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Wladimir I. Lenin 19170101 Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus

Wladimir I. Lenin: Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus1

[Geschrieben am 1. Januar 1917 Erstmalig veröffentlicht 1924 in „Leninski Sbornik" II. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 459-480]

Artikel (oder Kapitel) I

Eine Wendung in der Weltpolitik

Es sind Anzeichen dafür vorhanden, dass eine derartige Wendung sich vollzogen hat bzw. sich vollzieht. Nämlich – die Wendung vom imperialistischen Krieg zum imperialistischen Frieden.

Die zweifellos starke Erschöpfung beider imperialistischen Koalitionen, die Schwierigkeit, den Krieg weiterzuführen, die Schwierigkeit für die Kapitalisten im Allgemeinen und für das Finanzkapital im Besonderen, den Völkern noch weiter das Fell über die Ohren zu ziehen, als sie es schon in der Form der skandalösen „Kriegsgewinne“ getan haben; die Übersättigung des Finanzkapitals der neutralen Länder, der Vereinigten Staaten, Hollands, der Schweiz, das sich am Krieg ungeheuer bereichert hat und dem es infolge des Mangels an Rohstoffen und Lebensmitteln nicht leicht ist, diese „einträgliche“ Wirtschaft fortzuführen; die verstärkten Versuche Deutschlands, von seinem imperialistischen Hauptrivalen England diesen oder jenen Verbündeten loszutrennen; die pazifistischen Kundgebungen der deutschen Regierung und darauf auch einer Reihe von Regierungen neutraler Länder – das sind die wichtigsten dieser Anzeichen.

Gibt es nun Aussichten auf eine rasche Beendigung des Krieges oder nicht?

Es fällt sehr schwer, diese Frage bejahend zu beantworten. Zwei Möglichkeiten zeichnen sich unserer Meinung nach ziemlich deutlich ab:

Die erste Möglichkeit: ein Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland ist abgeschlossen, wenn auch vielleicht nicht in der üblichen Form eines schriftlichen, förmlichen Vertrages. Die zweite: ein derartiger Frieden ist nicht geschlossen, England und seine Verbündeten sind wirklich imstande, noch ein, zwei Jahre durchzuhalten usw. Im ersten Falle geht der Krieg wenn nicht jetzt, so in nächster Zukunft unweigerlich zu Ende, und ernste Veränderungen sind in seinem Verlauf nicht mehr zu erwarten. Im zweiten Falle ist es möglich, dass er noch eine unbestimmt lange Zeit fortdauert.

Verweilen wir beim ersten Fall.

Dass zwischen Deutschland und Russland vor gar nicht langer Zeit Verhandlungen über einen Separatfrieden geführt worden sind, dass Nikolaus II. selbst oder die höchst einflussreiche Hofkamarilla für einen solchen Frieden ist, dass in der Weltpolitik eine Wendung vom imperialistischen Bündnis Russlands mit England gegen Deutschland zu einem nicht weniger imperialistischen Bündnis Russlands mit Deutschland gegen England sich angezeigt hat – das alles kann keinem Zweifel unterliegen.

Die Ersetzung Stürmers durch Trepow, die öffentliche Erklärung des Zarismus, dass das „Recht“ Russlands auf Konstantinopel von allen Verbündeten anerkannt worden sei, die Bildung eines polnischen Sonderstaates durch Deutschland – diese Anzeichen weisen scheinbar darauf hin, dass die Verhandlungen über den Separatfrieden mit einem Misserfolg geendet haben. Vielleicht hat der Zarismus diese Verhandlungen nur geführt, um an England eine Erpressung zu verüben, um von ihm die formelle, unzweideutige Anerkennung der „Rechte“ Nikolaus’ des Blutigen auf Konstantinopel und diese oder jene „solide“ Garantie für dieses Recht zu erhalten?

Da der Haupt- und Wesensinhalt des jetzigen imperialistischen Krieges die Teilung der Beute zwischen den drei imperialistischen Hauptrivalen, den drei Räubern Russland, Deutschland und England ist, ist an einer derartigen Annahme nichts Unwahrscheinliches.

Je mehr auf der anderen Seite für den Zarismus die faktische, militärische Unmöglichkeit klar wird, Polen zurückzugewinnen, Konstantinopel zu erobern, die eiserne deutsche Front zu durchbrechen, die Deutschland durch seine letzten Siege in Rumänien glänzend ausrichtet, verkürzt und verstärkt, um so mehr wird der Zarismus zum Abschluss eines Separatfriedens mit Deutschland gezwungen, das heißt zum Übergang vom imperialistischen Bündnis mit England gegen Deutschland zum imperialistischen Bündnis mit Deutschland gegen England. Warum auch nicht? Wäre es doch schon um ein Haar zu einem imperialistischen Krieg zwischen Russland und England infolge des imperialistischen Wettkampfes der beiden Mächte um die Teilung der Beute in Mittelasien gekommen! Wurden doch im Jahre 1898 Verhandlungen zwischen England und Deutschland über ein Bündnis gegen Russland geführt, wobei England und Deutschland damals insgeheim übereinkamen, die Kolonien Portugals unter sich zu teilen „für den Fall*, dass dieses seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen sollte.

Das verstärkte Streben der führenden imperialistischen Kreise Deutschlands nach einem Bündnis mit Russland gegen England äußerte sich bereits vor mehreren Monaten. Die Grundlage des Bündnisses wird offensichtlich die Teilung Galiziens (dem Zarismus ist es sehr wichtig, den Herd der ukrainischen Freiheit zu ersticken), Armeniens und vielleicht Rumäniens bilden! Entschlüpfte doch einer deutschen Zeitung eine „Anspielung“ darauf, dass man Rumänien zwischen Österreich, Bulgarien und Russland aufteilen könnte! Deutschland könnte auch noch auf gewisse andere „kleine Zugeständnisse“ an den Zarismus eingehen, um nur das Bündnis mit Russland und vielleicht auch noch mit Japan gegen England zustande zu bringen.

Ein Separatfrieden könnte auch zwischen Nikolaus II. und Wilhelm II. geheim abgeschlossen sein. Die Geschichte der Diplomatie kennt Beispiele von Geheimverträgen, von denen bis auf zwei bis drei Menschen niemand wusste, nicht einmal die Minister. Die Geschichte der Diplomatie kennt Beispiele, wo die „Großmächte“ zu einem „europäischen“ Kongress zusammentraten, nachdem sie vorher insgeheim die Hauptsache zwischen den Hauptrivalen vereinbart hatten (z. B. das Geheimabkommen Russlands mit England über die Beraubung der Türkei vor dem Berliner Kongress 1878). Es wäre durchaus nichts Verwunderliches daran, wenn der Zarismus einen förmlichen Separatfrieden zwischen den Regierungen ablehnte, u. a. mit Rücksicht darauf, dass dies bei dem gegenwärtigen Zustand Russlands zu einer Regierung Miljukow-Gutschkow oder Miljukow-Kerenski führen könnte, und gleichzeitig einen geheimen, nicht formellen, darum aber nicht weniger „dauerhaften“ Vertrag mit Deutschland einginge, nach dem die „hohen Vertragschließenden“ auf dem künftigen Friedenskongress gemeinsam die und die Linie verfolgen!

Ob diese Annahme begründet ist oder nicht, lässt sich nicht sagen. Jedenfalls enthält sie tausendmal mehr Wahrheit, ist sie tausendmal charakteristischer dafür, was ist, als die endlosen schön klingenden Phrasen vom Frieden zwischen den jetzigen und überhaupt zwischen bürgerlichen Regierungen auf der Grundlage des Verzichtes auf Annexionen usw. Diese Phrasen sind entweder fromme Wünsche oder Heuchelei und Lüge, die der Verschleierung der Wahrheit dienen. Die Wahrheit von heute, die Wahrheit des gegenwärtigen Krieges, des gegenwärtigen Standes der Versuche, einen Frieden zu schließen, ist die Teilung der imperialistischen Beute. Das ist der Kern, und diese Wahrheit zu erkennen, sie auszusprechen, „auszusprechen, was ist“ – das ist die vornehmste Aufgabe der sozialistischen Politik zum Unterschied von der bürgerlichen, für die es darauf ankommt, diese Wahrheit zu verbergen und zu vertuschen.

Beide imperialistischen Koalitionen haben eine bestimmte Beute gemacht, wobei eben die beiden wichtigsten und stärksten Räuber, Deutschland und England, das Meiste geraubt haben. England hat keinen Fußbreit seines Bodens und seiner Kolonien verloren, wohl aber die deutschen Kolonien und einen Teil der Türkei (Mesopotamien) „erworben“. Deutschland hat fast alle seine Kolonien verloren, hat aber durch die Besetzung Belgiens, Serbiens, Rumäniens, eines Teils von Frankreich, eines Teils von Russland usw. ungleich wertvollere Gebiete in Europa erworben. Es handelt sich darum, wie diese Beute verteilt werden soll, wobei der „Anführer“ jeder der Räuberbanden, d. h. England sowohl wie Deutschland, in diesem oder jenem Maße seine Bundesgenossen belohnen muss, die, mit Ausnahme Bulgariens und, in geringerem Maße, Italiens, besonders viel verloren haben. Die schwächsten Bundesgenossen haben am meisten verloren: in der englischen Koalition sind Belgien, Serbien, Montenegro, Rumänien vernichtet, in der deutschen hat die Türkei Armenien und einen Teil Mesopotamiens verloren.

Bis jetzt ist ohne Zweifel die Beute Deutschlands wesentlich größer als die Englands. Bis jetzt hat Deutschland gesiegt, es hat sich viel stärker erwiesen als irgend jemand vor dem Kriege angenommen hätte. Es ist daher verständlich, dass es für Deutschland vorteilhaft wäre, möglichst rasch Frieden zu schließen, da sein Rivale in dem für ihn günstigsten (wenn auch nicht sehr wahrscheinlichen) Falle eine größere Reserve an Rekruten usw. noch einsetzen könnte.

Das ist die objektive Lage. Das ist der gegenwärtige Stand des Kampfes um die Teilung der imperialistischen Beute. Es ist durchaus natürlich, dass dieser Moment pazifistische Bestrebungen, Erklärungen und Kundgebungen vornehmlich bei der Bourgeoisie und den Regierungen der deutschen Koalition, ferner auch bei denen der neutralen Länder hervorgerufen hat. Ebenso natürlich ist es, dass die Bourgeoisie und ihre Regierungen gezwungen sind, aus allen Kräften danach zu streben, die Völker zu betören und die widerliche Blöße eines imperialistischen Friedens – die Teilung des Geraubten – mit Phrasen zu umhüllen, mit den durch und durch verlogenen Phrasen vom demokratischen Frieden, von der Freiheit der kleinen Nationen, der Einschränkung der Rüstungen usw.

Wenn es aber bei der Bourgeoisie natürlich ist, dass sie die Völker zu betören trachtet, wie erfüllen dann die Sozialisten ihre Aufgabe? Darüber im folgenden Artikel (oder Kapitel).

Artikel (oder Kapitel) II

Der Pazifismus Kautskys und Turatis

Kautsky ist der autoritativste Theoretiker der II. Internationale, der prominenteste Führer des sogenannten „marxistischen Zentrums“ in Deutschland, der Vertreter der Opposition, die im Reichstag eine besondere Fraktion gebildet hat, die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (Haase, Ledebour u. a.). In einer Reihe sozialdemokratischer Zeitungen Deutschlands erscheinen jetzt Artikel Kautskys über die Friedensbedingungen. Darin wird die offizielle Erklärung der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ paraphrasiert, die diese anlässlich der bekannten Note der deutschen Regierung, in der Friedensverhandlungen angeboten werden, abgab. Die Erklärung verlangt von der Regierung die Vorlegung bestimmter Friedensbedingungen und enthält unter anderem folgenden charakteristischen Satz:

Soll diese Note (der deutschen Regierung) zum Frieden führen, dann ist es notwendig, dass in allen Ländern der Gedanke an Annexionen fremder Gebiete, an politische, wirtschaftliche oder militärische Unterwerfung irgendeines Volkes unter eine andre Staatsgewalt unzweideutig abgewiesen wird.“

Diesen Satz paraphrasierend und konkretisierend, führt Kautsky in seinen Artikeln umständlich den „Beweis“, dass Konstantinopel nicht Russland zufallen und dass die Türkei nicht eines anderen Vasallenstaat werden dürfe.

Betrachten wir näher diese politischen Losungen und Argumente Kautskys und seiner Gesinnungsgenossen.

Sobald es sich um Russland handelt, d. h. um einen imperialistischen Rivalen Deutschlands, stellt Kautsky nicht eine abstrakte, „allgemeine“, sondern die sehr konkrete, präzise, bestimmte Forderung auf: Konstantinopel darf nicht Russland zufallen. Er enthüllt damit die wirklichen imperialistischen Absichten … Russlands. Sobald es sich um Deutschland handelt, d. h. gerade um das Land, dessen Bourgeoisie und Regierung in dem imperialistischen Krieg Helfersdienste geleistet werden von einer Partei, die Kautsky als ihr Mitglied betrachtet (und die ihn zum Redakteur ihres wichtigsten, führenden theoretischen Organs, der Neuen Zeit, gemacht hat), enthüllt Kautsky nicht die konkreten imperialistischen Absichten der eigenen Regierung, sondern beschränkt sich auf den „allgemeinen“ Wunsch bzw. die „allgemeine“ These: die Türkei darf nicht der Vasallenstaat eines anderen sein!!

Worin unterscheidet sich, ihrem tatsächlichen Inhalt nach, die Politik Kautskys von der der sozusagen streitbaren Sozialchauvinisten (d. h. Sozialisten des Wortes, Chauvinisten der Tat) in Frankreich und England, die ohne weiteres die konkreten imperialistischen Schritte Deutschlands enthüllen, sich aber mit „allgemeinen“ Wünschen bzw. Thesen in Bezug auf Länder und Völker begnügen, deren Unterwerfung durch England und Russland im Gange ist, die über die Eroberung Belgiens, Serbiens schreien und über die Eroberung Galiziens, Armeniens, der afrikanischen Kolonien schweigen?

In Wirklichkeit hilft die Politik Kautskys und die der Sembat-Henderson in gleicher Weise ihrer eigenen imperialistischen Regierung, da sie die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Hinterlist des Rivalen und Feindes lenkt und über die ebenso imperialistischen Schritte „ihrer“ Bourgeoisie den Schleier nebelhafter Gemeinplätze und frommer Wünsche breitet. Wir würden aufhören, Marxisten, ja überhaupt Sozialisten zu sein, wenn wir uns auf eine sozusagen christliche Betrachtung der Güte wohlgefälliger Gemeinplätze beschränken wollten, ohne ihre wirkliche politische Bedeutung zu enthüllen. Sehen wir denn nicht ständig, dass die Diplomatie aller imperialistischen Mächte sich in wundervollen „allgemeinen“ Phrasen und „demokratischen“ Erklärungen ergeht, um mit ihnen die Ausplünderung, Vergewaltigung und Unterdrückung der kleinen Völker zu verschleiern?

Die Türkei soll nicht der Vasallenstaat eines anderen sein.“ Wenn ich nur das sage, entsteht der Anschein, als ob ich Anhänger der vollen Freiheit der Türkei sei. In Wirklichkeit aber wiederhole ich nur eine Phrase, die auch die deutschen Diplomaten zu gebrauchen pflegen, Diplomaten, die bewusst lügen und heucheln und mit dieser Phrase die Tatsache verschleiern, dass Deutschland im Augenblick die Türkei zu seinem sowohl finanziellen als auch militärischen Vasallen gemacht hat! Und wenn ich ein deutscher Sozialist bin, sind der deutschen Diplomatie meine „allgemeinen“ Phrasen nur vorteilhaft, weil ihr wirklicher Sinn die Beschönigung des deutschen Imperialismus ist.

In allen Ländern soll der Gedanke an Annexionen … an die wirtschaftliche Unterwerfung welcher Nation immer verworfen werden!“ Welche Seelenschönheit! Tausende von Malen „verwerfen“ Imperialisten den „Gedanken“ an Annexionen und finanzielle Unterdrückung schwacher Völker, aber sollte man dem nicht die Tatsachen gegenüberstellen, die beweisen, dass jede beliebige Großbank Deutschlands, Englands, Frankreichs, der Vereinigten Staaten kleine Völker „in Abhängigkeit“ hält? Kann die gegenwärtige bürgerliche Regierung eines reichen Landes in der Tat Annexionen und wirtschaftliche Unterwerfung fremder Völker ablehnen, da Milliarden und aber Milliarden in Eisenbahnen und anderen Unternehmen der schwachen Völker angelegt sind?

Wer kämpft wirklich gegen Annexionen usw. – der etwa, der wunderbare Phrasen in den Wind redet, die ihrer objektiven Bedeutung nach völlig gleichwertig sind dem Weihwasser der Christen, mit dem gekrönte und kapitalistische Räuber gesegnet werden – oder der, der den Arbeitern aufzeigt, dass die Beseitigung von Annexionen und finanzieller Unterdrückung unmöglich ist ohne den Sturz der imperialistischen Bourgeoisie und ihrer Regierungen?

Noch eine italienische Illustration zu dem von Kautsky gepredigten Pazifismus.

Im Zentralorgan der italienischen sozialistischen Partei, Avanti!, vom 25. Dezember 1916, veröffentlichte der bekannte Reformist Filippo Turati einen Artikel unter dem Titel „Abrakadabra“. Am 22. November 1916 – schreibt er – brachte die sozialistische Parlamentsgruppe Italiens im Parlament einen Antrag für den Frieden ein. In diesem Antrag

stellte sie die Übereinstimmung der durch die Vertreter Englands und Deutschlands verkündeten Prinzipien fest, die den Grund zu einem möglichen Frieden legen sollten, und forderte die Regierung auf, durch Vermittlung der Vereinigten Staaten und anderer neutralen Länder Friedensverhandlungen zu beginnen“.

So legt Turati selbst den Inhalt des sozialistischen Antrags dar.

Am 6. Dezember 1916 „begräbt“ die Kammer den sozialistischen Antrag durch „Vertagung“ seiner Beratung. Am 12. Dezember schlägt der deutsche Kanzler von sich aus dem Reichstag das vor, was die Sozialisten Italiens gewollt hatten. Am 22. Dezember tritt Wilson mit seiner Note auf den Plan, in der er – um mit F. Turatis Worten zu sprechen – „die Ideen und Beweggründe des sozialistischen Antrags paraphrasiert und wiederholt“. Am 23. Dezember treten andere neutrale Länder auf den Plan und paraphrasieren die Note Wilsons.

Man beschuldigt uns, wir hätten uns an Deutschland verkauft, ruft Turati aus. Haben sich etwa auch Wilson und die neutralen Staaten an Deutschland verkauft?

Am 17. Dezember hielt Turati im Parlament eine Rede, in der eine Stelle eine ungewöhnliche – und berechtigte – Sensation hervorrief. Hier diese Stelle nach dem Bericht des „Avanti!“2:

„… Nehmen wir an, dass ein Meinungsaustausch der Art, wie ihn Deutschland uns vorschlägt, geeignet ist, Fragen, wie die der Räumung Belgiens, Frankreichs, der Wiederherstellung Rumäniens, Serbiens und, wenn es Ihnen beliebt, Montenegros, in den Grundzügen zu lösen; ich füge noch hinzu die Berichtigung der italienischen Grenzen in Bezug auf das, was unbestreitbar italienisch ist und den Garantien strategischen Charakters entspricht..

An dieser Stelle unterbricht die bürgerliche und chauvinistische Kammer Turati, und von allen Seiten hört man Zurufe: „Großartig! Also auch Ihr wollt all das! Hoch Turati! Hoch Turati …!“

Turati versucht – offenbar mit dem Gefühl des Peinlichen in diesem Jubel der Bourgeoisie – sich zu „berichtigen“ oder „näher zu erläutern“:

Meine Herren“ – sagt er –, „keine unangebrachten Scherze. Eines ist es, die Angebrachtheit und das Recht der nationalen Einheit anzuerkennen, wie wir es immer getan haben; etwas anderes ist es, deswegen einen Krieg heraufzubeschwören oder ihn damit zu rechtfertigen.“

Weder diese „Erläuterung“ Turatis noch die Artikel des „Avanti!“ zu seiner Verteidigung noch der Brief Turatis vom 21. Dezember noch der Artikel eines gewissen „vv“ im Züricher „Volksrecht „korrigieren“ die Geschichte und schaffen die Tatsache aus der Welt, dass Turati hereingefallen ist!

Oder richtiger: nicht Turati, sondern der ganze sozialistische Pazifismus ist hereingefallen, der sowohl von Kautsky als auch, wie wir sehen werden, von den französischen „Kautskyanern“ vertreten wird. Die bürgerliche Presse Italiens hatte recht, als sie diese Stelle aus der Rede Turatis aufgriff und darob in Jubel ausbrach.

Der genannte „vv“ versucht Turati zu verteidigen, indem er sagt, dieser habe ja nur vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ gesprochen.

Eine schlechte Verteidigung! Was hat das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ damit zu tun, das sich bekanntlich im Programm der Marxisten – wie es auch im Programm der internationalen Demokratie immer der Fall gewesen ist – auf die Verteidigung unterdrückter Völker bezieht! Soll es etwa auf den imperialistischen Krieg bezogen werden, d. h. auf einen Krieg um die Aufteilung der Kolonien, um die Unterdrückung fremder Länder, auf einen Krieg zwischen Räuber- und Unterdrückermächten um die Frage, wer mehr von den fremden Völkern unterdrücken soll?

Worin unterscheidet sich die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zur Rechtfertigung eines imperialistischen, nicht eines nationalen Krieges von den Reden Alexinskis, Hervés, Hyndmans, die sich auf die Republik in Frankreich berufen, die der Monarchie in Deutschland entgegenstehe, obwohl allgemein bekannt ist, dass dieser Krieg keineswegs wegen eines Konflikts zwischen Republikanismus und monarchistischem Prinzip geführt wird, sondern um die Teilung der Kolonien usw. zwischen zwei imperialistischen Koalitionen?

Turati hat seinen Standpunkt dahin erläutert und berichtigt, dass er den Krieg keineswegs „rechtfertige“.

Wollen wir dem Reformisten Turati, dem Anhänger Kautskys, Glauben schenken, dass es nicht seine Absicht war, den Krieg zu rechtfertigen. Aber wer weiß nicht, dass in der Politik nicht Absichten zählen, sondern Taten, nicht fromme Wünsche, sondern Tatsachen, nicht Vorstellung, sondern Wirklichkeit.

Angenommen, Turati hat nicht den Krieg rechtfertigen wollen, angenommen, Kautsky hat nicht Deutschland rechtfertigen wollen, das die Türkei zum Vasallen des deutschen Imperialismus gemacht hat. Aber faktisch ist bei beiden braven Pazifisten eben die Rechtfertigung des Krieges herausgekommen! Das ist die Kernfrage. Hätte Kautsky nicht in einer Zeitschrift, die so langweilig ist, dass sie kein Mensch liest, sondern von der Parlamentstribüne, vor einem lebhaften, eindrucksfähigen, von südlichem Temperament beseelten bürgerlichen Publikum den Satz gesagt: „Konstantinopel soll nicht Russland zufallen, die Türkei soll keines anderen Vasallenstaat sein“ – dann wäre nichts Verwunderliches dabei, wenn scharfsinnige Bourgeois in Rufe ausgebrochen wären: „Großartig! Sehr richtig! Hoch Kautsky!“

Turati stand faktisch – unabhängig davon, ob er es wollte, ob er sich dessen bewusst war – auf dem Standpunkt eines bürgerlichen Maklers, der eine gütliche Vereinbarung zwischen den imperialistischen Räubern vorschlägt. Die „Befreiung“ der derzeit zu Österreich gehörenden italienischen Gebiete wäre faktisch nur ein Deckmantel für die Belohnung der italienischen Bourgeoisie für ihre Teilnahme an dem imperialistischen Krieg einer imperialistischen Riesenkoalition, wäre eine unwesentliche Zugabe zur Teilung der Kolonien in Afrika, der Einflusssphären in Dalmatien und Albanien. Dass der Reformist Turati einen bürgerlichen Standpunkt einnimmt, ist schließlich natürlich, die Sache ist aber die, dass Kautsky sich faktisch durch nichts von Turati unterschied.

Um nicht den imperialistischen Krieg zu beschönigen, um nicht der Bourgeoisie dabei zu helfen, einen solchen Krieg fälschlich für einen nationalen, völkerbefreienden auszugeben, um nicht auf den Standpunkt des bürgerlichen Reformismus zu kommen, hätte man nicht so sprechen dürfen, wie es Kautsky und Turati tun, sondern so, wie Karl Liebknecht gesprochen hat, hätte man der eigenen Bourgeoisie erklären müssen, dass sie heuchelt, wenn sie von nationaler Befreiung faselt, dass ein demokratischer Frieden in Verbindung mit diesem Krieg unmöglich ist, wenn nicht das Proletariat „die Waffen wendet“ gegen die eigenen Regierungen.3

So und nur so hätte die Stellung eines wirklichen Marxisten, eines wirklichen Sozialisten, der kein bürgerlicher Reformist ist, sein können. Nicht der arbeitet in der Tat für den demokratischen Frieden, der allgemeine, nichtssagende, zu nichts verpflichtende fromme Wünsche des Pazifismus wiederholt, sondern der, der den imperialistischen Charakter sowohl dieses Krieges als auch des imperialistischen Friedens, den dieser vorbereitet, entlarvt und der die Völker zur Revolution gegen die verbrecherischen Regierungen aufruft.

Man versucht manchmal, Kautsky und Turati dadurch in Schutz zu nehmen, dass man sagt, es sei legal nicht möglich gewesen, über eine „Andeutung“ gegen die Regierung hinauszugehen, eine solche „Andeutung“ sei aber bei den Pazifisten dieses Schlages zu finden. Darauf muss geantwortet werden, erstens, dass die Unmöglichkeit, legal die Wahrheit zu sagen, nicht ein Grund zum Verschweigen der Wahrheit, sondern für die Unumgänglichkeit einer illegalen, d. h. von Polizei und Zensur freien Organisation und Presse ist; zweitens, dass es historische Augenblicke gibt, die von einem Sozialisten den Bruch jeder Legalität verlangen; drittens, dass selbst im Russland der Leibeigenschaft Dobroljubow und Tschernyschewski die Wahrheit zu sagen verstanden, bald, indem sie das Manifest vom 19. Februar 1861 totschwiegen, bald, indem sie die damaligen Liberalen verspotteten und brandmarkten, die genau dieselben Reden hielten wie Turati und Kautsky.

Im folgenden Artikel gehen wir zum französischen Pazifismus über, der seinen Ausdruck gefunden hat in den Resolutionen zweier eben abgehaltener Kongresse der Arbeiter- und sozialistischen Organisationen Frankreichs.

Artikel (oder Kapitel) III

Der Pazifismus der französischen Sozialisten und Gewerkschafter

Die Kongresse der französischen CGT (Confédération Générale du Travail, Allgemeiner Verband der Arbeitergewerkschaften) und der französischen sozialistischen Partei sind eben zu Ende gegangen. Die wahre Bedeutung und die wahre Rolle des sozialistischen Pazifismus im gegenwärtigen Moment hat sich dort mit besonderer Klarheit gezeigt.

Hier die Resolution des Gewerkschaftskongresses, die einstimmig von allen, sowohl von der Mehrheit der eingefleischten Chauvinisten mit dem traurig berühmten Jouhaux an der Spitze als auch von dem Anarchisten Broutchoux als auch von dem … „Zimmerwalder Merrheim, angenommen wurde:

Die Konferenz der Landesberufsverbände, der Gewerkschaften und Arbeitsbörsen nimmt die Note des Präsidenten der Vereinigten Staaten, die ,alle sich jetzt miteinander im Kriege befindlichen Nationen einlädt, öffentlich ihre Auffassungen über die Bedingungen darzulegen, zu denen der Krieg beendet werden könnte', zur Kenntnis und bittet die französische Regierung, diesem Vorschlag zuzustimmen; fordert die Regierung auf, die Initiative zu einem gleichen Schritt bei ihren Verbündeten zu ergreifen, um die Stunde des Friedens zu beschleunigen: erklärt, dass ein Bund der Völker, der eine der Garantien für den endgültigen Frieden bildet, nur gewährleistet ist bei voller Unabhängigkeit, territorialer Unantastbarkeit und ökonomischer Freiheit aller Völker, der kleinen wie der großen.

Die auf der Konferenz vertretenen Organisationen nehmen die Verpflichtung auf sich, diese Idee unter der Masse der Arbeiter zu fördern und zu verbreiten, um dem unklaren, zweideutigen Zustand ein Ende zu bereiten, der nur der Geheimdiplomatie zugute kommt, gegen die die Arbeiterklasse immer aufgetreten ist.“

Hier haben wir eine Kostprobe des „reinen“ Pazifismus durchaus im Geiste Kautskys, eines Pazifismus, der die Billigung der offiziellen Arbeiterorganisation findet, die mit dem Marxismus nichts gemein hat und in ihrer Mehrheit aus Chauvinisten besteht. Wir haben vor uns ein hervorragendes, ernsteste Aufmerksamkeit erforderndes Dokument der politischen Vereinigung der Chauvinisten und der „Kautskyaner“ auf der Plattform der hohlen pazifistischen Phrase. Wenn wir im vorhergehenden Artikel zu zeigen suchten, welches die theoretische Grundlage der Einheit der Auffassungen der Chauvinisten und der Pazifisten, der Bourgeois und der sozialistischen Reformisten ist, so sehen wir jetzt diese Einheit in einem anderen imperialistischen Lande praktisch verwirklicht.

Auf der Zimmerwalder Konferenz vom 5.-9. September 1915 erklärte Merrheim: „Le parti, les Jouhaux, le gouvernement, ce ne sont que trois têtes sous un bonnet“ („die Partei, die Jouhaux, die Regierung – das sind nur drei Köpfe unter einem Hut“, d. h. sie sind eins). Auf der Konferenz der CGT am 26. Dezember 1916 stimmt Merrheim, zusammen mit Jouhaux, für eine pazifistische Resolution. Am 23. Dezember 1916 veröffentlicht eines der offensten und der extremsten Organe der deutschen Sozialimperialisten, die Chemnitzer „Volksstimme, einen redaktionellen Artikel: „Die Auflösung der bürgerlichen Parteien und die Wiederherstellung der sozialdemokratischen Einheit“4. In diesem Artikel wird natürlich die Friedensliebe der Südekum, Legien, Scheidemann und Co., der ganzen Mehrheit der deutschen sozialdemokratischen Partei und auch der deutschen Regierung über den grünen Klee gelobt, und es wird verkündet, dass

der erste Friedensparteitag dann, von den wenigen abgesplitterten Fanatikern der Beitragssperre“ (den Anhängern Karl Liebknechts!) „abgesehen, die Einheit der Partei auf dem Boden der Politik des Parteivorstandes, der Fraktion und der Gewerkschaften wiederherstellen muss.“

Klarer als klar ist hier die Idee der „Einheit“ der offenen Sozialchauvinisten Deutschlands mit Kautsky und Konsorten, mit der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ ausgedrückt und die Politik dieser „Einheit“ verkündet, – der Einheit auf der Grundlage pazifistischer Phrasen, einer „Einheit“, wie sie in Frankreich am 26. Dezember 1916 zwischen Jouhaux und Merrheim hergestellt wurde!

Das Zentralorgan der italienischen sozialistischen Partei, „Avanti!“, schreibt in einer redaktionellen Notiz vom 28. Dezember 19165:

Wenn Bissolati und Südekum, Bonomi und Scheidemann, Sembat und David, Jouhaux und Legien in das Lager des bürgerlichen Nationalismus übergegangen sind und die ideelle Einheit der Internationalisten verraten haben (hanno tradito), der sie nach bestem Wissen und Gewissen zu dienen gelobt hatten, so stehen wir zu unseren deutschen Genossen, solchen wie Liebknecht, Ledebour, Hoffmann, Meyer, zu unseren französischen Genossen, solchen wie Merrheim, Blanc, Brizon, Raffin-Dugens, die sich nicht gewandelt und nicht geschwankt haben.“

Man sehe sich die Konfusion an:

Bissolati und Bonomi sind als Reformisten und Chauvinisten noch vor dem Krieg aus der italienischen sozialistischen Partei ausgeschlossen worden. Der „Avanti!“ stellt sie auf eine Stufe mit Südekum und Legien, natürlich mit vollem Recht, aber Südekum, David und Legien stehen an der Spitze der deutschen quasi-sozialdemokratischen, in Wirklichkeit sozialchauvinistischen Partei, und derselbe „Avanti!“ wendet sich gegen ihren Ausschluss, gegen den Bruch mit ihnen, gegen die Bildung einer III. Internationale. Der „Avanti!“ erklärt, und durchaus mit Recht, die Legien und Jouhaux für Überläufer in das Lager des bürgerlichen Nationalismus und stellt ihnen Liebknecht und Ledebour, Merrheim und Brizon entgegen. Aber wir sehen, dass Merrheim zusammen mit Jouhaux stimmt und Legien – durch den Mund der Chemnitzer „Volksstimme“ – erklärt, dass er von der Wiederherstellung der Einheit der Partei mit Ausschluss nur der Gesinnungsgenossen Liebknechts überzeugt sei, das heißt einer „Einheit“ mit der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ (darunter Kautsky), zu der Ledebour gehört!!

Diese Konfusion ist dadurch hervorgerufen, dass der „Avanti!“ den bürgerlichen Pazifismus mit dem revolutionären sozialdemokratischen Internationalismus vermengt, während solche erfahrene Politikanten, wie Legien und Jouhaux, sehr wohl die Identität des sozialistischen und des bürgerlichen Pazifismus erkannt haben.

Warum sollten auch nicht Herr Jouhaux und seine Zeitung, die chauvinistische „La Bataille“6, über die „Einmütigkeit“ Jouhaux’ und Merrheims frohlocken, wenn in der einstimmig angenommenen, von uns im Wortlaut angeführten Resolution faktisch nichts außer bürgerlich-pazifistischen Phrasen enthalten ist, nicht ein Schatten revolutionären Bewusstseins, nicht ein einziger sozialistischer Gedanke!

Ist es nicht lächerlich, von „ökonomischer Freiheit aller Völker, der kleinen wie der großen“, zu sprechen, wenn man dabei verschweigt, dass, solange die bürgerlichen Regierungen nicht gestürzt sind und die Bourgeoisie nicht expropriiert ist, diese „ökonomische Freiheit“ ein ebensolcher Betrug am Volke ist, wie die Phrasen von der „wirtschaftlichen Freiheit“ der Staatsbürger der modernen Gesellschaft schlechthin, der armen Bauern wie der Grundherren, der Arbeiter wie der Kapitalisten?

Die Resolution, für die Jouhaux und Merrheim einmütig stimmten, ist völlig durchdrungen von den Ideen des „bürgerlichen Nationalismus“, den der „Avanti!“ mit Recht bei Jouhaux feststellt, den aber das Blatt merkwürdigerweise bei Merrheim nicht sieht.

Die bürgerlichen Nationalisten haben immer und überall mit „allgemeinen Phrasen“ über einen „Bund der Völker“ schlechthin, über die „ökonomische Freiheit aller Völker, der großen wie der kleinen“, Staat gemacht. Die Sozialisten haben zum Unterschied von den bürgerlichen Nationalisten erklärt und erklären auch jetzt: von „ökonomischer Freiheit der großen und kleinen Völker“ faseln, ist widerliche Heuchelei, solange die einen Völker (z. B. England und Frankreich) im Ausland Geld anlegen, d. h. den kleinen und rückständigen Völkern gegen Wucherzinsen Milliarden und Abermilliarden Frank Kapital als Darlehen überlassen und so die kleinen und schwachen Völker in Schuldknechtschaft halten.

Sozialisten hätten keinen einzigen Satz dieser Resolution, für die Jouhaux und Merrheim einmütig stimmten, ohne entschiedenen Protest hinnehmen können. Sozialisten hätten in direktem Gegensatz zu dieser Resolution erklärt, dass die Kundgebung Wilsons ganz und gar verlogen und heuchlerisch ist, da Wilson der Vertreter einer Bourgeoisie ist, die sich am Kriege um Milliarden bereichert hat, da er das Haupt einer Regierung ist, die die Bewaffnung der Vereinigten Staaten – offenbar für einen zweiten großen imperialistischen Krieg – ins Irrsinnige gesteigert hat; dass die französische bürgerliche Regierung, vom Finanzkapital, dessen Sklave sie ist, an Händen und Füßen gefesselt und durch imperialistische, ausgesprochen räuberische und reaktionäre Geheimverträge mit England, Russland usw. verbunden, nicht fähig ist, in der Frage eines demokratischen und „gerechten“ Friedens etwas zu sagen oder zu tun, was nicht ebenso verlogen wäre; dass der Kampf für einen derartigen Frieden nicht in der Wiederholung allgemeiner, leerer, nichtssagender, zu nichts verpflichtender, in Wirklichkeit nur das imperialistische Übel verdeckender, frommer und süßlicher pazifistischer Phrasen besteht, sondern darin, den Völkern die Wahrheit aufzuzeigen, ihnen nämlich zu sagen: um einen demokratischen und gerechten Frieden zu erlangen, müssen die bürgerlichen Regierungen aller kriegführenden Länder gestürzt werden, wofür man die Bewaffnung von Millionen Arbeitern sowie die allgemeine Erbitterung der Masse der Bevölkerung durch die Teuerung der Lebenshaltung und die Schrecken des imperialistischen Krieges ausnützen muss.

Das hätten Sozialisten sagen müssen, anstatt der Resolution von Jouhaux und Merrheim.

Die französische sozialistische Partei hat auf ihrem Kongress, der in Paris gleichzeitig mit dem Kongress der CGT tagte, dies nicht nur nicht gesagt, sondern hat eine noch schlimmere Resolution angenommen, mit 2838 Stimmen gegen 109 bei 20 Enthaltungen, d. h. durch einen Block der Sozialchauvinisten (Renaudel und Co., die sogenannten „Majoritaires“, Anhänger der Mehrheit) und der Longuetisten (die Anhänger Longuets, die französischen Kautskyaner)!! Dabei stimmten der Zimmerwalder Bourderon und der Kienthaler (kinthalien, Teilnehmer an der Kienthaler Konferenz) Raffin-Dugens für diese Resolution!!

Wir werden hier nicht den Text dieser Resolution zitieren, da sie übermäßig lang und absolut uninteressant ist: in ihr sind fromme, süßliche Phrasen vom Frieden neben die Erklärung gestellt, die sogenannte „Vaterlandsverteidigung“ in Frankreich auch weiter unterstützen zu wollen, d. h. den imperialistischen Krieg zu unterstützen, den Frankreich im Bunde mit solchen noch größeren und stärkeren Räubern, wie England und Russland, führt.

Die Vereinigung der Sozialchauvinisten mit den Pazifisten (oder Kautskyanern) in Frankreich und mit einem Teil der Zimmerwalder ist folglich nicht nur in der CGT, sondern auch in der sozialistischen Partei Tatsache geworden.

Artikel (oder Kapitel) IV

Zimmerwald am Scheidewege

Am 28. Dezember trafen in Bern französische Zeitungen mit dem Bericht über den Kongress der CGT ein, und am 30. Dezember erschien in der Berner und der Züricher sozialistischen Zeitung ein neuer Aufruf der Berner ISK (Internationalen Sozialistischen Kommission)7, des ausführenden Organs der Zimmerwalder Vereinigung. In diesem Aufruf, datiert von Ende Dezember 1916, ist die Rede vom Friedensangebot Deutschlands und auch von dem Wilsons und anderer neutraler Länder, wobei alle diese Regierungskundgebungen – versteht sich, durchaus mit Recht – als ein „Komödienspiel des Friedens“, ein Spiel, „um das eigene Volk hinters Licht zu führen“, als „heuchlerische Friedensgebärden der Diplomaten“ bezeichnet werden.

Dieser Komödie und Lüge wird als „einzige Macht“, die imstande ist, den Frieden usw. zu verwirklichen, der „entschlossene Wille“ des internationalen Proletariats entgegengestellt, „anstatt die Waffe des Kampfes gegen den Bruder, sie gegen den Feind im eigenen Lande zu richten“.

Die angeführten Zitate zeigen uns klar zwei grundverschiedene Arten von Politik, die bis jetzt in der Zimmerwalder Vereinigung nebeneinander Platz zu haben schienen, nunmehr aber sich endgültig voneinander getrennt haben.

Einerseits erklärt Turati mit aller Eindeutigkeit und durchaus mit Recht, dass die Angebote Deutschlands, Wilsons u. a. nur eine „Paraphrasierung“ des italienischen „sozialistischen“ Pazifismus waren; die Erklärung der deutschen Sozialchauvinisten und die Abstimmung der französischen beweisen, dass die einen wie die anderen den Vorteil der pazifistischen Verhüllung ihrer Politik sehr wohl erkannt haben.

Andererseits bezeichnet der Aufruf der Internationalen Sozialistischen Kommission den Pazifismus aller kriegführenden und neutralen Regierungen als Komödie und Heuchelei.

Einerseits vereinigt sich Jouhaux mit Merrheim, Bourderon, Longuet und Raffin-Dugens mit Renaudel, Sembat und Thomas, und die deutschen Sozialchauvinisten Südekum, David, Scheidemann verkünden die bevorstehende „Wiederherstellung der sozialdemokratischen Einheit“ mit Kautsky und der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“.

Andererseits fordert der Aufruf der Internationalen Sozialistischen Kommission „die sozialistischen Minderheiten“ zum energischen Kampf „gegen die eigenen Regierungen“ „und deren sozialpatriotische Söldlinge“ auf.

Entweder – oder.

Die Inhaltslosigkeit, die Abgeschmacktheit, die Heuchelei des bürgerlichen Pazifismus enthüllen – oder ihn zu einem „sozialistischen“ Pazifismus „paraplirasieren“? Die Jouhaux und Renaudel, die Legien und David als „Söldlinge“ der Regierungen zu bekämpfen – oder sich mit ihnen zu leeren pazifistischen Deklarationen französischen oder deutschen Musters vereinigen?

Das ist jetzt die Scheidelinie zwischen der Zimmerwalder Rechten, die stets aus aller Kraft gegen den Bruch mit den Sozialchauvinisten aufgetreten ist, und der Zimmerwalder Linken, die noch in Zimmerwald nicht umsonst darauf bedacht war, sich öffentlich von der Rechten abzugrenzen und sowohl auf der Konferenz als auch nachher, in der Presse, mit einer eigenen Plattform aufzutreten. Das Herannahen des Friedens oder zumindest die Tatsache, dass gewisse bürgerliche Elemente sich eifrig mit dieser Frage befassen, haben nicht zufällig, sondern mit Unvermeidlichkeit ein besonders anschauliches Auseinandergehen der einen und der anderen Politik bedingt. Denn der Friede erscheint den bürgerlichen Pazifisten und ihren „sozialistischen“ Nachahmern oder Nachbetern nach wie vor als etwas vom Krieg grundsätzlich Verschiedenes, so dass der Gedanke: „der Krieg ist die Fortsetzung der Politik des Friedens, der Friede ist die Fortsetzung der Politik des Krieges“ – den Pazifisten beider Schattierungen stets unverständlich geblieben ist. Dass der imperialistische Krieg von 1914 bis 1917 die Fortsetzung der imperialistischen Politik von 1898 bis 1914, wenn nicht einer noch früheren Periode ist, das haben weder Bourgeois noch Sozialimperialisten einsehen wollen noch wollen sie es jetzt tun. Dass ein Friede jetzt, wenn die bürgerlichen Regierungen nicht durch die Revolution gestürzt werden, nur ein imperialistischer Friede sein kann, der den imperialistischen Krieg fortsetzt, sehen weder die bürgerlichen noch die sozialistischen Pazifisten ein.

Wie sie sich bei der Einschätzung dieses Krieges sinnloser, vulgärer, kleinbürgerlicher Phrasen über Angriff oder Verteidigung im Allgemeinen bedienten, so bedienen sie sich auch bei der Einschätzung des Friedens ebensolcher philisterhafter Gemeinplätze und vergessen die konkrete historische Situation, die konkrete Wirklichkeit des Kampfes zwischen den imperialistischen Mächten. Was nun die Sozialchauvinisten, diese Agenten der Regierungen und der Bourgeoisie in den Arbeiterparteien betrifft, so ist es natürlich, dass sie sich mit besonderem Eifer an das Herannahen des Friedens, ja sogar an das bloße Gerede über den Frieden klammerten, um den durch den Krieg aufgedeckten Abgrund ihres Reformismus, ihres Opportunismus zu vertuschen, um ihren erschütterten Einfluss auf die Massen wiederherzustellen. Deshalb machen die Sozialchauvinisten, wie wir gesehen haben, sowohl in Deutschland als auch in Frankreich angestrengte Versuche, sich mit dem schwankenden, prinzipienlosen, pazifistischen Teil der „Opposition“ zu „vereinigen“.

Auch innerhalb der Zimmerwalder Vereinigung wird man sicherlich versuchen, das Auseinandergehen der zwei unversöhnlichen Linien der Politik zu vertuschen. Zweierlei Versuche dieser Art sind vorauszusehen. Die „realpolitische“ Versöhnung wird einfach darin bestehen, schreiende revolutionäre Phrasen (wie z. B. die Phrasen im Aufruf der Internationalen Sozialistischen Kommission) mechanisch mit einer opportunistischen und pazifistischen Praxis zu verbinden. So war es in der II. Internationale. Die rrrevolutionären Phrasen in den Aufrufen Huysmans' und Vanderveldes und in einigen Resolutionen der Kongresse verdeckten nur die stockopportunistische Praxis der Mehrheit der europäischen Parteien, ohne etwas an ihr zu ändern, ohne sie zu erschüttern oder gegen sie zu kämpfen. Es ist zweifelhaft, ob in der Zimmerwalder Vereinigung diese Taktik von neuem erfolgreich sein kann.

Die prinzipiellen Versöhnler“ versuchen eine Verfälschung des Marxismus im Sinne z. B. des Gedankenganges, dass Reformen die Revolution nicht ausschließen, dass der imperialistische Frieden mit gewissen „Verbesserungen“ der Grenzen der Nationen oder des Völkerrechts oder der Rüstungsausgaben usw. gleichzeitig mit revolutionären Bewegungen möglich sei, als „eines der Momente der Entfaltung“ dieser Bewegung usw. usf.

Das wäre eine Verfälschung des Marxismus. Natürlich schließen Reformen die Revolution nicht aus. Aber davon ist jetzt nicht die Rede, sondern davon, dass die Revolutionäre sich nicht gegenüber den Reformisten ausschließen dürfen, d. h. dass die Sozialisten ihre revolutionäre Arbeit nicht durch reformistische ersetzen dürfen. Europa macht eine revolutionäre Situation durch. Krieg und Teuerung verschärfen sie. Der Übergang vom Krieg zum Frieden beseitigt sie keineswegs unbedingt, da nirgends geschrieben steht, dass die Millionen von Arbeitern, die heute aufs Beste bewaffnet sind, sich ohne weiteres von der Bourgeoisie „friedlich entwaffnen“ lassen werden, anstatt den Rat Karl Liebknechts zu befolgen, d. h. die Waffen gegen die eigene Bourgeoisie zu kehren.

Die Frage steht nicht so, wie sie die Pazifisten, die Kautskyaner stellen: entweder reformistische politische Kampagne oder Verzicht auf Reformen. Das ist eine bürgerliche Art der Fragestellung. In Wirklichkeit steht die Frage so: entweder revolutionärer Kampf, dessen Nebenprodukt im Falle eines nicht vollkommenen Erfolges Reformen zu sein pflegen (das hat die ganze Geschichte der Revolutionen in der ganzen Welt bewiesen) oder nichts außer leerem Gerede über Reformen und außer Versprechungen von Reformen.

Der Reformismus von Kautsky, Turati, Bourderon, der jetzt in der Form des Pazifismus in Erscheinung tritt, lässt nicht nur die Frage der Revolution beiseite (das ist schon Verrat am Sozialismus), verzichtet nicht nur praktisch auf systematische und beharrliche revolutionäre Arbeit, sondern geht sogar bis zu Erklärungen, dass Straßenkundgebungen Abenteuer seien (Kautsky in der Neuen Zeit vom 26. November 1915)8, geht bis zur Verteidigung und Verwirklichung der Einheit mit den offenen und entschiedenen Gegnern des revolutionären Kampfes, den Südekum, Legien, Renaudel, Thomas usw. usf.

Dieser Reformismus ist absolut unvereinbar mit dem revolutionären Marxismus, der verpflichtet ist, die gegenwärtige revolutionäre Situation in Europa in vollem Umfange zur direkten Propaganda der Revolution, zum Sturze der bürgerlichen Regierungen, zur Eroberung der Macht durch das bewaffnete Proletariat auszunützen, ohne damit auf die Ausnützung von Reformen zur Entfaltung des Kampfes für die Revolution und im Verlauf dieses Kampfes zu verzichten oder sie abzulehnen.

Die nächste Zukunft wird zeigen, wie sich der Gang der Ereignisse in Europa im Allgemeinen, der Kampf des Reformismus-Pazifismus mit dem revolutionären Marxismus im Besonderen entwickeln wird, darunter auch der Kampf zwischen den beiden Teilen der Zimmerwalder Vereinigung.

Zürich, 1. Januar 1917

N. L.

1 Der Artikel „Bürgerlicher und sozialistischer Pazifismus“ sollte nach Lenins Vorschlag entweder in mehrere Zeitungsartikel geteilt werden (was aus den Kapitelüberschriften hervorgeht) oder in einer Zeitschrift veröffentlicht werden. In der auf dem Umschlag des „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2 enthaltenen Inhaltsangabe für die Nr. 3 fehlt dieser Artikel, offenbar deshalb, weil diese Nummer im Dezember erschien, während Lenin den Artikel erst im Januar schrieb. Als Zeitungsartikel wurde nur eine Verarbeitung der beiden ersten Kapitel unter dem Titel „Eine Wendung in der Weltpolitik“ veröffentlicht, und zwar in Nr. 58 (der letzten) des Sozialdemokrat.

2 Der Artikel zur Verteidigung Turatis findet sich in Nr. 348 vom 21. Dezember 1916 unter dem Titel „Polemichette. I confini strategici“.

3 Laut offiziellem Protokoll sagte Liebknecht im Preußischen Abgeordnetenhaus: „sie sollen die Waffen senken und sich gegen den gemeinsamen Feind kehren“, nach anderen Versionen sagte er „sie sollen die Waffen senken und sie gegen den gemeinsamen Feind kehren“ [WK]

4 Gemeint ist der Artikel „Die Auflösung der bürgerlichen Parteien und die Wiederherstellung der sozialdemokratischen Einheit“ („Volksstimme“, Chemnitz, Nr. 298 vom 23. Dezember 1916).

5 Die von Lenin erwähnte Notiz findet sich in Nr. 354 des „Avanti!“ vom 28. Dezember 1916 unter dem Titel „Scampoli. Proprio come venti anni fa!“

6 „Der Kampf.“ Die Red.

7 Der Aufruf der ISK an die Arbeiterklasse wurde in der „Berner Tagwacht“ und im Züricher „Volksrecht“ vom 30. Dezember 1916 abgedruckt.

8 Gemeint ist Kautskys Artikel „Fraktion oder Partei“ („Die Neue Zeit“ Nr. 9 vom 26. November 1915).

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