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Wladimir I. Lenin 19160208 Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale

Wladimir I. Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch

der II. Internationale1

[Veröffentlicht in deutscher Sprache im Januar 1916 in der ZeitschriftVorbote Nr. 1 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 3-16]

I.

Ist die II. Internationale wirklich zusammengebrochen? Das leugnen hartnäckig ihre autoritativsten Vertreter, wie Kautsky und Vandervelde. Es ist nichts passiert, als dass die Verbindungen unterbrochen wurden; alles ist in Ordnung; das ist ihr Standpunkt.

Um die Wahrheit zu finden, wollen wir uns zum Manifest des Basler Kongresses vom Jahre 1912 wenden, das sich eben auf den gegebenen imperialistischen Weltkrieg bezieht und durch alle sozialistischen Parteien der Welt angenommen wurde. Bemerkenswert ist es, dass kein einziger Sozialist in der Theorie zu leugnen wagt, dass es notwendig ist, jeden Krieg konkret historisch zu würdigen.

Jetzt, da der Krieg ausgebrochen ist, wagen die offenen Opportunisten wie die Kautskysten nicht, weder das Manifest von Basel zu leugnen noch an ihm das Verhalten der sozialistischen Parteien im Kriege zu prüfen. Weswegen? Weil das Manifest die einen wie die andern völlig bloßstellt.

Es spricht mit keinem Sterbensworte weder von der Verteidigung des Vaterlandes noch von dem Unterschied zwischen dem Angriffs- und Verteidigungskriege; kein Wort über alles das, was jetzt die Opportunisten und Kautskysten* Deutschlands und der Tripleentente an allen Straßenecken in die Welt hinaus trompeten Das Manifest konnte darüber nicht sprechen, weil das, was es sagt, absolut die Anwendung solcher Begriffe ausschließt. Es nennt ganz konkret eine Reihe ökonomischer und politischer Konflikte, die diesen Krieg jahrzehntelang vorbereiteten, die sich im Jahre 1912 völlig und definitiv offenbart haben und die den Krieg im Jahre 1914 herbeiführten. Das Manifest nennt nämlich den österreichisch-russischen Konflikt über die „Vorherrschaft am Balkan“, den Konflikt „Englands, Frankreichs und Deutschlands“ (aller dieser Länder!) wegen ihrer „Eroberungspolitik in Vorderasien“, den österreichisch-italienischen über die „Herrschaftsgelüste“ in Albanien usw. Das Manifest charakterisiert mit einem Worte alle diese Konflikte als Konflikte2 auf dem Boden des „kapitalistischen Imperialismus“. Das Manifest erkennt also sonnenklar den eroberungslustigen, imperialistischen, reaktionären, sklavenhalterischen Charakter des gegebenen Krieges an, d. h. einen solchen Charakter, der die Zulässigkeit der Vaterlandsverteidigung zum theoretischen Unsinn und praktischer Lächerlichkeit macht. Es kämpfen miteinander große Haifische, um fremde „Vaterländer“ zu verschlingen. Das Manifest zieht die unvermeidlichen Schlüsse aus den unstreitbaren historischen Tatsachen: dieser Krieg kann nicht „gerechtfertigt werden auch nur durch den geringsten Vorwand eines Volksinteresses“; er wird vorbereitet „zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien“. Es wäre „ein Verbrechen“, wenn die Arbeiter „auf einander schießen“ würden. So das Manifest.

Die Epoche des kapitalistischen Imperialismus ist die des reifen und überreifen Kapitalismus, der vor dem Zusammenbruch steht, reif ist, dem Sozialismus Platz zu machen. Die Epoche 1789-1871 war die des fortschrittlichen Kapitalismus, als auf der Tagesordnung der Geschichte die Niederringung des Feudalismus, des Absolutismus, die Abschüttelung des fremden Joches stand. Auf diesem Boden und nur auf diesem war die „Vaterlandsverteidigung“ zulässig, d. h. eine Verteidigung gegen die Unterdrückung. Im Kriege gegen die imperialistischen Großmächte könnte dieser Begriff auch jetzt angewandt werden, aber es ist eine Absurdität, ihn auf den Krieg zwischen den imperialistischen Großmächten anzuwenden, auf einen Krieg, in dem es darum geht, wer mehr die Balkanländer, Kleinasien usw. ausplündern kann. Deswegen ist es nicht wunderlich, dass die „Sozialisten“, die die „Vaterlandsverteidigung“ in diesem gegebenen Kriege anerkennen, das Basler Manifest umgehen, wie ein Dieb die Stelle meidet, wo er gestohlen hat. Das Manifest beweist doch, dass sie Sozialchauvinisten sind, d. h. Sozialisten in Worten, Chauvinisten in Wirklichkeit, die „ihrer“ Bourgeoisie helfen, fremde Länder zu berauben, andere Nationen zu unterjochen. Das ist eben das Wesentliche in dem Begriffe des Chauvinismus, dass man „sein“ Vaterland verteidigt, selbst wenn dessen Aktion auf Unterjochung fremder Vaterländer gerichtet ist.

Aus der Anerkennung des Krieges für einen nationalen Befreiungskrieg ergibt sich eine Taktik, aus der Kennzeichnung desselben als eines imperialistischen die zweite. Das Manifest weist auf diese zweite Taktik klar hin. Der Krieg wird „eine wirtschaftliche und politische Krise herbeiführen“, die man „ausnützen“ muss: nicht zur Milderung der Krise, nicht zur Vaterlandsverteidigung, sondern umgekehrt, zur „Aufrüttelung“ der Massen, zur „Beschleunigung der Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft“. Man kann nicht das beschleunigen, wozu die historischen Bedingungen noch nicht reif sind. Das Manifest anerkannte, dass die soziale Revolution möglich, ihre Vorbedingungen reif sind, dass sie eben im Zusammenhang mit dem Kriege kommt: „die herrschenden Klassen“ haben Furcht „vor einer proletarischen Revolution im Gefolge eines Weltkrieges“, erklärt das Manifest unter Berufung auf das Beispiel der Pariser Kommune, der Revolution im Jahre 1905 in Russland, d. h. der Massenstreiks, des Bürgerkrieges. Es ist eine Lüge, wenn man wie Kautsky behauptet, dass das Verhältnis des Sozialismus zu diesem Kriege nicht geklärt war. Diese Frage wurde nicht nur debattiert, sondern auch in Basel gelöst, wo die Taktik der proletarisch-revolutionären Massenkämpfe angenommen wurde.

Es ist eine empörende Unwahrheit, wenn man das Basler Manifest ganz oder in seinen wesentlichsten Teilen umgeht und statt dessen Führerreden oder Resolutionen einzelner Parteien zitiert, die erstens vor Basel gehalten wurden, zweitens keine Entscheidungen der Parteien der ganzen Welt darstellen, drittens sich auf verschiedene mögliche Kriege, nur nicht eben auf diesen gegebenen Krieg beziehen. Der Kern der Frage besteht darin, dass die Epoche der nationalen Kriege zwischen europäischen Großmächten durch die Epoche der imperialistischen Kriege zwischen denselben ersetzt worden ist und dass das Basler Manifest diese Tatsache zuerst offiziell anerkennen musste.

Es wäre verfehlt, anzunehmen, das Basler Manifest könne nicht so bewertet werden, es sei eine Festtagsdeklamation, eine bombastische Drohung gewesen. So möchten die die Frage stellen, die von diesem Manifest bloßgestellt werden. Das ist aber unwahr. Das Manifest ist nur ein Resultat der großen propagandistischen Arbeit der ganzen Epoche der II. Internationale, nur eine Zusammenfassung dessen, was die Sozialisten in Hunderttausenden von Reden, Artikeln, Aufrufen in allen Sprachen in die Massen geworfen haben. Es wiederholt nur, was z. B. Jules Guesde im Jahre 1899 schrieb, als er den sozialistischen Ministerialismus im Falle eines Krieges geißelte: er sprach von einem durch das „kapitalistische Brigantentum“ angezettelten Kriege („En garde“, S. 1753); was Kautsky im Jahre 1908 [1909!] im „Weg zur Macht“ schrieb, als er das Ende der „friedlichen Epoche“, den Anfang der Epoche der Kriege und Revolutionen anerkannte. Das Basler Manifest als Phrase oder als Irrtum darzustellen, bedeutet, als Phrase oder Irrtum die ganze sozialistische Arbeit der letzten 25 Jahre darzustellen. Der Widerspruch zwischen dem Manifest und seiner Nichtanwendung ist eben deswegen unerträglich für die Opportunisten und Kautskysten, weil er den tiefsten Widerspruch in der Arbeit der II. Internationale aufdeckt. Der verhältnismäßig „friedliche“ Charakter der Epoche 1871-1914 nährte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schließlich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterbürokratie und der kleinbürgerlichen Mitläufer. Diese Elemente konnten die Arbeiterbewegung nur beherrschen, indem sie in Worten die revolutionären Ziele und die revolutionäre Taktik anerkannten. Sie konnten bei den Massen das Vertrauen erringen, indem sie schworen, dass die ganze „friedliche“ Arbeit nur eine Vorbereitung der proletarischen Revolution sei. Dieser Widerspruch war eine Geschwulst, die einmal bersten musste; und sie ist geborsten. Die ganze Frage besteht darin, ob man – wie Kautsky und Co. – den Eiter zurück in den Organismus hineinzupressen sucht – wegen „Einigkeit“ (mit dem Eiter) – oder ob man den Eiter recht schnell und sauber beseitigen soll trotz des momentanen akuten Schmerzes, den dies verursacht, um dem Organismus der Arbeiterbewegung zur völligen Gesundheit zu verhelfen.

Der Verrat des Sozialismus seitens derjenigen, die die Kriegskredite angenommen haben, in die Ministerien eingetreten sind, die Idee der Vaterlandsverteidigung im Jahre 1914/15 verfechten, ist offenkundig. Leugnen können diese Tatsachen nur Heuchler. Es gilt, sie zu erklären.

II.

Es wäre lächerlich, die ganze Frage als persönliche aufzufassen. Was hat die Sache mit dem Opportunismus zu tun, wenn solche Männer wie Plechanow und Guesde usw.? – fragt Kautsky („Neue Zeit, 18. Mai 19154). Was hat die Sache mit dem Opportunismus zu tun, wenn Kautsky usw.? – antwortete im Namen der Opportunisten der Tripleentente Axelrod („Die Krise der Sozialdemokratie“, Zürich, 1915, S. 21). Das ist eine Komödie. Um die Krise der ganzen Bewegung zu erklären, ist es nötig, erstens die ökonomische Bedeutung der gegebenen Politik, zweitens ihre grundlegenden Ideen, drittens ihren Zusammenhang mit der Geschichte der Richtungen im Sozialismus zu prüfen.

Worin besteht das ökonomische Wesen der „Vaterlandsverteidigung“ im Kriege des Jahres 1914/15? Die Bourgeoisie aller Großmächte führt den Krieg wegen der Aufteilung und Ausbeutung der Welt, wegen der Unterjochung der Völker. Einem kleinen Kreis der Arbeiterbürokratie, Arbeiteraristokratie und den kleinbürgerlichen Mitläufern können Brocken von den großen Profiten der Bourgeoisie zufallen. Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit „ihrer“ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse.

Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselbe: Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats,

Verzicht auf die revolutionäre Aktion, die rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, das Misstrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber. Der Sozialchauvinismus ist die direkte Weiterführung und Vollendung der englischen liberalen Arbeiterpolitik, des Millerandismus und Bernsteinismus.

Der Kampf der zwei Grundtendenzen in der Arbeiterbewegung, des revolutionären und opportunistischen Sozialismus, füllt die ganze Zeit von 1889-1914 aus. Zwei Hauptrichtungen in der Frage des Verhältnisses zum Kriege sind auch jetzt in allen Ländern vorhanden. Lassen wir die bürgerliche und opportunistische Manier, sich auf Personen zu berufen, beiseite. Nehmen wir die Richtungen, und dies in einer Reihe von Ländern. Wir nehmen zehn europäische Staaten: Deutschland, England, Russland, Italien, Holland, Schweden, Bulgarien, Schweiz, Belgien, Frankreich. In den ersten acht Ländern entspricht die Teilung in5 Opportunisten und Radikale der Teilung in6 Sozialchauvinisten und Internationalisten. Die Stützpunkte des Sozialchauvinismus sind in Deutschland die „Sozialistischen Monatshefte und Legien und Co.; in England die Fabier und die Labour Party (die ILP befand sich immer im Blocke mit ihnen, unterstützte ihr Tageblatt und war in diesem Blocke immer schwächer als die Sozialchauvinisten, während in der BSP die Internationalisten drei Siebentel ausmachen); in Russland die Richtung der Nascha Sarja (jetzt „Nasche Djelo), das Organisationskomitee, die Dumafraktion unter der Führung Tschcheïdses; in Italien die Reformisten unter der Führung Bissolatis; in Holland die Partei Troelstras; in Schweden die von Branting geführte Mehrheit der Partei; in Bulgarien die Partei der Weitherzigen; in der Schweiz Greulich und Co. Dagegen ist in allen diesen Ländern aus dem entgegengesetzten, dem radikalen Lager ein mehr oder weniger konsequenter Protest gegen den Sozialchauvinismus ertönt. Die Ausnahme bilden nur zwei Länder: Frankreich und Belgien, in denen aber der Internationalismus auch existiert, nur sehr schwach ist.

Der Sozialchauvinismus ist der vollendete Opportunismus. Er ist reif geworden zu einem offenen, oft ordinären Bündnis mit der Bourgeoisie und den Generalstäben. Es ist eben dieses Bündnis, das ihm eine große Macht und das Monopol des legal gedruckten Wortes, der Irreführung der Massen gibt. Es ist lächerlich, jetzt noch den Opportunismus für7 eine Erscheinung im Innern unserer Partei zu halten. Es ist lächerlich, die Basler Resolution zusammen mit David-Legien, Hyndman, Plechanow, Webb durchführen zu wollen. Die Einheit mit den Sozialchauvinisten ist die Einheit mit der „eigenen“ nationalen Bourgeoisie, die andere Nationen ausbeutet, ist die Spaltung des internationalen Proletariats. Das bedeutet nicht, dass der Bruch8 mit den Opportunisten überall sofort möglich sei, es bedeutet nur, dass er historisch reif, für den revolutionären Kampf des Proletariats notwendig und unumgänglich ist, dass die Geschichte, die vom „friedlichen“ zum imperialistischen Kapitalismus geführt hat, diese Spaltung vorbereitet. Volentem ducunt fata, nolentem trahunt9.

III.

Die klugen Vertreter der Bourgeoisie haben dies ausgezeichnet verstanden. Deswegen loben sie so die jetzigen sozialistischen Parteien, an deren Spitze die „Verteidiger des Vaterlandes“, d. h. des imperialistischen Raubes, stehen. Deswegen belohnen die Regierungen die sozialchauvinistischen Führer, sei es durch ministerielle Posten (in Frankreich und England), sei es durch das Monopol der legalen ungestörten Existenz (in Deutschland und Russland). Deswegen gedieh die Sache in Deutschland, wo die sozialdemokratische Partei am stärksten, ihre Verwandlung in eine nationalliberale, eine konterrevolutionäre Arbeiterpartei am anschaulichsten war, – so weit, dass die Staatsanwaltschaft den Kampf zwischen „Minderheit“ und „Mehrheit“ als „Aufreizung zum Klassenhasse“ behandelt! Deswegen sind die klugen Opportunisten am meisten um die Erhaltung der alten „Einigkeit“ der alten Parteien bekümmert, die so große Dienste der Bourgeoisie 1914/15 geleistet haben. Die Auffassung dieser Opportunisten in allen Ländern der Welt drückt mit dankenswerter Offenheit ein Mitglied der deutschen Sozialdemokratie in einem im April 1915, in der reaktionären Revue Preußische Jahrbücher“, unter dem Decknamen Monitor veröffentlichten Artikel aus. Monitor ist der Meinung, dass es für die Bourgeoisie sehr gefährlich wäre, wenn die Sozialdemokratie sich noch nach rechts entwickeln würde:

Ihr (der Sozialdemokratie) Charakter als Arbeiterpartei mit sozialistischen Idealen muss von ihr behütet werden, denn an dem Tage, an dem sie diesen aufgeben würde, entstünde eine neue Partei, die das verleugnete Programm in radikalerer Fassung zu dem ihrigen machen würde.“ (Preußische Jahrbücher, 1915, Nr. 4, S. 5110.)

Monitor hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Die englischen Liberalen und französischen Radikalen haben dies eben immer gewollt: revolutionär klingende Phrasen, um die Massen irrezuführen, damit diese den Lloyd Georges, Sembats, Renaudels, Legiens und Kautskys Vertrauen schenken, den Männern, die fähig sind, die „Vaterlandsverteidigung“ im Raubkriege zu predigen.

Aber Monitor stellt nur eine Abart des Opportunismus dar: die offene, grobe, zynische. Die andere ist versteckt, fein, „ehrlich“. (Engels sagte einmal: Die „ehrlichen“ Opportunisten sind die der Arbeiterklasse gefährlichsten …) Hier ein Beispiel.

Kautsky schreibt in der Neuen Zeit (26. November 1915):

Die Opposition gegen die Mehrheit ist im Wachsen; die Massen sind oppositionell … Nach dem Kriege (nur nach dem Kriege? N. L.) werden die Klassengegensätze sich so verschärfen, dass der Radikalismus in den Massen die Oberhand gewinnt … “ Es „droht uns nach dem Kriege (nur nach dem Kriege? N. L.) die Flucht der radikalen Elemente aus der Partei und ihr Zustrom zu einer Richtung antiparlamentarischer“ (?? soll heißen außerparlamentarischer) „Massenaktionen … So zerfällt unsere Partei in zwei Extreme, die nichts Gemeinsames haben“.11

Zur Rettung der Einheit sucht Kautsky die Reichstagsmehrheit zu überreden, der Minderheit die Erlaubnis für ein paar radikale Parlamentsreden zu erteilen. Das bedeutet, dass Kautsky vermittelst ein paar radikaler Parlamentsreden die revolutionären Massen mit den Opportunisten aussöhnen will, die „nichts Gemeinsames“ mit der Revolution haben, die seit langem die Leitung der Gewerkschaften in den Händen halten und jetzt, auf das direkte Bündnis mit der Bourgeoisie und mit der Regierung gestützt, die Leitung der Partei beherrschen. Wodurch unterscheidet sich das in der Sache selbst von dem „Programm“ Monitors? Durch nichts als süßliche Phrasen, die den Marxismus prostituieren.

In der Sitzung der Reichstagsfraktion vom 8. März 1915 „warnte“ der Kautskyaner Wurm

die Fraktion, den Bogen zu überspannen; in den Arbeitermassen wachse die Opposition gegen die Fraktionsmehrheit; es gelte, beim marxistischen“ (?! wohl ein Druckfehler: soll heißen „monitorischen“) „Zentrum zu verharren“. („Klassenkampf gegen den Krieg. Material zum Fall Liebknecht.“ Als Manuskript gedruckt. S. 6712).

Wir sehen also, dass noch im März 1915 im Namen aller Kautskyaner (das sogenannte „Zentrum“) die Tatsache anerkannt wurde, dass die Massen revolutionär sind!! Und achteinhalb Monate später schlägt Kautsky noch einmal vor, diese Massen, die kämpfen wollen, mit der opportunistischen, konterrevolutionären Partei „auszusöhnen“, und zwar mit Hilfe einiger revolutionär klingender Phrasen!!

Der Krieg ist oft dadurch nützlich, dass er das Faule aufweist, das Konventionelle wegfegt. Vergleichen wir die englischen Fabier mit den deutschen Kautskysten. Über die ersten schrieb ein wirklicher „Marxist“, Friedrich Engels, am 18. Januar 1893:

„… eine Bande von Strebern, die Verstand genug haben, die Unvermeidlichkeit der sozialen Umwälzung einzusehen, die aber dem rohen Proletariat unmöglich diese Riesenarbeit allein anvertrauen und deshalb die Gewogenheit haben, sich an 'die Spitze zu stellen. Angst vor der Revolution ist ihr Grundprinzip“ (Briefwechsel mit Sorge, S. 390).

Und am 11. November 1893:

„… diese hochnäsigen Bourgeois, die sich in Gnaden herbei lassen wollen, das Proletariat von oben herab zu befreien, wenn es nur so einsichtig sein will, dass so eine rohe, ungebildete Masse sich nicht selbst befreien kann und zu nichts kommt außer durch die Gnade dieser gescheiten Advokaten, Literaten und sentimentalen Weibsleute“. (Ebenda, S. 40113.)

In der Theorie blickt Kautsky mit einer Verachtung auf die Fabier wie der Pharisäer auf den armen Sünder. Denn er schwört doch auf den „Marxismus“. Aber welcher Unterschied besteht zwischen ihnen praktisch? Beide haben das Basler Manifest unterzeichnet und beide haben es so behandelt, wie Wilhelm II. die belgische Neutralität. Marx hat aber sein ganzes Leben lang die Leute gegeißelt, die die revolutionäre Flamme der Arbeiter auszulöschen suchten.

Kautsky hat gegen die revolutionären Marxisten eine neue Theorie des „Ultraimperialismus“ aufgestellt. Er versteht darunter die Verdrängung des „Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander“ durch „die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital“. („Neue Zeit“, 30. April 1915.14) Er fügt aber bei:

Ob eine solche neue Phase des Kapitalismus realisierbar ist, das zu entscheiden, fehlen noch die genügenden Voraussetzungen.“

Also auf Grund von Vermutungen über eine „neue Phase“ leugnet der Erfinder dieser „Phase“ – obwohl er selbst nicht wagt, sie direkt für „realisierbar“ zu erklären, – die gestern von ihm selbst gemachten revolutionären Erklärungen, leugnet er die revolutionären Aufgaben und die revolutionäre Taktik des Proletariats jetzt, in der „Phase“ der schon begonnenen Krise, des Krieges, einer unerhörten Verschärfung der Klassengegensätze! Ist dies nicht der schäbigste Fabianismus?

Der Führer der russischen Kautskysten, Axelrod, sieht den „Schwerpunkt des Internationalisierungsproblems der proletarischen Befreiungsbewegung“ in der „Internationalisierung der Alltagspraxis“: z. B. muss „die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung zum Objekt der internationalen Aktion und Organisation der Arbeiter werden“. (Axelrod, „Die Krise der Sozialdemokratie“, Zürich 1915, S. 39 und 40.) Es ist klar, dass nicht nur Legien, David, die Webbs, sondern selbst Lloyd George, Naumann, Briand und Miljukow diesem „Internationalismus“ vollkommen beipflichten werden. Für die ferne, ferne Zukunft ist Axelrod, wie im Jahre 1912, bereit, auch die revolutionärsten Phrasen zu dreschen: Die zukünftige Internationale „wird entgegentreten (den Regierungen im Falle der Kriegsgefahr) mit der Entfachung eines revolutionären Sturmes“. Schaut mal her, wie tapfer wir sind! Handelt es sich aber darum, jetzt die beginnende revolutionäre Gärung in den Massen zu unterstützen und zu fördern, so antwortet Axelrod, diese Taktik der revolutionären Massenaktionen

hätte noch eine gewisse Berechtigung, wenn wir unmittelbar am Vorabend der sozialen Revolution ständen, ähnlich wie es etwa in Russland seit den Studentendemonstrationen des Jahres 1901 der Fall war, die das Herannahen entscheidender Kämpfe gegen den Absolutismus ankündigten“.

Jetzt aber sind das „Utopien“, „Bakunismus“ usw., ganz im Sinne Kolbs, Davids, Südekums und Legiens.

Der gute Axelrod vergisst nur, dass im Jahre 1901 niemand in Russland wusste und wissen konnte, dass der erste „entscheidende Kampf“ in vier Jahren – sage und schreibe: vier Jahren – eintreten und „unentschieden“ bleiben wird. Und trotzdem waren damals nur wir revolutionären Marxisten im Recht: wir haben die Kritschewski und Martynow ausgelacht, die unmittelbar zum Sturme riefen. Wir rieten nur den Arbeitern, die Opportunisten überall zum Teufel zu jagen und mit allen Kräften die Demonstrationen und alle andern revolutionären Massenaktionen zu unterstützen, zu verschärfen und auszubreiten. Ganz analog ist die jetzige Lage Europas. Es wäre unsinnig, „unmittelbar“ Sturm zu blasen. Es wäre aber schändlich, den Namen Sozialdemokrat zu tragen und den Arbeitern nicht zu raten, mit den Opportunisten zu brechen und mit allen Mitteln die beginnende revolutionäre Gärung und die Demonstrationen zu unterstützen, vertiefen, ausbreiten und verschärfen. Die Revolution fällt niemals ganz fertig vom Himmel, und man weiß niemals beim Beginn der revolutionären Gärung, ob und wann aus ihr die „wahre“, „echte“ Revolution entstehen wird. Kautsky und Axelrod geben den Arbeitern alte, abgebrauchte, konterrevolutionäre Ratschläge. Kautsky und Axelrod speisen die Massen mit der Hoffnung ab, die zukünftige Internationale werde schon sicher revolutionär sein – nur um jetzt die Herrschaft der konterrevolutionären Elemente, der Legiens, Davids, Vanderveldes, Hyndmans zu verteidigen, zu verschönern, zu verdecken. Ist es nicht klar, dass die „Einigkeit“ mit Legien und Co. das sicherste Mittel ist, die „zukünftige“ revolutionäre Internationale vorzubereiten?

Den Weltkrieg in einen Bürgerkrieg umwandeln zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen“, erklärt der Führer der deutschen Opportunisten, David („Die Sozialdemokratie und der Weltkrieg“, 1915, S. 172), indem er auf das Manifest des Zentralkomitees unserer Partei, vom 1. November 1914, antwortet. In diesem Manifest hieß es unter anderem:

Wie groß die Schwierigkeiten dieser Umwandlung zur gegebenen Zeit auch sein mögen, – die Sozialisten werden niemals ablehnen, die Vorarbeiten in der bezeichneten Richtung systematisch, unbeugsam und energisch auszuführen, falls der Krieg zur Tatsache geworden ist“. (Zitiert auch bei David, S. 171.)

Einen Monat vor dem Erscheinen des Buches Davids veröffentlichte unsere Partei Resolutionen, in denen diese „systematische Vorbereitung“ folgendermaßen erklärte wurde: 1. die Ablehnung der Kredite; 2. Bruch des Burgfriedens; 3. Bildung illegaler Organisationen; 4. die Unterstützung der Solidaritätskundgebungen in den Schützengräben; 5. die Unterstützung aller revolutionären Massenkundgebungen.

David ist fast ebenso tapfer wie Axelrod: Im Jahre 1912 hielt er die Berufung auf die Pariser Kommune im Falle des Krieges nicht für „Wahnsinn“ …

Plechanow, der typische Vertreter der Quadrupelententesozialchauvinisten, beurteilt in derselben Weise wie David die revolutionäre Taktik. Er nannte sie ein „Mittelding zwischen Traum und Farce“. Aber hören wir Kolb, den offenen Opportunisten, der schrieb:

Die Folge der Taktik derer um Liebknecht wäre ein bis zur Siedehitze gesteigerter innerer Kampf unter der deutschen Nation“. („Die Sozialdemokratie am Scheidewege“. S. 50.)

Was ist aber ein bis zur Siedehitze gesteigerter Kampf, wenn nicht der Bürgerkrieg?

Wäre die Taktik unseres Zentralkomitees, die in den Hauptsachen der Taktik der Zimmerwalder Linken gleicht, ein „Wahnsinn“, „Traum“, „Abenteuer“, „Bakunismus“ – wie es David, Plechanow, Axelrod, Kautsky usw. behaupten –, sie könnte niemals zum „inneren Kampfe unter einer Nation“ führen, geschweige denn zu einem gesteigerten. Nirgends in der Welt hat die anarchistische Phrase zu einem inneren Kampfe in der Nation geführt. Die Tatsachen sagen aber, dass eben im Jahre 1915, eben auf der Basis der durch den Krieg herbeigeführten Krise die revolutionäre Gärung in den Massen wächst, wachsen die Streiks und politischen Demonstrationen in Russland, die Streiks in Italien und England, die Hunger- und politischen Demonstrationen in Deutschland. Was ist das anders als der Beginn revolutionärer Massenkämpfe ?

Die Unterstützung, Entwicklung, Ausbreitung, Verschärfung der revolutionären Massenaktionen, die Bildung der illegalen Organisationen, ohne welche selbst in den „freien“ Ländern man den Volksmassen die Wahrheit nicht sagen darf: das ist das ganze praktische Programm der Sozialdemokratie in diesem Kriege. Alles andere ist Läge oder Phrase, wie es auch mit opportunistischen oder pazifistischen Theorien ausgeschmückt werden mag.**

Wenn man uns sagt, dass diese „russische Taktik“ (ein Ausdruck Davids) auf Europa nicht passt, dann antworten wir mit einem gewöhnlichen Hinweis auf Tatsachen. In Berlin fand sich am 30. November eine Deputation der Berliner Genossinnen beim Parteivorstand ein und erklärte,

die Verbreitung unzensurierter Druckschriften und Flugblätter und die Abhaltung ,nicht genehmigter' Versammlungen wäre bei dem großen Organisationsapparate heute leichter möglich als zur Zeit des Sozialistengesetzes … Es fehlt nicht an Mitteln und Wegen, sondern offensichtlich an dem Willen.“ (Berner Tagwacht, 1915, Nr. 27115.)

Wurden diese schlechten Genossinnen durch russische „Sektierer“ usw. irregeführt? Oder stellen nicht diese Genossinnen die wirklichen Massen dar, sondern Legien und Kautsky? – Legien, der in seinem Referat am 27. Januar 1915 die „anarchistische“ Idee der Bildung geheimer Organisationen verdonnerte16;

Kautsky, der so konterrevolutionär wurde, dass er am 26. November, vier Tage vor der Demonstration von 10.000 Menschen in Berlin, die Straßendemonstrationen als „Abenteuer“ denunzierte!!

Genug der Phrasen, genug des prostituierten „Marxismus“ à la Kautsky! Nach 25 Jahren der II. Internationale, nach dem Basler Manifest werden die Arbeiter den Phrasen keinen Glauben mehr schenken. Der Opportunismus ist überreif geworden, er ging definitiv als Sozialchauvinismus in das Lager der Bourgeoisie über: Geistig und politisch hat er mit der Sozialdemokratie gebrochen. Er wird mit ihr auch organisatorisch brechen. Die Arbeiter fordern schon „unzensurierte“ Druckschriften und „nichtgenehmigte“ Versammlungen, d. h. geheime Organisationen zur Unterstützung der revolutionären Bewegung der Massen. Nur ein solcher „Krieg dem Krieg“ ist sozialdemokratische Arbeit, keine Phrase. Und diese Arbeit wird die Menschheit, wie groß auch die Schwierigkeiten, zeitweiligen Niederlagen, Irrtümer, Abirrungen, Unterbrechungen sein mögen, zur siegreichen proletarischen Revolution führen.

1 Der Artikel „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale ist in deutscher Sprache für die Zeitschrift „Vorbote“ verfasst worden und ähnelt seinem Inhalt nach dem gleichnamigen russischen Artikel. Wörtlich stimmen jedoch nur wenige Stellen überein.

* Es handelt sich nicht um den persönlichen Anhang Kautskys in Deutschland, sondern um den internationalen Typus von angeblichen Marxisten, die zwischen Opportunismus und Radikalismus schwanken und in Wirklichkeit als Feigenblatt für den Opportunismus dienen.

2 Im „Vorboten“: „als die Konflikte“. Die Red.

3 Lenin meint den Artikel „Participation ministérielle“ („Teilnahme an der Regierung“) von Jules Guesde aus dem Jahre 1899, abgedruckt in Jules Guesdes Buch: „En garde! contre les contre-façons, les mirages et la fausse monnaie des réformes bourgeoises. Polémique“. Paris 1911 („Aufgepasst! gegen die Fälschungen, Vorspiegelungen und die Falschmünzerei der bürgerlichen Reformen. Polemik“).

4 An dieser Stelle ist der Artikel Kautskys „Nochmals unsere Illusionen“ gemeint („Die Neue Zeit“, Nr. 9 vom 28. Mai 1915, S. 264-275).

5 Im „Vorboten“: „auf“. Die Red.

6 Im „Vorboten“: „auf“. Die Red.

7 Im „Vorboten“: „als“. Die Red.

8 Im „Vorboten“: „die Spaltung“. Die Red.

9 Den Wollenden führen die Geschicke, den Nichtwollenden ziehen sie mit sich. Die Red.

10 Der Artikel Monitors „Die Sozialdemokratie und der Weltkrieg“ ist in den „Preußischen Jahrbüchern“ Nr. 1, April 1915, S. 30-53, abgedruckt.

11 Der zitierte Satz findet sich auf S. 272.

12 Lenin meint hier die Rede Wurms in der Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vom 18. März 1915, in der die Frage der Kriegskredite behandelt wurde. Wurm sprach im Namen der Opposition (Gruppe Ledebour). Die angeführten Worte Wurms findet man in dem Buche von Karl Liebknecht „Klassenkampf gegen den Krieg“ (Berlin, Hoffmann 1919, S. 65), das eine Neuausgabe jener „Materialien zum Fall Liebknecht“ (1916) darstellt, auf die sich Lenin bezieht.

13 Im „Vorboten“ ist in dem Zitat ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen. Die betreffende Stelle lautet: „(Es ist ein vollständiges pater peccavi) dieser hochnäsigen Bourgeois, die sich in Gnaden herbei lassen wollen, das Proletariat von oben herab zu befreien, wenn es nur so einsichtig sein will zu begreifen, dass so eine rohe ungebildete Masse“ usw.

14 Der Satz über Ultraimperialismus befindet sich in Nr. 5 vom 30. April 1915 auf S. 144 u. 145.

** Auf der Berner internationalen Frauenkonferenz im März 1915 wiesen die Vertreterinnen des Zentralkomitees unserer Partei auf die unbedingte Notwendigkeit, illegale Organisationen zu schaffen. Man lehnte dies ab. Die Engländerinnen spotteten über diesen Vorschlag, indem sie die englische „Freiheit“ priesen. Nach einigen Monaten bekam man aber englische Zeitungen, wie „Labour Leader, mit weißen Flecken und dann Nachrichten über polizeiliche Haussuchungen, Konfiskationen der Broschüren, Verhaftungen und drakonische Urteile gegen die vom Frieden – nur vom Frieden – sprechenden Genossen in England!

15 Gemeint ist eine in der „Berner Tagwacht“, Nr. 271 vom 19. November 1915, veröffentlichte, „Eine Massendemonstration vor dem Parteivorstandsdomizil“ betitelte Berliner Korrespondenz. Die Demonstration fand nicht am 30. November, wie Lenin meint, sondern am 30. Oktober statt. Am 30. November fand eine andere Demonstration statt, auf die übrigens Lenin im selben Artikel hinweist.

16 Gemeint ist ein Referat K. Legiens vor den Berliner Gewerkschaftsfunktionären über das Thema „Warum sollen die Gewerkschaftsführer mehr am Parteileben teilnehmen?“

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