Lenin‎ > ‎1907‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19070900 Vorwort zum Sammelband „Zwölf Jahre"

Wladimir I. Lenin: Vorwort zum Sammelband „Zwölf Jahre"1

[Geschrieben im September 1907 Veröffentlicht 1908 im Sammelband „Zwölf Jahre", St. Petersburg Gez.: Wl. Iijin. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 66-85]

Der vorliegende Sammelband enthält Aufsätze und Broschüren aus der Zeit von 1895 bis 1905. Programmatische, taktische und organisatorische Fragen der russischen Sozialdemokratie bilden das Thema der hier vereinigten Schriften. Während der ganzen Zeit des Kampfes gegen den rechten Flügel der marxistischen Strömung in Russland werden diese Fragen gestellt und durchgearbeitet.

Zunächst wird dieser Kampf auf rein theoretischem Gebiet gegen den Hauptvertreter unseres legalen Marxismus der neunziger Jahre, Herrn Struve, geführt. Ende 1894 und Anfang 1895 erfolgte ein schroffer Umschwung in unserer legalen Publizistik. Zum ersten Male drang der Marxismus in sie ein, vertreten nicht bloß durch die im Auslande wirkenden Mitglieder der Gruppe „Befreiung der Arbeit", sondern auch durch die in Russland lebenden Sozialdemokraten. Das Aufleben in der Literatur und der hitzige Streit der Marxisten mit den alten Führern des Narodnikitums, die bis dahin die fortschrittliche Literatur fast unbeschränkt beherrscht hatten (z. B. N. K. Michailowski) leitete eine Massenarbeiterbewegung in Russland ein. Die literarischen Kundgebungen der russischen Marxisten gingen unmittelbar dem Aufmarsch des Proletariats zum Kampf, den berühmten Petersburger Streiks von 1896, voraus, die die Ära der dann unaufhaltsam wachsenden Arbeiterbewegung, dieses machtvollsten Faktors unserer ganzen Revolution, eröffneten.

Die Situation der damaligen Literatur zwang die Sozialdemokraten, in der Sprache Äsops zu sprechen und sich auf ganz allgemeine Thesen, die der Praxis und Politik möglichst fern lagen, zu beschränken. Dieser Umstand vor allem war es, der das Bündnis der verschiedenartigen Elemente des Marxismus zum Kampfe gegen das Narodnikitum erleichterte. Neben den im Ausland und den in Russland lebenden Sozialdemokraten führten diesen Kampf solche Leute, wie die Herren Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski, Berdjajew usw. Das waren bürgerliche Demokraten, für die der Bruch mit dem Narodnikitum nicht, wie für uns, den Übergang vom kleinbürgerlichen (oder bäuerlichen) Sozialismus zum proletarischen Sozialismus, sondern den Übergang zum bürgerlichen Liberalismus bedeutete.

Durch die Geschichte der russischen Revolution überhaupt, durch die Geschichte der Kadettenpartei im Besonderen und ganz besonders durch die Entwicklung des Herrn Struve (die ihn fast bis zu den Oktobristen geführt hat) ist dies heute zu einer Binsenwahrheit, zur gangbaren Scheidemünze der Publizistik geworden. Damals, in den Jahren 1894-1895, musste man diese Wahrheit auf Grund verhältnismäßig kleiner Abweichungen dieses oder jenes Schriftstellers vom Marxismus beweisen, damals musste diese Münze erst geprägt werden. Ich drucke daher meine gegen Herrn Struve gerichtete Arbeit (den Artikel „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seine Kritik im Buche des Herrn Struve", der mit der Unterschrift K. Tulin in dem von der Zensur verbrannten Sammelwerk „Materialien zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands", St. Petersburg 18952, erschien) aus dreierlei Gründen vollständig ab. Erstens: insofern das lesende Publikum das Buch des Herrn Struve und die gegen die Marxisten gerichteten Artikel der Narodniki in den Jahren 1894-1895 kennen gelernt hat, erhält auch eine Kritik am Standpunkt des Herrn Struve Bedeutung. Zweitens: die Verwarnung, die ein revolutionärer Sozialdemokrat Herrn Struve gleichzeitig mit unseren gemeinsamen Kundgebungen gegen die Narodniki erteilt, ist von Bedeutung als Antwort an diejenigen, die uns vielfach das Bündnis mit ähnlichen Herrschaften zum Vorwurf gemacht haben, und als Bewertung der sehr bezeichnenden politischen Laufbahn des Herrn Struve. Drittens besitzt die alte und in vieler Hinsicht veraltete Polemik gegen Struve die Bedeutung eines lehrreichen Beispiels. Dieses Beispiel zeigt den praktisch-politischen Wert einer unversöhnlichen theoretischen Polemik. Übertriebene Neigung zu einer solchen Polemik sowohl gegen die „Ökonomisten" wie gegen die Bernsteinianer und die Menschewiki hat man den revolutionären Sozialdemokraten unzählige Male zum Vorwurf gemacht. Gegenwärtig noch sind solche Vorwürfe die gangbarste Ware bei den „Versöhnlern" innerhalb der sozialdemokratischen Partei und bei den „sympathisierenden" Halbsozialisten außerhalb derselben. Man spricht bei uns gern davon, dass die Russen überhaupt, die Sozialdemokraten im Besonderen und ganz besonders die Bolschewiki, eine übertriebene Neigung zur Polemik und zu Spaltungen haben. Man vergisst bei uns auch gern, dass die Bedingungen der kapitalistischen Länder überhaupt, die Bedingungen der bürgerlichen Revolution in Russland im Besonderen und ganz besonders die Bedingungen des Lebens und der Betätigung unserer Intelligenz eine übertriebene Neigung zu Sprüngen vom Sozialismus zum Liberalismus hervorbringen. Von diesem Standpunkt aus ist es ganz und gar nicht unnütz zu betrachten, was vor zehn Jahren war, welche theoretischen Differenzen mit dem „Struvismus" sich schon damals bemerkbar machten, aus welchen kleinen (auf den ersten Blick kleinen) Meinungsverschiedenheiten die vollständige gegenseitige politische Abgrenzung der Parteien und der unerbittliche Kampf im Parlament, in einer ganzen Reihe von Presseorganen, in Volksversammlungen usw., entsprungen sind.

Zu meinem Artikel gegen Herrn Struve muss ich noch bemerken, dass ihm ein Referat zugrunde liegt, das ich im Herbst 1894 in einem kleinen Zirkel damaliger Marxisten hielt. Von der Gruppe von Sozialdemokraten, die damals in Petersburg arbeiteten und ein Jahr später den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" gründeten, waren in diesem Zirkel St., R. und ich; von den legalen marxistischen Schriftstellern P. B. Struve, A. N. Potressow und K. In diesem Zirkel las ich ein Referat über „Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur". Wie aus der Formulierung des Themas ersichtlich, war in diesem Referat die Polemik gegen Herrn Struve unvergleichlich schroffer und (hinsichtlich der sozialdemokratischen Schlussfolgerungen) bestimmter gehalten als in dem im Frühjahr 1895 veröffentlichten Aufsatz. Die Milderungen wurden teils aus Zensurrücksichten vorgenommen, teils aus Rücksicht auf das „Bündnis" mit dem legalen Marxismus für den gemeinsamen Kampf gegen das Narodnikitum. Dass ..der Stoß nach links", den damals Herr Struve von den Petersburger Sozialdemokraten erhielt, nicht ganz ergebnislos blieb, das beweisen deutlich sein Aufsatz in dem verbrannten Sammelwerk (1895) und einige seiner Aufsätze im „Nowoje Slowo" (1897).3

Außerdem muss man bei der Lektüre des gegen Herrn Struve gerichteten Aufsatzes von 1895 berücksichtigen, dass er in vielen Hinsichten eine gedrängte Darstellung viel späterer ökonomischer Arbeiten darstellt (besonders der „Entwicklung des Kapitalismus"). Endlich müssen die Leser auf die letzten Seiten dieses Aufsatzes aufmerksam gemacht werden, wo die in den Augen eines Marxisten positiven Züge und Seiten des Narodnikitums als einer revolutionär-demokratischen Strömung in einem unmittelbar vor der bürgerlichen Revolution stehenden Lande hervorgehoben werden. Es handelt sich um die theoretische Formulierung derselben Thesen, die zwölf bis dreizehn Jahre später bei den Wahlen zur II. Duma im „linken Block" und in der „Links-Block"-Taktik praktisch-politischen Ausdruck gefunden haben. Jener Teil der Menschewiki, der den Gedanken einer revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft bekämpfte und die absolute Unzulässigkeit eines linken Blocks verfocht, wurde in dieser Hinsicht einer sehr alten und sehr wichtigen Tradition der revolutionären Sozialdemokratie untreu, einer Tradition, die von der „Sarja" und der alten „Iskra" energisch unterstützt worden war. Selbstverständlich und unvermeidlich folgt die bedingte und begrenzte Zulässigkeit der „Links-Block"-Taktik aus denselben grundlegenden theoretischen Auffassungen des Marxismus über das Narodnikitum.

Auf den Aufsatz gegen Struve (1894–1895) folgt: „Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten", geschrieben Ende 1897 auf Grund der bei der Arbeit der Sozialdemokraten in Petersburg im Jahre 1895 gemachten Erfahrungen. Die Auffassungen, die in anderen Aufsätzen und Broschüren der vorliegenden Sammlung in Form einer Polemik gegen den rechten Flügel der Sozialdemokratie dargelegt werden, behandelt diese Broschüre in positiver Form. Die verschiedenen Vorreden zu den „Aufgaben" werden wieder abgedruckt, um den Zusammenhang aufzuzeigen, der diesen Aufsatz mit den verschiedenen Entwicklungsperioden unserer Partei verknüpft. (Die Vorrede Axelrods z. B. unterstreicht den Zusammenhang der Broschüre mit dem Kampf gegen den „Ökonomismus", und die Vorrede von 1902 unterstreicht die Evolution der „Narodnaja Wolja" und der Partei „Narodnoje Prawo".)

Der Aufsatz „Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus" erschien in der im Ausland herausgegebenen „Sarja" im Jahre 1901. Dieser Artikel liquidiert sozusagen die sozialdemokratischen Beziehungen zu Struve als Politiker. 1895 verwarnte man ihn und grenzte sich von ihm als Verbündeten vorsichtig ab. 1901 erklärte man ihm den Krieg als einem Liberalen, der nicht einmal rein demokratische Forderungen einigermaßen konsequent zu verteidigen vermag.

Im Jahre 1895, einige Jahre vor der „Bernsteiniade" im Westen und vor dem völligen Bruch einer Reihe „fortschrittlicher" Literaten in Russland mit dem Marxismus, wies ich darauf hin, dass Herr Struve ein unzuverlässiger Marxist sei, von dem die Sozialdemokraten sich abgrenzen müssten. 1901, einige Jahre vor dem Auftreten der Kadettenpartei in der russischen Revolution und vor dem politischen Fiasko dieser Partei in der I. und II. Duma, wies ich gerade auf jene Züge des bürgerlichen Liberalismus in Russland hin, die in den Jahren 1905–1907 in politischen Massenaktionen und Kundgebungen ihren Ausdruck fanden. Der Artikel „Die Hannibale des Liberalismus" kritisiert die fehlerhaften Betrachtungen eines Liberalen, und diese Kritik erweist sich nunmehr als fast restlos anwendbar auf die Politik der größten liberalen Partei in unserer Revolution. Denjenigen, die geneigt sind zu glauben, dass wir Bolschewiki der alten sozialdemokratischen Politik dem Liberalismus gegenüber untreu wurden, als wir in den Jahren 1905-1907 unerbittlich gegen die Konstitutionsillusionen und gegen die Kadettenpartei kämpften, – diesen Leuten wird der Artikel „Die Hannibale des Liberalismus" ihren Irrtum zeigen. Die Bolschewiki sind den Traditionen der revolutionären Sozialdemokratie treu geblieben und unterlagen nicht dem bürgerlichen Rausch, den die Liberalen in der Epoche des „konstitutionellen Zickzacks" begünstigten und der das Bewusstsein des rechten Flügels unserer Partei vorübergehend umnebelte.

Die folgende Broschüre „Was tun?" erschien im Ausland ganz zu Anfang des Jahres 1902. Sie ist der Kritik des rechten Flügels nicht mehr bloß in literarischen Strömungen, sondern in der sozialdemokratischen Organisation gewidmet. 1898 fand der erste sozialdemokratische Parteitag statt, es wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands gegründet. Auslandsorganisation der Partei wurde der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten", dem auch die Gruppe „Befreiung der Arbeit" angehörte. Doch die Zentralinstitutionen der Partei wurden von der Polizei zerschlagen und konnten nicht wiederaufgebaut werden. Tatsächlich bestand keine Einheit der Partei; diese blieb nur eine Idee, eine Direktive. Die Begeisterung für die Streikbewegung und für den wirtschaftlichen Kampf erzeugte damals eine besondere Form des sozialdemokratischen Opportunismus, den sogenannten „Ökonomismus". Als die Gruppe „Iskra" ganz zu Ende des Jahres 1900 ihre Tätigkeit im Auslande begann, war die Spaltung auf diesem Boden schon Tatsache. Im Frühjahr 1900 trat Plechanow aus dem „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten" aus und gründete eine besondere Organisation: „Der Sozialdemokrat".

Die „Iskra" begann ihre Arbeit bei formeller Unabhängigkeit von beiden Fraktionen, doch arbeitete sie im Grunde genommen zusammen mit der Plechanowschen Gruppe gegen den „Auslandsbund". Der Versuch einer Verschmelzung (Kongress des „Auslandsbundes der russischen Sozialdemokraten" und des „Sozialdemokrat" in Zürich, Juni 1901) gelang nicht. Die Broschüre „Was tun?" gibt eine systematische Darstellung der Gründe der Trennung und des Charakters der Taktik und der Organisationstätigkeit der „Iskra".

Die Broschüre „Was tun?" wird oft von den jetzigen Gegnern der Bolschewiki, den Menschewiki, und auch von den Schriftstellern des bürgerlich-liberalen Lagers (den Kadetten, den „Bes Saglawija-Leuten von der Zeitung „Towarischtsch" usw.) erwähnt. Ich drucke sie darum mit nur ganz geringen Kürzungen ab, lediglich unter Weglassung von Einzelheiten der Organisationsverhältnisse und geringfügiger polemischer Bemerkungen. Bezüglich des Inhaltes dieser Broschüre muss der heutige Leser auf folgendes aufmerksam gemacht werden:

Der Grundfehler jener, die heute gegen „Was tun?" polemisieren, ist der, dass sie dieses Werk aus dem Zusammenhang eines bestimmten historischen Milieus, einer bestimmten, jetzt schon längst vergangenen Entwicklungsperiode unserer Partei völlig herausreißen. Diesen Fehler offenbarte anschaulich z. B. Parvus (ich spreche schon gar nicht von den zahlreichen Menschewiki), der viele Jahre nach Erscheinen der Broschüre ihre Gedanken über die Organisation von Berufsrevolutionären als falsch oder übertrieben bezeichnete.4

Gegenwärtig machen solche Behauptungen einen direkt komischen Eindruck: als wollten die Menschen einen ganzen Entwicklungsabschnitt unserer Partei ignorieren, all die Errungenschaften, die zu ihrer Zeit Kämpfe kosteten, jetzt aber längst gesichert sind und ihren Zweck erfüllt haben.

Gegenwärtig davon zu sprechen, dass die „Iskra" (in den Jahren 1901 und 1902!) den Gedanken der Organisation von Berufsrevolutionären übertrieben habe, ist dasselbe, als hätte jemand nach dem russisch-japanischen Kriege den Japanern Übertreibung der russischen Militärmacht vor dem Kriege, übertriebene Sorge um den Kampf gegen diese Macht zum Vorwurf machen wollen. Die Japaner mussten alle Kräfte gegen ein mögliches Maximum der russischen Kräfte anspannen, um den Sieg zu erringen. Leider urteilen viele nur von außen her über unsere Partei, ohne die Sache zu kennen, ohne zu sehen, dass heute die Idee der Organisation von Berufsrevolutionären bereits einen vollen Sieg errungen hat. Dieser Sieg aber wäre unmöglich gewesen, wenn man diese Idee seinerzeit nicht in den Vordergrund gerückt hätte, wenn man sie nicht in „übertriebener" Weise den Menschen gepredigt hätte, die ihrer Verwirklichung hemmend im Wege standen.

Was tun?" ist eine Bilanz der Taktik, der Organisationspolitik der „Iskra" in den Jahren 1901 und 1902. Eine „Bilanz", nichts mehr und nichts weniger. Wer sich der Mühe unterzieht, sich mit der „Iskra" von 1901 und 1902 bekanntzumachen, der wird sich unzweifelhaft davon überzeugen. Wer aber über diese Bilanz urteilt, ohne den Kampf der „Iskra" gegen den damals vorherrschenden Ökonomismus zu kennen und ohne diesen Kampf zu verstehen, der streut einfach seine Worte in den Wind. Die „Iskra" kämpfte für die Schaffung einer Organisation von Berufsrevolutionären, sie kämpfte besonders energisch dafür in den Jahren 1901 und 1902, sie überwand den damals vorherrschenden Ökonomismus, sie schuf diese Organisation endgültig im Jahre 1903, hielt trotz der darauffolgenden Spaltung unter den Iskristen, trotz aller Aufregungen der Sturm-und-Drangperiode an dieser Organisation während der ganzen russischen Revolution fest und bewahrte sie von 1901/1902 bis 1907.

Und jetzt, da der Kampf um die Organisation seit langem beendet ist, da die Saat gesät, das Korn gereift, und die Ernte eingebracht ist, kommen Menschen und verkünden: „Übertreibung der Idee der Organisation von Berufsrevolutionären!" Ist das nicht lächerlich?

Man nehme die ganze vorrevolutionäre Periode und die ersten zweieinhalb Jahre der Revolution (1905-–1907) als Ganzes. Man vergleiche unsere sozialdemokratische Partei mit anderen Parteien während dieses Zeitabschnittes hinsichtlich ihrer Geschlossenheit, ihrer Organisiertheit, ihrer steten Einheitlichkeit. Man wird zugeben müssen, dass in dieser Hinsicht die Überlegenheit unserer Partei über alle anderen, über die Kadetten, über die Sozialrevolutionäre usw., unbestreitbar ist. Die sozialdemokratische Partei hatte sich vor der Revolution ein von allen Sozialdemokraten formell anerkanntes Programm geschaffen, und als sie Änderungen am Programm vornahm, kam es deswegen zu keinen Spaltungen. Trotz der Spaltung von 1903 bis 1907 (formell von 1905–1906) berichtete die sozialdemokratische Partei der Öffentlichkeit am ausführlichsten über ihre innere Lage (Protokolle der Parteitage, des 2., gemeinsamen, des 3., bolschewistischen, des 4. oder Stockholmer gemeinsamen Parteitags). Trotz der Spaltung hat die sozialdemokratische Partei früher als alle anderen Parteien das vorübergehende Aufleuchten der Freiheit benutzt, um das Ideal einer demokratischen, offen wirkenden Organisation mit Wahlsystem, mit Vertretung auf den Parteitagen nach der Zahl der organisierten Parteimitglieder zu verwirklichen. Das haben bis jetzt weder die Sozialrevolutionäre noch die Kadetten getan, diese fast legale, am besten organisierte bürgerliche Partei, die über unvergleichlich größere Geldmittel als wir, über freien Spielraum bei Benutzung der Presse verfügt und offen existieren kann. Und haben die Wahlen zur II. Duma, an denen alle Parteien teilnahmen, nicht anschaulich bewiesen, dass die organisatorische Geschlossenheit unserer Partei und unserer Dumafraktion höher steht als die aller anderen Parteien?

Man fragt sich: Wer hat diese relativ größte Geschlossenheit, Festigkeit und Widerstandsfähigkeit unserer Partei geschaffen und in die Wirklichkeit umgesetzt? Das hat die größtenteils unter Mitwirkung der „Iskra" ins Leben gerufene Organisation der Berufsrevolutionäre getan. Wer die Geschichte unserer Partei gut kennt, wer selbst ihren Aufbau miterlebt hat, dem genügt ein einfacher Blick auf die Zusammensetzung der Delegation irgendeiner Fraktion, sagen wir des Londoner Parteitages, um sich davon zu überzeugen, um sofort den alten Grundstock der Partei zu entdecken, der die Partei am eifrigsten gehegt, gepflegt und großgezogen hat. Die Grundvoraussetzung für diesen Erfolg war natürlich der Umstand, dass die Arbeiterklasse, von deren Elite die Sozialdemokratie geschaffen wurde, kraft objektiver wirtschaftlicher Ursachen sich unter allen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft durch die größte Fähigkeit zur Organisation auszeichnet. Ohne diese Vorbedingung wäre die Organisation von Berufsrevolutionären eine Spielerei, ein Abenteuer, ein bloßes Aushängeschild gewesen, und die Broschüre „Was tun?" betont immer wieder, dass die von ihr befürwortete Organisation nur Sinn hat im Zusammenhang mit der „wirklich revolutionären und elementar sich zum Kampfe erhebenden Klasse". Doch das objektiv im Proletariat vorhandene Maximum an Fähigkeit, sich als Klasse zusammenzuschließen, wird durch lebendige Menschen, und zwar nicht anders als in bestimmten Formen der Organisation verwirklicht. Keine andere Organisation außer der „Iskra" wäre unter unseren historischen Verhältnissen, im Russland der Jahre 1900-1905, imstande gewesen, eine solche sozialdemokratische Arbeiterpartei zu schaffen, wie die jetzt tatsächlich geschaffene. Der Berufsrevolutionär hat seine Aufgabe in der Geschichte des russischen proletarischen Sozialismus erfüllt. Und keine Kraft kann heute mehr diese Arbeit zerstören, die längst über den engen Rahmen der „Zirkel" der Jahre 1902–1905 hinausgewachsen ist; keine verspäteten Klagen darüber, dass die Kampfaufgaben von denen übertrieben wurden, die seinerzeit nur durch Kampf den richtigen Weg zur Erfüllung dieser Aufgaben sichern konnten, werden die Bedeutung der schon gemachten Eroberungen erschüttern.

Ich habe eben den engen Rahmen der Zirkel in der Zeit der alten „Iskra" erwähnt. (Ende 1903, mit Nr. 51, machte die „Iskra" eine Schwenkung zum Menschewismus und erklärte: „Zwischen der alten und der neuen ,Iskra' liegt ein Abgrund" – das sind Trotzkis Worte in einer von der menschewistichen Redaktion der „Iskra" gebilligten Broschüre). Über diesen Zirkelbetrieb muss ich dem heutigen Leser einige aufklärende Worte sagen. In der Broschüre „Was tun?" wie in der weiter unten folgenden Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" kann der Leser einen leidenschaftlichen, manchmal geradezu erbitterten Vernichtungskampf der Auslandszirkel gegeneinander beobachten. Zweifellos hat dieser Kampf viel Unschönes an sich. Zweifellos ist dieser Kampf der Zirkel eine Erscheinung, wie sie nur in einem noch sehr jugendlichen, unreifen Stadium der Arbeiterbewegung eines Landes möglich ist. Zweifellos müssen die in der gegenwärtigen Arbeiterbewegung Russlands heute tätigen Genossen mit vielen Zirkeltraditionen brechen, sie müssen viele Kleinigkeiten des Zirkellebens und des Zirkelgezänks vergessen und von sich werfen, um mit aller Kraft die Aufgaben der Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Epoche zu erfüllen. Einzig und allein die Erweiterung der Partei durch proletarische Elemente, verbunden mit offener Massenarbeit, kann alle von der Vergangenheit ererbten und den Aufgaben der Gegenwart nicht mehr entsprechenden Spuren des Zirkelwesens ausmerzen. Der Übergang zur demokratischen Organisation der Arbeiterpartei, wie er von den Bolschewiki in der „Nowaja Shisn" im November 1905 im selben Augenblick angekündigt wurde, wo die Voraussetzungen zu einer offenen Betätigung geschaffen waren, – dieser Übergang war seinem Wesen nach ein unwiderruflicher Bruch mit all dem, was in dem alten Zirkelwesen sich überlebt hatte ...

Ja, „mit all dem, was sich überlebt hatte", denn es genügt nicht, das Zirkelwesen zu verurteilen, man muss verstehen können, was es unter den eigenartigen Bedingungen der früheren Epoche bedeutete. Zu ihrer Zeit waren die Zirkel notwendig und spielten eine positive Rolle. In einem Lande des Absolutismus und erst recht unter den Bedingungen, die durch die ganze Geschichte der russischen revolutionären Bewegung hervorgebracht wurden, konnte sich die sozialistische Arbeiterpartei nicht anders als nur aus Zirkeln heraus entwickeln. Zirkel, d. h. enge, abgeschlossene, fast stets auf persönlicher Freundschaft beruhende Gemeinschaften einer geringen Anzahl von Personen waren eine notwendige Entwicklungsetappe des Sozialismus und der Arbeiterbewegung in Russland. Mit dem Anwachsen dieser Bewegung erstand die Aufgabe, diese Zirkel zu vereinigen, einen festen Zusammenhang unter ihnen zu schaffen und ihnen eine kontinuierliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Diese Aufgabe wäre unlösbar gewesen ohne Schaffung einer festen Operationsbasis „außerhalb der Reichweite" des Absolutismus, d. h. im Auslande. Die Auslandszirkel entstanden also aus einer Notwendigkeit heraus. Unter ihnen bestand kein Zusammenhang; es fehlte die Autorität einer russischen Partei; unvermeidlich musste es unter ihnen in der Auffassung der Grundaufgaben der Bewegung im gegebenen Moment, d. h. in der Auffassung darüber, wie diese oder jene Operationsbasis aufgebaut und in welcher Richtung der Gesamtparteiaufbau gefördert werden soll, Meinungsverschiedenheiten geben. Unter solchen Bedingungen war der Kampf zwischen diesen Zirkeln unabwendbar. Jetzt, zurückblickend, erkennen wir klar, welcher Zirkel tatsächlich imstande war, die Funktion einer Operationsbasis zu erfüllen. Damals jedoch, zu Beginn der Tätigkeit der verschiedenen Zirkel, konnte das niemand sagen, und nur der Kampf konnte die Frage entscheiden. Wie mir erinnerlich, machte Parvus später der alten „Iskra" den Vernichtungskampf der Zirkel zum Vorwurf und predigte nachträglich eine Versöhnungspolitik.5 Doch so etwas ist hinterher leicht zu sagen, und wer das tut, zeigt, dass er die damalige Situation nicht versteht. Erstens gab es kein Kriterium für die Kraft und für die Bedeutung dieser oder jener Zirkel. Viele Zirkel waren nur Bluff; heute sind sie längst vergessen; zu ihrer Zeit aber wollten sie durch den Kampf ihre Existenzberechtigung erweisen. Zweitens bezogen sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Zirkeln darauf, welche Richtung der damals noch neuen Arbeit gegeben werden sollte. Ich hob auch damals schon (in „Was tun?") hervor, dass die Meinungsverschiedenheiten zwar klein schienen, in Wirklichkeit aber eine ungeheure Bedeutung hätten, denn zu Beginn der neuen Arbeit, zu Beginn der sozialdemokratischen Bewegung werde sich die Bestimmung des allgemeinen Charakters dieser Arbeit und dieser Bewegung ganz wesentlich in der Propaganda, Agitation und Organisation auswirken. Alle späteren Streitigkeiten zwischen den Sozialdemokraten galten der Frage, welche Richtung die politische Tätigkeit der Arbeiterpartei in diesem und jenem Einzelfall einschlagen sollte. Damals aber handelte es sich darum, die allgemeinsten Grundlagen und die grundlegenden Aufgaben jeder sozialdemokratischen Politik überhaupt zu bestimmen.

Das Zirkelwesen hat seine Aufgabe erfüllt und ist jetzt natürlich überholt. Es ist aber einzig und allein nur deswegen überholt, weil der Kampf der Zirkel die lebenswichtigsten Fragen der Sozialdemokratie ganz intensiv zur Debatte gestellt, sie in unversöhnlich revolutionärem Sinne entschieden und damit die feste Basis für eine breitangelegte Parteiarbeit geschaffen hat.

Von den Teilfragen, die aus Anlass der Broschüre „Was tun?" in der Literatur aufgeworfen wurden, hebe ich nur die zwei folgenden hervor: In der „Iskra" von 1904, bald nach Erscheinen der Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", proklamierte Plechanow' einen prinzipiellen Meinungsunterschied zwischen ihm und mir in der Frage der Spontaneität und der Bewusstheit.6 Ich antwortete weder auf dieses Proklamieren (abgesehen von einer Bemerkung in der Genfer Zeitung „Wperjod") noch auf die vielfachen Wiederholungen dieses Themas in der menschewistischen Literatur, und zwar deswegen nicht, weil die Plechanowsche Kritik offensichtlich eine leere Krittelei war, die sich auf völlig aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, auf einzelne Ausdrücke stützte, die ich nicht ganz geschickt oder nicht ganz genau formuliert hatte; der allgemeine Inhalt und der ganze Geist der Broschüre wurde ignoriert. „Was tun?" erschien im März 1902. Der Entwurf eines Parteiprogramms (von Plechanow, mit Korrekturen der „Iskra"-Redaktion) erschien im Juni oder Juli 1902. Das Verhältnis der Spontaneität zur Bewusstheit war in diesem Entwurf unter allgemeinem Einverständnis der „Iskra"-Redaktion formuliert worden (die Programmstreitigkeiten fochten Plechanow und ich innerhalb der Redaktion aus; sie bezogen sich aber gar nicht auf diese Frage, sondern auf die Frage der Verdrängung des Kleinbetriebs durch den Großbetrieb, wobei ich eine bestimmtere Formulierung als die von Plechanow verlangte, weiter auf die verschiedene Auffassung darüber, ob vom Proletariat oder von den werktätigen Klassen überhaupt gesprochen werden soll, wobei ich auf einer engeren Festlegung des rein proletarischen Charakters der Partei bestand).

Folglich konnte in dieser Frage von einem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Programmentwurf und der Broschüre „Was tun?" gar keine Rede sein. Auf dem zweiten Parteitag (August 1903) polemisierte der damalige Ökonomist Martynow gegen unsere Auffassungen über die Spontaneität und die Bewusstheit, wie sie im Programm Ausdruck gefunden hatten. Martynow widersprachen alle Iskristen, was ich in der Broschüre „Ein Schritt vorwärts usw." besonders hervorhebe. Daher ist es klar, dass es sich eigentlich um eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Iskristen und den Ökonomisten handelte, die das angriffen, was die Broschüre „Was tun?" und der Programmentwurf gemeinsam vertraten. Ich dachte auch auf dem 2. Parteitag nicht daran, meine eigenen Formulierungen, die ich in. ,,Was tun?" gegeben hatte, für etwas „Programmmäßiges", besondere Prinzipien Darstellendes auszugeben. Im Gegenteil, ich wandte den später so oft zitierten Vergleich mit dem Stock, der zu weit gebogen wird, an. In „Was tun?" wird der von den Ökonomisten krummgebogene Stock wieder gerade gemacht, sagte ich (vgl. die Protokolle des 2. Parteitages der SDAPR 1903, Genf 1904), und gerade weil wir die Krümmungen energisch zurechtbiegen, wird unser „Stock" stets der geradeste sein.

Der Sinn dieser Worte ist klar: „Was tun?" korrigiert polemisch den Ökonomismus, und es ist falsch, den Inhalt der Broschüre außerhalb des Zusammenhangs mit dieser Aufgabe zu betrachten. Ich möchte bemerken, dass Plechanows Artikel gegen „Was tun?" in dem Sammelwerk der neuen „Iskra" („Zwei Jahre") nicht abgedruckt ist, und ich will deshalb jetzt auf Plechanows Argumente nicht eingehen, sondern nur das Wesen der Sache dem heutigen Leser auseinandersetzen, der in sehr vielen menschewistischen Werken Hinweise auf diese Frage finden kann.

Die zweite Bemerkung gilt der Frage des wirtschaftlichen Kampfes und der Gewerkschaften. In der Literatur werden meine Ansichten über diese Frage nicht selten falsch wiedergegeben. Ich muss deswegen betonen, dass viele Seiten in „Was tun?" die ungeheure Bedeutung des wirtschaftlichen Kampfe und der Gewerkschaften auseinandersetzen. Im Besonderen sprach ich mich damals für die Neutralität der Gewerkschaften aus. In der Folge habe ich mich weder in Broschüren noch in Zeitungsartikeln anders geäußert, was immer auch meine Opponenten behaupten mögen. Erst der Londoner Parteitag der SDAPR und der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart zwangen mich zu der Schlussfolgerung, dass es unzulässig ist, prinzipiell die Neutralität der Gewerkschaften zu verfechten. Der engste Anschluss der Gewerkschaften an die Partei ist das einzig richtige Prinzip. Das Bestreben, die Gewerkschaften nahe an die Partei heranzubringen und sie mit ihr zu verbinden, – das muss unsere Politik sein, und sie muss hartnäckig und konsequent in unserer gesamten Propaganda und Agitation, in unserer Organisationstätigkeit durchgeführt werden, ohne dass wir bloßen „Anerkennungen" nachjagen und Andersdenkende aus den Gewerkschaften hinauswerfen.

Die Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" erschien im Sommer 1904 in Genf. Sie schildert das erste Stadium der Spaltung zwischen Menschewiki und Bolschewiki, die auf dem 2. Parteitag (August 1903) begann. Aus dieser Broschüre warf ich etwa die Hälfte heraus, denn die geringfügigen Einzelheiten des Organisationskampfes, besonders um die personelle Zusammensetzung der Zentralinstitutionen der Partei, können den heutigen Leser absolut nicht interessieren und verdienen, dem Wesen der Sache nach, vergessen zu werden. Wesentlich erscheint mir hier die Analyse des Kampfes zwischen den auf dem 2. Parteitag vertretenen taktischen und sonstigen Auffassungen und die Polemik gegen die organisatorischen Auffassungen der Menschewiki; beides ist unerlässlich zum Verständnis des Menschewismus und des Bolschewismus als zweier Strömungen, die der ganzen Tätigkeit der Arbeiterpartei in unserer Revolution ihren Stempel aufgedrückt haben.

Von den Debatten auf dem 2. Parteitag der sozialdemokratischen Partei will ich die über das Agrarprogramm erwähnen. Die Ereignisse haben zweifellos bewiesen, dass unser damaliges Programm (Rückgabe der abgetrennten Landstücke7) unverhältnismäßig eng war und die Kräfte der revolutionär-demokratischen Bauernbewegung unterschätzte. Darüber werde ich im zweiten Band der vorliegenden Veröffentlichung ausführlicher sprechen. Hier ist nur von Wichtigkeit zu betonen, dass auch dieses unverhältnismäßig enge Agrarprogramm dem rechten Flügel der sozialdemokratischen Partei damals als zu weitgehend erschien. Martynow und andere Ökonomisten bekämpften es, weil es zu weit gehe! Man kann daraus ersehen, welche ernste praktische Bedeutung der Kampf der alten „Iskra" gegen den Ökonomismus, der Kampf gegen die Einengung und Herabsetzung des ganzen Charakters der sozialdemokratischen Politik hatte.

Unsere Differenzen mit den Menschewiki beschränkten sich damals (in der ersten Hälfte von 1904) auf organisatorische Fragen. Ich formulierte die Position der Menschewiki als „Opportunismus in Organisationsfragen". In Erwiderung darauf schrieb P. B. Axelrod an Kautsky:

Mit meinem schwachen Verstand kann ich nicht begreifen, was das für ein Ding sein soll, der ,Opportunismus in Organisationsfragen', der da auf den Schauplatz gerückt wird als etwas Selbständiges, ohne jeden organischen Zusammenhang mit den programmatischen und taktischen Auffassungen"8 (dieser Brief ist vom 6. Juni 1904 datiert und im Sammelwerk der neuen „Iskra" „Zwei Jahre", II. Teil, Seite 149, abgedruckt).

Welcher organische Zusammenhang zwischen dem Opportunismus in organisatorischen und dem in taktischen Fragen besteht, hat die ganze Geschichte des Menschewismus in den Jahren 1905-1907 zur Genüge gezeigt. Was das „unbegreifliche Ding": „Opportunismus in Organisationsfragen" anbelangt, so hat das Leben die Richtigkeit meiner Beurteilung so glänzend bestätigt, wie ich es gar nicht erwarten konnte. Man braucht nur darauf hinzuweisen, dass selbst der Menschewik Tscherewanin jetzt zu dem Geständnis gezwungen ist (s. seine Broschüre über den Londoner Parteitag der SDAPR, 1907), dass aus den Organisationsplänen Axelrods (der berüchtigte „Arbeiterkongress" usw.) bloß Spaltungen folgen, die für die Sache des Proletariats verderblich sind. Damit nicht genug. Dieser selbe Tscherewanin erzählt dort, dass Plechanow in London innerhalb der menschewistischen Fraktion gegen einen Organisationsanarchismus kämpfen musste. Nicht ohne Grund habe ich also 1904 gegen den „Opportunismus in Organisationsfragen" gekämpft, wenn 1907 Tscherewanin sowohl wie Plechanow bei einflussreichen Menschewiki „Organisationsanarchismus" feststellen mussten.

Vom Organisationsopportunismus sind die Menschewiki zum taktischen übergegangen. Die Broschüre „Die Semstwokampagne und der Plan der ,Iskra'" (erschienen in Genf, Ende 1904, ich glaube November oder Dezember) stellt ihren ersten Schritt auf diesem Wege fest. In der heutigen Literatur stößt man nicht selten auf die Behauptung, dass die Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Semstwokampagne dadurch hervorgerufen worden seien, dass die Bolschewiki den Demonstrationen vor den Semstwoleuten jeden Nutzen absprachen. Der Leser wird sehen, dass diese Ansicht durchaus falsch ist. Die Meinungsverschiedenheiten entstanden dadurch, dass die Menschewiki damals davon zu sprechen begannen, man dürfe bei den Liberalen keine Panik hervorrufen, und noch mehr dadurch, dass nach dem Rostower Streik von 1902, nach den Sommerstreiks und den Barrikaden von 1903, am Vorabend des 9. Januar 1905, die Menschewiki die Demonstrationen vor den Semstwoleuten als den höchsten Typus einer Demonstration lobpriesen. In Nr. 1 der bolschewistischen Zeitung „Wperjod" (Genf, Januar 1905) findet diese Beurteilung des menschewistischen „Plans einer Semstwokampagne" in der Überschrift eines Feuilletons über diese Frage ihren Ausdruck: „Über gute Demonstrationen der Proletarier und schlechte Betrachtungen einiger Intellektueller".

Die letzte hier abgedruckte Broschüre „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution" ist in Genf im Sommer 1905 erschienen. Hier werden die grundlegenden taktischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bolschewiki und Menschewiki bereits systematisch dargelegt; die Resolutionen des im Frühjahr desselben Jahres in London abgehaltenen (bolschewistischen) 3. Parteitages der SDAPR und die der menschewistischen Konferenz in Genf gaben diesen Meinungsverschiedenheiten feste Form und führten zur radikalen Trennung in der Beurteilung unserer ganzen bürgerlichen Revolution vom Standpunkte der Aufgaben des Proletariats. Die Bolschewiki wiesen dem Proletariat die Rolle des Führers in der demokratischen Revolution zu. Die Menschewiki beschränkten seine Rolle auf die Aufgaben einer „extremen Opposition". Die Bolschewiki definierten positiv den Klassencharakter und die Klassenbedeutung der Revolution, indem sie sagten: Eine siegreiche Revolution, das ist „eine revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft". Die Menschewiki deuteten den Begriff der bürgerlichen Revolution stets so falsch, dass bei ihnen dabei das Einverständnis mit einer untergeordneten und von der Bourgeoisie abhängigen Rolle des Proletariats in der Revolution herauskam.

Es ist bekannt, wie sich diese prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten in der Praxis auswirkten: Boykott der Bulygin-Duma durch die Bolschewiki und Schwankungen bei den Menschewiki. Boykott der Witte-Duma durch die Bolschewiki und Schwankungen bei den Menschewiki, die aufforderten: zu wählen, aber nicht in die Duma. Unterstützung der Forderung nach einem Kadettenkabinett und der Kadettenpolitik in der I. Duma durch die Menschewiki und entschiedene Entlarvung der Konstitutionsillusionen und des konterrevolutionären Wesens der Kadetten durch die Bolschewiki, verbunden mit der Propaganda für die Idee eines „Exekutivkomitees der Linken". Ferner der linke Block der Bolschewiki bei den Wahlen zur II. Duma und die Blocks der Menschewiki mit den Kadetten usw. usf.

Jetzt scheint die „Kadettenperiode" der russischen Revolution (ein Ausdruck aus der Broschüre „Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei", März 1906) zu Ende zu sein. Das konterrevolutionäre Wesen der Kadetten ist restlos enthüllt. Die Kadetten fangen schon selber an einzugestehen, dass sie die ganze Zeit über die Revolution bekämpft haben, und Herr Struve spricht offenherzig die innersten Gedanken des Kadettenliberalismus aus. Je aufmerksamer das klassenbewusste Proletariat jetzt diese ganze Kadettenperiode, diesen ganzen „konstitutionellen Zickzack" rückblickend betrachten wird, desto offensichtlicher wird es werden, dass die Bolschewiki diese Periode sowohl wie das Wesen der Kadettenpartei im Voraus ganz richtig beurteilten, dass die Menschewiki tatsächlich eine falsche Politik trieben, deren objektive Bedeutung der Ersetzung einer selbständigen proletarischen Politik durch eine Politik der Unterordnung des Proletariats unter den bürgerlichen Liberalismus gleichkam.

Wenn man den Kampf der zwei Strömungen im russischen Marxismus und in der russischen Sozialdemokratie in zwölf Jahren (1895–1907) im Allgemeinen betrachtet, so kann man nicht umhin, den Schluss zu ziehen, dass der „legale Marxismus", der „Ökonomismus" und der „Menschewismus" verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben geschichtlichen Tendenz darstellen. Der „legale Marxismus" Struves (1894) und anderer Leute seiner Art war die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur. Der „Ökonomismus", als besondere Richtung der sozialdemokratischen Tätigkeit von 1897 und in den folgenden Jahren, verwirklichte in der Tat das Programm des bürgerlich-liberalen Credo": für die Arbeiter der wirtschaftliche, für die Liberalen der politische Kampf. Der Menschewismus ist nicht nur eine literarische Strömung, nicht nur eine Richtung der sozialdemokratischen Tätigkeit, sondern eine geschlossene Fraktion, die im Verlaufe der ersten Periode der russischen Revolution (1905 –1907) eine besondere Politik befolgte, eine Politik, durch die in Wirklichkeit das Proletariat dem bürgerlichen Liberalismus untergeordnet wurde.*

In allen kapitalistischen Ländern ist das Proletariat unvermeidlich durch Tausende von Übergangsstufen mit seinem Nachbarn von rechts, der Kleinbourgeoisie, verbunden. In allen Arbeiterparteien bildet sich unvermeidlich ein mehr oder minder deutlich umrissener rechter Flügel, der in seinen Auffassungen, in seiner Taktik, in seiner organisatorischen „Linie" die Tendenzen des kleinbürgerlichen Opportunismus zum Ausdruck bringt. In einem so kleinbürgerlichen Lande, wie Russland, im Zeitalter der bürgerlichen Revolution, im Zeitalter der ersten Ansätze der jungen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, mussten diese Tendenzen schroffer, bestimmter und auffallender in Erscheinung treten als irgendwo sonst in Europa. Man muss unbedingt die verschiedenen Erscheinungsformen dieser Tendenz innerhalb der russischen Sozialdemokratie in ihren verschiedenen Entwicklungsperioden kennenlernen, um den revolutionären Marxismus zu festigen, um die russische Arbeiterklasse für ihren Befreiungskampf zu stählen.

1 „Zwölf Jahre" – Sammlung Leninscher Aufsätze. Der Verlag „Serno", an dessen Spitze Genosse M. Kedrow stand, beabsichtigte, drei Bände Leninscher Arbeiten herauszugeben. Der erste Band war „Zwölf Jahre, Aufsatzsammlung. Band I, Zwei Richtungen im russischen Marxismus und in der russischen Sozialdemokratie", St. Petersburg 1908, Verlag nicht angegeben.

Inhalt: Vorwort. 1. Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seine Kritik im Buche des Herrn Struve. Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur. 2. Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten. 3. Die Hetze gegen das Semstwo und die Hannibale des Liberalismus. 4. Was tun? Aktuelle Fragen unserer Bewegung. 5. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (Die Krise in unserer Partei). 6. Die Semstwo-Kampagne und der Plan der „Iskra". 7. Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution.

Lenin nahm eine Reihe redaktioneller Änderungen vor (siehe darüber die entsprechenden Bände der Sämtlichen Werke), worauf er selber im vorliegenden Vorwort hinweist; außerdem wurde mit Rücksicht auf die Zensur eine Reihe von Streichungen vorgenommen, doch hat dies das Buch vor sofortiger Beschlagnahme nicht gerettet. Durch Beschluss des Petersburger Gerichtshofes vom 3. Dezember wurde das Buch verboten. Der Sammelband „Zwölf Jahre" wurde 1918 vom Petrograder Arbeiter-, Bauern- und Rotarmisten-Deputiertenrat neu herausgegeben (auf dem Umschlag steht 1919 als Jahr der Herausgabe).

Aus dem zweiten Band konnte nur die Aufsatzsammlung „Wl. Iljin. Die Agrarfrage", Teil 1, St. Petersburg 1908, 264 Seiten, herausgegeben werden. Sie enthält folgende Aufsätze: 1. Zur Charakteristik des ökonomischen Romantismus. 2. Die Kustar-Zählung von 1894 im Gouvernement Perm. 3. Die Agrarfrage und die Marx-„Kritiker". – Der zweite Teil des Bandes konnte nicht veröffentlicht werden: das bekannte Werk Lenins „Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution 1905 bis 1907" wurde noch im Druck beschlagnahmt. Es hat sich nur ein unvollständiges Exemplar erhalten, das die Grundlage zu dem unvollständigen Neuabdruck (ohne Schluss) 1917 bildete. Das Manuskript wurde später im Genfer Parteiarchiv aufgefunden.

2 Der genaue Titel lautet: „Materialien zur Charakteristisk unserer wirtschaftlichen Entwicklung". Die Red.

3 Ein Resultat der Leninschen Kritik war der Aufsatz Struves „An meine Kritiker" im gleichen Sammelband (neu gedruckt im Sammelband „Über verschiedene Fragen", St. Petersburg 1902, S. 1–59) sowie seine Artikel im „Nowoje Slowo" 1897: „Unsere Utopisten" (März), „Aus der Geschichte der sozialen Ideen und Verhältnisse in Deutschland im XIX. Jahrhundert" (April-Mai) und „Tschitscherin und sein Appell an die Vergangenheit" (April).

4 Darüber schrieb Parvus in der „Iskra" Nr. 111–112, im Artikel „Nach dem Krieg" (Sammlung der Aufsätze von Parvus „Russland und die Revolution", S. 185 ff).

5 Siehe den in Anmerkung 26 angeführten Aufsatz von Parvus. Zum ersten Mal vertrat Parvus die Versöhnungspolitik in seinem Wochenblatt „Aus der Weltpolitik", Heft 48 vom 30. November 1903. Lenin antwortete darauf in der Broschüre „Warum ich aus der Redaktion der ,Iskra' ausgetreten bin". Seinen alten Artikel wiederholte Parvus in der Broschüre „Worin gehen unsere Meinungen auseinander? Eine Antwort an Lenin auf seine Artikel im ,Proletarij'", Genf 1905, abgedruckt in der Aufsatzsammlung von Parvus „Russland und die Revolution", Petersburg 1906, S. 150–176. Auf diesen Artikel beruft sich Lenin auch 1905 in dem gegen Parvus gerichteten Aufsatz „Sollen wir die Revolution organisieren?"

6 Gemeint sind die Aufsätze Plechanows „Die Arbeiterklasse und die sozialdemokratischen Intellektuellen", in Nr. 70 und 71 der „Iskra" (siehe Bd. XIII der Sämtlichen Werke von G. Plechanow, S. 116–140, russ.). Wie alle „Iskra"-Anhänger, trat auch Plechanow auf dem Parteitag für die Leninsche These ein, dass in die Arbeiterbewegung Klassenbewusstsein hineingetragen werden müsse, d. h. die These über die Rolle der Partei. Nach dem 2. Parteitag und nach der Spaltung, als alle Menschewiki sämtliche Ideen der alten „Iskra" systematisch zu revidieren begannen, zog Plechanow auch diese Frage in den Bereich der Revision und bezeichnete die in der Leninschen Schrift „Was tun?" enthaltene Beantwortung der Frage nach den Beziehungen zwischen Spontaneität und Bewusstsein als Ökonomismus von der Kehrseite. Er schließt seinen Artikel mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, die „vierte" Periode der Parteigeschichte, d. h. gerade die Zeit der alten „Iskra", zu liquidieren.

Eine Antwort auf diesen Angriff Plechanows war der Artikel von W. Worowski „Die Früchte der Demagogie" in Nr. 11 des „Wperjod".

7 Die 1861 bei der »Bauernbefreiung" von dem in Nutzung der Bauern befindlichen Grund und Boden abgetrennten Landstücke. Die Red.

8 Aus dem Russischen übersetzt. Die Red.

* Die Analyse des Kampfes der verschiedenen Strömungen und Schattierungen auf dem 2. Parteitag (s. die Broschüre „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück", 1904) beweist unwiderleglich den direkten und unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem „Ökonomismus" von 1897 und der folgenden Jahre und dem „Menschewismus". Den Zusammenhang zwischen dem „Ökonomismus" in der Sozialdemokratie und dem „legalen Marxismus" oder „Struvismus" der Jahre 1895–1897 habe ich in der Broschüre „Was tun?'' (1902) aufgezeigt. Legaler Marxismus-Ökonomismus-Menschewismus sind nicht bloß ideell, sondern auch historisch folgerichtig miteinander direkt verknüpft.

Kommentare