten aus dem fernen Orient beziehen, daneben eine etwas größere Gruppe von Angestellten und Händlern und eine noch größere Anzahl von Domestiken und Arbeitern, die im Transportgewerbe und in der Fertigindustrie beschäftigt sind. Die wichtigsten Industriezweige jedoch würden verschwinden und die Massenprodukte der Ernährung, die Massenhalbfabrikate würden als Tribut aus Asien und Afrika fließen … Solcher Art sind die Möglichkeiten, die eine weitergehende Vereinigung der Weststaaten, eine europäische Föderation der Großmächte vor uns eröffnet; sie würde die Sache der Weltzivilisation nicht nur nicht vorwärts bringen, sondern die ungeheure Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören: die Aussonderung einer Gruppe vorgeschrittener Industrienationen, deren höhere Klassen aus Asien und Afrika gewaltige Tribute beziehen und mit Hilfe dieser Tribute große gezähmte Massen von Angestellten und Untergebenen unterhalten, die aber nicht mehr mit der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen Massenartikeln, sondern mit persönlichen Diensten oder mit untergeordneter Industriearbeit unter der Kontrolle einer neuen Finanzaristokratie beschäftigt werden. Mögen diejenigen, die geneigt sind, eine solche Theorie“ (es müsste heißen Perspektive) „als nicht erwähnenswert mit einer Handbewegung abzutun, sich in die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse jener Bezirke des heutigen Süd-Englands hineindenken, die bereits jetzt in eine solche Lage geraten sind. Mögen sie bedenken, welche gewaltige Ausdehnung dieses Systems ermöglicht wird, wenn China der wirtschaftlichen Kontrolle ähnlicher Gruppen von Finanziers, von ,Kapitalinvestoren', ihren politischen und handelsindustriellen Angestellten unterworfen würde, die aus dem potentiell stärksten Reservoir, das die Welt je gekannt hat, Profite herauspressen, um diese Profite in Europa zu verzehren. Freilich, die Situation ist viel zu kompliziert, das Spiel der Weltkräfte lässt sich viel zu schwer überschauen, als dass diese oder jene Deutung der Zukunft nach einer einzigen Richtung sehr wahrscheinlich wäre. Aber die Einflüsse, die gegenwärtig den Imperialismus Westeuropas beherrschen, bewegen sich in dieser Richtung, und wenn sie auf keine Gegenwirkung stoßen, wenn sie nicht nach einer anderen Seite abgelenkt werden, dann arbeiten sie eben in der Richtung eines solchen Ausganges.“

Der sozialliberale Hobson sieht nicht, dass diesen „Widerstand“ nur das revolutionäre Proletariat leisten kann, und zwar nur in der Form der sozialen Revolution. Dafür ist er eben ein Sozialliberaler! Doch beurteilte er schon im Jahre 1902 in ganz ausgezeichneter Weise sowohl die Bedeutung der „Vereinigten Staaten von Europa (dem Kautskyaner Trotzki zur Kenntnis!) als auch all das, was die heuchlerischen Kautskyaner der verschiedenen Länder zu vertuschen suchen, und zwar, dass die Opportunisten (Sozialchauvinisten) zusammen mit der imperialistischen Bourgeoisie eben auf die Schaffung eines imperialistischen Europas auf den Schultern Asiens und Afrikas hinarbeiten, dass die Opportunisten objektiv den Teil der Kleinbourgeoisie und bestimmter Schichten der Arbeiterklasse darstellen, der auf Kosten der imperialistischen Überprofite bestochen und zu Kettenhunden des Kapitalismus und Verderbern der Arbeiterklasse geworden ist.

Auf diesen wirtschaftlichen, grundlegenden Zusammenhang eben zwischen der imperialistischen Bourgeoisie und dem Opportunismus, der jetzt (ob für lange?) über die Arbeiterbewegung den Sieg davongetragen hat, haben wir wiederholt hingewiesen, nicht nur in Artikeln, sondern auch in den Resolutionen unserer Partei. Daraus folgerten wir unter anderem die Unvermeidlichkeit des Bruches mit dem Sozialchauvinismus. Unsere Kautskyaner zogen es vor, dieser Frage aus dem Wege zu gehen! Martow z. B. operierte schon in seinen Vorträgen mit dem Sophismus, der in den „Iswestija des Auslandssekretariats des OK“ folgendermaßen ausgedrückt ist:

Es wäre um die Sache der revolutionären Sozialdemokratie sehr schlecht, ja trostlos bestellt, wenn die ihrer geistigen Entwicklung nach den ,Intellektuellen' am nächsten stehenden und qualifiziertesten Gruppen der Arbeiter zwangsläufig von ihr zum Opportunismus übergingen …“2

Mit Hilfe des naiven Wörtchens „zwangsläufig“ und einer gewissen kleinen Schiebung wird die Tatsache umgangen, dass bestimmte Schichten der Arbeiter zum Opportunismus und zur imperialistischen Bourgeoisie übergegangen sind! Und die Sophisten des OK wollen ja nur diese Tatsache umgehen! Sie beschränken sich auf jenen „amtlichen Optimismus“, mit dem jetzt auch der Kautskyaner Hilferding und viele andere paradieren: die objektiven Verhältnisse leisten ja Gewähr für die Einheit des Proletariats und den Sieg der revolutionären Strömung! Wir sind, was das Proletariat angeht, „Optimisten“!

In Wirklichkeit aber sind sie, alle diese Kautskyaner, Hilferding, die OK-Leute, Martow und Konsorten, Optimisten …, was den Opportunismus angeht. Das ist des Pudels Kern!

Das Proletariat ist ein Kind des Kapitalismus – des Weltkapitalismus und nicht nur des europäischen oder nur des imperialistischen Kapitalismus. Im Weltausmaße – ob 50 Jahre früher oder 50 Jahre später, das ist, in diesem Umfang gesehen, eine Nebenfrage – „wird“ das „Proletariat“ natürlich einig sein, und innerhalb des Proletariats wird die revolutionäre Sozialdemokratie „unausbleiblich“ siegen. Nicht das ist die Frage, ihr Herren Kautskyaner, sondern es handelt sich darum, dass ihr jetzt in den imperialistischen Ländern Europas die Lakaien der Opportunisten seid, die dem Proletariat als Klasse fremd gegenüberstehen, die Diener, Agenten, Träger des Einflusses der Bourgeoisie sind, von denen sich die Arbeiterbewegung befreien muss, wenn sie nicht eine bürgerliche Arbeiterbewegung bleiben soll. Eure Propagierung der „Einheit“ mit den Opportunisten, mit den Legien und David, den Plechanow oder Tschchenkeli und Potressow usw. ist, objektiv, eine Verteidigung der Versklavung der Arbeiter durch die imperialistische Bourgeoisie mit Hilfe ihrer besten Agenten in der Arbeiterbewegung. Der Sieg der revolutionären Sozialdemokratie im Weltmaßstabe ist absolut unvermeidlich, aber er kommt und wird kommen, er vollzieht sich und wird sich vollziehen nur gegen euch, er wird ein Sieg über euch sein.

Jene zwei Tendenzen, ja sogar zwei Parteien in der modernen Arbeiterbewegung, die sich 1914-1916 in der ganzen Welt so offensichtlich voneinander getrennt haben, sind von Engels und Marx in England im Verlaufe einer Reihe von Jahrzehnten, ungefähr von 1858 bis 1892, genau verfolgt worden.

Weder Marx noch Engels haben die imperialistische Ära des Weltkapitalismus erlebt, die erst in den Jahren 1898-1900 beginnt. Aber eine Eigentümlichkeit Englands war schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts der Umstand, dass mindestens zwei der wichtigsten Merkmale des Imperialismus dort vorhanden waren: (1.) unermessliche Kolonien und (2.) Monopolprofite (infolge der Monopolstellung auf dem Weltmarkt). In beiden Beziehungen war England damals ein Ausnahmefall unter den kapitalistischen Ländern, und Engels und Marx, die diesen Ausnahmefall analysierten, wiesen klar und bestimmt auf seinen Zusammenhang mit dem (vorübergehenden) Sieg des Opportunismus in der englischen Arbeiterbewegung hin.

In einem Brief an Marx vom 7. Oktober 1858 schrieb Engels, dass

das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt“.

In einem Brief an Sorge vom 21. September 1872 schreibt Engels, Haies habe im Föderalrat der Internationale großen Skandal geschlagen und „Marx ein Tadelsvotum angehängt, weil er sagte, die englischen Arbeiterführer wären verkauft“. Marx schreibt an Sorge am 4. April [August] 1874:

Was die städtischen Arbeiter (in England) betrifft, so ist zu bedauern, dass das ganze Führerpack nicht ins Parlament kam. Es ist der sicherste Weg, sich des Gesindels zu entledigen.“

Engels spricht in einem Brief an Marx vom 11. August 1881 von „jenen schlimmsten englischen Gewerkschaften, die sich von Leuten führen lassen, die von der Bourgeoisie gekauft sind oder zum Mindesten von ihr bezahlt werden“. In einem Brief an Kautsky vom 12. September 1882 schrieb Engels:

Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken; es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt hier nur Konservative und liberale Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands.“

Am 7. Dezember 1889 schreibt Engels an Sorge:

Das Widerwärtigste hier ist die den Arbeitern tief ins Fleisch gewachsene bürgerliche ,respectability‘ (Ehrbarkeit) … Selbst Tom Mann, den ich für den bravsten halte, spricht gern davon, dass er mit dem Lordmayor lunchen wird. Wenn man dagegen die Franzosen hält, merkt man doch, wozu eine Revolution gut ist.“

In einem Brief vom 19. April 1890:

Die Bewegung (der Arbeiterklasse in England) geht unter der Oberfläche fort, ergreift immer weitere Schichten und gerade meist unter der bisher stagnierenden untersten (gesperrt von Engels) Masse, und der Tag ist nicht mehr fern, wo diese Masse plötzlich sich selbst findet, wo es ihr aufleuchtet, dass sie diese kolossale sich bewegende Masse ist.“

Am 4. März 1891: Misserfolg des gesprengten Docker-Verbandes, die „alten konservativen Trade Unions, die reichen und eben deswegen feigen, bleiben allein auf dem Plan …“

Am 14. September 1891: Auf dem Newcastler Kongress der Trade-Union sind die alten Unionisten, die Gegner des Achtstundentages, gescheitert, „und die Bourgeoisblätter erkennen die Niederlage der bürgerlichen Arbeiterpartei vollständig … an“.3 (Sperrungen überall von Engels.)

Dass Engels diese Gedanken, die er im Verlaufe von Jahrzehnten oft wiederholte, auch öffentlich in der Presse zum Ausdruck gebracht hat, beweist sein Vorwort zur zweiten Auflage der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ aus dem Jahre 1892. Hier spricht er von einer „Aristokratie in der Arbeiterklasse“, von einer „bevorrechteten Minderheit“ im Gegensatz zur „großen Masse“ der Arbeiter. Eine „kleine privilegierte, geschützte Minorität“ der Arbeiterklasse allein hatte dauernden Vorteil von der privilegierten Lage Englands in den Jahren 1848 bis 1868, während die „große Masse im besten Fall nur eine vorübergehende Verbesserung ihrer Lage erfuhr“. … „Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren … “ Die Mitglieder der „neuen Unionen“, der Organisationen ungelernter Arbeiter, „haben einen unermesslichen Vorteil: ihre Gemüter sind noch jungfräulicher Boden, gänzlich frei von den ererbten, ,respektablen' Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten ,alten Unionisten' verwirren“ … Die „sogenannten Arbeitervertreter“ sind in England Leute, „denen man ihre Arbeiterqualität verzeiht, weil sie selbst sie gern im Ozean ihres Liberalismus ertränken möchten …“

Wir haben die einschlägigen Äußerungen von Marx und Engels mit Absicht ziemlich ausführlich zitiert, damit die Leser sie in ihrer Gesamtheit kennen lernen. Und man muss sie kennen lernen, es lohnt, sich aufmerksam in sie hineinzudenken. Denn darin liegt das Wesen jener Taktik in der Arbeiterbewegung, die von den objektiven Verhältnissen der imperialistischen Epoche diktiert wird.

Kautsky hat auch hier schon versucht, im Trüben zu fischen und den Marxismus durch ein süßliches Paktieren mit den Opportunisten zu ersetzen. In der Polemik gegen die offenen, naiven Sozialimperialisten (vom Schlage Lenschs), die den Krieg von Seiten Deutschlands als Vernichtung der Monopolstellung Englands rechtfertigen, „korrigiert“ Kautsky diese offensichtliche Lüge mit Hilfe einer anderen, ebenso offensichtlichen Lüge. An Stelle einer zynischen Lüge setzt er eine süßliche! Das Industriemonopol Englands sei längst gebrochen, sagt er, längst zerstört, man brauche und man könne es nicht mehr zerstören.

Was ist lügnerisch in diesem Argument?

Dass erstens das Kolonialmonopol Englands mit Schweigen umgangen wird. Engels hat aber, wie wir gesehen haben, bereits im Jahre 1882, also vor 34 Jahren, mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen! Wenn das Industriemonopol Englands zerstört ist, so ist das Kolonialmonopol nicht nur geblieben, sondern hat sich noch außerordentlich verschärft, denn die ganze Erde ist bereits aufgeteilt! Mit Hilfe seiner süßlichen Lüge schmuggelt Kautsky den bürgerlich-pazifistischen und opportunistisch-kleinbürgerlichen Gedanken ein, dass „kein Anlass zu einem Krieg“ vorhanden sei. Im Gegenteil, die Kapitalisten haben jetzt nicht nur Anlass zum Kriege, sondern sie müssen sogar Krieg führen, wenn sie den Kapitalismus behaupten wollen, denn ohne eine gewaltsame Neuverteilung der Kolonien können die neuen imperialistischen Länder die Privilegien nicht erhalten, die die älteren (und weniger mächtigen) imperialistischen Mächte genießen.

Zweitens. Warum erklärt das Monopol Englands den (vorübergehenden) Sieg des Opportunismus in England? Weil das Monopol Überprofit, d. h. einen überschüssigen Profit, einen Profit über den normalen, in der ganzen Welt üblichen kapitalistischen Profit hinaus liefert. Von diesem Überprofit können die Kapitalisten einen Teil (und sogar einen beträchtlichen!) auswerfen, um ihre Arbeiter zu bestechen, um etwas in der Art eines Bündnisses (man erinnere sich an die berühmten „Allianzen“ der englischen Trade-Unions mit ihren Unternehmern, die von den beiden Webb beschrieben wurden) der Arbeiter der betreffenden Nation mit ihren Kapitalisten gegen die übrigen Länder zu schaffen. Das Industriemonopol Englands ist bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts vernichtet worden. Das ist unbestreitbar. Aber wie ist diese Vernichtung vor sich gegangen? Etwa so, dass jedes Monopol verschwunden ist?

Wenn dem so wäre, dann würde Kautskys (dem Opportunismus gegenüber) versöhnlerische „Theorie“ eine gewisse Berechtigung gewinnen. Aber die Sache ist eben die, dass dem nicht so ist. Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus. Jedes Kartell, jeder Trust, jedes Syndikat, jede riesenhaft große Bank ist Monopol. Der Überprofit ist nicht verschwunden, sondern geblieben. Die Ausbeutung aller Länder durch ein einziges, privilegiertes, finanziell reiches Land ist geblieben und stärker geworden. Ein Häuflein reicher Länder, – es gibt ihrer nur vier, wenn man vom selbständigen und tatsächlich gewaltigen, „modernen“ Reichtum sprechen will: England, Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland –, diese paar Länder haben Monopole in unermesslichen Dimensionen entwickelt, beziehen einen Überprofit von Hunderten von Millionen, wenn nicht gar von Milliarden, halten Millionen und aber Millionen der Bevölkerung anderer Länder im Zaum, kämpfen miteinander um die Verteilung besonders üppiger, besonders fetter, besonders bequemer Beute.

Darin besteht eben das wirtschaftliche und politische Wesen des Imperialismus, dessen tiefste Gegensätze Kautsky vertuscht und nicht aufdeckt.

Die Bourgeoisie einer imperialistischen „Groß“macht ist ökonomisch in der Lage, die oberen Schichten „ihrer“ Arbeiter zu bestechen, indem sie zu diesem Zweck ein paar Hundert Millionen Frank im Jahr springen lässt, denn ihr Überprofit dürfte sich auf etwa eine Milliarde belaufen. Und die Frage, wie dieses kleine Almosen verteilt wird unter die Arbeiterminister, die „Arbeiterabgeordneten“ (man erinnere sich an die ausgezeichnete Analyse dieses Begriffs bei Engels), die Arbeiter, die Mitglieder der Kriegsindustriekomitees sind, die Arbeiterbürokraten, die in eng zünftlerischen Gewerkschaften organisierten Arbeiter, die Angestellten usw. usw. – das ist schon eine Frage zweiter Ordnung.

In den Jahren 1848-1868 und zum Teil später besaß nur England eine Monopolstellung; darum konnte dort der Opportunismus für Jahrzehnte hinaus Oberhand gewinnen; andere Länder mit so reichen Kolonien oder mit einem Industriemonopol gab es nicht.

Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Übergang zur neuen, imperialistischen Epoche. Nutznießer des Monopols ist das Finanzkapital nicht eines Landes, sondern einiger, sehr weniger Großmächte. (In Japan und Russland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, eines unermesslichen Gebietes oder besonders günstiger Umstände für die Ausplünderung der innerhalb des Staates lebenden fremden Völker, für die Ausplünderung Chinas usw.) Aus diesem Unterschied geht hervor, dass die Monopolstellung Englands jahrzehntelang unumstritten sein konnte. Die Monopolstellung des modernen Finanzkapitals ist heiß umstritten; das Zeitalter der imperialistischen Kriege hat begonnen. Damals konnte man die Arbeiterklasse eines Landes bestechen, für Jahrzehnte korrumpieren. Jetzt ist das unwahrscheinlich, vielleicht sogar unmöglich, dafür aber kann jede imperialistische „Groß“macht kleinere (als in England in den Jahren 1848 bis 1868) Schichten der „Arbeiteraristokratie“ bestechen und tut es auch. Damals konnte eine „bürgerliche Arbeiterpartei“, um den außerordentlich scharfsinnigen Ausdruck von Engels zu gebrauchen, nur in einem Lande entstehen, denn dieses allein hatte eine Monopolstellung, dafür aber für lange Zeit. Jetzt ist die „bürgerliche Arbeiterpartei“ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, doch in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, dass eine solche Partei in einer Reihe von Ländern für lange Zeit hinaus siegreich sein könnte. Denn die Trusts, die Finanzoligarchie, die Teuerung usw., die die Bestechung einer dünnen Oberschicht ermöglichen, unterdrücken, unterjochen, ruinieren, quälen die Masse des Proletariats und des Halbproletariats immer mehr und mehr.

Einerseits haben Bourgeoisie und Opportunisten die Tendenz, das Häuflein reichster und privilegierter Nationen in „ewige“ Schmarotzer am Körper der übrigen Menschheit zu verwandeln, „auf den Lorbeeren“ der Ausbeutung der Neger, Inder usw. auszuruhen und diese in Schach zu halten mit Hilfe des mit einer großartigen Vernichtungstechnik ausgestatteten modernen Militarismus. Andererseits besteht die Tendenz der Massen, die stärker denn je unterdrückt werden und alle Leiden der imperialistischen Kriege erdulden, dieses Joch abzuschütteln, die Bourgeoisie zu stürzen. Im Kampfe zwischen diesen beiden Tendenzen wird sich jetzt unvermeidlich die Geschichte der Arbeiterbewegung entwickeln. Denn die erste Tendenz ist keine zufällige, sondern eine wirtschaftlich „fundierte“. Die Bourgeoisie hat bereits „bürgerliche Arbeiterparteien“ der Sozialchauvinisten in allen Ländern erzeugt, gezüchtet und für sich gesichert. Die Unterschiede zwischen der fest geformten Partei z. B. eines Bissolati in Italien, einer vollkommen sozialimperialistischen Partei, und, sagen wir, der nur halb geformten Quasi-Partei der Potressow, Gwosdjew, Bulkin, Tschcheïdse, Skobeljew und Konsorten – diese Unterschiede sind ganz unwesentlich. Wichtig ist, dass der ökonomische Übergang der Schicht der Arbeiteraristokratie zur Bourgeoisie herangereift ist und sich bereits vollzogen hat, eine politische Form dieser oder jener Art aber wird diese ökonomische Tatsache, diese Verschiebung in den Beziehungen der Klassen zueinander ohne besondere „Mühe“ finden.

Auf der hier gezeigten ökonomischen Grundlage haben die politischen Institutionen des modernen Kapitalismus – Presse, Parlament, Verbände, Kongresse usw. – entsprechend den wirtschaftlichen Privilegien und Almosen für die ehrerbietigen, braven, reformistischen und patriotischen Angestellten und Arbeiter politische Privilegien und Almosen geschaffen. Einträgliche und ruhige Pöstchen im Ministerium oder im Kriegsindustriekomitee, im Parlament und in verschiedenen Kommissionen, in den Redaktionen der „soliden“ legalen Zeitungen oder den Vorständen der nicht weniger soliden und „bürgerlich gehorsamen“ Arbeiterverbände – damit lockt und belohnt die imperialistische Bourgeoisie die Vertreter und Anhänger der „bürgerlichen Arbeiterparteien“.

Die Mechanik der politischen Demokratie wirkt in der gleichen Richtung. Ohne Wahlen geht es heutzutage nicht; ohne Massen kann man nicht auskommen, die Massen aber können im Zeitalter der Buchdruckerkunst und des Parlamentarismus nicht geführt werden ohne ein weitverzweigtes, systematisch durchgeführtes, solid ausgebautes System von Schmeichelei, Lüge, Betrug, ohne ein Jonglieren mit populären Schlagworten, ohne nach rechts und links abgegebene Versprechungen beliebiger Reformen und beliebiger Vorteile für die Arbeiter – wenn diese nur auf den revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie verzichten. Ich möchte dieses System Lloyd Georgeismus nennen, nach einem der fortgeschrittensten und geschicktesten Vertreter dieses Systems im klassischen Lande der „bürgerlichen Arbeiterpartei“, dem englischen Minister Lloyd George. Ein ausgezeichneter bürgerlicher Geschäftemacher und politischer Abenteurer, ein populärer Redner, der es versteht, beliebige, sogar rrrrevolutionäre Reden vor einem Arbeiterauditorium zu halten, der imstande ist, für fügsame Arbeiter beträchtliche Almosen in Form von sozialen Reformen (Versicherung usw.) durchzusetzen, dient Lloyd George der Bourgeoisie ausgezeichnet*** und dient ihr gerade unter den Arbeitern, stärkt den bürgerlichen Einfluss gerade im Proletariat, dort, wo es am notwendigsten und am schwersten ist, sich die Massen moralisch zu unterwerfen.

Besteht aber ein großer Unterschied zwischen Lloyd George und den Scheidemann, Legien, Henderson, den Hyndman, Plechanow, Renaudel und Konsorten? Von den letzteren, wird man uns erwidern, werden einige zum revolutionären Sozialismus von Marx zurückkehren. Wohl möglich, aber das ist nur ein geringer gradueller Unterschied, wenn man die Frage mit politischem, d. h. Massenmaßstab misst. Einzelne von den jetzigen sozialchauvinistischen Führern mögen zum Proletariat zurückkehren. Aber die sozialchauvinistische oder (was dasselbe ist) opportunistische Strömung kann weder verschwinden noch zum revolutionären Proletariat „zurückkehren“. Wo unter den Arbeitern der Marxismus populär ist, dort wird diese politische Richtung, diese „bürgerliche Arbeiterpartei“ auf den Namen Marx schwören. Man kann ihnen das nicht verbieten, wie man einer Handelsfirma nicht verbieten kann, eine beliebige Etikette, ein beliebiges Schild, eine beliebige Reklame zu benützen. Es ist in der Geschichte stets so gewesen, dass die Feinde der bei den unterdrückten Klassen populären revolutionären Führer nach deren Tode sich ihre Namen anzueignen versuchten, um die unterdrückten Klassen zu betrügen.

Tatsache ist, dass „bürgerliche Arbeiterparteien“ als politische Erscheinung bereits in allen kapitalistisch fortgeschrittenen Ländern entstanden sind, dass ohne einen entschlossenen, schonungslosen Kampf auf der ganzen Linie gegen diese Parteien – oder Gruppen oder Richtungen usw. – keine Rede sein kann weder von einem Kampf gegen den Imperialismus noch vom Marxismus und von sozialistischer Arbeiterbewegung. Die Fraktion Tschcheïdse, „Nasche Djelo, „Golos Truda“ in Russland und die OK-Leute im Auslande sind nichts anderes als eine Abart einer dieser Parteien. Wir haben nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass diese Parteien vor der sozialen Revolution verschwinden können. Im Gegenteil, je näher diese Revolution rücken wird, je machtvoller sie entbrennen wird, je jäher und stärker die Übergänge und Sprünge in ihrem Verlauf sein werden, eine um so größere Rolle wird in der Arbeiterbewegung der Kampf des revolutionären, des Massenstromes gegen den opportunistischen, den kleinbürgerlichen Strom spielen. Das Kautskyanertum ist keine selbständige Strömung, denn es wurzelt weder in den Massen noch in der zur Bourgeoisie übergegangenen privilegierten Schicht. Aber die Gefahr des Kautskyanertums besteht darin, dass es, die Ideologie der Vergangenheit ausnützend, bemüht ist, das Proletariat mit der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ auszusöhnen, die Einheit mit ihr zu verteidigen und dadurch ihre Autorität zu heben. Mit den offenen Sozialchauvinisten gehen die Massen nicht mehr: Lloyd George ist in England in Arbeitermeetings ausgepfiffen worden, Hyndman ist aus der Partei ausgetreten, die Renaudel und Scheidemann, Potressow und Gwosdjew werden von der Polizei geschützt. Die verkappte Verteidigung der Sozialchauvinisten durch die Kautskyaner ist die allergefährlichste.

Zu den meist verbreiteten Sophismen des Kautskyanertums gehört der Hinweis auf die „Massen“: wir wollen uns nicht von den Massen und den Massenorganisationen trennen! Man denke aber darüber nach, wie Engels diese Frage gestellt hat. Die „Massenorganisationen“ der englischen Trade Unions standen im 19. Jahrhundert auf der Seite der bürgerlichen Arbeiterpartei. Marx und Engels söhnten sich deswegen mit ihr keineswegs aus, sondern waren bemüht, sie zu entlarven. Sie vergaßen nicht, erstens, dass die Organisationen der Trade Unions unmittelbar nur eine Minderheit des Proletariats erfassen. In England war damals, wie jetzt in Deutschland, nicht mehr als ein Fünftel des Proletariats organisiert. Ernsthaft daran zu denken, dass man unter dem Kapitalismus die Mehrheit der Proletarier in Organisationen zusammenfassen könne, ist müßig. Zweitens – und das ist die Hauptsache – handelt es sich nicht so sehr um die Mitgliederzahl der Organisation, wie um die reale, objektive Bedeutung ihrer Politik: ob diese Politik die Massen vertritt, ob sie den Massen, d. h. der Befreiung der Massen vom Kapitalismus dient, oder ob sie die Interessen der Minderheit, ihre Aussöhnung mit dem Kapitalismus vertritt. Gerade das letztere war für England im 19. Jahrhundert und ist jetzt für Deutschland usw. zutreffend.

Von der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ der alten Trade Unions, von der privilegierten Minderheit unterscheidet Engels die „unterste Masse“, die tatsächliche Mehrheit, und an sie, die von der „bürgerlichen Ehrbarkeit“ nicht angesteckt ist, wendet er sich. Das ist das Wesen der marxistischen Taktik!

Wir können nicht – und niemand kann es – genau ausrechnen, welcher Teil des Proletariats den Sozialchauvinisten und Opportunisten folgt und folgen wird. Das wird allein der Kampf zeigen, darüber wird endgültig nur die sozialistische Revolution entscheiden. Aber wir wissen mit Bestimmtheit, dass die „Vaterlandsverteidiger“ im imperialistischen Krieg nur eine Minderheit vertreten. Und es ist daher unsere Pflicht, wenn wir Sozialisten bleiben wollen, niedriger und tiefer hinabzusteigen, zu den wirklichen Massen: darin liegt die ganze Bedeutung des Kampfes gegen den Opportunismus und der ganze Inhalt dieses Kampfes. Indem wir enthüllen, dass die Opportunisten und Sozialchauvinisten in Wirklichkeit die Interessen der Massen verraten und verkaufen, dass sie vorübergehende Privilegien einer Minderheit der Arbeiter verteidigen, dass sie bürgerliche Ideen und Einflüsse verkörpern, dass sie in Wirklichkeit Verbündete und Agenten der Bourgeoisie sind, – lehren wir gleichzeitig die Massen, ihre wirklichen politischen Interessen zu erkennen, für den Sozialismus und die Revolution zu kämpfen, durch all die langen und leidensvollen Peripetien der imperialistischen Kriege und der imperialistischen Waffenstillstände hindurch.

Den Massen die Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit des Bruches mit dem Opportunismus klarmachen, sie durch schonungslosen Kampf gegen den Opportunismus zur Revolution erziehen, die Erfahrungen des Krieges zur Aufdeckung aller Widerwärtigkeiten der national-liberalen Arbeiterpolitik und nicht zu deren Bemäntelung ausnutzen – das ist die einzig marxistische Linie in der Arbeiterbewegung der Welt.

Im nächsten Artikel wollen wir den Versuch machen, die Hauptmerkmale dieser Linie – im Gegensatz zum Kautskyanertum – zusammenzufassen.

* „Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.“ (Kautsky in Neue Zeit, 11. September 1914.) [Gemeint ist Kautskys Artikel „Der Imperialismus“ („Die Neue Zeit“ Nr. 21 vom 11. September 1914, S. 908-922).]

1 Lenin meint hier die Broschüre „Die Krise und die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie“ von P. Axelrod (Zürich, August 1916, deutsch).

** J. A. Hobson, „Imperialism“, London 1902.

2 Gemeint sind die „Briefe aus Russland“ in der Rubrik „Aus der Partei“ in den „Nachrichten des OK der SDAPR" Nr. 4 vom 10. Februar 1916.

3 Lenin zitiert hier folgende Briefe von Marx und Engels:

1. Brief von Engels an Marx vom 7. Oktober 1858 („Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx“, Stuttgart 1921, Bd. II, S. 289 bis 291).

2. Brief von Engels an Sorge vom 21. September 1872 („Briefe und Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. a. an F. A. Sorge und andere“, Stuttgart 1921, S. 62 u. 63).

3. Brief von Marx an Sorge vom 4. April [August] 1874 („Briefe an Sorge“, S. 135-137).

4. Brief von Engels an Marx vom 11. August 1881 („Briefwechsel“, Bd. IV, S. 432 u. 433).

5. Brief von Engels an Kautsky vom 12. September 1882 (abgedruckt als Anhang zur Broschüre Kautskys „Sozialismus und Kolonialpolitik“, Berlin 1907, S. 79 u. 80).

6. Brief von Engels an Sorge vom 7. Dezember 1889 („Briefe an Sorge“, S. 323-326).

7. Brief von Engels an Sorge vom 19. April 1890 („Briefe an Sorge“, 8. S. 335-337).

8. Brief von Engels an Sorge vom 4. März 1891 („Briefe an Sorge“, S. 357-359).

9. Brief von Engels an Sorge vom 14. September 1891 („Briefe an Sorge“, S. 368).

*** Ich las vor kurzem in einer englischen Zeitschrift den Artikel eines Tory, eines politischen Gegners Lloyd Georges: „Lloyd George, wie ein Tory ihn sieht.“ Der Krieg hat diesem Gegner die Augen darüber geöffnet, welch ausgezeichneter Kommis der Bourgeoisie dieser Lloyd George ist! Die Tories haben sich mit ihm ausgesöhnt!

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