Lenin‎ > ‎1915‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19150726 Über die Lage der Dinge in der russischen Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Über die Lage der Dinge in der russischen Sozialdemokratie

[Sozialdemokrat Nr. 43, 26. Juli 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 228-234]

Nummer 2 der „Iswestija des Organisationskomitees und Nummer 2 von „Nasche Djelo beleuchten diese Lage mit größter Erbaulichkeit und Anschaulichkeit. Beide Publikationen gehen festen Schrittes, jede auf ihre Art, entsprechend der Verschiedenheit ihrer Erscheinungsorte und ihrer politischen Bestimmung den Weg der Konsolidierung des Sozialchauvinismus.

Nasche Djelo“ berichtet nicht nur nicht über irgendwelche Differenzen und Nuancen innerhalb der Redaktion, bringt nicht nur kein Sterbenswörtchen gegen die „Potressowerei“, solidarisiert sich vielmehr im Gegenteil in einer besonderen „Erklärung der Redaktion“ (S. 19) mit der Potressowerei und erklärt, der „Internationalismus“ erfordere gerade die „Orientierung in der internationalen Lage“ im Sinne der Entscheidung darüber: welcher Bourgeoisie im jetzigen Kriege das Proletariat am ehesten den Erfolg zu wünschen habe. Das bedeutet, dass im Wesentlichen und Grundsätzlichen die gesamte Redaktion sozialchauvinistisch ist. In Ergänzung dessen preist die Redaktion, die mit Kautsky nur in Nuancen des Sozialchauvinismus auseinandergeht, die – ganz seiner internationalen Rechtfertigung gewidmete – Broschüre Kautskys als „glänzend“, „erschöpfend“ und „theoretisch wertvoll“ an. Wer sich nicht selbst die Augen verschließen will, muss unbedingt sehen, dass die Redaktion von „Nasche Djelo“ auf diese Weise erstens den russischen Chauvinismus sanktioniert und zweitens ihre Bereitwilligkeit ausdrückt, dem internationalen Sozialchauvinismus „Amnestie“ zu erteilen und mit ihm Versöhnung zu feiern.

In der Rubrik „In Russland und im Ausland“ werden Plechanows und Axelrods Ansichten dargelegt, zwischen denen die Redaktion (mit vollem Recht) keinen Unterschied macht. In einer besonderen Anmerkung wird, wiederum im Namen der Redaktion (S. 103), erklärt, dass die Ansichten Plechanows „sich in vielen Beziehungen mit den Ansichten von ,Nasche Djelo* decken“.

Das Bild könnte nicht klarer sein. Die Legalisten-„Richtung“, die in „Nasche Djelo“ verkörpert wird und die dank tausend Verbindungen mit der liberalen Bourgeoisie als einzige vom ganzen „Brüsseler Block“ in den Jahren 1910-1915 in Russland eine Realität darstellte, hat ihre opportunistische Entwicklung vollständig gefestigt und vollendet, indem sie das Liquidatorentum glücklich durch den Sozialchauvinismus ergänzt hat. Das tatsächliche Programm jener Gruppe, die im Januar 1912 aus unserer Partei ausgeschlossen wurde, hat sich noch um einen außerordentlich wichtigen Punkt bereichert: Bearbeitung der Arbeiterklasse mit Ideen, die auf die Verpflichtung hinauslaufen, die Großmachtsvorteile und -privilegien der großrussischen Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, selbst um den Preis von Kriegen, zu schützen und zu festigen.

Diese politische Realität mit „linken“ Phrasen und quasi-sozialdemokratischer Ideologie zu bemänteln, – das ist der wirkliche politische Sinn der legalen Tätigkeit der Fraktion Tschcheïdse und der illegalen des OK. In ideeller Hinsicht die Losung „Weder Siege noch Niederlagen“, in praktischer der Kampf gegen „Spaltungsbestrebungen“, ein Kampf, der sämtliche Artikel in Nr. 2 der „Iswestija“ ausfüllt, besonders die von Martow, Jonow und Maschinadse, – das ist das sachliche und (vom Standpunkt der Opportunisten) durchaus richtige Programm des „Friedens“ mit „Nasche Djelo“ und mit Plechanow. Man lese den Brief des „ehemaligen Revolutionärs“ Alexinski in Nr. 143 der „Rjetsch“ (vom 27. Mai 19151) über die „Landesverteidigung“ als „Aufgabe der Demokratie“, – und man wird sehen, dass dieser wackere Schildknappe des jetzigen Chauvinisten Plechanow sich mit der Losung „Weder Siege noch Niederlagen“ absolut abfinden wird. Das ist eben die gemeinsame Losung von Plechanow, „Nasche Djelo“, Axelrod und Kossowski, Martow und Sjemkowski, zwischen denen „berechtigte Nuancen“ und „persönliche Meinungsverschiedenheiten“ natürlich (o natürlich!) bestehen bleiben werden. Diese ganze Gesellschaft gibt sich ideell im Wesentlichen und Grundsätzlichen zufrieden mit der Anerkennung der gemeinsamen Basis: „Weder Siege noch Niederlagen“ (nebenbei bemerkt: wessen? selbstverständlich: der jetzigen Regierungen, der jetzigen herrschenden Klassen!). Praktisch-politisch begnügen sie sich mit der Losung der „Einheit“. Das bedeutet die Einheit mit „Nasche Djelo“, d. h. in Wirklichkeit die restlose Aussöhnung mit der Tatsache, dass in Russland „Nasche Djelo“ mit Hilfe der Fraktion Tschcheïdse nach wie vor ernsthafte Politik und ernsthafte (bürgerlich-„ernsthafte“) Arbeit unter den Massen leisten wird, während im Auslande und in der Illegalität das OK und Konsorten sich erlauben werden, „linke“ Vorbehalte zu machen, quasi-revolutionäre Phrasen zu dreschen usw. usw. Wir werden uns keine Illusionen machen: der Brüsseler Block, der sofort auseinanderfiel und dadurch bewies, dass nichts in ihm steckte als Heuchelei, ist gerade aus diesem Grunde zur Bemäntelung einer politisch-faulen Situation sehr geeignet. Im Juli 1914 diente er zur Deckung von „Nascha Sarja und „Sewernaja Rabotschaja Gazeta mit Hilfe quasi-linker Resolutionen, die zu nichts verpflichteten. Im Juli 1915 gibt es noch keine „Zusammenkunft der Freunde“ und noch kein „Protokoll“, aber unter den hauptsächlichen „Akteurs“ besteht bereits prinzipielle Einigkeit darüber, dass man gemeinsam den Sozialchauvinismus von „Nasche Djelo“, Plechanow und Axelrod durch diese oder jene gleichfalls quasi-„linke“ Phrasen decken wird. Ein Jahr ist vergangen – ein großes und schweres Jahr in der Geschichte Europas. Es hat sich herausgestellt, dass am Geschwür der national-liberalen Arbeiterpolitik die meisten sozialdemokratischen Parteien Europas erstickt sind, dass dieses Geschwür auch im Liquidatorentum ganz reif geworden ist, – die „Freunde“ aber haben – wie die Musikanten im Krylowschen „Quartett“ – die Plätze gewechselt und im Chor, in falscher Tonart wiederum, angestimmt: Einheit, Einheit… (mit „Nasche Djelo“)!

Das Beispiel des Pariser „Nasche Djelo“ ist für aufrichtige Anhänger der „Einheit“ besonders lehrreich. Nr. 2 der „Iswestija“ des OK. hat „Nasche Slowo den Todesstoß versetzt, und nunmehr ist sein Tod (einerlei, ob der politische oder „physische“ Tod!) nur noch eine Frage der Zeit. Nr. 2 der „Iswestija“ des OK hat „Nasche Slowo“ durch die einfache Erklärung „tot gemacht“, dass Martow (der sich als Mitglied des Sekretariats des OK entpuppt hat – er ist offenbar „einstimmig“ durch Sjemkowski und Axelrod kooptiert worden, wahrscheinlich auf das Versprechen hin, die unbesonnenen Phrasen vom „Tod“ des „Vorwärts“ nicht mehr zu wiederholen) – dass Martow und „die gute Hälfte der Mitarbeiter von .Nasche Slowo*, die organisatorisch dem OK angeschlossen sind“, ihren Irrtum einsehen, dass sie nur aus „Naivität“ (Martow in der Rolle des ingénu – nicht übel!) „Nasche Slowo“ für das „allgemeine Organ der russischen Internationalisten“ gehalten haben, während in Wirklichkeit „Nasche Slowo“ sich als „spalterisch“ und als „fraktionell“ (Sjemkowski fügt von sich aus hinzu: „anarchosyndikalistisch“) erwiesen habe, und „glaube, sich vor dem Leninschen .Sozialdemokrat* rechtfertigen zu müssen“.

Vor dem Publikum trat „Nasche Slowo“ in drei Teilen auf, die sich sieben oder acht Monate hindurch erfolglos „vereinigten“: 1. zwei linke Redaktionsmitglieder (Nr. 107 von „Nasche Slowo“), die aufrichtig mit dem Internationalismus sympathisieren und sich zum Sozialdemokrat hingezogen fühlen (siehe in Nr. 122 von „Nasche Slowo“ die Resolution, in der sie von der Pariser Sektion unserer Partei begrüßt werden); 2. Martow und die OK-Leute („die gute Hälfte“); 3. Trotzki, der wie immer prinzipiell nicht im Geringsten mit den Sozialchauvinisten einverstanden ist, aber in der Praxis in allem mit ihnen übereinstimmt (nebenbei bemerkt, dank „der glücklichen Vermittlung“ – so heißt es wohl in der Diplomatensprache? – der Fraktion Tschcheïdse).

Vor den aufrichtigen Anhängern der Einheit steht jetzt die Frage: Warum hat „Nasche Slowo“ Fiasko gemacht und sich gespalten? Gewöhnlich schreibt man alle Spaltungen der menschenfeindlichen „Spalterei“ den bösen „Leninisten“ zu (siehe Sjemkowskis Artikel in Nr. 2 der „Iswestija“, Axelrod in „Nasche Slowo“ usw. usw.). Aber diese bösen Leute haben am „Nasche Slowo“ gar nicht mitgearbeitet und konnten sich aus diesem einfachen Grunde gar nicht abspalten oder sich von dort zurückziehen.

Woran liegt also die Sache? An einem Zufall? Oder daran dass die Einheit der sozialdemokratischen Arbeiter mit den Trägern des bürgerlichen Einflusses (faktisch: mit den Agenten der liberalen und chauvinistischen Bourgeoisie) aus dem „Nasche Djelo“ unmöglich und schädlich ist?

Mögen die Anhänger der „Einheit“ darüber nachdenken.

In der europäischen Sozialdemokratie haben sich jetzt unter etwas anderen Verhältnissen und in anderer Form Kautsky und Haase und sogar Bernstein für die „Einheit“ ausgesprochen. Da diese „Autoritäten“ fühlen, dass die Massen nach links gehen, so bieten sie den linken Sozialdemokraten den Frieden an unter der stillschweigenden Bedingung eines Friedens mit den Südekums. In Worten sich von der „Politik des 4. August“ lossagen, die Spaltung zwischen der national-liberalen und der sozialdemokratischen Arbeiterpolitik verkleistern mit irgendwelchen zu nichts verpflichtenden (und in gewisser Hinsicht selbst für Hindenburg und Joffre nicht unvorteilhaften) Phrasen über den „Frieden“ (die Friedenslosung kommt dazu gerade gelegen), mit platonischer Verurteilung der Annexionen usw., – das ungefähr ist Kautskys und Bernsteins Programm, dem auch, wie aus einigen Andeutungen der „Humanité hervorgeht, die französischen Sozialchauvinisten nicht abhold sind. Die Engländer von der Independent Labour Party werden natürlich für eine derartige Amnestierung des Sozialchauvinismus, die durch eine Anzahl von Verbeugungen nach links verdeckt ist, wie ein Mann eintreten. Versteht sich, den „OK-Leuten“ und Trotzki hat Gott selber geboten, sich nunmehr an die Rockschöße Kautskys und Bernsteins zu heften.

Wir halten diese Linksschwenkung des Opportunistenführers und des Führers der heuchlerischen Chauvinisten aus dem „radikalen“ Lager für eine Komödie, deren Bedeutung darin besteht, dass alles Faule in der Sozialdemokratie durch Verbeugung nach links gerettet, dass faktisch die national-liberale Arbeiterpolitik um den Preis geringfügiger phraseologischer Zugeständnisse an die „Linken“ gefestigt werden soll.

Die objektive Lage ist in Europa so, dass in den Massen die Enttäuschung, die Unzufriedenheit, der Protest, die Empörung und die revolutionäre Stimmung, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ungeheuer rasch in die Tat übergehen kann, im Anwachsen begriffen ist. Die Frage steht jetzt in der Tat so und nur so: soll man Wachstum und Entwicklung revolutionärer Aktionen gegen die eigene Bourgeoisie und die eigene Regierung fördern oder die revolutionäre Stimmung hemmen, ersticken, beruhigen. Um dieses zweite Ziel zu erreichen, werden die liberalen Bourgeois und die Opportunisten sich aller beliebigen „radikalen“ Worte bedienen (und vom Standpunkte ihrer Interessen müssen sie es tun), sie werden die Abrüstung, den Frieden, den Verzicht auf Annexion, allerlei Reformen und alles, was du willst, versprechen, nur um dem Bruch der Massen mit ihren opportunistischen Führern und ihrem Übergang zu immer ernster werdenden revolutionären Aktionen entgegenzuwirken.

Glaubt an keine schönrednerischen Programme – werden wir den Massen sagen –, verlasst euch nur auf eure eigenen revolutionären Massenaktionen gegen die eigene Regierung und die eigene Bourgeoisie, strebt nach der Entfaltung solcher Aktionen; außer dem Bürgerkrieg für den Sozialismus gibt es keine Rettung vor der Verwilderung, keine Möglichkeit des Fortschritts in Europa.

P. S. Der vorliegende Aufsatz war bereits gesetzt, als wir das Sammelbuch des Herrn Plechanow, des „ehemaligen Revolutionärs“ G. Alexinski und Co. erhielten: „Der Krieg“. Was für eine Kollektion von Sophismen und Lügen der Sozialchauvinisten, die den räuberischen und reaktionären Krieg des Zarismus als einen „gerechten“ „Verteidigungskrieg“ usw. hinstellen 1 Wir empfehlen dieses schmachvolle Bukett lakaienhafter Unterwürfigkeit vor dem Zarismus der Aufmerksamkeit aller, die sich ernsthaft über die Ursachen des Zusammenbruchs der II. Internationale klar werden wollen. Es ist übrigens interessant, dass diese offenherzigen Sozialchauvinisten mit Tschcheïdse wie mit seiner ganzen Fraktion durchaus zufrieden sind. Auch das OK, auch Trotzki, auch Plechanow samt Alexinski und Co. sind mit dieser Fraktion zufrieden, – eine ganz natürliche Sache, denn die Fraktion Tschcheïdse hat seit Jahren ihre Fähigkeit bewiesen, die Opportunisten zu decken und ihnen zu dienen.

Über die Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Fraktion, die nach Sibirien verschickt ist, verbreiten die Herren Plechanow und Alexinski schamlose Lügen.2 Jetzt ist wohl schon die Zeit nicht mehr fern, da man diese Lügner durch Dokumente wird widerlegen können.

1 Alexinski schrieb diesen Brief zur Berichtigung der von „Nowoje Wremja“ und „Moskowskije Wjedomosti“ gegebenen „falschen“ Auslegung seines in Nr. 3 von „Sowremenny Mir“ veröffentlichten Artikels.

2 Über die Duma-Fünfergruppe schrieb Alexinski in seinem Artikel: „Die fünf Abgeordneten haben sich vor Gericht öffentlich von dieser Propaganda losgesagt“ (d. h. von der Propaganda für die Niederlage der eigenen Regierung), und Plechanow erklärte, sie hätten „durch den Mund eines ihrer Rechtsanwälte die Beschuldigung, dass sie den gegenwärtigen Krieg mit den Augen des Genfer Sozialdemokrat' ansähen, als entwürdigend zurückgewiesen.“

Kommentare