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Wladimir I. Lenin 19061220 Die Krise des Menschewismus

Wladimir I. Lenin: Die Krise des Menschewismus

[Proletarij" Nr. 9, 20. (7.) Dezember 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 246-271]

Die Propaganda für einen parteilosen Arbeiterkongress und für Blocks mit den Kadetten kennzeichnet zweifellos eine gewisse Krise in der Taktik der Menschewiki. Wir zählen zu den grundsätzlichen Gegnern ihrer gesamten Taktik und konnten natürlich nicht selbst die Frage entscheiden, ob diese Krise genügend weit ausgereift ist, um sozusagen nach außen hin in Erscheinung zu treten. Genosse J. Larin ist uns in seiner neuen, äußerst lehrreichen Broschüre: „Breite Arbeiterpartei und Arbeiterkongress" (Moskau 1906, Verlag „Nowyj Mir") zu Hilfe gekommen.

Genosse J. Larin spricht nicht selten im Namen der Mehrheit der Menschewiki. Er bezeichnet sich – und zwar mit vollem Recht – als verantwortlichen Vertreter des Menschewismus. Er hat sowohl im Süden als auch im „allermenschewistischsten" Petersburger Bezirk, dem Bezirk Wiborger Seite, gearbeitet. Er hat als Delegierter am Vereinigungsparteitag teilgenommen. Er war ein ständiger Mitarbeiter des „Golos Truda" und der „Otkliki Sowremennosti". Alle diese Tatsachen sind von äußerster Wichtigkeit für die Bewertung der Broschüre, deren Bedeutung in der Aufrichtigkeit des Verfassers und nicht in seiner Logik, – in den von ihm veröffentlichten Tatsachen und nicht in den Betrachtungen des Verfassers liegt.

I.

Betrachtungen über die Taktik muss der Marxist die Bewertung des objektiven Ganges der Revolution zugrunde legen. Die Bolschewiki haben das bekanntlich in der Resolution zur politischen Lage zu tun versucht, die sie dem Vereinigungsparteitag vorgelegt haben.1 Die Menschewiki haben selbst ihre Resolution zur politischen Lage zurückgezogen. Genosse Larin fühlt offenbar, dass man solche Fragen nicht fallen lassen darf, und versucht. den Gang unserer bürgerlichen Revolution zu untersuchen.

Er unterscheidet zwei Perioden. Die erste Periode, die das ganze Jahr 1905 umfasst, ist die Periode der offenen Massenbewegung. Die zweite Periode, die mit dem Jahre 1906 beginnt, ist die Periode der qualvoll-langsamen Vorbereitung „des tatsächlichen Triumphes der Sache der Freiheit", „der Verwirklichung der Volksbestrebungen". In dieser Vorbereitung spielt die Hauptrolle 4ms Dorf, ohne dessen Hilfe „die isolierte Stadt niedergeworfen wurde". Wir erleben ein „inneres, äußerlich scheinbar passives Wachsen der Revolution".

Das, was als agrarische Bewegung bezeichnet wird – ständige Gärung, was nicht allerorts in Versuche aktiven Angriffs übergeht, Kleinkrieg mit den örtlichen Behörden, mit den Grundbesitzern, Steuerstreik, Strafexpeditionen –, alles das ist ein Weg, der für das Dorf, vom Standpunkt der Ökonomie, wenn nicht seiner Kräfte, was zweifelhaft ist, so doch seiner Resultate, der vorteilhafteste ist. Dieser Weg erschöpft das Dorf nicht vollständig, bringt ihm im Allgemeinen mehr Erleichterungen als Niederlagen und zermürbt die Stützen der alten Staatsgewalt so sehr, dass die Bedingungen entstehen, unter denen die alte Staatsgewalt unbedingt nachgeben oder zusammenbrechen muss, sobald sie zu gegebener Zeit auf die erste ernste Probe gestellt wird."

Und der Verfasser weist darauf hin, dass sich in zwei bis drei Jahren die Mannschaften der Polizei und des Heeres ändern und von neuen Elementen aus dem unzufriedenen Dorfe durchsetzt sein werden; „unsere Söhne werden Soldaten sein", sagte dem Verfasser ein Bauer.

Genosse Larin zieht zwei Schlüsse: 1. Bei uns „kann das Dorf nicht zur Ruhe kommen. Das österreichische Jahr 1848 kann sich bei uns nicht wiederholen". 2. „Die russische Revolution geht nicht wie die nordamerikanische oder die polnische Revolution den Weg des allgemeinen bewaffneten Volksaufstandes im wahren Sinne des Wortes."

Verweilen wir bei diesen Schlüssen. Der erste von ihnen wird vom Verfasser zu feuilletonistisch begründet und zu ungenau formuliert. Im Wesentlichen aber kommt der Verfasser der Wahrheit nahe. Der Ausgang unserer Revolution hängt wirklich vor allem von der Ausdauer der Millionenmassen der Bauernschaft im Kampf ab. Unsere Großbourgeoisie fürchtet die Revolution mehr als die Reaktion. Das Proletariat allein hat nicht die Kraft, zu siegen. Die städtische Armut hat weder selbständige Interessen noch ist sie im Vergleich mit dem Proletariat und der Bauernschaft ein selbständiger Faktor. Die entscheidende Rolle kommt dem Dorfe zu, nicht im Sinne der Führung des Kampfes (davon kann keine Rede sein), sondern im Sinne der Gewähr für den Sieg.

Wenn Genosse Larin seine Schlussfolgerungen zu Ende dächte und in Verbindung brächte mit dem ganzen Entwicklungsgang der Ideen über unsere bürgerliche Revolution, die die Sozialdemokratie vertritt, so würde er auf den alten Satz des ihm verhassten Bolschewismus stoßen: ein siegreicher Ausgang der bürgerlichen Revolution in Russland ist nur als revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft möglich. Dem Wesen nach ist Larin gerade zu dieser Ansicht gelangt. Diese Tatsache offen zuzugeben, hindert ihn nur die Eigenschaft der Menschewiki, die er selbst geißelt: Unsicherheit und Zaghaftigkeit im Denken. Man braucht nur die Betrachtungen, die Larin über das genannte Thema anstellt, mit den Betrachtungen des Organs des ZK, des „Sozialdemokrat", zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen, dass Larin sich in dieser Frage den Bolschewiki nähert. Hat sich doch der „Sozialdemokrat" zu der Behauptung verstiegen, dass die Kadetten die städtische, fortschrittliche, nichtständische Bourgeoisie sind, während die Trudowiki die ständische, dörfliche, nicht fortschrittliche Bourgeoisie repräsentieren.2 Der „Sozialdemokrat" hat bei den Kadetten die Grundbesitzer und die konterrevolutionären Bourgeois, bei den Trudowiki die nichtständische städtische Demokratie (die untersten Schichten der städtischen Armut) nicht bemerkt!

Weiter. Das Dorf kann nicht zur Ruhe kommen, sagt Larin. Hat er es bewiesen? Nein. Er hat die Rolle der bäuerlichen Bourgeoisie, die systematisch von der Regierung bestochen wird, nicht in Rechnung gestellt. Er hat sich auch nicht sehr den Kopf darüber zerbrochen, dass die „Erleichterungen", die die Bauern erhalten (Senkung der Pacht, „Beschränkung" der Grundbesitzer und der Polizei usw.), die Differenzierung des Dorfes in konterrevolutionäre Reiche und in die Masse der Armut verstärken. Solche wichtigen Verallgemeinerungen darf man sich nicht auf Grund so dürftiger Unterlagen erlauben: das riecht nach Schablone.

Ist der Satz aber überhaupt beweisbar: „Das Dorf kann nicht rar Ruhe kommen"? Ja und nein. Ja – im Sinne einer ernsten, stichhaltigen Analyse der wahrscheinlichen Folgen. Nein – im Sinne der völligen Unzweifelhaftigkeit dieser Folgen für die gegebene bürgerliche Revolution. Auf der Goldwage lässt sich nicht abwiegen, wie sich die neuen konterrevolutionären und die neuen revolutionären Kräfte des Dorfes, die wachsen und sich miteinander verflechten, das Gleichgewicht halten werden. Das wird erst die Erfahrung klar zeigen. Revolution im engen Sinne des Wortes ist scharfer Kampf, und nur im Kampfe selbst, in seinem Ausgang tritt die wirkliche Kraft aller Interessen, aller Bestrebungen, aller Ansätze in Erscheinung und wird vom Bewusstsein erfasst.

Es ist die Aufgabe der fortgeschrittenen Klasse in der Revolution, die Richtung des Kampfes richtig zu erkennen und alle Möglichkeiten, alle Chancen des Sieges zu erschöpfen. Eine solche Klasse muss als erste den unmittelbar-revolutionären Weg beschreiten und ihn als letzte verlassen, um andere, „alltäglichere" Wege zu beschreiten, die gegenüber dem unmittelbar revolutionären Weg „Umwege" sind. Diese Tatsache hat Genosse Larin überhaupt nicht begriffen, da er sehr viel und (wie wir weiter unten sehen werden) sehr unklug über spontane Ausbrüche und planmäßige Aktion redet.

Nehmen wir den zweiten Schluss – über den bewaffneten Aufstand. Hier macht sich Larin noch größerer Zaghaftigkeit im Denken schuldig. Sein Gedanke folgt sklavisch alten Mustern: dem nordamerikanischen und dem polnischen Aufstand. Außer ihnen will er keinen Aufstand „im wahren Sinne des Wortes" kennen. Er sagt sogar, dass sich unsere Revolution nicht auf dem Wege eines „formalen" (!) und „förmlichen" (!!) bewaffneten Aufstandes vollziehen wird.

Merkwürdig: ein Menschewik, der sich im Krieg gegen den Formalismus die Sporen verdient hat, ist dabei gelandet, von einem formalen bewaffneten Aufstand zu reden! Sie sind selbst daran schuld, Genosse Larin, dass Ihr Gedanke durch Formales und Förmliches in solch enge Rahmen gezwängt wird. Die Bolschewiki haben diese Dinge stets anders betrachtet und betrachten sie anders. Lange vor dem Aufstand, auf dem 3. Parteitag, d. h. im Frühjahr 1905, haben sie in einer besonderen Resolution die Verbindung von Massenstreik und Aufstand betont.3 Die Menschewiki lieben es, mit Stillschweigen darüber hinwegzugehen. Es nützt ihnen nichts. Die Resolution des 3. Parteitages ist ein tatsächlicher Beweis dafür, dass wir die besonderen Merkmale des Volkskampfes vom Ausgang des Jahres 1905 annähernd richtig vorausgesehen haben, soweit das überhaupt möglich war. Und wir stellten uns den Aufstand durchaus nicht „nach dem Muster" Nordamerikas oder Polens vor, wo von Massenstreiks keine Rede sein konnte.

Nach dem Dezember aber wiesen wir (in dem Resolutionsentwurf des Vereinigungsparteitages4) auf die Änderung des Verhältnisses zwischen Streik und Aufstand, auf die Rolle der Bauernschaft und des Heeres, auf die Unzulänglichkeit militärischer Rebellionen und auf die Notwendigkeit der Verständigung mit den revolutionär-demokratischen Elementen des Heeres hin.

Und die Ereignisse haben noch einmal, im Laufe der Dumaperiode, bestätigt, dass der Aufstand im russischen Freiheitskampf unvermeidlich ist.

Larins Betrachtungen über den formalen Aufstand offenbart seine für einen Sozialdemokraten höchst ungebührliche Unkenntnis der Geschichte der gegenwärtigen Revolution oder die Ignorierung dieser Geschichte mit ihrer besonderen Form des Aufstandes. Larins These: „Die russische Revolution wird sich nicht auf dem Wege des Aufstandes vollziehen" spricht den Tatsachen Hohn, denn beide Perioden der Freiheiten in Russland (sowohl die Oktoberperiode als auch die Dumaperiode) haben gerade den „Weg" des Aufstandes gezeigt, der natürlich kein amerikanischer und kein polnischer, sondern ein russischer Aufstand in der Epoche des 20. Jahrhunderts war. Larin, der über geschichtliche Beispiele von Aufständen in Ländern mit überwiegenden dörflichen oder städtischen Elementen, über Amerika und Polen „überhaupt" spricht und selbst auf den auch nur bescheidensten Versuch verzichtet, die Besonderheiten des russischen Aufstandes zu erforschen oder wenigstens anzudeuten, wiederholt damit den Grundfehler des Menschewismus: „Unsicherheit und Zaghaftigkeit" im Denken.

Man denke sich einmal in seine Konstruktion der „passiven" Revolution hinein. Zweifellos sind langwierige Perioden der Vorbereitung eines neuen Aufschwunges, eines neuen Ansturmes oder euer Formen der Bewegung durchaus möglich. Aber seid doch keine Doktrinäre, Herrschaften: überlegt doch einmal, was diese „ständige Gärung" im Dorf neben dem „Kleinkrieg", den „Strafexpeditionen" und dem Wechsel der Mannschaften der Polizei und des Heeres bedeutet? Ihr begreift ja nicht einmal, was ihr selbst redet. Die von euch geschilderte Lage ist nichts anderes ab ein langwieriger Partisanenkampf, unterbrochen von einer Reihe von immer breiteren und geschlosseneren Ausbrüchen von Militäraufständen. Ihr wiederholt heftige und zornige Worte über „Partisanen", „Anarchisten", „anarcho-blanquistische Bolschewiki" usw. und malt zugleich das Bild der Revolution bolschewistisch! Wechsel der Mannschaft des Heeres, Ersetzung durch „Elemente aus dem unzufriedenen Dorf". Was bedeutet das? Muss diese „Unzufriedenheit" des Dorfes, das man in Matrosen- und Soldatenkittel gesteckt hat, nicht zum Durchbruch kommen? Muss sie nicht zum Durchbruch kommen, wenn das Heimatdorf dieser Matrosen und Soldaten sich in ständiger Gärung" befindet? Wenn im Lande einerseits ein „Kleinkrieg" und anderseits „Strafexpeditionen" stattfinden? Und kann man sich in einer Epoche von Schwarzhunderter-Pogromen, Gewaltakten der Regierung und polizeilicher Willkür vorstellen, dass diese Unzufriedenheit der Soldaten anders zum Ausbruch kommt als in militärischen Aufständen?

Indem ihr Kadettenphrasen wiederholt („unsere Revolution vollzieht sich nicht auf dem Wege des Aufstandes" – diese Phrase haben nämlich die Kadetten Ende 1905 in Umlauf gesetzt; siehe die Miljukowsche „Narodnaja Swoboda"5), schildert ihr gleichzeitig die Unvermeidlichkeit eines neuen Aufstandes: Bei der ersten ernsten Probe wird die Regierung stürzen." Glaubt ihr, dass eine ernste Probe der Regierung in einer breiten, mannigfaltigen und verwickelten Volksbewegung möglich ist, ohne dass eine Reihe von nicht ernsten und Teilproben vorausgegangen wäre?, dass ein Generalstreik ohne eine Reihe von Teilstreiks möglich ist?, ein allgemeiner Aufstand ohne eine Reihe von zersplitterten kleinen, nicht-allgemeinen Teilaufständen?

Wenn im Heere das Element des unzufriedenen Dorfes wächst und wenn die Revolution im allgemeinen vorwärtsschreitet, so ist ein Aufstand in der Form des erbittertsten Kampfes mit dem Schwarzhundert-Militär, in der Form eines Kampfes des Volkes und eines Teiles des Heeres unvermeidlich (denn auch die Schwarzhunderter organisieren sich und lernen, – vergesst das nicht! Vergesst nicht, dass es soziale Elemente gibt, die das Schwarzhunderttum nähren)! Man muss sich also vorbereiten, sich für einen planmäßigeren, einmütigen und offensiven Aufstand vorbereiten, das ist es, was sich aus den Voraussetzungen Larins, aus seinem Kadettenmärchen von der passiven (??) Revolution ergibt. Die Menschewiki „haben auf den Gang der russischen Revolution ihre eigene Schwermut und Verzagtheit abgewälzt" (58), bekennt Larin. Durchaus richtig! Passivität, – das ist eine Eigenschaft der kleinbürgerlichen Intellektuellen und nicht der Revolution. Passiv sind diejenigen, die zugeben, dass die Armee mit Elementen des unzufriedenen Dorfes aufgefüllt wird, die zugeben, dass eine ständige Gärung und ein ständiger Kleinkrieg unvermeidlich sind, und zugleich so wohlgemut, wie Iwan Feodorowitsch Schponka die Arbeiterpartei trösten: „Die russische Revolution wird sich nicht auf dem Wege des Aufstandes vollziehen."

Und der „Kleinkrieg"? Sie, verehrter Larin, finden, dass der „Kleinkrieg" „seinen Ergebnissen nach für das Dorf der vorteilhafteste Weg" ist? Sie halten diese Meinung aufrecht, ungeachtet der Strafexpeditionen, wobei Sie diese Expeditionen sogar in den vorteilhaftesten Weg einbeziehen? Haben Sie auch nur einen einzigen Augenblick darüber nachgedacht, wodurch sich der Kleinkrieg vom Partisanenkrieg unterscheidet? Durch nichts, verehrter Genosse Larin.

Da Sie sich in die schlechten Beispiele Amerikas und Polens vertieften, übersahen Sie die besonderen Formen des Kampfes, die der russische Aufstand hervorgebracht hat, der langwieriger und hartnäckiger ist und längere Pausen zwischen den großen Kämpfen aufweist als die Aufstände vom alten Schlage.

Genosse Larin ist in eine völlige Konfusion geraten und hat seine Argumente nicht logisch bis zu Ende gedacht. Wenn die Revolution im Dorfe einen Boden hat, wenn die Revolution breiter wird und neue Kräfte gewinnt, wenn der unzufriedene Bauer die Armee auffüllt, im Dorfe aber ständig Gärung und Kleinkrieg herrschen, so bedeutet das, dass die Bolschewiki, die dagegen kämpfen, dass die Frage des Aufstandes von der Tagesordnung abgesetzt wird, recht haben. Es fällt uns gar nicht ein, in jedem beliebigen Augenblick, unter allen beliebigen Bedingungen den Aufstand zu propagieren. Wir fordern jedoch, dass das Denken der Sozialdemokraten nicht unsicher und zaghaft sei. Wenn Sie anerkennen, dass die Voraussetzungen für den Aufstand gegeben sind, so müssen Sie auch den Aufstand selbst anerkennen, so müssen Sie auch die besonderen Aufgaben der Partei im Zusammenhang mit diesem Aufstand anerkennen.

Den Kleinkrieg als „vorteilhaftesten Weg" bezeichnen, d. h. als vorteilhafteste Form des Volkskampfes in einer besonderen Epoche unserer Revolution, und es gleichzeitig ablehnen, die aktiven Aufgaben der Partei der vorgeschrittenen Klasse auf dem Boden dieses „vorteilhaftesten Weges" anzuerkennen, das bedeutet nicht denken können oder unehrlich denken.

II.

Theorie der Passivität" – so könnte man die Betrachtungen Larins über die „passive" Revolution nennen, die „den Sturz der alten Regierung bei der ersten ernsten Probe" vorbereitet und diese „Theorie der Passivität", ein natürliches Erzeugnis der Zaghaftigkeit im Denken, drückt der ganzen Broschüre unseres bußfertigen Menschewiks ihren Stempel auf. Er stellte die Frage: warum ist unsere Partei bei ihrem ungeheuer großen ideologischen Einfluss organisatorisch so schwach? Nicht deshalb, antwortet Larin, weil unsere Partei eine Partei von Intellektuellen ist. Diese alte „amtliche" (ein Wörtchen Larins) Erklärung der Menschewiki ist keinen Schuss Pulver wert. Sie ist deshalb organisatorisch so schwach, weil für die gegenwärtige Epoche objektiv keine andere Partei notwendig war und weil keine objektiven Voraussetzungen für eine andere Partei bestanden. Weil für eine „Politik von spontanen Ausbrüchen", wie es die Politik des Proletariats im Anfang unserer Revolution war, eine Partei auch gar nicht notwendig war. Es war nur ein „technischer Apparat zur Bedienung der spontanen Aktionen" und der „spontanen Stimmungen", zur propagandistisch-agitatorischen Arbeit in der Zeit zwischen zwei Ausbrüchen erforderlich. Es war keine Partei im europäischen Sinne des Wortes, sondern eine „enge Vereinigung von jungen konspirativ wirkenden Arbeitern – hundertzwanzigtausend von neun Millionen"; verheiratete Arbeiter gab es wenig; die Mehrzahl der Arbeiter, die zu politischer Tätigkeit bereit waren, stand außerhalb der Partei.

Die Zeit der spontanen Ausbrüche ist jetzt vorüber. Die Berechnung tritt an die Stelle einer einfachen Stimmung. An Stelle einer „Politik der spontanen Ausbrüche" entsteht eine „Politik der planmäßigen Aktion". Erforderlich ist „eine Partei europäischen Schlages", „eine Partei objektiv-planmäßiger politischer Aktion". An Stelle einer „Apparat-Partei" ist eine „Vorhut-Partei", die ein Sammelbecken ist für alles, was die Arbeiterklasse an Menschenmaterial, das zu aktivem politischen Leben geeignet ist, liefern kann". Es ist ein Übergang zu „einer europäischen Partei der Aktion auf der Grundlage der Berechnung". Der „offizielle Menschewismus mit seiner halben und unsicheren Praxis, mit seiner Schwermut und seinem Nichtverstehen der eigenen Lage" „wird von dem gesunden Realismus der europäischen Sozialdemokratie abgelöst". „Seine Stimme klingt ziemlich deutlich nicht erst seit heute im Munde Plechanows und Axelrods – eigentlich der einzigen Europäer in unserm ,barbarischen' Milieu" … Und wenn an Stelle der Barbarei Europäertum tritt, so verheißt das natürlich, dass an Stelle der Misserfolge Erfolge treten. „Wo die Spontaneität herrscht, dort sind Fehler in der Einschätzung, Misserfolge in der Praxis unausbleiblich." „Wo das Spontane herrscht – da herrscht Utopismus, wo Utopismus herrscht – da häufen sich die Misserfolge."

In diesen Larinschen Betrachtungen springt wiederum ins Auge ein schreiendes Missverhältnis zwischen dem mikroskopisch kleinen Körnchen eines zwar nicht neuen, aber richtigen Gedankens und dem ungeheuren Wust von geradezu reaktionärem Unverstand. Ein Löffel Honig und ein Fass Teer.

Es ist ganz unzweifelhaft und unbestreitbar, dass die Arbeiterklasse aller Länder – nach Maßgabe der Entwicklung des Kapitalismus, nach Maßgabe der Anhäufung der Erfahrungen der bürgerlichen Revolution oder bürgerlicher Revolutionen wie auch erfolgloser sozialistischer Revolutionen – wächst, sich entwickelt, lernt, sich bildet und organisiert. Mit andern Worten: sie entwickelt sich von der Spontaneität zur Planmäßigkeit – aus einem Zustand, in dem sie sich nur von Stimmungen leiten lässt, zu einem Zustand, in dem sie sich von der objektiven Lage aller Klassen leiten lässt, von Ausbrüchen zu konsequentem Kampf. Das alles ist richtig. Das alles ist ebenso alt wie die Welt und gilt ebenso sehr für das Russland des 20. wie für das England des 17. Jahrhunderts, für das Frankreich der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts wie für das Deutschland am Ausgang des 19. Jahrhunderts.

Aber das gerade ist das Unglück Larins, dass er durchaus nicht imstande ist, das Material zu verdauen, das unsere Revolution den Sozialdemokraten liefert. Die Ausbrüche der russischen Barbarei der europäischen Planmäßigkeit gegenüber zu stellen, das bezaubert ihn ebenso, wie ein neues Bildchen ein Kind bezaubert. Er spricht eine Binsenwahrheit aus, die überhaupt für alle Zeiten gilt, und begreift nicht, dass die naive Anwendung dieser Binsenwahrheit auf die Epoche des unmittelbar revolutionären Kampfes sich bei ihm, in seinen Händen, in renegatenhaftes Verhalten der Revolution gegenüber verwandelt. Es wäre tragikomisch, wenn nicht die Aufrichtigkeit Larins jeden Zweifel darüber ausschlösse, dass er unbewusst in den Chor der Renegaten der Revolution einstimmt.

Spontane Ausbrüche der Barbaren, planmäßige Aktion der Europäer … das ist eine reine Kadettenformel und ein Kadettengedanke, ein Gedanke der Verräter der russischen Revolution, die sich berauschen an dem „Konstitutionalismus" im Geiste Muromzews, der erklärte: „Die Duma ist ein Teil der Regierung"6, oder des Lakaien Roditschew, von dem der Ausruf stammt: „Es ist eine Frechheit, den Monarchen für den Pogrom verantwortlich zu machen!" Die Kadetten haben eine ganze Literatur von Renegaten hervorgebracht (die Isgojew, Struve, Prokopowitsch, Portugalow e tutti quanti7), die den Massenrausch, d. h. die Revolution, in den Staub ziehen. Der liberale Bourgeois ist wie das bekannte Tier in der Fabel nicht imstande, seinen Blick nach oben zu richten und zu verstehen, dass nur dank dem „Ausbruch" des Volkes bei uns wenigstens ein Schatten von Freiheit besteht.

Und Larin wandelt mit naiver Kritiklosigkeit in den Fußstapfen der Liberalen. Larin versteht nicht, dass die von ihm berührte Frage zwei Seiten hat: 1. die Gegenüberstellung des spontanen Kampfes und des planmäßigen Kampfes gleichen Umfanges und gleicher Formen und 2. die Gegenüberstellung der (im engen Sinne des Wortes) revolutionären Epoche und der konterrevolutionären oder „nur-konstitutionellen" Epoche. Larins Logik ist keinen Pfifferling wert. Einen spontanen politischen Streik stellt er nicht einem planmäßigen politischen Streik, sondern einer planmäßigen Beteiligung, sagen wir, an der Bulyginschen Duma, einen spontanen Aufstand nicht einem planmäßigen Aufstand, sondern einem planmäßigen gewerkschaftlichen Kampf gegenüber. Und deshalb artet seine marxistische Analyse in eine spießbürgerlich-platte Verherrlichung der Konterrevolution aus.

Die europäische Sozialdemokratie ist „eine Partei der objektiv-planmäßigen politischen Aktion" – stammelt Larin begeistert. Wie kindlich! er bemerkt nicht, dass er von der besonders engen „Aktion" begeistert ist, auf die sich die Europäer in der Epoche eines nicht unmittelbar-revolutionären Kampfes beschränken mussten. Er bemerkt nicht, dass er von der Planmäßigkeit des legalen Kampfes begeistert ist und die Spontaneität des Kampfes wegen der Kraft und der Macht schmäht, die die Grenzen des „legalen" Kampfes bestimmen. Er vergleicht den spontanen Aufstand der Russen im Dezember 1905 nicht mit dem „planmäßigen" Aufstand der Deutschen im Jahre 1849, der Franzaosen im Jahre 1871, sondern mit der Planmäßigkeit des Anwachsens der deutschen Gewerkschaften. Er vergleicht den spontanen und misslungenen Generalstreik der Russen im Dezember 1905 nicht mit dem „planmäßigen" und misslungenen Generalstreik der Belgier im Jahre 19028, sondern mit einer planmäßigen Parlamentsrede Bebels oder Vanderveldes.

Deswegen versteht Larin nicht den weltgeschichtlichen Fortschritt im Massenkampf des Proletariats, den der Streik vom Oktober 1905 und der Aufstand vom Dezember 1905 bedeuten. Aber den Rückschritt der russischen Revolution (der nach seiner eigenen Ansicht ein zeitweiliger Rückschritt ist), der in der Notwendigkeit legaler Vorbereitungsarbeit (Gewerkschaften, Wahlen usw.) zum Ausdruck kommt, erhebt er zum Fortschritt von der Spontaneität zur Planmäßigkeit, von der Stimmung zur Berechnung usw.

An Stelle der Moral eines revolutionären Marxisten (anstatt eines spontanen politischen Streiks ist ein planmäßiger politischer Streik notwendig; an Stelle eines spontanen Aufstandes ist ein planmäßiger Aufstand erforderlich) ergibt sich daher die Moral eines kadettischen Renegaten (anstatt „Massenrausches" – wie er die Streiks, Aufstände nennt – ist eine planmäßige Unterordnung unter die Stolypinschen Gesetze und der planmäßige Kuhhandel mit der Schwarzhundertmonarchie erforderlich).

Nein, Genosse Larin, wenn Sie sich den Geist des Marxismus zu eigen gemacht hätten, nicht nur seine Worte, würden Sie den Unterschied zwischen dem revolutionären dialektischen Materialismus und dem Opportunismus der „objektiven" Historiker kennen. Sie brauchen sich nur an das zu erinnern, was Marx über Proudhon gesagt hat. Der Marxist verpönt nicht den legalen Kampf, den friedlichen Parlamentarismus, die „planmäßige" Einordnung in den Rahmen der geschichtlichen Arbeit, der von den Bismarck und Bennigsen, den Stolypin und Miljukow gezogen wird. Aber der Marxist, der jeden, sogar den reaktionären Boden, zum Kampf für die Revolution benützt, sinkt nicht zur Verherrlichung der Reaktion herab, vergisst nicht den Kampf um den besten möglichen Boden der Tätigkeit. Deshalb sieht der Marxist als erster das Nahen einer revolutionären Epoche voraus und beginnt das Volk zu wecken und Sturm zu läuten, während die Philister noch ihren sklavischen Untertanenschlaf schlafen. Deshalb betritt der Marxist als erster den Weg des offenen revolutionären Kampfes, geht dem unmittelbaren Zusammenstoß entgegen, indem er die versöhnlerischen Illusionen aller möglichen sozialen und politischen Mittelmäßigkeiten entlarvt. Deshalb verlässt der Marxist als letzter den Weg des unmittelbar revolutionären Kampfes, verlässt ihn erst dann, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, wenn auch keine Spur von Hoffnung auf einen kürzeren Weg geblieben ist, wenn die Aufforderung zur Vorbereitung zu Massenstreiks, zum Aufstand usw. offenkundig jeden Boden verliert. Deshalb antwortet der Marxist mit Verachtung den zahllosen Renegaten der Revolution, die ihm zurufen: wir sind „fortschrittlicher" als du, wir haben uns früher von der Revolution losgesagt! Wir haben uns früher der monarchistischen Konstitution „untergeordnet"!

Eins von beiden, Genosse Larin. Glauben Sie, dass es schon keinen Boden mehr gibt für den Aufstand und für die Revolution im engen Sinne des Wortes? Dann sagen Sie es offen und beweisen Sie es uns marxistisch, durch eine ökonomische Analyse, durch eine Untersuchung der politischen Bestrebungen der verschiedenen Klassen, durch eine Analyse der Bedeutung der ideologischen Strömungen. Haben Sie es bewiesen? Dann werden wir die Reden über den Aufstand für Maulheldentum erklären. Dann werden wir sagen: wir haben keine große Revolution gehabt, sondern eine große Feige in der Tasche. Arbeiter! Die Bourgeoisie und die Kleinbürger (einschließlich der Bauern) haben euch verraten und verlassen. Wir aber werden auf dem Boden, den sie entgegen unsern Bemühungen geschaffen haben, hartnäckig, geduldig, unerschütterlich für die sozialistische Revolution arbeiten, die nicht so voll Halbheiten und so dürftig, so reich an Phrasen und so arm an schöpferischer Tat sein wird, wie die bürgerliche Revolution!

Oder glauben Sie wirklich, was Sie sagen, Genosse Larin? Glauben Sie, dass die Revolution wächst, dass der Kleinkrieg und die dumpfe Gärung in zwei bis drei Jahren eine neue unzufriedene Armee und eine neue „ernste Probe" hervorbringen werden? Dass „das Dorf sich nicht beruhigen kann"? Dann müssen Sie zugeben, dass die „Ausbrüche" die Kraft der Empörung des ganzen Volkes und nicht die Kraft des zurückgebliebenen Barbarentums zum Ausdruck bringen, dass es unsere Pflicht ist, den spontanen Aufstand in einen planmäßigen Aufstand umzuwandeln, indem wir zäh und beharrlich, im Laufe von vielen langen Monaten, oder vielleicht sogar Jahren, an dieser Umwandlung arbeiten, und dass es nicht unsere Pflicht ist, uns von dem Aufstand loszusagen, wie es alle möglichen Judasse tun.

Ihre jetzige Position, Genosse Larin, ist eben „Schwermut und Verzagtheit", „Unsicherheit und Zaghaftigkeit" des Gedankens und ein Abwälzen der eigenen Passivität auf unsere Revolution.

Das und nichts anderes hat es zu bedeuten, wenn Sie triumphierend den Boykott der Duma für einen Fehler erklären. Dieser Triumph ist kurzsichtig und abgeschmackt. Wenn der Verzicht auf den Boykott „fortschrittlich" ist, so sind die rechten Kadetten aus den „Russkije Wjedomosti", die gegen den Boykott der Bulyginschen Duma gekämpft haben, die die Studenten aufgefordert haben, „zu studieren und nicht zu rebellieren", die fortschrittlichsten Leute. Wir beneiden die Renegaten nicht um diese Fortschrittlichkeit. Wir glauben, es heißt den Materialismus des revolutionären Kämpfers durch den „Objektivismus" des Professors ersetzen, der vor der Reaktion auf dem Bauche liegt, wenn man den Boykott der Witteschen Duma (an deren Einberufung drei bis vier Monate lang niemand glaubte) für einen „Fehler" erklärt und den Fehler derjenigen verschweigt, die zur Beteiligung an der Bulyginschen Duma aufgefordert haben. Wir glauben, dass die Lage derjenigen, die als Letzte , und nachdem sie wirklich alles auf dem Wege des offenen Kampfes erprobt haben, in die Duma gegangen sind, einen Umweg gemacht haben, besser ist als die Lage derjenigen, die zur Beteiligung an der Bulyginschen Duma am Vorabend des Volksaufstandes, der diese Duma hinweggefegt hat, als Erste aufgefordert haben.

Larin aber kann diese Kadettenphrase über die Fehlerhaftigkeit des Boykotts um so weniger verziehen werden, weil er glaubwürdig davon spricht, dass die Menschewiki „alle möglichen gescheiten und schlauen Kniffe – vom Wahlprinzip und der Semstwokampagne bis zur Sammlung der Partei durch die Beteiligung an den Wahlen zum Zweck der Boykottierung der Duma auszudenken bemüht waren" (57). Die Menschewiki riefen die Arbeiter zur Beteiligung an der Dumawahl auf, ohne daran zu glauben, dass man in die Duma gehen könne. War nicht die Taktik derjenigen richtiger, die nicht daran glaubten und die Duma boykottierten? Die es für Volksbetrug erklärten, die Duma als „Macht" zu bezeichnen (diese Bezeichnung haben die Menschewiki noch eher als Muromzew in der Resolution des Vereinigungs-Parteitages der Duma gegeben)? Die erst dann in die Duma gegangen sind, als die Bourgeoisie endgültig den geraden Weg des Boykotts aufgab und uns zwang, einen Umweg zu machen, den wir jedoch nicht mit dem Ziele und nicht so gegangen sind, wie die Kadetten.

III.

Die Gegenüberstellung von Apparatpartei und Vorhutpartei, die Larin macht, oder der Partei der Kämpfer gegen die Polizei und der Partei der bewussten politischen Kämpfer, scheint von durchaus „reinproletarischem" Geiste zu sein. In Wirklichkeit ist es genau solch ein intellektueller Opportunismus, wie die entsprechende Gegenüberstellung, die in den Jahren 1899–1901 die Anhänger der „Rabotschaja Mysl" und die Anhänger Akimows gemacht haben.

Einerseits ist es die höchste politische Aufgabe der Partei, sich des „spontanen Ausbruchs anzunehmen", wenn die objektiven Voraussetzungen für den unmittelbar revolutionären Ansturm der Massen gegeben sind. Eine solche revolutionäre Arbeit der Politik“ gegenüberstellen, heißt die Politik zum Politikantentum erniedrigen. Es heißt die Politik des Dumakampfes anpreisen und sie über die Politik der Massen im Oktober und Dezember stellen. Das heißt von einem proletarisch-revolutionären zu einem intelligenzlerisch-opportunistischen Standpunkt übergehen.

Jede Kampfform erfordert eine entsprechende Technik und einen entsprechenden Apparat. Wenn kraft der objektiven Bedingungen der parlamentarische Kampf zur Hauptkampfform wird, werden in der Partei unweigerlich die charakteristischen Eigenschaften des Apparates für den parlamentarischen Kampf stärker hervortreten. Wenn dagegen die objektiven Bedingungen den Massenkampf in der Form politischer Massenstreiks und Aufstände hervorrufen, muss die Partei des Proletariats „Apparate" zur „Bedienung" eben dieser Kampfformen haben. Und es versteht sich von selbst, dass es besondere „Apparate" sein müssen, die keine Ähnlichkeit mit den parlamentarischen Apparaten haben. Eine organisierte Partei des Proletariats, die das Vorhandensein von Bedingungen für Volksaufstände anerkennt, und nicht für einen entsprechenden Apparat sorgt, wäre eine Partei von intelligenzlerischen Schwätzern. Die Arbeiter werden von dieser Partei zum Anarchismus, zum bürgerlichen Revolutionismus usw. abwandern.

Anderseits hängt die Zusammensetzung der politisch führenden Vorhut jeder einzelnen Klasse, einschließlich des Proletariats, ebenfalls sowohl von der Lage dieser Klasse als auch von der Hauptform ihres Kampfes ab. Larin beschwert sich z. B. darüber, dass in unserer Partei die Arbeiterjugend überwiegt, dass wir wenig verheiratete Arbeiter haben, dass sie die Partei verlassen. Diese Klage des russischen Opportunisten erinnert mich an eine Stelle bei Engels (wenn ich nicht irre in dem Artikel „Zur Wohnungsfrage"). Engels schrieb in einer Polemik gegen einen geistlosen bürgerlichen Professor, einen deutschen Kadetten: ist es nicht natürlich, dass bei uns, in der Partei der Revolution, die Jugend überwiegt? Wir sind die Partei der Zukunft, die Zukunft gehört aber der Jugend. Wir sind die Partei der Neuerer, den Neuerern aber leistet die Jugend gern Gefolgschaft. Wir sind die Partei des aufopfernden Kampfes gegen die alte Fäulnis, zum aufopferungsvollen Kampf aber ist stets die Jugend als erste bereit.9

Nein, überlassen wir es lieber den Kadetten, „müde" Greise von dreißig Jahren, „gescheiter gewordene" Revolutionäre und Renegaten der Sozialdemokratie aufzulesen. Wir werden stets die Partei der Jugend, der vorgeschrittenen Klasse sein!

Larin selbst lässt sich das offenherzige Geständnis entschlüpfen, weshalb ihm die kampfmüden Familienväter so leid tun. Soviel als möglich solcher müden Leute in die Partei aufzunehmen, das würde sie „schwerfälliger machen und dem politischen Abenteurertum den Boden entziehen" (S. 18).

Das ist schon besser, mein guter Larin! Wozu die List und der Selbstbetrug, Sie brauchen keine Vorhutpartei, sondern eine Nachhutpartei, die schwerfälliger wäre. Das sollten Sie auch offen aussprechen!

„… Dem politischen Abenteurertum den Boden zu entziehen" Es hat auch in Europa Niederlagen gegeben, die Junitage von 1848, die Maitage von 1871. Sozialdemokraten aber, Kommunisten, die ihre Aufgabe darin gesehen hätten, die Aktionen der Massen in der Revolution als „Abenteuer" zu bezeichnen, das hat es noch nicht gegeben. Es musste erst so weit kommen, dass sich charakterlose und feige russische Spießbürger, die nicht an sich selbst glauben und den Kopf hängen lassen, sobald nur eine Wendung der Ereignisse zur Reaktion stattfindet, Leute, die man, mit Verlaub zu sagen, als „Intelligenz" bezeichnet (hoffentlich nicht für lange), für revolutionäre Marxisten ausgeben.

… „Dem Abenteurertum den Boden zu entziehen!" Wenn dem aber so ist, so ist Larin selbst der erste Abenteurer, denn er bezeichnet den „Kleinkrieg" als vorteilhaftesten Weg der Revolution, er flößt den Massen Glauben an das Anwachsen der Revolution ein, den Glauben an die Auffüllung der Armee in zwei bis drei Jahren mit unzufriedenen Elementen aus dem Dorfe, an den nahenden „Sturz der alten Macht" bei der „ersten ernsten Probe"!

Larin ist jedoch ein Abenteurer auch noch in einem andern, viel schlimmeren und kleinlicheren Sinne. Er ist ein Verteidiger des Arbeiterkongresses und der „parteilosen Partei" (sein Wörtlein!). An Stelle der Sozialdemokratie sei eine „Allrussische Arbeiterpartei" erforderlich, und zwar deswegen eine „Arbeiter"-partei, weil man kleinbürgerliche Revolutionäre, die Sozialrevolutionäre, die PPS, die weißrussische Hromada u. dgl. m. in sie aufnehmen müsse.

Larin ist ein Verehrer Axelrods. Aber er hat ihm einen Bärendienst erwiesen. Er hat seine „jugendliche Tatkraft", seinen „echten Parteimut" im Kampfe für den Arbeiterkongress so gepriesen, er hat ihn so heiß umarmt, dass er ihn in seinen Armen erdrückt hat! Axelrods nebelhafte „Idee" eines Arbeiterkongresses wurde von dem naiven und ehrlichen Praktiker totgeschlagen, der sofort damit herausplatzte, was man zugunsten einer erfolgreichen Propaganda für den Arbeiterkongress hätte verheimlichen müssen. Arbeiterkongress bedeute „das Aushängeschild herunternehmen" (S. 20 bei Larin, für den der Sozialdemokratismus nur ein Aushängeschild ist), bedeute Verschmelzung mit den Sozialrevolutionären und mit den Gewerkschaften.

Richtig, Genosse Larin! Besten Dank, wenn auch nur für die Aufrichtigkeit! Der Arbeiterkongress bedeutet wirklich alles dies. Sogar gegen den Willen seiner Einberufer würde er zu nichts anderem führen. Deshalb eben ist der Arbeiterkongress jetzt ein armseliges opportunistisches Abenteuer. Armselig, weil ihm kein großer Gedanke, sondern nur die Müdigkeit des Intellektuellen vom hartnäckigen Kampf um den Marxismus zugrunde liegt. Opportunistisch – aus demselben Grunde und deshalb, weil man Tausenden von Kleinbürgern, die sich noch lange nicht endgültig auf sich selbst besonnen haben, Einlass in die Arbeiterpartei gewährt. Ein Abenteuer, weil ein solcher Versuch unter den derzeitigen Bedingungen keinen Frieden, keine positive Arbeit, keine Zusammenarbeit von Sozialrevolutionären und Sozialdemokraten, denen Larin liebenswürdig die Rolle von „Propagandagesellschaften innerhalb der breiten Partei" (S. 40) zuweist, mit sich bringen würde, sondern eine maßlose Verschärfung des Kampfes, der Streitigkeiten, der Spaltungen, der ideologischen Verwirrung und der praktischen Desorganisation.

Eins ist es, vorauszusagen, dass das Sozialrevolutionäre „Zentrum" nach dem Abfall der Volkssozialisten und Maximalisten zu den Sozialdemokraten kommen muss. Etwas anderes ist es, einen Apfel pflücken zu wollen, der erst reift, aber noch nicht reif ist. Entweder werden Sie sich das Genick brechen, Verehrtester, oder den Magen mit unreifen Früchten verderben.

Larin argumentiert „von Belgien aus", – genau so wie im Jahre 1899. R. M. (der Redakteur der „Rabotschaja Mysl"10) und Herr Prokopowitsch (als er den „Sturm und Drang" des Sozialdemokraten durchlebte und noch nicht so klug geworden war, „planmäßig handelnder" Kadett zu werden). Dem Larinschen Büchlein liegt hübsch sauber eine hübsch saubere Übertragung der Statuten der belgischen Arbeiterpartei bei! Der gute Larin hat vergessen, die Industriebedingungen und die Geschichte Belgiens nach Russland zu übertragen. Nach einer Reihe von bürgerlichen Revolutionen, nach Jahrzehnten des Kampfes gegen den kleinbürgerlichen Quasi-Sozialismus Proudhons, bei einer riesenhaften Entwicklung des industriellen Kapitalismus – wohl der höchsten in der Welt – waren der Arbeiterkongress und die Arbeiterpartei in Belgien ein Übergang vom nichtproletarischen zum proletarischen Sozialismus. In Russland, inmitten der bürgerlichen Revolution, die unvermeidlich kleinbürgerliche Ideen und kleinbürgerliche Ideologen gebiert, bei Vorhandensein einer wachsenden „Trudowiki"-Strömung in den Zwischenschichten der Bauernschaft und des Proletariats, bei Vorhandensein einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit einer fast ein Jahrzehnt alten Geschichte ist der Arbeiterkongress ein schlechter Einfall, ist die Verschmelzung mit den Sozialrevolutionären (Wer kennt sie? Vielleicht sind es 30.000, vielleicht aber auch 60.000 – sagt Larin in seiner Einfalt) eine Intellektuellen-Grille.

Ja, ja, die Geschichte versteht sich auf Ironie! Jahr um Jahr haben die Menschewiki geschrien, die Bolschewiki näherten sich dem Sozialrevolutionarismus. Und siehe da, die Bolschewiki lehnen den Kongress unter anderem gerade deswegen ab, weil er den Unterschied zwischen dem Standpunkt der Proletarier und dem Standpunkt der kleinen Eigentümer verdunkeln würde (siehe die Resolution des Petersburger Komitees11 in Nr. 3 des „Proletarij"). Der Menschewik aber tritt im Zusammenhang mit der Verteidigung des Arbeiterkongresses für die Verschmelzung mit den Sozialrevolutionären ein. Das ist unvergleichlich.

Ich will nicht die Partei in der Klasse auflösen – rechtfertigt sich Larin. Ich will nur die Vorhut, 900 Tausend von 9 Millionen, zusammenfassen (S. 17 und S. 49).

Nehmen wir die amtlichen Zahlen der Betriebs- und Werksstatistik für das Jahr 1903. Insgesamt gibt es 1.640.406 Arbeiter in Fabriken und Werken. Davon sind 797.997 in Werken beschäftigt, deren Arbeiterzahl 500 übersteigt; 1.261.363 in Werken, die über 100 Arbeiter beschäftigen. Die Zahl der Arbeiter der Großbetriebe (800.000) ist ein wenig niedriger als die Zahl, die Larin für die mit den Sozialrevolutionären vereinigte Arbeiterpartei angibt!

Larin hofft also nicht darauf, dass wir in Russland, wo wir bereits jetzt zirka 150.000 bis 170.000 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei zählen, bei 800.000 Arbeitern in den Großbetrieben, bei Großbetrieben im Bergbau (die nicht mitgezählt wurden), bei einer Masse von rein proletarischen Elementen im Handel, in der Landwirtschaft, im Transport usw., – er hofft also nicht darauf, dass wir bei alledem bald 900000 Proletarier als Mitglieder für die Sozialdemokratie gewinnen können? Das ist ungeheuerlich, aber es ist Tatsache.

Aber der Unglaube Larins ist nur die Zaghaftigkeit im Denken des Intellektuellen.

Wir glauben durchaus, dass diese Aufgabe verwirklicht werden kann. Als Gegengewicht gegen das Abenteuer des „Arbeiterkongresses" und der „parteilosen Partei" stellen wir die Losung auf: unsere sozialdemokratische Partei zu verfünffachen und zu verzehnfachen, jedoch in erster Linie und fast ausschließlich mit rein proletarischen Elementen und ausschließlich unter dem ideologischen Banner des revolutionären Marxismus.*

Jetzt, nach dem Jahr der großen Revolution, bei einer schnellen Entwicklung aller möglichen Parteien, schließt sich das Proletariat schneller als jemals zu einer selbständigen Partei zusammen. Die Duma-Wahlen werden dazu beitragen (selbstverständlich nur dann, wenn wir uns nicht auf opportunistische Blocks mit den Kadetten einlassen). Die Verrätereien der Bourgeoisie im allgemeinen und des Kleinbürgertums (der Volkssozialisten) in Sonderheit werden die revolutionäre Sozialdemokratie stärken.

Wir werden das Larinsche „Ideal" (900.000 Parteimitglieder) verwirklichen – wir werden dies Ideal sogar überholen durch beharrliche Arbeit auf demselben Wege, nicht aber durch Abenteuer. Es ist jetzt wirklich erforderlich, die Partei durch proletarische Elemente zu erweitern. Es ist anormal, dass wir in Petersburg insgesamt nur 6000 Parteimitglieder haben (es gibt im St. Petersburger Gouvernement 81.000 Arbeiter, die in Betrieben mit 500 und mehr Arbeitern beschäftigt sind; insgesamt 150.000 Arbeiter), dass wir im zentralen Industriegebiet insgesamt nur 20.000 Parteimitglieder haben (377.000 Arbeiter in Betrieben mit 500 und mehr Arbeitern, insgesamt 562.000 Arbeiter). Man muss es verstehen, in solchen Zentren fünf- und zehnmal mehr Arbeiter in die Partei zu ziehen.** Hierin hat Larin durchaus und unbedingt Recht. Aber wir dürfen nicht in intelligenzlerischen Kleinmut und in intelligenzlerische Nervosität verfallen. Wir werden unser Ziel auf unserm sozialdemokratischen Wege, ohne Abenteuer erreichen.

Die einzige „erfreuliche Erscheinung" in der Broschüre des Genossen Larin ist sein scharfer Protest gegen Blocks mit den Kadetten. In einem andern Artikel der vorliegenden Nummer unserer Zeitung findet der Leser diesbezüglich ausführliche Zitate im Zusammenhang mit der Kennzeichnung aller Schwankungen des Menschewismus in dieser wichtigen Frage.12

Hier aber interessiert uns die allgemeine Kennzeichnung des Menschewismus durch einen solchen „autoritativen" Zeugen, wie es der Menschewik Larin ist. Er protestiert nämlich anlässlich der Blocks mit den Kadetten gegen einen „verflachten Amtsstubenmenschewismus". Der „Amtsstubenmenschewismus", schreibt er, ist fähig, „eine selbstmörderische Vereinigung mit den Gegnern der Sozialdemokratie aus dem bürgerlichen Lager anzustreben". Wir wissen nicht, ob Larin bei der Verteidigung seiner Ansichten gegen Plechanow mehr Festigkeit wird bekunden können als Martow. Larin aber wendet sich gegen den „offiziellen" und „Amtsstubenmenschewismus" nicht nur anlässlich der Blocks mit den Kadetten. „Alles Absterbende", sagt Larin z. B. an die Adresse des Menschewismus, „gewinnt Amtsstubengepräge" (S. 65). Der Menschewismus stirbt ab und macht dem „europäischen Realismus" Platz. „Hieraus ergibt sich die ewige Schwermut, die Halbheit, die Unsicherheit des Menschewismus" (S. 62). Über das Gerede vom Arbeiterkongress schreibt er: „Fast alle diese Redereien tragen an der Stirn den Stempel des Unausgesprochenen, der Zaghaftigkeit im Denken, das sich vielleicht einfach nicht laut auszusprechen entschließt, was im Innern schon ausgereift ist" (S. 6) usw.

Wir wissen bereits, was hinter dieser Krise des Menschewismus, dieser seiner Entartung zum Amtstubenmenschewismus steckt***: der Zweifel des kleinbürgerlichen Intellektuellen an der Möglichkeit des weitem revolutionären Kampfes, die Furcht, die Revolution für abgeschlossen zu erklären, die Furcht, den endgültigen Sieg der Reaktion zuzugeben. „Der Menschewismus war nur eine instinktive halb spontane Sehnsucht nach einer Partei," sagt Larin. Der Menschewismus ist die spontane Sehnsucht des Intellektuellen nach einer gestutzten Konstitution und friedlichem Legalismus, sagen wir. Der Menschewismus ist eine angeblich objektive Apologie der Reaktion, die aus revolutionären Kreisen kommt.

Die Bolschewiki haben vom Anfang an – bereits in der Genfer Zeitung „Wperjod" (Januar bis März 1905) und in der Broschüre „Zwei Taktiken" (Juli 1905) die Frage ganz anders gestellt. Ohne in Irrtümer über den widerspruchsvollen Charakter der Interessen und der Aufgaben der verschiedenen Klassen in der bürgerlichen Revolution zu verfallen, haben sie damals geradeheraus erklärt: möglicherweise wird die russische Revolution mit einer konstitutionellen Fehlgeburt enden. Als Anhänger und Ideologen des revolutionären Proletariats werden wir unsere Pflicht bis zu Ende erfüllen, wir werden durch alle Verrätereien und Niederträchtigkeiten der Liberalen, durch alle Schwankungen, durch die ganze Zaghaftigkeit und durch alle Zweifel der Kleinbürger unsere revolutionären Losungen tragen, wir werden alle revolutionären Möglichkeiten wirklich bis zu Ende erschöpfen, wir werden stolz darauf sein, dass wir als erste den Weg des Aufstandes beschritten und ihn als letzte verlassen haben, nachdem es wirklich unmöglich geworden war, ihn fortzusetzen. Auch gegenwärtig sind wir noch sehr, sehr weit davon entfernt, alle revolutionären Möglichkeiten und Perspektiven für erschöpft zu halten. Unverhohlen und offen propagieren wir den Aufstand und die hartnäckige, beharrliche langwierige Vorbereitung zum Aufstand.

Wenn wir zu der Ansicht gelangen sollten, dass die Revolution abgeschlossen ist, werden wir es offen und unverhohlen sagen. Wir werden vor dem gesamten Volk alle unsere unmittelbaren revolutionären Losungen (wie z. B. die Losung Konstituante) aus unserer Plattform streichen. Wir werden weder uns noch andere mit jesuitischen Sophismen (wie z. B. dem Plechanowschen von der „souveränen Duma" für die Kadetten) betrügen. Wir werden die Reaktion nicht rechtfertigen, werden reaktionären Konstitutionalismus nicht als Boden für einen gesunden Realismus bezeichnen. Wir werden dem Proletariat sagen und beweisen, dass die Verrätereien der Bourgeoisie und die Schwankungen der kleinen Eigentümer die bürgerliche Revolution zugrunde gerichtet haben und dass das Proletariat jetzt selbst eine neue, sozialistische Revolution vorbereiten und durchführen wird. Auf dem Boden des Verfalls der Revolution, d. h. des völligen Verrats der Bourgeoisie, werden wir daher keinesfalls irgendeinen Block mit der opportunistischen, ja nicht einmal mit der revolutionären Bourgeoisie eingehen, denn der Verfall der Revolution würde die Umwandlung des bürgerlichen Revolutionarismus in eine leere Phrase bedeuten.

Deshalb lassen uns die zornigen Worte kalt, mit denen uns Larin überhäuft, wenn er ein Geschrei anstimmt über die nahende Krise des Bolschewismus, der sich erschöpft habe, dass wir stets hinter den Menschewiki einher gehinkt seien usw. Alle diese Anrempelungen und Sticheleien lassen uns nur mitleidig lächeln.

Einzelne Personen sind von den Bolschewiki abgefallen und werden von ihnen abfallen, aber eine Krise kann es in unserer Richtung nicht geben. Haben wir doch von Anfang an erklärt (siehe „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritt zurück"): irgendeine besondere „bolschewistische" Richtung schaffen wir nicht, wir verteidigen nur überall und stets den Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie. In der Sozialdemokratie aber wird es unmittelbar bis zur sozialen Revolution unbedingt einen opportunistischen und einen revolutionären Flügel geben.

Man braucht nur einen flüchtigen Blick auf die Geschichte des „Bolschewismus" zu werfen, um sich davon zu überzeugen.

1903/04. Die Menschewiki propagieren den Demokratismus in der Organisation. Die Bolschewiki bezeichnen das als Intellektuellenphrase, – solange nicht die Partei offen hervorgetreten ist. Der Menschewik „Rabotschij" gibt in seiner Genfer Broschüre (1905)13 zu, dass es bei den Menschewiki in Wirklichkeit keinen Demokratismus gab. Der Menschewik Larin gibt zu, dass das ihr „Gerede über das Wahlprinzip" „ausgeklügelt", dass es ein Versuch war, „die Geschichte zu überlisten", und dass es in Wirklichkeit in der menschewistischen „St. Petersburger Gruppe noch im Herbst 1905 keine Wählbarkeit gab" (Seite 62). Nach der Oktoberrevolution aber haben die Bolschewiki als erste sofort in „Nowaja Schisn" den praktischen Übergang zum Demokratismus in der Partei proklamiert.

Ende 1904. Die Semstwo-Kampagne. Die Menschewiki laufen den Liberalen nach. Die Bolschewiki lehnen (entgegen der häufig verbreiteten Fabel) „gute Demonstrationen" vor den Semstwo-Leuten nicht ab, wohl aber „die schlechten Betrachtungen der Intellektuellen"****, die erklärten, dass in der Kampfarena zwei Kräfte (der Zar und die Liberalen) vorhanden seien, dass die Aktion vor den Semstwo-Leuten eine Demonstration des höchsten Typus sei. Jetzt gibt der Menschewik Larin selbst zu, dass die Semstwo-Kampagne „ausgeklügelt" war (siehe S. 62), dass sie eine „übergescheite und schlaue" Sache war (siehe S. 57).

Anfang 1905. Die Bolschewiki stellen offen und direkt die Frage des Aufstandes, der Vorbereitung zum Aufstand. In der Resolution des 3. Parteitages prophezeien sie die Verbindung des Streiks mit dem Aufstand. Die Menschewiki winden sich, weichen den Fragen der Aufgaben des Aufstandes aus, schwatzen über die Bewaffnung der Massen, über die brennende Notwendigkeit der Selbstbewaffnung.

August, September 1905. Die Menschewiki (Parvus in der neuen „Iskra"14) fordern zur Beteiligung an der Bulyginschen Duma auf. Die Bolschewiki fordern zu ihrem aktiven Boykott, zur unmittelbaren Propaganda des Aufstandes auf.

Oktober–Dezember 1905. Der Volkskampf, in Form von Streiks und Aufständen, fegte die Bulyginsche Duma hinweg. Der Menschewik Larin gibt in seiner schriftlichen Erklärung an den Vereinigungsparteitag zu, dass die Menschewiki in der Periode des höchsten Aufschwunges der Revolution bolschewistisch handelten.15 An den embryonalen Organen der provisorischen Regierung nehmen wir Sozialdemokraten im Verein mit der revolutionären Bourgeoisie teil.

Anfang 1906. Die Menschewiki blasen Trübsal. Sie glauben nicht an die Duma und glauben nicht an die Revolution. Sie fordern die Beteiligung an den Dumawahlen zur Boykottierung der Duma (Larin, S. 57). Die Bolschewiki erfüllen ihre revolutionäre Pflicht und unternehmen alles, was in ihren Kräften steht, um die zweite Duma, an die niemand in den Kreisen der Revolutionäre glaubt, zu boykottieren.

Mai, Juni 1906. Duma-Kampagne. Dank dem Verrat der Bourgeoisie ist der Boykott nicht gelungen. Die Bolschewiki führen ihre revolutionäre Arbeit auf einem neuen, wenn auch schlechteren Boden. Während der zweiten Duma hebt sich unsere Taktik, die Taktik der revolutionären Sozialdemokraten, in den Augen des gesamten Volkes noch klarer vom Opportunismus ab: Kritik an den Kadetten in der Duma, Kampf für die Befreiung der Trudowiki vom Einfluss der Kadetten, Kritik der Duma-Illusionen, Propaganda des revolutionären Zusammenschlusses der linken Duma-Gruppen.

Juli 1906. Auflösung der Duma. Die Menschewiki sind in hellem Aufruhr, treten für einen sofortigen Demonstrationsstreik und für Teilaktionen ein. Die Bolschewiki widersprechen. Larin verschweigt in seiner Darstellung den für die Parteimitglieder veröffentlichten Protest der drei ZK-Mitglieder. Was Larin über diesen Zwischenfall sagt, ist unwahr. Die Bolschewiki verweisen auf die Unsinnigkeit der Demonstration, sind für einen späteren Aufstand. Die Menschewiki unterschreiben Aufrufe zum Aufstand zusammen mit der revolutionären Bourgeoisie.

Ende 1906. Die Bolschewiki erkennen, dass die Verrätereien der Bourgeoisie zu einem Umweg zwingen, dazu zwingen, in die Duma zu gehen. Nieder mit allen Blocks! Nieder insbesondere mit den Blocks mit den Kadetten! Die Menschewiki sind für Blocks.

Nein, Genosse Larin! Wir brauchen uns eines solchen Verlaufs des Kampfes zwischen dem revolutionären und dem opportunistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie nicht zu schämen!

1 Die Resolution der Bolschewiki zum Vereinigungsparteitag „Über den gegenwärtigen Stand der demokratischen Revolution" (siehe in den „Dokumenten" zum Bd. IX der Werke [nicht auf deutsch erschienen].

2 Anscheinend ist der Artikel: „Der Block der äußersten Linken" („Sozialdemokrat" Nr. 6 vom 16. [3.] November 1906) gemeint, in dem die Dorf- und die Stadtbourgeoisie einander gegenübergestellt und die Notwendigkeit des Verzichtes auf den Block mit den Trudowiki in der bevorstehenden Wahlkampagne zugunsten eines Blocks mit der gesamten bürgerlichen Demokratie betont wird.

3 Lenin meint die Resolution des 3. Parteitages der SDAPR über den bewaffneten Aufstand. Der Punkt b des resolutiven Teiles lautet: „Bei dieser Propaganda und Agitation (des bewaffneten Aufstandes. – Red.) … die Rolle der politischen Massenstreiks klarzumachen, die bei Beginn und im Verlauf des Aufstandes eine erhebliche Bedeutung haben können."

4 Der Resolutionsentwurf zum Vereinigungsparteitag über den bewaffneten Aufstand, – siehe „Dokumente" im Bande IX [auf deutsch nicht erschienen] der Werke. Paragraph 2 des resolutiven Teiles des Entwurfs lautet: „Der politische Generalstreik muss im gegenwärtigen Moment der Bewegung nicht so sehr als selbständige Kampfwaffe als vielmehr als Hilfswaffe in Verbindung mit dem Aufstand betrachtet werden…", und der Paragraph 5 forderte, „die Arbeit unter den Truppen zu verstärken und dabei im Auge zu haben, dass für den Erfolg der Bewegung eine Gärung allein unter den Truppen nicht genügt, dass vielmehr ein direktes Abkommen mit den organisierten demokratischen Elementen der Truppen notwendig ist…"

5 Lenin meint den Artikel aus „Narodnaja Swoboda" („Volksfreiheit“) (Nr. 4 vom 2. Januar 1907 [20. Dezember 1906]), über die Frage: ..Sollen wir in die Duma gehen?" Der Verfasser des Artikels, der betonte, dass die nächste Aufgabe die Einberufung der konstituierenden Versammlung sei, hielt drei Wege der Einberufung der konstituierenden Versammlung für möglich: 1. durch die gesetzliche Regierung, 2. durch eine provisorische revolutionäre Regierung und 3. durch die Reichsduma. Um die Zweckmäßigkeit des dritten Weges darzutun, schrieb der Verfasser: „Die russische Revolution dauert nicht Monate, sondern Jahre, in dieser Zeit ist es ihr gelungen, ihren Weg bestimmt und klar abzustecken, und es muss klar gesagt werden, dass dieser Weg weder zum bewaffneten Aufstand noch zur provisorischen Regierung führt. Verschließen wir nicht die Augen vor der Wirklichkeit."

6 Lenin meint den folgenden Vorfall, der sich in der 14. Sitzung der ersten Reichsduma am 6. Juni (24. Mai) 1906 ereignete. Der Abgeordnete des Gouvernements Ufa Sch. Sch. Syrtlanow begann seine Rede wie folgt: „Die Regierung, der die. Duma vorschlug, zu demissionieren…" Der Vorsitzende der Sitzung, S. A. Muromzew, unterbrach den Redner mit der Bemerkung: „Ich glaube, es war dem Kabinett vorgeschlagen worden, zu demissionieren, und nicht der Regierung. Die Reichsduma selbst ist ein Teil der Regierung. Die Regierung ist die Gesamtheit der die Staatsgewalt verkörpernden staatlichen Institutionen." (Stenographischer Bericht der Reichsduma, 1. Session, Bd. 1, S. 595.)

7 Und wie sie alle heißen mögen. Die Red.

8 Die hier von Lenin erwähnten Tatsachen sind allgemein bekannt: mit dem Aufstand der Deutschen im Jahre 1849 ist der Aufstand in Baden, mit dem Aufstand der Franzosen im Jahre 1871 die Pariser Kommune gemeint. Was den Streik der Belgier im Jahre 1902 betrifft, so bezieht sich Lenin hier auf die Erfahrung der Belgischen Arbeiterpartei. Im April 1902 hatte die Belgische Arbeiterpartei im Bündnis mit den Liberalen den Generalstreik mit der Forderung des allgemeinen Wahlrechtes vorbereitet und erklärt. Trotz der planmäßigen Vorbereitung jedoch endete der Streik mit einem Misserfolg, wobei die Führer der Arbeiterpartei unter dem Druck ihrer bürgerlichen Verbündeten restlos kapitulierten. Die Haltung der Führer, insbesondere Vanderveldes, wurde von Rosa Luxemburg in der theoretischen Zeitschrift der Sozialdemokratie „Neue Zeit" im Jahre 1902 einer scharfen Kritik unterzogen.

9 Lenin bezieht sich auf die Arbeit von Fr. Engels: „Zur Wohnungsfrage". Separatabdruck aus dem „Volksstaat" von 1872. Zweite durchgesehene Auflage. Hottingen-Zürich 1887.

Das von Lenin angeführte Zitat wurde in der bezeichneten Arbeit nicht gefunden.

10 Mit den Initialen „R. M." war der äußerst opportunistische Artikel Unsere Wirklichkeit" in der „Sonderbeilage" zu „Rabotschaja Mysl" („Arbeitergedanke") (September 1889) gezeichnet, den Lenin in dem Artikel „Krebsgang in der russischen Sozialdemokratie" und in „Was tun?" einer scharfen Kritik unterzog. Möglich ist, dass der Verfasser des Artikels W. P. Iwanjschin war, der Mitglied des Redaktionskollegiums des „Bundes der russischen Sozialdemokraten" war und gleichzeitig der Redaktion der Zeitung „Rabotschaja Mysl" nahestand, oder vielleicht – K. Kok, der die ganze praktische Arbeit für die Zeitung „Rabotschaja Mysl" leistete.

11 Es handelt sich anscheinend um die vom Petersburger Komitee einberufene, am 17. (4.) September 1906 abgehaltene Versammlung der Arbeiter der verschiedenen Stadtteile von Petersburg, die sich mit der Frage des Arbeiterkongresses befasste. Es wurde mit 74 gegen 11 Stimmen eine Resolution angenommen, die den demagogischen Charakter der Idee der Einberufung eines parteilosen Kongresses brandmarkte. Punkt 2 dieser Resolution, die in der Zeitung „Proletarij" Nr. 3 vom 21. (8.) September 1906, abgedruckt ist, lautet:

2. Bei der gegebenen politischen Lage, bei dem weitverbreiteten Bestreben, heterogene Klassenelemente zu vereinigen, nützt diese Agitation praktisch weit mehr sowohl den kleinbürgerlichen, den Unterschied zwischen dem Proletariat und dem kleinen Produzenten verwischenden Richtungen (,Trudowaja Gruppa' [,Werktätigen-Gruppe'], ,Trudowaja Narodno-sozialistitscheskaja Partija' [,Werktätige Volkssozialistische Partei'], Sozialrevolutionäre usw.) als auch den wirklichen Feinden des Proletariats (,Uschakowtzy' [,Uschakow-Leute']) und ihresgleichen."

* Die Aufnahme der Gewerkschaften in die Partei, die Larin vorschlägt, ist nicht zweckmäßig. Sie verengert die Arbeiterbewegung und ihre Grundlage. Zum Kampf gegen die Unternehmer werden wir stets eine bedeutend größere Zahl von Arbeitern vereinigen als für die sozialdemokratische Politik. Deshalb sind wir (im Gegensatz zu der unrichtigen Behauptung Larins, dass die Bolschewiki gegen parteilose Gewerkschaften seien) für parteilose Gewerkschaften, wie bereits im Jahre 1902 der Verfasser der „jakobinischen" (nach Meinung der Opportunisten jakobinischen) Broschüre „Was tun?" für parteilose Gewerkschaften eingetreten ist.

** Wir sagen: „verstehen, in die Partei zu ziehen", denn die Zahl der sozialdemokratischen Arbeiter wird in solchen Zentren unzweifelhaft die Zahl der Parteimitglieder um ein Vielfaches übersteigen. Wir leiden an der Routine, wir müssen sie bekämpfen. Wir müssen es verstehen, dort, wo es notwendig ist, für unsere Zwecke lose Organisationen zu benutzen, die freier, breiter, dem Proletariat zugänglicher sind. Unsere Losung lautet: Erweiterung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, gegen den parteilosen Arbeiterkongress und die parteilose Partei!

12 Lenin meint den Artikel: „Die Menschewiki und die Abkommen mit den Konstitutionellen Demokraten" („Proletarij" Nr. 9, vom 20. [7.] Dezember 1906), der einer ausführlichen Darlegung aller Schwankungen des Menschewismus, besonders L. Martows gewidmet ist.

*** Wieder eine Ironie der Geschichte! Die Menschewiki schrien seit 1903 über den „Formalismus" und den „Bürokratismus" der Bolschewiki. Seit dieser Zeit waren die allgemein-parteilichen „bürokratischen" und „formalen" Vorrechte in ihren Händen. Und jetzt stellt ein Menschewik fest, dass der Menschewismus zum Amtsstuben-Menschewismus entartet. Die Bolschewiki könnten sich keine bessere Rehabilitierung wünschen. Larin sucht das Amtsstubenhafte im Menschewismus nicht dort, wo es wirklich wurzelt. Die Quelle des Amtsstubenhaften ist der Opportunismus, den Axelrod und Plechanow unter der Flagge des Europäertums den Menschewiki einimpfen. Es gibt auch keine Spur von Europäertum in ihrer Ideologie und ihren Gewohnheiten, die die Widerspiegelung der Ideologie und der Gewohnheiten des Schweizer Spießbürgers sind. Die spießbürgerliche Schweiz ist das Dienstbotenzimmer des wirklichen Europas, des Europas der revolutionären Traditionen und des verschärften Klassenkampfes der breiten Massen. Das Amtsstubenhafte aber ist z. B. in der Plechanowschen Stellung der Frage des Arbeiterkongresses (Arbeiterkongress gegen Parteitag), gegen die Larin scharf und aufrichtig protestiert, vollauf in Erscheinung getreten.

13 Lenin bezieht sich auf die Broschüre von „Rabotschij" („Arbeiter") „Die Arbeiter- und die Intellektuellen in unseren Organisationen", mit einem Vorwort von P. B. Axelrod. Genf, Verlag SDAPR 1904, S. 56.

Die gegen den „Organisationsplan" Lenins gerichtete Broschüre erbrachte im Grunde genommen den Beweis, dass die Menschewiki, die die Bolschewiki des Anti-Demokratismus beschuldigten, in ihren eigenen Organisationen den Demokratismus nicht durchführten und dass infolgedessen der menschewistische „Demokratismus" eine bloße Phrase blieb. Daher die Forderung von „Rabotschij": Es ist notwendig, die Gleichberechtigung der Arbeiter mit den Intellektuellen innerhalb der sozialistischen Organisationen durchzuführen und die Zusammensetzung der führenden Parteiinstanzen so zu ändern, dass die Arbeiter in ihnen überwiegen. Eine ausführliche Bewertung der Broschüre gab Lenin in seinem Artikel: „Von schönen Worten wird man nicht satt".

**** In Nr. 1 des Genfer „Wperjod" (Januar 1905) trug das Feuilleton, das der Kritik des „Plans der Semstwokampagne" gewidmet war, die Überschrift „Über gute Demonstrationen der Proletarier und schlechte Betrachtungen einiger Intellektuellen".

14 Es handelt sich um den Artikel von Parvus in Nr. 10 der „Iskra" vom 23. (10.) September 1905: „Die Sozialdemokratie und die Reichsduma", der im Artikel von Lenin: „Parlaments-Spielerei" (Nr. 18 des Genfer „Proletarij") zerpflückt wurde.

15 Lenin meint die Erklärung J. Larins, die dieser in der 15. Sitzung des Vereinigungsparteitages bei der Besprechung des 2. Punktes der Tagesordnung des Parteitages die gegenwärtige Lage und die Klassenaufgaben des Proletariats – abgab.

Im Dezember (1905 Red.) – schrieb Larin – ist es zu einer Unterordnung der Sozialdemokratie unter die spontanen Stimmungen des Proletariats gekommen, deren Träger die bolschewistischen Genossen waren. Infolgedessen nahmen damals sowohl die Menschewiki überhaupt als auch ich insbesondere eine nicht menschewistische Haltung ein; wir handelten nicht so, wie Sozialdemokraten, die sich von der bewussten politischen Überlegung leiten lassen, handeln müssen.

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