Kapitel II. Die Erkenntnistheorie des Empiriokritizismus und des dialektischen Materialismus (Fortsetzung)

Kapitel II. Die Erkenntnistheorie des Empiriokritizismus und des dialektischen Materialismus (Fortsetzung)

1. Das „Ding an sich" oder V. Tschernow widerlegt Friedrich Engels.

2. Über „Transzendenz" oder W. Basarow „bearbeitet" Engels.

3. L. Feuerbach und J. Dietzgen über das „Ding an sich".

4. Gibt es eine objektive Wahrheit?

5. Absolute und relative Wahrheit oder der von A. Bogdanow bei Engels entdeckte Eklektizismus.

6. Das Kriterium der Praxis in der Erkenntnistheorie.

1. Das „Ding an sich" oder V. Tschernow widerlegt Friedrich Engels

Unsere Machisten haben soviel über das „Ding an sich" geschrieben, dass, wollte man das alles sammeln, sich daraus Berge gedruckten Papiers ergeben würden. Das „Ding an sich" ist das wahre bête noire für die Bogdanow und Valentinow, Basarow und Tschernow, Berman und Juschkewitsch. Es gibt kein „derbes" Wort, das sie nicht an diese Adresse gerichtet, keinen Spott, den sie nicht darüber ausgeschüttet hätten. Gegen wen aber richtet sich der Kampf wegen dieses unglückseligen „Dinges an sich"? Hier beginnt die Trennung der Philosophen des russischen Machismus nach politischen Parteien. Alle Machisten, die Marxisten sein wollen, bekämpfen Plechanows „Ding an sich", indem sie Plechanow vorwerfen, dass er sich verhaspelt habe, dass er in den Kantianismus hineingeraten und von Engels abgewichen sei. Über den ersten Vorwurf werden wir im 4. Kapitel sprechen, über den zweiten hier.) Der Machist Herr Viktor Tschernow, ein Narodnik und geschworener Feind des Marxismus, geht wegen des ,.Dinges an sich" direkt zum Angriff gegen Engels vor.

Es ist eine Schande, zugestehen zu müssen, es wäre aber eine Sünde, es zu verheimlichen, dass die offene Gegnerschaft gegen den Marxismus aus Herrn Viktor Tschernow einen in höherem Grade prinzipiellen literarischen Gegner machte, als unsere Genossen in der Partei und Opponenten in der Philosophie es sind. Denn nur das böse Gewissen (und obendrein vielleicht noch die mangelhafte Kenntnis des Materialismus?) war die Ursache, dass die Machisten, die Marxisten sein wollen, Engels diplomatisch beiseite ließen, Feuerbach gänzlich ignorierten und ausschließlich auf Plechanow herum ritten. Denn das ist nichts anderes als ein Herumreiten, eine langweilige und kleinliche Zänkerei und ein Nörgeln über den Schüler von Engels, während man einer unmittelbaren Analyse der Auffassung des Lehrers selbst feige aus dem Wege geht. Und da es Aufgabe dieser flüchtigen Aufzeichnungen ist, aufzuzeigen, wie reaktionär der Machismus und wie richtig der Materialismus von Marx und Engels ist, so lassen wir die Balgerei der Machisten, die Marxisten sein wollen, mit Plechanow beiseite und wenden uns unmittelbar Engels zu, den der Empiriokritizist Herr V. Tschernow „widerlegt". In seinen „Philosophischen und soziologischen Studien" (Moskau 1907 – eine Sammlung von Artikeln, die fast alle vor dem Jahre 1900 geschrieben sind) beginnt der Aufsatz „Marxismus und transzendentale Philosophie" direkt mit dem Versuch, Marx gegen Engels auszuspielen. Engels wird „naiv-dogmatischer Materialismus" und „gröbste, materialistische Dogmatik" vorgeworfen. (S. 29 und 32.) Für Herrn V. Tschernow sind die Engelsschen Ausführungen gegen das Kantsche „Ding an sich" und gegen die philosophische Linie Humes ein „ausreichendes" Beispiel. Mit diesen Ausführungen wollen wir auch beginnen.

In seinem „Ludwig Feuerbach" erklärt Engels Materialismus und Idealismus für die grundlegenden philosophischen Richtungen. Der Materialismus sieht die Natur als das Primäre, den Geist als das Sekundäre an, er setzt an die erste Stelle das Sein, an die zweite das Denken. Für den Idealismus gilt das Umgekehrte. Diesen Grundunterschied der „zwei großen Lager", in die sich die Philosophen der verschiedenen Schulen des Idealismus und des Materialismus spalten, nimmt Engels zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen, indem er jene direkt der „Konfusion" beschuldigt, die die beiden Ausdrücke Materialismus und Idealismus in einem anderen Sinne gebrauchen.

Die „höchste Frage der gesamten Philosophie", „die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie" – sagt Engels – ist „die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur". Indem Engels die Philosophen in dieser Grundfrage in „zwei große Lager" einteilt, weist er darauf hin, dass diese philosophische Grundfrage „noch eine andere Seite" habe, und zwar:

Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen, vermögen wir in unseren Vorstellungen und Begriffen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild der Wirklichkeit zu erzeugen?"A

Diese Frage … wird von der weitaus größten Zahl der Philosophen bejaht" – sagt Engels, indem er zu dieser Zahl nicht nur alle Materialisten, sondern auch die konsequentesten Idealisten rechnet, z. B. den absoluten Idealisten Hegel, für den die wirkliche Welt die Verwirklichung der „absoluten Idee" ist, die von Ewigkeit her existiert, wobei der menschliche Geist in dem richtigen Erkennen der wirklichen Welt in dieser und vermittels ihrer die „absolute Idee" erkennt.

Daneben (d. h. neben den Materialisten und den konsequenten Idealisten. L.) gibt es aber noch eine Reihe anderer Philosophen, die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten. Zu ihnen gehören unter den Neueren Hume und Kant, und sie haben eine sehr bedeutende Rolle in der philosophischen Entwicklung gespielt…"

Herr V. Tschernow stürzt sich nun, nachdem er diese Worte von Engels zitiert hat, in die Schlacht. Zu dem Wort „Kant" macht er folgende Anmerkung:

Im Jahre 1888 war es ziemlich auffallend, solche Philosophen, wie Kant und insbesondere Hume, neuere Philosophen zu nennen. In dieser Zeit wäre es viel natürlicher, Namen, wie Cohen, Lange, Riehl, Laas, Liebmann, Göring1 usw., zu hören. Engels jedoch war scheinbar in der ,neueren' Philosophie nicht sehr stark bewandert." (S. 33, Fußnote 2.)

Herr Tschernow bleibt sich treu. Sowohl in ökonomischen als auch in philosophischen Fragen gleicht er dem Turgenjewschen Woroschilow; er vernichtet einmal den unwissenden Kautsky und ein andermal den unwissenden EngelsB, indem er sich einfach auf „gelehrte" Namen beruft! Das Unglück will nur, dass alle die von Tschernow genannten Autoritäten – eben die nämlichen Neukantianer sind, von denen Engels auf derselben Seite seines „L. Feuerbach" sagt, dass sie wissenschaftliche Rückschrittler sind, die sich bemühen, den Leichnam der schon längst widerlegten Lehren von Kant und Hume neu zu beleben. Der brave Herr Tschernow begriff nicht, dass Engels mit seiner Betrachtung gerade die (für den Machismus) autoritativen konfusen Professoren widerlegt.

Nach einem Hinweis darauf, dass Hegel bereits das „Entscheidende" zur Widerlegung von Hume und Kant gesagt hat, und dass Feuerbach Hegels Argumenten neue hinzufügte, die mehr geistreich als tief waren, fährt Engels fort:

Die schlagendste Widerlegung dieser, wie aller anderen philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unserer Auffassung eines Naturvorganges beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unseren Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen unfassbaren (dieses wichtige Wort ist sowohl in Plechanows als auch in Tschernows Übersetzung weggelassen. L.) ,Ding an sich' zu Ende. Die im pflanzlichen und tierischen Körper erzeugten chemischen Stoffe blieben solche ,Dinge an sich', bis die organische Chemie sie einen nach dem anderen darzustellen anfing; damit wurde das ,Ding an sich' ein Ding für uns, wie z. B. der Farbstoff des Krapps, das Alizarin, das wir nicht mehr auf dem Felde in den Krappwurzeln wachsen lassen, sondern aus Kohlenteer weit wohlfeiler und einfacher herstellen." (S. 16 des genannten Werkes.)

Herr V. Tschernow gerät, nachdem er diese Betrachtung zitiert hat, vollends aus dem Häuschen und vernichtet den armen Engels nun vollkommen. Man höre:

Dass man aus Kohlenteer das Alizarin weit wohlfeiler und einfacher herstellen kann, wird natürlich keinen Neukantianer in Erstaunen setzen. Dass man aber mit dem Alizarin aus demselben Kohlenteer auf ebenso wohlfeile Art die Widerlegung des ,Dinges an sich' herstellen könne, das dürfte allerdings nicht nur dem Neukantianer allein als merkwürdige und unerhörte Entdeckung vorkommen.

Engels scheint, nachdem er erfahren hat, dass nach Kant das ,Ding an sich' nicht erkennbar ist, den Lehrsatz umgekehrt und sich dafür entschieden zu haben, dass alles Nicht-Erkannte das ,Ding an sich' ist…" (S. 33.)

Hören Sie, Herr Machist, Sie können meinetwegen lügen, aber Sie sollten darin doch wenigstens Maß halten! Denn dies ist ja nichts anderes als eine jedem sichtbare Entstellung, und zwar gerade desjenigen Zitates aus Engels, das Sie gern „verdonnern" möchten, wobei Sie nicht einmal verstanden haben, wovon hier eigentlich die Rede ist!

Erstens ist es nicht richtig, dass Engels „die Widerlegung des ,Dinges an sich' herstellt!" Engels sagt ganz klar und eindeutig, dass er das Kantsche unfassbare (oder unerkennbare) „Ding an sich" widerlegt. Herr Tschernow verdreht Engels' materialistische Auffassung von der Existenz der Dinge unabhängig von unserem Bewusstsein. Zweitens, wenn der Lehrsatz von Kant lautet, dass das „Ding an sich" nicht erkennbar ist, so würde der „umgekehrte" Lehrsatz lauten: das Nicht-Erkennbare ist das Ding an sich. Herr Tschernow aber unterschob an Stelle des Nicht-Erkennbaren das Nicht-Erkannte, ohne zu verstehen, dass er dadurch wiederum die materialistische Auffassung von Engels verdrehte und fälschte!

Herr Tschernow ist durch die Reaktionäre der offiziellen Philosophie, von denen er sich leiten lässt, dermaßen konfus geworden, dass er anfing, gegen Engels zu zetern, ohne auch nur im Mindesten das von ihm angeführte Beispiel zu verstehen. Wir wollen versuchen, dem Vertreter des Machismus zu erklären, um was es sich handelt.

Engels spricht es direkt und klar aus, dass er sich gegen Hume und Kant zugleich wendet. Bei Hume ist aber von irgendwelchen „unerkennbaren Dingen an sich" gar nicht die Rede. Was ist diesen beiden Philosophen denn gemeinsam? Dass sie prinzipiell die „Erscheinung" von dem, was erscheint, die Empfindung von dem, was empfunden wird, das „Ding für uns" von dem „Ding an sich" trennen; wobei Hume von dem „Ding an sich" nichts wissen will, den Gedanken daran für philosophisch unzulässig, für „Metaphysik" (wie sich die Anhänger Humes und Kants ausdrücken) hält; Kant hingegen nimmt ein „Ding an sich" an, erklärt es aber für „nicht-erkennbar", für prinzipiell verschieden von der Erscheinung, prinzipiell einer anderen Sphäre angehörend, der Sphäre des Jenseits, die dem Glauben, aber nicht der Erkenntnis zugänglich ist.

Was ist das Wesentliche in dem Einwand von Engels? Gestern wussten wir noch nicht, dass im Kohlenteer Alizarin existiert, beute haben wir es erfahren. Es fragt sich, hat das Alizarin auch gestern im Kohlenteer existiert?

Natürlich existierte es. Jeder Zweifel daran wäre ein Hohn auf die moderne Naturwissenschaft.

Wenn dem aber so ist, so lassen sich daraus drei wichtige erkenntnistheoretische Folgerungen ableiten:

1. Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewusstsein, unabhängig von unserer Wahrnehmung, außer uns; denn es ist unbestreitbar, dass Alizarin auch gestern im Kohlenteer existierte, und es ist ebenso unbestreitbar, dass wir gestern von dieser Existenz nichts wussten und keine Wahrnehmung des Alizarins gehabt haben.

2. Zwischen Erscheinung und „Ding an sich" gibt es entschieden keinen prinzipiellen Unterschied und kann es einen solchen nicht geben. Einen Unterschied gibt es nur zwischen schon Erkanntem und noch nicht Erkanntem. Die philosophischen Spitzfindigkeiten über besondere Grenzen zwischen dem einen und dem andern, darüber, dass das Ding an sich „jenseits" der Erscheinungen liege (Kant), oder dass man sich von der Frage nach der Welt, die in diesem oder jenem Teil noch nicht erkannt, aber doch außer uns existiert, durch eine philosophische Scheidemauer abgrenzen kann und soll (Hume), – das alles sind leere Schrullen, Ausflüchte, Hirngespinste.

3. In der Erkenntnistheorie muss man, wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft auch, dialektisch denken, d. h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nicht-Wissen entsteht, wie unvollkommenes, nicht exaktes Wissen zu vollkommenerem und exakterem Wissen wird.

Hat man sich einmal auf den Standpunkt gestellt, dass sich die menschliche Erkenntnis aus dem Nicht-Wissen entwickelt, so wird man sehen, dass Millionen Beispiele, die ebenso einfach sind, wie die Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer, Millionen von Beobachtungen, nicht nur aus der Geschichte der Wissenschaft und Technik, sondern auch aus jedermanns täglichem Leben, dem Menschen die Verwandlung der „Dinge an sich" in „Dinge für uns" zeigen, das Entstehen der „Erscheinungen", wenn unsere Sinnesorgane einen äußeren Reiz durch diesen oder jenen Gegenstand erfahren, das Vergehen der „Erscheinungen", wenn einem Gegenstande, von dem wir wissen, dass er existiert, irgendein Hindernis die Möglichkeit der Einwirkung auf unsere Sinnesorgane nimmt. Der einzige und unausweichliche Schluss daraus – ein Schluss, den alle Menschen im lebendigen, täglichen Leben ziehen, und den der Materialismus seiner Erkenntnistheorie bewusst zugrunde legt – besteht darin, dass außerhalb und unabhängig von uns Gegenstände, Dinge, Körper existieren, und dass unsere Empfindungen Abbilder der Außenwelt sind. Die entgegengesetzte Theorie von Mach (die Körper seien Empfindungskomplexe) ist kläglicher, idealistischer Unsinn. Herr Tschernow aber offenbarte durch seine „kritische Behandlung" von Engels wieder einmal seine Woroschilowschen Eigenschaften: das einfache Beispiel von Engels erschien ihm „merkwürdig und naiv"! Für Philosophie hält er nur die gelehrten Spitzfindigkeiten, ohne imstande zu sein, den professoralen Eklektizismus von der konsequenten materialistischen Erkenntnistheorie zu unterscheiden.

Alle weiteren Betrachtungen des Herrn Tschernow einer kritischen Analyse zu unterziehen, ist weder möglich noch auch notwendig, sie sind ein ebensolcher anmaßlicher Unsinn (wie etwa die Behauptung, dass das Atom für die Materialisten ein Ding an sich sei!). Wir erwähnen nur das Urteil über Marx, das in den Rahmen unseres Themas gehört (und, wie es scheint, manche Leute konfus macht), wonach Marx etwas anderes als Engels gesagt haben soll. Es handelt sich um die zweite These von Marx über Feuerbach und um die Plechanowsche Übersetzung des Wortes „Diesseitigkeit".

Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage."

Bei Plechanow steht statt „die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen": beweisen, dass das Denken „nicht diesseits der Erscheinungen stehen bleibt". Und Herr V. Tschernow wettert:

Der Gegensatz zwischen Engels und Marx ist außerordentlich einfach beseitigt es kommt so heraus, als ob Marx, ebenso wie Engels, die Erkennbarkeit der Dinge an sich und die Jenseitigkeit des Denkens behauptet hätte." (a. a. O., S. 34, Fußnote.)

Lasst euch nur einmal mit einem Woroschilow ein, der mit jeder Phrase die Konfusion noch größer macht! Es zeugt von Unwissenheit, Herr Viktor Tschernow, wenn Ihnen nicht bekannt ist, dass alle Materialisten für die Erkennbarkeit der Dinge an sich einstehen. Es zeugt von Unwissenheit, Herr Viktor Tschernow, oder von grenzenloser Liederlichkeit, wenn Sie den ersten Satz der These überspringen, ohne zu bedenken, dass die „gegenständliche Wahrheit" des Denkens nichts anderes bedeutet als Existenz der Gegenstände (= „Dinge an sich"), die wahrhaft durch das Denken widergespiegelt werden. Es zeugt von Analphabetentum, Herr Viktor Tschernow, wenn Sie behaupten, dass man aus der Plechanowschen Wiedergabe (Plechanow hat eine Wiedergabe, nicht eine Übersetzung gegeben) herauslesen könne, dass Marx die Jenseitigkeit des Denkens verteidige. Denn „diesseits der Erscheinungen" lassen nur die Anhänger von Hume und Kant das menschliche Denken stehen. Für alle Materialisten, auch für die des XVII. Jahrhunderts, die Bischof Berkeley vernichtet (s. Einleitung), sind die „Erscheinungen" „Dinge für uns" oder Kopien der „Objekte an sich". Selbstverständlich ist die freie Wiedergabe Plechanows nicht verpflichtend für jene, die Marx unmittelbar kennen lernen wollen. Es ist aber unbedingte Pflicht, sich in die Betrachtung von Marx hineinzudenken, statt auf Woroschilowsche Art herumzureiten.

Es ist interessant, festzustellen: während Leute, die sich Sozialisten nennen, nicht gewillt oder nicht fähig sind, sich in die „Thesen" von Marx hineinzudenken, legen bürgerliche Schriftsteller, Philosophen von Fach, mitunter eine viel größere Gewissenhaftigkeit an den Tag. Ich kenne solch einen Schriftsteller, der Feuerbachs Philosophie und im Zusammenhang damit die Thesen von Marx untersuchte, und zwar ist dies Albert Levy, der das 3. Kapitel des zweiten Teiles seines Buches über Feuerbach der Betrachtung des Einflusses von Feuerbach auf Marx widmete.C Wir übergehen ganz die Frage, ob Levy Feuerbach überall richtig interpretiert, und ebenso die Art, in der er Marx vom landläufigen bürgerlichen Standpunkte aus kritisiert, wir wollen hier nur Levys Urteil über den philosophischen Inhalt der berühmten „Thesen" von Marx anführen. Über die erste These sagt A. Levy:

Marx nimmt einerseits mit dem ganzen bisherigen Materialismus und mit Feuerbach an, dass unseren Vorstellungen von den Dingen reale und unterscheidbare (selbständige, distincts) Objekte außer uns ,entsprechen'…" (S. 290.)

Wie der Leser sieht, ist für Albert Levy von Anfang an die Grundeinstellung nicht nur des marxistischen, sondern jedes Materialismus, „des ganzen bisherigen" Materialismus klar, nämlich: Anerkennung der realen Objekte außer uns, welchen Objekten unsere Vorstellungen „entsprechen". Dieses ABC, das sich auf den ganzen Materialismus überhaupt bezieht, ist nur den russischen Machisten unbekannt geblieben. Levy fährt fort:

„… Andererseits bedauert Marx, dass der Materialismus dem Idealismus die Sorge überlassen hat, die Bedeutung der ,tätigen Seite' (d. h. der menschlichen Praxis. L.) zu bewerten. Nach der Meinung von Marx ist es notwendig, diese tätige Seite dem Idealismus zu entreißen, um sie in das materialistische System einzufügen, wobei man natürlich dieser tätigen Seite einen realen und sinnlichen Charakter geben müsste, den der Idealismus ihnen nicht zuerkennen konnte. Also, der Gedankengang von Marx ist folgender: ebenso wie unseren Vorstellungen die realen Objekte außer uns entsprechen, ebenso entspricht unserer phänomenalen Tätigkeit eine reale Tätigkeit außer uns, eine Tätigkeit der Dinge; in diesem Sinne nimmt die Menschheit Anteil am Absoluten nicht nur durch theoretische Erkenntnis, sondern auch durch praktische Tätigkeit, und die ganze menschliche Tätigkeit erwirbt auf diese Art eine Würde, eine Dignität, die ihr erlaubt, an der Seite der Theorie zu schreiten: die revolutionäre Tat bekommt von da an metaphysische Bedeutung."

A. Levy ist Professor. Ein ordentlicher Professor aber kann es sich nicht verkneifen, die Materialisten als Metaphysiker zu beschimpfen. Für die professoralen Idealisten, Humeisten und Kantianer ist jeder Materialismus „Metaphysik", denn hinter dem Phänomen (Erscheinung, Ding für uns) sieht er das Reale außer uns. Daher hat A. Levy im Wesentlichen recht, wenn er sagt, dass für Marx der „phänomenalen Tätigkeit" der Menschheit eine „Tätigkeit der Dinge" entspricht, d. h. die menschliche Praxis hat nicht nur eine phänomenale (im Humeschen und Kantschen Sinn des Wortes) Bedeutung, sondern auch eine objektiv-reale. Das Kriterium der Praxis hat, wie wir an geeigneter Stelle zeigen werden (§6), bei Mach und bei Marx eine ganz verschiedene Bedeutung. „Die Menschheit nimmt Anteil am Absoluten", das bedeutet: die menschliche Erkenntnis spiegelt die absolute Wahrheit wider (siehe unten § 5), die menschliche Praxis bestätigt, indem sie unsere Vorstellungen überprüft, in ihnen das, was der absoluten Wahrheit entspricht. A. Levy fährt fort:

„…An diesem Punkte angelangt, stößt Marx natürlich auf die Einwände der Kritik. Er gab die Existenz der Dinge an sich zu, denen gegenüber unsere Theorie als menschliche Übersetzung erscheint. Es ist ihm nicht möglich, dem gewöhnlichen Einwand auszuweichen: was gibt euch denn die Gewähr für die Treue der Übersetzung? Was gibt euch denn den Beweis, dass der menschliche Gedanke eine objektive Wahrheit gibt? Auf diesen Einwand antwortet Marx in der zweiten These." (S. 291.)

Der Leser sieht, dass A. Levy keinen Augenblick bezweifelt, dass Marx die Existenz der Dinge an sich anerkennt!

2. Über „Transzendenz" oder W. Basarow „bearbeitet" Engels

Wenn die russischen Machisten, die Marxisten sein wollen, die eine Erklärung von Engels, und zwar eine der entscheidendsten und bestimmtesten Erklärungen, diplomatisch umgangen haben, so haben sie dafür eine andere Erklärung von ihm ganz nach Tschernowscher Art „bearbeitet". So langweilig und schwierig die Aufgabe auch sein mag, die Entstellungen und Verdrehungen des Sinnes der Zitate zu korrigieren, so kann man sich ihr doch nicht entziehen, wenn man über die russischen Machisten sprechen will.

Hier Basarows „Bearbeitung" von Engels:

In dem Aufsatz „Über historischen Materialismus"D sagt Engels folgendes über die englischen Agnostiker (Philosophen der Richtung Humes):

„… Ebenso gibt unser Agnostiker zu, dass all unser Wissen beruht auf den Mitteilungen, die wir durch unsere Sinne empfangen …"

Es sei also für unsere Machisten bemerkt, dass auch der Agnostiker (Humeist) von den Empfindungen ausgeht und keine andere Quelle der Kenntnisse anerkennt. Der Agnostiker ist reiner „Positivist", den Anhängern des „neuesten Positivismus" zur gefälligen Beachtung!

„… Aber, setzt er (der Agnostiker. L.) hinzu, woher wissen wir, ob unsere Sinne uns richtige Abbilder der durch sie wahrgenommenen Dinge geben? Und weiter berichtet er uns: wenn er von Dingen oder ihren Eigenschaften spricht, so meint er in Wirklichkeit nicht diese Dinge und ihre Eigenschaften selbst, von denen er nichts Gewisses wissen kann, sondern nur die Eindrücke, die sie auf seine Sinne gemacht haben …"

Welche zwei Linien der philosophischen Richtungen stellt Engels hier einander gegenüber ? Die eine Linie besteht darin, dass die Sinne uns richtige Abbilder der Dinge geben, dass wir diese Dinge selbst kennen, und dass die Außenwelt auf unsere Sinnesorgane einwirkt. Das ist der Materialismus, mit dem der Agnostiker nicht einverstanden ist. Worin besteht aber das Wesen seiner Linie? Darin, dass er über die Empfindungen nicht hinausgeht, dass er diesseits der Erscheinungen stehenbleibt und darauf verzichtet, hinter den Grenzen der Empfindungen irgend etwas „Gewisses" zu sehen. Von diesen Dingen selbst (d. h. von den Dingen an sich, den „Objekten an sich", wie die von Berkeley bekämpften Materialisten sagten) können wir nichts Gewisses wissen – das ist die vollkommen bestimmte Erklärung des Agnostikers. Also in der Streitfrage, von der Engels spricht, behauptet der Materialist die Existenz und Erkennbarkeit der Dinge an sich. Der Agnostiker lässt nicht einmal den Gedanken zu an die Dinge an sich und erklärt, dass wir darüber nichts Gewisses wissen können.

Es fragt sich, wodurch der von Engels dargelegte Standpunkt des Agnostikers sich von dem Standpunkt Machs unterscheidet? Durch das „neue" Wörtchen „Element"? Es ist doch aber reine Kinderei, zu denken, dass eine philosophische Richtung durch eine Nomenklatur geändert werden könnte, und dass Empfindungen aufhören, Empfindungen zu sein, wenn man sie mit dem Worte „Element" bezeichnet! Oder unterscheidet sie sich durch die „neue" Idee, nach der die nämlichen Elemente in der einen Verbindung das Physische, in der anderen aber das Psychische bilden? Aber ist es ihnen denn entgangen, dass der Agnostiker bei Engels ebenfalls an Stelle „dieser Dinge selbst" die „Eindrücke" setzt? Also unterscheidet auch der Agnostiker, dem Wesen der Sache nach, die physischen und psychischen „Eindrücke"I Der Unterschied liegt wiederum ausschließlich in der Nomenklatur. Wenn Mach sagt: die Körper sind Empfindungskomplexe, so ist er ein Berkeleyaner. Wenn Mach sich „verbessert": die „Elemente" (Empfindungen) können in der einen Verbindung physische, in einer anderen psychische sein, dann ist er Agnostiker und Humeist. Mach kommt in seiner Philosophie nicht über diese beiden Linien hinaus, und nur die äußerste Naivität kann diesem Wirrkopf aufs Wort glauben, dass er wirklich sowohl den Materialismus als auch den Idealismus „überwunden" habe.

Engels nennt in seiner Darstellung absichtlich keine Namen, denn er übt keine Kritik an den einzelnen Vertretern des Humeismus (die Berufsphilosophen neigen sehr dazu, die winzigsten Veränderungen, die der eine oder andere von ihnen in die Terminologie oder in die Argumentation hineinbringt, als originelles System zu bezeichnen), sondern an der ganzen Richtung des Humeismus. Engels kritisiert nicht die Details, sondern das Wesen, er greift das Grundlegende heraus, worin alle Humeisten vom Materialismus abweichen, und daher fällt sowohl Mill als auch Huxley und Mach unter seine Kritik. Ob wir sagen, dass die Materie eine ständige Möglichkeit der Empfindungen sei (nach J. St. Mill), oder dass die Materie aus mehr oder weniger beständigen Komplexen von „Elementen", Empfindungen (nach Ernst Mach) bestehe, – wir bleiben innerhalb der Grenzen des Agnostizismus oder Humeismus; beide Gesichtspunkte, oder richtiger, diese beiden Formulierungen sind in der Darstellung des Agnostizismus bei Engels eingeschlossen: der Agnostiker geht nicht über die Empfindungen hinaus und erklärt, dass er von deren Quelle oder von deren Original usw. nichts Gewisses wissen kann. Und wenn Mach in der hier behandelten Frage seiner Abweichung von Mill große Bedeutung beimisst, so eben deshalb, weil auch auf Mach die von Engels über die ordentlichen Professoren gefällte Charakteristik: Flohknacker, zutrifft. Einen Floh habt ihr geknackt, meine Herren, indem ihr Korrekturen anbringt und die Nomenklatur ändert, statt den grundlegenden Standpunkt der Halbheit aufzugeben!

Wie widerlegt nun der Materialist Engels – zu Beginn seines Artikels stellt Engels seinen Materialismus offen und entschieden dem Agnostizismus gegenüber – die angeführten Argumente?

„… Das ist allerdings eine Auffassungsweise“ – sagt Engels –, „der es schwierig scheint, auf dem Wege der bloßen Argumentation beizukommen. Aber ehe die Menschen argumentieren, handeln sie. ,Im Anfang war die Tat.' Und menschliche Tat hatte die Schwierigkeit schon gelöst, lange ehe menschliche Klugtuerei sie erfand. The proof of the pudding is in the eating. (Die Probe auf den Pudding besteht im Essen.) In dem Augenblick, wo wir diese Dinge, je nach den Eigenschaften, die wir in ihnen wahrnehmen, zu unserem eigenen Gebrauch anwenden, in demselben Augenblick unterwerfen wir unsere Sinneswahrnehmungen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit. Waren diese Wahrnehmungen unrichtig, dann muss auch unser Urteil über die Verwendbarkeit eines solchen Dinges unrichtig sein, und unser Versuch, es zu verwenden, muss fehlschlagen. Erreichen wir aber unsern Zweck, finden wir, dass das Ding unserer Vorstellung von ihm entspricht, dass es das leistet, wozu wir es anwandten, dann ist dies positiver Beweis dafür, dass innerhalb dieser Grenzen unsere Wahrnehmungen von dem Ding und von seinen Eigenschaften mit der außer uns bestehenden Wirklichkeit stimmen …"

Hier ist also mit vollster Klarheit die materialistische Theorie, die Theorie von der Abbildung der Gegenstände durch den Gedanken, dargestellt: die Dinge existieren außer aus. Unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen sind ihre Abbilder. Die Prüfung dieser Abbilder, die Scheidung der richtigen von den unrichtigen ergibt die Praxis. Hören wir aber Engels noch weiter an (Basarow bricht hier das Zitat von Engels, oder von Plechanow, ab, denn mit Engels selbst sich auseinanderzusetzen, hält er augenscheinlich für überflüssig):

„… Finden wir dagegen, dass wir einen Fehlstoß gemacht, dann dauert es meistens auch nicht lange, ehe wir die Ursache davon entdecken; wir finden, dass die unserem Versuch zugrunde gelegte Wahrnehmung entweder selbst unvollständig und oberflächlich, oder mit den Ergebnissen anderer Wahrnehmungen in einer durch die Sachlage nicht gerechtfertigten Weise verkettet worden war. (Die russische Übersetzung im „Historischen Materialismus" ist nicht richtig. L.) Solange wir unsere Sinne richtig ausbilden und gebrauchen und unsere Handlungsweise innerhalb der durch regelrecht gemachte und verwertete Wahrnehmungen gesetzten Schranken halten, solange werden wir finden, dass die Erfolge unserer Handlungen den Beweis liefern für die Übereinstimmung unserer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen Natur der wahrgenommenen Dinge. Nicht in einem einzigen Fall, soviel bis heute bekannt, sind wir zu dem Schluss gedrängt worden, dass unsere wissenschaftlich kontrollierten Sinneswahrnehmungen in unserm Gehirn Vorstellungen von der Außenwelt erzeugen, die ihrer Natur nach von der Wirklichkeit abweichen, oder dass zwischen der Außenwelt und unseren Sinneswahrnehmungen von ihr eine angeborene Unverträglichkeit besteht.

Aber dann kommt der neukantianische Agnostiker und sagt…" Lassen wir die Analyse der Argumente der Neukantianer für ein anderes Mal. Es sei bemerkt, dass ein Mensch, der nur ein wenig mit der Sache vertraut oder auch nur aufmerksam ist, begreifen muss, dass Engels hier denselben Materialismus darstellt, den die Machisten immer und überall bekämpfen. Und nun betrachten wir jetzt die Methoden der Bearbeitung Engels' durch Basarow. Über die von uns angemerkte Stelle aus dem Zitat schreibt Basarow:

Hier tritt Engels tatsächlich gegen den Kantischen Idealismus auf…" Das ist eine Unwahrheit. Basarow verdreht die Sache. In dem Fragment, das er zitiert und das wir vollständiger zitiert haben, steht weder von Kantianismus noch von Idealismus auch nur eine Silbe. Hätte Basarow wirklich den ganzen Artikel von Engels gelesen, so hätte er sehen müssen, dass bei Engels erst in dem folgenden Absatz vom Neukantianismus und der ganzen kantischen Richtung die Rede ist, eben dort, wo wir das Zitat abgebrochen haben. Und wenn Basarow jenes Fragment, das er selber zitiert, aufmerksam gelesen und durchdacht hätte, dann hätte er sehen müssen, dass in den Argumenten des Agnostikers, die Engels hier widerlegt, gar nichts Idealistisches oder Kantianisches zu finden ist; denn der Idealismus fängt erst dort an, wo ein Philosoph sagt, dass die Dinge unsere Empfindungen seien; der Kantianismus fängt erst dort an, wo ein Philosoph sagt: das Ding an sich existiert, aber es ist nicht erkennbar. Basarow vermengte den Kantianismus und Humeismus, und zwar deshalb, weil er, selbst halber Berkeleyaner und halber Humeist der Machistensekte, den Unterschied zwischen der Humeschen und der materialistischen Opposition gegen den Kantianismus nicht versteht, wie weiter unten noch ausführlicher gezeigt werden soll.

,,… Leider aber“ – fährt Basarow fort – „ist seine Argumentation im selben Grade gegen die Philosophie Plechanows gerichtet, wie gegen die Philosophie Kants. Die Schule Plechanow-Orthodox leidet darunter, dass sie sich, wie schon Bogdanow bemerkt hat, über das Bewusstsein in einem verhängsvollen Missverständnis befindet. Plechanow glaubt, zugleich mit allen Idealisten, dass alles sinnlich Gegebene, d. h. zu Bewusstsein kommende, ,subjektiv' sei; dass es Solipsist sein heißt, wenn man nur vom faktisch Gegebenen ausgeht -, dass man das reale Sein nur hinter den Grenzen alles unmittelbar Gegebenen finden könne."

Das ist ganz im Geiste Tschernows und seiner Versicherung, dass Liebknecht ein echt russischer Narodnik gewesen sei! Wenn Plechanow ein von Engels abgefallener Idealist ist, warum sind Sie, angeblich ein Anhänger von Engels, nicht Materialist? Das ist doch einfach eine jammervolle Mystifikation, Genosse Basarow! Durch ein machistisches Wörtchen: „das unmittelbar Gegebene" verwirren Sie den Unterschied zwischen Agnostizismus, Idealismus und Materialismus. Sie sollten doch begreifen, dass das „unmittelbar Gegebene", das „faktisch Gegebene" eine Konfusion der Machisten, Immanenzphilosophen und sonstiger Reaktionäre in der Philosophie ist, ein Mummenschanz, bei dem sich der Agnostiker (manchmal auch, wie bei Mach, ein Idealist) als Materialist verkleidet. Dem Materialisten ist die Außenwelt, deren Abbild unsere Empfindungen sind, „faktisch gegeben". Dem Idealisten ist die Empfindung „faktisch gegeben", wobei die Außenwelt als „Empfindungskomplex" hingestellt wird. Für den Agnostiker ist ebenfalls die Empfindung „unmittelbar gegeben", er geht aber nicht darüber hinaus, weder zur materialistischen Anerkennung der Realität der Außenwelt noch zur idealistischen Annahme der Welt als unserer Empfindung. Daher ist Ihr Ausspruch: „Man könne das reale Sein (nach Plechanow) nur hinter den Grenzen alles unmittelbar Gegebenen finden", ein Unsinn, der sich unvermeidlich aus Ihrer machistischen Position ergibt. Aber wenn Sie auch das Recht haben, jede beliebige Stellung, auch eine machistische, einzunehmen, so haben Sie doch kein Recht, Engels, wenn Sie von ihm sprechen, zu fälschen. Und aus den Worten von Engels geht mit aller Klarheit hervor, dass für den Materialisten hinter den Grenzen der „Sinneswahrnehmungen", Eindrücke und Vorstellungen des Menschen das reale Sein liegt, während es für den Agnostiker unmöglich ist, über die Grenzen dieser Wahrnehmungen hinauszugehen. Basarow schenkte Mach, Avenarius und Schuppe Glauben, dass das „unmittelbar" (oder faktisch) Gegebene das wahrnehmende Ich und die wahrgenommene Umgebung in der berühmten „unauflöslichen" Koordination „vereinige", und ist bemüht, dem Materialisten Engels diesen Unsinn in einer für den Leser unmerklichen Weise zu unterschieben!

„… Die oben zitierte Stelle scheint Engels absichtlich zu dem Zweck geschrieben zu haben, um dieses idealistische Missverständnis in der populärsten und zugänglichsten Form aus der Welt zu schaffen."

Nicht umsonst ist Basarow in die Schule von Avenarius gegangen! Er setzt dessen Mystifikation fort: unter dem Schein, den Idealismus (wovon bei Engels an dieser Stelle gar nicht die Rede ist) zu bekämpfen, schmuggelt er die idealistische „Koordination" ein. Nicht übel, Genosse Basarow!

„… Der Agnostiker fragt: woher wissen wir, dass unsere subjektiven Gefühle uns eine richtige Vorstellung von den Dingen geben?"

Sie verdrehen, Genosse Basarow! Solch einen Unsinn, wie „subjektive" Gefühle, sagt Engels nicht nur nicht selbst, er mutet das nicht einmal seinem Feinde, dem Agnostiker, zu! Andere als menschliche, d. h. „subjektive" Gefühle – denn wir urteilen vom Standpunkte des Menschen und nicht des Waldteufels – gibt es nicht. Sie unterschieben Engels schon wieder den Machismus: der Agnostiker, wollen Sie sagen, hält die Gefühle, oder genauer die Empfindungen, nur für subjektiv (der Agnostiker hält sie nicht dafür!), während wir und Avenarius das Objekt in eine unauflösliche Verbindung mit dem Subjekt „koordiniert" haben. Nicht übel, Genosse Basarow!

„…Was nennt ihr aber ,richtig'? – erwidert Engels. Richtig ist das, was durch unsere Praxis bestätigt wird; folglich sind unsere Sinneswahrnehmungen, sofern sie durch die Erfahrung bestätigt werden, nicht ,subjektiv', d. h. nicht willkürlich oder illusorisch, sondern als solche richtig, real“

Sie verdrehen, Genosse Basarow! Sie unterschieben an Stelle der Frage nach der Existenz der Dinge außerhalb unserer Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen die Frage nach dem Kriterium der Richtigkeit unserer Vorstellungen über „diese Dinge selbst", oder genauer: Sie verdecken die erste Frage durch die zweite. Engels aber sagt klar und eindeutig, dass ihn von dem Agnostiker nicht nur der Zweifel des Agnostikers an der Richtigkeit der Abbilder trennt, sondern auch die Zweifel des Agnostikers, ob man von den Dingen selbst sprechen darf, ob man von ihrer Existenz „Gewisses" wissen kann. Wozu braucht Basarow diesen Schwindel? Dazu, um die Frage, die für den Materialismus (und auch für Engels als Materialisten) die Grundfrage ist, zu verdunkeln und zu verwirren, nämlich die Frage der Existenz der Dinge außerhalb unseres Bewusstseins, die durch ihre Einwirkung auf die Sinnesorgane die Empfindungen hervorrufen. Es ist unmöglich, Materialist zu sein, ohne diese Frage positiv beantwortet zu haben, man kann aber Materialist sein selbst bei verschiedener Auffassung über die Frage nach dem Kriterium der Richtigkeit jener Abbilder, die uns die Sinne liefern.

Und wiederum verdreht Basarow, wenn er Engels unterstellt, im Streit mit den Agnostikern die unsinnige und ignorante Formulierung gebraucht zu haben, unsere Sinneswahrnehmungen würden durch die „Erfahrung" bestätigt. Engels hat an dieser Stelle dieses Wort nicht gebraucht, und konnte es auch nicht gebrauchen, denn Engels wusste, dass sowohl der Idealist Berkeley und der Agnostiker Hume als auch der Materialist Diderot sich auf die Erfahrung berufen.

„…In den Grenzen, innerhalb deren wir mit den Dingen in der Praxis zu tun haben, fallen die Vorstellungen von einem Ding und seinen Eigenschaften mit der außer uns existierenden Wirklichkeit zusammen. ,Zusammenfallen' – das ist etwas anderes als ,Hieroglyphe' sein. Zusammenfallen, das bedeutet: in den gegebenen Grenzen ist (von Basarow gesperrt. L.) die Sinnesvorstellung eben die außer uns existierende Wirklichkeit…"

Das Ende krönt das Werk! Engels ist nun à la Mach zubereitet, gebraten und mit machistischer Sauce serviert. Hoffentlich verbrennen sich unsere verehrten Köche nicht die Zunge.

Die Sinnesvorstellung ist eben die außer uns existierende Wirklichkeit!" Das ist ja gerade jener fundamentale Unsinn, die fundamentale Konfusion und das Grundfalsche am Machismus, aus dem der ganze übrige Galimathias dieser Philosophie stammt, und wofür Mach und Avenarius von den Erzreaktionären und den Predigern des Pfaffentums, den Immanenzphilosophen, in den Himmel gehoben werden. Mag Basarow sich drehen und wenden, klügeln, diplomatisieren, soviel er will, indem er den heiklen Punkten ausweicht, letzten Endes hat er sich doch verplappert und seine ganze machistische Natur verraten! Zu sagen: „die Sinnesvorstellung ist eben die außer uns existierende Wirklichkeit", heißt zum Humeismus oder sogar zum Berkeleyanismus zurückkehren, der sich im Dunst der „Koordination" zu verstecken suchte. Das ist idealistische Lüge oder die Ausflucht des Agnostikers, Genosse Basarow; denn die Sinnesvorstellung ist nicht die außer uns existierende Wirklichkeit, sondern nur ein Abbild dieser Wirklichkeit. Sie klammern sich an die Zweideutigkeit des russischen Wortes: zusammenfallen? Sie wollen den unkundigen Leser glauben machen, dass „zusammenfallen" hier die Bedeutung von „dasselbe sein" hat und nicht die von „entsprechen"? Das heißt aber nichts weiter, als Engels à la Mach fälschen, indem man einem Zitat einen falschen Sinn unterschiebt.

Nimmt man das deutsche Original, so wird man die Worte „stimmen mit" finden, d. h. entsprechen, übereinstimmen. Die Worte „stimmen mit" können nicht bedeuten „zusammenfallen" im Sinne von „dasselbe sein". Aber auch für einen Leser, der nicht deutsch kann, Engels aber mit etwas Aufmerksamkeit liest, muss es vollkommen klar sein, dass Engels während seiner ganzen Untersuchung die „Sinnesvorstellung" als Abbild einer außer uns existierenden Wirklichkeit behandelt, und dass demnach das Wort „zusammenfallen" russisch einzig in dem Sinn von „entsprechen", „übereinstimmen" usw. zu verstehen ist. Engels den Gedanken zuschieben wollen, dass die „Sinnesvorstellung eben die außer uns existierende Wirklichkeit ist", das ist eine solche Perle machistischer Entstellung, eine solche Unterschiebung des Agnostizismus und Idealismus an Stelle des Materialismus, dass zugegeben werden muss: Basarow hat alle Rekorde geschlagen!

Es fragt sich, wie es möglich ist, dass normale Menschen mit gesundem Verstand und gutem Gedächtnis behaupten können, die Sinnesvorstellung (gleichgültig in welchen Grenzen) sei eben die außer uns existierende Wirklichkeit? Die Erde ist eine Wirklichkeit, die außer uns existiert. Sie kann mit unserer Sinnesvorstellung weder „zusammenfallen" (im Sinne von „dasselbe sein") noch in einer unauflöslichen Koordination mit ihr sein noch ein „Komplex von Elementen" sein, die in einer anderen Verbindung mit der Empfindung identisch sind, denn die Erde existierte schon, als es weder Menschen gab noch Sinnesorgane noch eine derart hoch organisierte Materie, an der die Eigenschaft, Empfindungen zu haben, irgendwie klar bemerkbar gewesen wäre.

Das ist es ja, dass jene gequälten Theorien der „Koordination", der „Introjektion", der neu entdeckten Weltelemente, mit denen wir uns im ersten Kapitel befasst haben, nur dazu dienen, die ganze idealistische Absurdität dieser Behauptung zu verhüllen. Die Formulierung, die Basarow ungewollt und unvorsichtig hingeworfen hat, ist deshalb ganz vortrefflich, weil sie die schreiende Absurdität aufdeckt, die man andernfalls aus dem Haufen von gelahrten, quasi-wissenschaftlichen, professoralen Kinkerlitzchen heraus graben müsste.

Heil Ihnen, Genosse Basarow! Wir werden Ihnen zu Lebzeiten ein Denkmal errichten: auf der einen Seite wird Ihr Ausspruch stehen und auf der anderen die Inschrift: Dem russischen Machisten, der dem Machismus unter den russischen Marxisten das Grab geschaufelt hat!

Über zwei Punkte, die Basarow in dem angeführten Zitat berührt hat, werden wir noch besonders sprechen: über das Kriterium der Praxis bei den Agnostikern (darunter auch den Machisten) und bei den Materialisten, und über den Unterschied zwischen der Theorie der Widerspiegelung (oder Abbildung) und der Theorie der Symbole (oder Hieroglyphen). Zunächst setzen wir das Zitat aus Basarow noch ein wenig fort:

„… Was ist aber hinter diesen Grenzen? Darüber sagt Engels kein Wort. Nirgends zeigt er den Wunsch, jene ,Transzendenz' zu vollziehen, jenes Hinausgehen über die Grenzen der sinnlich gegebenen Welt, das der Erkenntnistheorie Plechanows zugrunde liegt…"

Hinter welchen „diesen" Grenzen? Hinter den Grenzen jener „Koordination" von Mach und Avenarius, die Ich und Umgebung, Subjekt und Objekt unauflöslich verschmelzen soll? Schon allein die Frage, wie sie Basarow stellt, ist sinnlos. Hätte er aber die Frage menschlich gestellt, dann würde es ihm einleuchten, dass die Außenwelt „hinter den Grenzen" der Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen des Menschen liegt. Aber das Wörtchen „Transzendenz" verrät Basarow wieder einmal. Es ist eine spezifisch Kantische und Humesche Schrulle, zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich eine prinzipielle Grenze zu ziehen. Von der Erscheinung, oder wenn Sie wollen, von unserer Empfindung, Wahrnehmung usw. zu dem Ding, das außerhalb unserer Wahrnehmung existiert, überzugehen, ist nach Kant Transzendenz und diese Transzendenz ist wohl dem Glauben erlaubt, aber nicht der Erkenntnis. Die Transzendenz ist überhaupt nicht erlaubt, wendet Hume ein. Und sowohl die Kantianer wie die Humeisten bezeichnen die Materialisten als Transzendentalrealisten, als „Metaphysiker", die einen unerlaubten Übergang (lateinisch: Transcensus) von der einen Sphäre in eine prinzipiell verschiedene andere Sphäre machen. Bei den modernen Professoren der Philosophie, die der reaktionären Linie von Kant und Hume folgen, finden wir (man nehme nur die Namen, die Woroschilow-Tschernow aufgezählt hat) in tausendfältigen Variationen endlos wiederholt die Beschuldigung, dass der Materialismus „metaphysisch" und „transzendent" sei. Basarow übernahm von den reaktionären Philosophen sowohl das Wörtchen als auch den Gedankengang und spielt sie im Namen des „neuesten Positivismus" aus. Die Sache verhält sich aber so, dass die Idee der „Transzendenz" selbst, d. h. die Idee einer prinzipiellen Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich eine Kateridee der Agnostiker (Humeisten und Kantianer mit eingerechnet) und der Idealisten ist. Wir haben das schon an dem Engelsschen Beispiel mit dem Alizarin gezeigt und werden es mit den Worten Feuerbachs und J. Dietzgens noch deutlicher machen. Zunächst aber möchten wir mit der „Bearbeitung" von Engels durch Basarow zu Ende kommen:

„… An einer Stelle seines ,Anti-Dühring' sagt Engels, dass das ,Sein' außerhalb der sinnlichen Welt eine ,offene Frage' ist, d. h. eine Frage, zu deren Lösung, ja sogar zu deren Stellung uns jegliche Beweismittel fehlen."

Dieses Argument spricht Basarow dem deutschen Machisten Friedrich Adler nach. Und dieses letzte Beispiel ist fast noch schlimmer als das der „Sinnesvorstellung", die „eben die außer uns existierende Wirklichkeit ist". Im „Anti-Dühring", auf S. 31 (5. deutsche Auflage), sagt Engels:

Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein, obwohl ihr Sein eine Voraussetzung ihrer Einheit ist, da sie doch zuerst sein muss, ehe sie eins sein kann. Das Sein ist ja überhaupt eine offene Frage von der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört. Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen nicht durch ein paar Taschenspielerphrasen, sondern durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft."

Man sehe sich diese neue Pastete unseres Kochs an: Engels spricht vom Sein hinter der Grenze, wo unser Gesichtskreis aufhört, das heißt z. B. vom Sein des Menschen auf dem Mars usw. Es ist klar, dass ein solches Sein wirklich eine offene Frage ist. Basarow aber gibt, ohne das ganze Zitat anzuführen (fast möchte man an Absicht glauben), Engels so wieder, als ob bei ihm „das Sein außerhalb der sinnlichen Welt" eine offene Frage wäre!! Das ist der Gipfel der Absurdität: Engels wird hier die Auffassung jener Professoren der Philosophie unterschoben, denen Basarow gewohnt ist, aufs Wort zu glauben, und die J. Dietzgen mit Recht diplomierte Lakaien des Pfaffentums oder des Fideismus nennt. In der Tat behauptet der Fideismus positiv, es existiere etwas „außer der sinnlichen Welt". Die Materialisten lehnen dies in Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft auf das entschiedenste ab. In der Mitte stehen die Professoren, Kantianer, Humeisten (die Machisten mit eingeschlossen) u. a. m., die „die Wahrheit außerhalb des Materialismus" und des Idealismus gefunden haben wollen und zu „versöhnen" suchen: dies sei eine offene Frage. Hätte Engels jemals etwas Derartiges gesagt, so wäre es eine Schmach und Schande, sich Marxist zu nennen …

Nun aber genug! Eine halbe Seite aus Basarow zitiert, ergibt einen solchen Knäuel der Konfusion, dass wir genötigt sind, uns auf das schon Gesagte zu beschränken, ohne alle Schwankungen des machistischen Gedankens weiter zu verfolgen.

3. L. Feuerbach und J. Dietzgen über das „Ding an sich"

Um zu zeigen, wie widersinnig die Behauptungen unserer Machisten sind, als hätten die Materialisten Marx und Engels die Existenz der „Dinge an sich" (d. h. der Dinge außerhalb unserer Empfindungen, Vorstellungen usw.) und ihre Erkennbarkeit geleugnet, als hätten sie irgendeine prinzipielle Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich eingeräumt, möchten wir noch einige Zitate aus Feuerbach anführen. Es ist eben das ganze Unglück unserer Machisten, dass sie, auf die Worte der reaktionären Professoren hörend, sich vorgenommen haben, über dialektischen Materialismus zu sprechen, aber weder die Dialektik noch den Materialismus kennen.

Der moderne philosophische Spiritualismus –sagt Feuerbach –, der sich Idealismus nennt, macht dem Materialismus den ihn in seiner Meinung vernichtenden Vorwurf, dass er Dogmatismus sei, d. h. dass er von der sinnlichen Welt als einer ausgemachten, objektiven Wahrheit ausgehe, dieselbe als eine an sich, d. h. ohne uns bestehende Welt voraussetze, während doch die Welt nur ein Produkt des Geistes sei." (Sämtliche Werke, Bd. X, 1866, S. 185.)

Ist das nicht klar genug? Die Welt an sich ist eine ohne uns existierende Welt. Der Materialismus von Feuerbach wie der Materialismus des XVII. Jahrhunderts, gegen den Bischof Berkeley gestritten hat, besteht in der Anerkennung der außerhalb unseres Bewusstseins existierenden „Objekte an sich". Das „an sich" Feuerbachs ist dem „an sich" Kants gerade entgegengesetzt: erinnern wir uns des bereits angeführten Zitats aus Feuerbach, worin er Kant vorwirft, dass für ihn das „Ding an sich" ein „Abstraktum ohne Realität" sei. Für Feuerbach ist das „Ding an sich" ein „Abstraktum mit Realität", d. h. eine außer uns existierende Welt, vollständig erkennbar und prinzipiell von der „Erscheinung" durch nichts unterschieden.

Feuerbach verdeutlicht sehr geistreich und anschaulich, wie unsinnig die Annahme irgendeiner „Transzendenz" von der Welt der Erscheinungen zu der Welt an sich ist, die Annahme irgendeines unüberbrückbaren Abgrundes, den die Pfaffen geschaffen haben und der von den Professoren der Philosophie übernommen wurde. Hier eine dieser Darlegungen:

Allerdings sind auch die Gebilde der Phantasie Gebilde der Natur, denn auch die Kraft der Phantasie, wie alle Kräfte des Menschen, sind zuletzt, sind ihrem Grund und Ursprung nach Naturkräfte, aber gleichwohl ist der Mensch ein von Sonne, Mond und Sternen, Steinen, Tieren und Pflanzen, kurz von allen den Wesen, die er in den gemeinsamen Namen: Natur zusammenfasst, unterschiedenes Wesen, und sind folglich die Bilder des Menschen von Sonne, Mond und Sternen und den übrigen Naturwesen, wenngleich auch diese Bilder Naturgebilde sind, doch andere Gebilde als die Gegenstände derselben in der Natur." (Werke, Bd. VII, 1903, S. 516.)

Die Gegenstände unserer Vorstellungen unterscheiden sich von unseren Vorstellungen, das Ding an sich unterscheidet sich von dem Ding für uns, denn letzteres ist nur ein Teil oder eine Seite des ersteren, so wie der Mensch selbst nur ein Teil der in seinen Vorstellungen abgebildeten Natur ist.

„… Der Geschmacksnerv ist so gut ein Naturgebilde, wie das Salz, aber es folgt nicht daraus, dass der Geschmack des Salzes unmittelbar als solcher eine objektive Eigenschaft desselben, dass das, was das Salz nur als Empfindungsgegenstand ist, es auch an und für sich selbst, die Empfindung also des Salzes auf der Zunge eine Beschaffenheit des ohne Empfindung gedachten Salzes ist.“

Und ein paar Seiten früher:

Die Säure als Geschmack ist der subjektive Ausdruck einer objektiven Beschaffenheit des Salzes." (S. 514.)

Die Empfindung ist das Resultat der Einwirkung des objektiv, außerhalb unser existierenden Dinges an sich auf unsere Sinnesorgane. Das ist Feuerbachs Theorie. Die Empfindung ist ein subjektives Abbild der objektiven Welt, der Welt an und für sich.

„… So ist auch der Mensch ein Naturwesen, so gut wie die Sonne, der Stern, die Pflanze, das Tier, der Stein, aber gleichwohl unterscheidet er sich von der Natur, und ist folglich die Natur im Kopfe und Herzen des Menschen eine von der Natur außer dem menschlichen Kopf und Herzen unterschiedene Natur." (S. 516.)

„… Aber doch ist dieser Gegenstand, nämlich der Mensch, der einzige Gegenstand, in dem, nach dem Ausspruch des Idealisten selbst, die Forderung der ,Identität von Subjekt und Objekt' erfüllt ist; denn er ist ja der Gegenstand, dessen Gleichheit und Einheit mit meinem Wesen außer allem Zweifel steht Ist nicht auch ein Mensch für den anderen, und sollten sie sich noch so nahestehen, ein Objekt der Phantasie, der Einbildung? fasst nicht jeder den anderen in und nach seinem Sinne auf? … Wenn nun aber schon zwischen Mensch und Mensch, zwischen Denken und Denken ein nicht zu übersehender, ein sehr bedenklicher Unterschied stattfindet, wie viel mehr ist zwischen den nicht denkenden, nichtmenschlichen, nicht mit uns identischen Wesen an sich und eben diesen Wesen, wie sie von uns vorgestellt, gedacht und begriffen werden, zu unterscheiden!" (S. 517 u. 518.)

Jeder geheimnisvolle, künstliche und ausgeklügelte Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich ist durch und durch ein philosophischer Unsinn. In Wirklichkeit hat jeder Mensch Millionen Mal die einfache und augenfällige Verwandlung des „Dinges an sich" in eine Erscheinung, in ein „Ding für uns" beobachtet. Diese Verwandlung ist eben die Erkenntnis. Die „Lehre" des Machismus, dass wir, da wir nur die Empfindungen kennen, nicht wissen können, ob irgend etwas hinter den Grenzen der Empfindungen existiert, ist ein alter Sophismus der idealistischen und agnostischen Philosophie, vorgesetzt in einer neuen Sauce.

Joseph Dietzgen ist dialektischer Materialist. Wir werden später zeigen, dass seine Ausdrucksweise oft nicht sehr präzis ist und dass er oft in Konfusion gerät, an welchen Umstand manche wenig kluge Leute (darunter auch Eugen Dietzgen) und natürlich unsere Machisten sich klammerten. Jedoch die Grundlinie seiner Philosophie zu untersuchen und den Materialismus deutlich abzusondern von anders gearteten Elementen, das zu tun haben sie sich nicht die Mühe genommen, oder sie waren dazu nicht imstande.

Nehmen wir als ,Ding an sich' die Welt“ – schreibt Dietzgen in seiner Schrift ,Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit' – „so versteht es sich leicht, dass die Welt ,an sich' und die Welt, wie sie uns erscheint, die Erscheinungen der Welt, nicht weiter verschieden sind, wie das Ganze und seine Teile." (Deutsche Ausgabe 1903, S. 65.) „Die Erscheinung ist von dem, was erscheint, nicht mehr und nicht weniger verschieden, wie der zehnmeilenlange Inhalt eines Weges vom Wege selbst." (S. 71, 72.)

Kein prinzipieller Unterschied, keine „Transzendenz", keine „angeborene Unverträglichkeit" ist hier, noch kann sie hier vorhanden sein. Ein Unterschied ist selbstverständlich vorhanden, es ist hier vorhanden ein Übergang über die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungen hinaus zur Existenz der Dinge außer uns.

Wir erfahren – sagt Dietzgen in den ,Streifzügen eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnistheorie' –, dass jede Erfahrung ein Teil desjenigen ist, das – mit Kant zu reden – über alle Erfahrung hinausreicht." „Im Sinne der ihres Wesens sich bewussten Erkenntnis ist jedes Partikelchen, sei es vom Staube genommen oder von Stein oder Holz, ein Unauskenntliches. d. h. jedes Partikelchen ist ein unerschöpfliches Material für das menschliche Erkenntnisvermögen, mithin über die Erfahrung Hinausreichendes." („Kleinere philosophische Schriften", S. 199.)

Man sieht: indem er mit Kant redet, d. h. indem er – ausschließlich zum Zwecke der Popularisierung, zur Gegenüberstellung – die fehlerhafte und verworrene Terminologie Kants gebraucht, erkennt Dietzgen ein „über die Erfahrung Hinausreichendes" an. Das ist ein treffliches Beispiel dafür, woran sich die Machisten klammern, wenn sie vom Materialismus zum Agnostizismus hinüber schwenken: wir denken nicht daran, „über die Grenzen der Erfahrung" hinauszugehen, für uns „ist die Sinnesvorstellung eben die außer uns existierende Wirklichkeit".

Die ungesunde Mystik – sagt Dietzgen gerade gegen eine derartige Philosophie – trennt die absolute von der relativen Wahrheit unwissenschaftlich. Sie macht aus dem erscheinenden Ding und dem ,Ding an sich', d. h. aus der Erscheinung und aus der Wahrheit, zwei Kategorien, die toto coelo (vollständig, prinzipiell) verschieden und in keiner gemeinsamen Kategorie ,aufgehoben enthalten' sind." (S. 200.)

Man beurteile jetzt die Sachkenntnis und den Scharfsinn des russischen Machisten Bogdanow, der die Bezeichnung Machist scheut und in der Philosophie als Marxist gelten will:

Die ,goldene Mitte' zwischen ,Panpsychismus und Panmaterialismus' bilden die Materialisten einer mehr kritischen Nuance, die sich von der absoluten Nichterkennbarkeit des Dinges an sich losgesagt haben, aber gleichzeitig es prinzipiell (gesperrt von Bogdanow. L.) für verschieden von der ,Erscheinung' halten, daher für stets in der Erscheinung nur undeutlich erkennbar, dem Inhalt nach außerhalb der Erfahrung (d. h. offenbar den ,Elementen' nach, welche anders als die Elemente der Erfahrung sind. L.), aber in den Grenzen dessen liegend, was man als Formen der Erfahrung zu bezeichnen pflegt, also in den Grenzen von Zeit, Raum und Kausalität. Dies ungefähr ist der Standpunkt der französischen Materialisten des XVIII. Jahrhunderts und der neueren Philosophen – Engels' und seines russischen Jüngers Beltow." („Empiriomonismus", Buch II, 2. Aufl., 1907, S. 40.)

Das ist samt und sonders Konfusion.

1. Die Materialisten des XVII. Jahrhunderts, mit denen Berkeley streitet, nehmen die „Objekte an sich" als absolut erkennbar an; denn unsere Vorstellungen, die Ideen, sind nur Kopien oder Abbildungen dieser „außerhalb des Geistes" existierenden Objekte. (Siehe Einleitung.)

2. Feuerbach bestreitet auf das entschiedenste den „prinzipiellen" Unterschied zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung, ebenso ihm folgend J. Dietzgen, und Engels wirft diese Anschauung durch das kurze Beispiel von der Verwandlung der „Dinge an sich" in „Dinge für uns" ganz über den Haufen.

3. Es ist endlich blanker Unsinn, dass die Materialisten die Dinge an sich für „stets in der Erscheinung nur undeutlich erkennbar" halten, wie wir das bei der Engelsschen Widerlegung des Agnostikers gesehen haben.

Der Grund für die Entstellung des Materialismus durch Bogdanow ist, dass er das Verhältnis zwischen absoluter und relativer Wahrheit (wovon weiter unten gehandelt werden soll) nicht begreift. Was das „außerhalb der Erfahrung" liegende Ding an sich und die „Elemente der Erfahrung" betrifft, so ist dies schon der Beginn der machistischen Konfusion, über die wir oben genügend gesprochen haben.

Den unglaublichen Unsinn der reaktionären Professoren über die Materialisten nachplappern, 1907 sich von Engels lossagen und 1908 versuchen, Engels agnostizistisch zu „bearbeiten", – das also ist die Philosophie des „neuesten Positivismus" der russischen Machisten!

4. Gibt es eine objektive Wahrheit?

Bogdanow erklärt:

Für mich enthält der Marxismus die Negation der absoluten Objektivität einer jeden, wie immer gearteten Wahrheit, die Negation aller ewigen Wahrheiten." („Empiriomonismus", Buch III, S. IV u. V.)

Was heißt denn das: „absolute Objektivität"? „Die Wahrheit für alle Ewigkeit" ist „die objektive Wahrheit in der absoluten Bedeutung des Wortes" – sagt ebenda Bogdanow, wobei er „die objektive Wahrheit nur im Rahmen einer bestimmten Epoche" zugeben will.

Hier sind offenkundig zwei Fragen miteinander vermengt:

1. Gibt es eine objektive Wahrheit, d. h. kann es in den menschlichen Vorstellungen einen Inhalt geben, der vom Subjekt nicht abhängig ist, der vom Menschen, von der Menschheit unabhängig ist?

2. Wenn ja, können denn die menschlichen Vorstellungen, die die objektive Wahrheit wiedergeben, diese Wahrheit auf einmal, ganz, unbedingt und absolut oder nur annähernd und relativ ausdrücken? Diese zweite Frage ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen absoluter und relativer Wahrheit.

Die zweite Frage beantwortet Bogdanow klar und eindeutig, indem er jegliche Annahme einer absoluten Wahrheit ablehnt und Engels wegen dieser Annahme des Eklektizismus bezichtigt. Über diese Entdeckung des Engelsschen Eklektizismus durch Bogdanow werden wir noch besonders sprechen. Jetzt bleiben wir bei der ersten Frage, die Bogdanow, ohne es direkt auszusprechen, ebenfalls negativ löst. Denn man kann das Element des Relativen in diesen oder jenen menschlichen Vorstellungen verneinen, ohne die objektive Wahrheit zu verneinen; aber man kann nicht die absolute Wahrheit verneinen, ohne dass man zugleich die Existenz der objektiven Wahrheit verneint.

„… Ein Kriterium der objektiven Wahrheit – schreibt Bogdanow etwas weiter, auf Seite IX – im Beltowschen Sinne gibt es nicht, die Wahrheit ist eine ideologische Form – die organisierende Form der menschlichen Erfahrung."

Der „Beltowsche Sinn" hat hier nichts zu schaffen, denn es handelt sich um eine philosophische Grundfrage und keineswegs um Beltow, aber ebenso wenig hat hier das Kriterium der Wahrheit etwas zu schaffen, das man besonders behandeln muss, ohne diese Frage mit der anderen zu vermengen, ob eine objektive Wahrheit existiere? Bogdanows negative Antwort auf letztere Frage ist klar: wenn die Wahrheit nur eine ideologische Form ist, dann kann es keine Wahrheit geben, die vom Subjekt, von der Menschheit unabhängig wäre. Denn weder wir noch Bogdanow kennen eine andere als die menschliche Ideologie. Noch klarer geht Bogdanows negative Antwort aus der zweiten Hälfte seiner Phrase hervor: wenn die Wahrheit eine Form der menschlichen Erfahrung ist, so bedeutet das, dass es keine von der Menschheit unabhängige Wahrheit, also keine objektive Wahrheit geben kann.

Bogdanows Verneinung der objektiven Wahrheit ist Agnostizismus und Subjektivismus. Die Absurdität dieser Verneinung fällt schon durch das oben erwähnte Beispiel einer naturwissenschaftlichen Wahrheit in die Augen. Die Naturwissenschaft lässt keinen Zweifel darüber zu, dass ihre Behauptung, die Erde habe vor den Menschen existiert, eine Wahrheit ist. Mit der materialistischen Erkenntnistheorie stimmt das völlig überein: die Existenz eines von dem Abbildenden unabhängigen Abgebildeten (die Unabhängigkeit der Außenwelt von dem Bewusstsein) ist die Grundvoraussetzung des Materialismus. Die Behauptung der Naturwissenschaft, dass die Erde vor der Menschheit existiert hat, ist eine objektive Wahrheit. Mit der Philosophie der Machisten und ihrer Lehre von der Wahrheit ist dieser Satz der Naturwissenschaft unvereinbar: wenn die Wahrheit die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, so kann die Behauptung von der Existenz der Erde außerhalb jeder menschlichen Erfahrung nicht wahr sein.

Aber mehr noch. Wenn die Wahrheit nur eine organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, dann ist also die Lehre, sagen wir des Katholizismus, ebenfalls eine Wahrheit. Denn es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass der Katholizismus eine „organisierende Form der menschlichen Erfahrung" ist. Bogdanow fühlte wohl selbst das auffällig Falsche an seiner Theorie, und es ist äußerst interessant, zu beobachten, wie er sich aus dem Sumpf, in den er geraten ist, herauszuwinden sucht.

Die Grundlage der Objektivität“ – lesen wir im ersten Buch des ,Empiriomonismus' – „dürfte in der Sphäre der kollektiven Erfahrung liegen. Als objektiv bezeichnen wir jene Erfahrungsgegebenheiten, die sowohl für uns als auch für andere Menschen die gleiche Lebensbedeutung haben, jene Gegebenheiten, auf die nicht bloß wir unsere Tätigkeit ohne Widersprüche aufbauen, sondern auf die unserer Überzeugung nach auch die anderen Menschen ihre Tätigkeit gründen müssen, wenn sie nicht in Widersprüche geraten wollen. Der objektive Charakter der physischen Welt besteht darin, dass sie nicht nur persönlich für mich, sondern für alle existiert (falsch! Die Welt existiert unabhängig von „allen". L.) und für alle eine bestimmte Bedeutung hat, meiner Überzeugung nach die gleiche, wie für mich. Die Objektivität der physikalischen Reihe ist ihre Allgemeingeltung (S. 25, von Bogdanow gesperrt). Die Objektivität der physischen Körper, denen wir in unserer Erfahrung begegnen, wird letzten Endes auf Grund der gegenseitigen Kontrolle und der Übereinstimmung von Aussagen verschiedener Menschen festgestellt. Überhaupt ist die physische Welt die sozial in Übereinstimmung gebrachte, sozial-harmonisierte, mit einem Wort – sozial organisierte Erfahrung" (S. 36, gesperrt von Bogdanow).

Wir wollen nicht wiederholen, dass dies eine von Grund aus unrichtige, idealistische Definition ist, dass vielmehr die physische Welt unabhängig von der Menschheit und von der menschlichen Erfahrung existiert, dass es eine physische Welt auch schon damals gab, als es noch keine „Sozialität" und keine „Organisation" der menschlichen Erfahrung geben konnte usw. Verweilen wir jetzt dabei, die machistische Philosophie von einer anderen Seite aus zu enthüllen: die Objektivität wird hier so definiert, dass auch religiöse Lehren, die zweifelsohne „Allgemeingeltung" besitzen, unter diese Definition fallen usw. Hören wir weiter, was Bogdanow sagt:

Wir erinnern den Leser noch einmal daran, dass die objektive Erfahrung durchaus nicht dasselbe ist, wie die soziale Erfahrung… Die soziale Erfahrung ist weitaus nicht ganz sozial-organisiert und enthält immer verschiedene Widersprüche, so dass nicht alle ihre Teile übereinstimmen; Trolle und Kobolde können in der Sphäre der sozialen Erfahrung eines gegebenen Volkes oder einer gegebenen Volksgruppe, z. B. der Bauern, existieren; doch braucht man sie deshalb noch nicht in die sozial-organisierte oder objektive Erfahrung einzuschließen, denn sie harmonieren nicht mit der übrigen kollektiven Erfahrung und lassen sich in ihre organisierenden Formen, z. B. in die Kette der Kausalität, nicht einfügen." (S. 45.)

Es ist uns gewiss sehr angenehm, dass Bogdanow selbst die soziale Erfahrung in Beziehung auf Trolle und Kobolde u. a. m. in die objektive Erfahrung „nicht einschließt". Diese im Geiste der Ablehnung des Fideismus wohlgemeinte Korrektur verbessert aber nicht im Mindesten den Grundfehler der ganzen Bogdanowschen Position. Bogdanows Definition der Objektivität und der physischen Welt ist zweifellos unhaltbar; denn die religiösen Lehren sind in noch viel größerem Ausmaß „allgemein geltend" als die der Wissenschaft: jenen hängt bis heute noch der größere Teil der Menschheit an. Der Katholizismus ist durch seine jahrhundertelange Entwicklung „sozial-organisiert, harmonisiert und in Übereinstimmung gebracht", er „fügt sich ein" in die „Kette der Kausalität", und zwar auf unzweifelhafteste Weise, denn die Religionen sind nicht ohne Ursache entstanden, sie erhalten sich unter den gegenwärtigen Bedingungen durchaus nicht zufällig in den Volksmassen, und die Professoren der Philosophie passen sich ihnen ganz „gesetzmäßig" an. Wenn diese zweifellos allgemein geltende und zweifellos hoch organisierte, sozial-religiöse Erfahrung mit der „Erfahrung" der Wissenschaft „nicht harmoniert", so bedeutet das, dass zwischen diesen beiden ein prinzipieller, fundamentaler Unterschied besteht, den Bogdanow verwischt, indem er die objektive Wahrheit ablehnt. So sehr Bogdanow sich „verbessern" mag, indem er sagt, dass Fideismus oder Pfaffentum mit der Wissenschaft nicht harmonieren, so bleibt dennoch die unzweifelhafte Tatsache, dass Bogdanows Verneinung der objektiven Wahrheit mit dem Fideismus vollkommen „harmoniert". Der moderne Fideismus verwirft die Wissenschaft durchaus nicht; er verwirft nur die „übermäßigen Ansprüche" der Wissenschaft, und zwar den Anspruch auf die objektive Wahrheit. Wenn es eine objektive Wahrheit gibt (wie die Materialisten meinen), wenn allein die Naturwissenschaft, die die Außenwelt in der menschlichen „Erfahrung" widerspiegelt, fähig ist, uns die objektive Wahrheit zu geben, so wird jeglicher Fideismus bedingungslos abgelehnt. Wenn es aber keine objektive Wahrheit gibt, wenn die Wahrheit (die wissenschaftliche eingeschlossen) nur die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, so wird eben damit die Grundvoraussetzung des Pfaffentums anerkannt, so wird diesem Tür und Tor geöffnet, so wird Raum geschaffen für die „organisierenden Formen" der religiösen Erfahrung.

Es fragt sich nun, ob diese Verneinung der objektiven Wahrheit von Bogdanow persönlich stammt, der nicht als Machist gelten will, oder ob sie sich aus den Grundlagen der Lehre von Mach und Avenarius ergibt? Diese Frage kann nur in letzterem Sinn beantwortet werden. Wenn in der Welt nur die Empfindung existiert (Avenarius im Jahre 1876), wenn die Körper „Empfindungskomplexe" sind (Mach, „Analyse der Empfindungen"), so leuchtet ein, dass wir es hier mit einem philosophischen Subjektivismus zu tun haben, der unausweichlich zur Verneinung der objektiven Wahrheit führt. Und wenn die Empfindungen als „Elemente" bezeichnet werden, die in der einen Verbindung das Physische, in einer anderen das Psychische ergeben, so wird dadurch, wie wir gesehen haben, der grundlegende Ausgangspunkt des Empiriokritizismus nicht abgelehnt, sondern nur verwirrt. Die Quelle unserer Erkenntnisse sind für Mach und Avenarius die Empfindungen. Sie stellen sich folglich auf den Standpunkt des Empirismus (alle Erkenntnis stammt aus der Erfahrung) oder des Sensualismus (alle Erkenntnis stammt aus den Empfindungen). Aber dieser Standpunkt führt zu dem Unterschied der philosophischen Grundrichtungen, Idealismus und Materialismus, hin, beseitigt jedoch nicht ihren Unterschied, so sehr man auch bemüht sein mag, ihn durch „neue" Worte („Elemente") zu verkleistern. Sowohl der Solipsist, d. h. der subjektive Idealist, als auch der Materialist können die Empfindungen als Quelle unserer Erkenntnis annehmen. Sowohl Berkeleys wie Diderots Stammvater ist Locke. Die erste Voraussetzung der Erkenntnistheorie besteht ohne Zweifel darin, dass die Empfindungen die einzige Quelle unserer Erkenntnisse sind. Nachdem Mach diese erste Voraussetzung angenommen, verwirrt er die zweite, wichtige Voraussetzung, nämlich die der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben oder die Quelle der menschlichen Empfindungen ist. Von den Empfindungen ausgehend, kann man die Linie des Subjektivismus einschlagen, die zum Solipsismus führt („die Körper sind Komplexe oder Kombinationen von Empfindungen"), man kann aber auch die Linie des Objektivismus einschlagen, die zum Materialismus führt (die Empfindungen sind Abbilder der Körper, der Außenwelt). Für den ersten Standpunkt – für den Agnostizismus, oder wenn man etwas weiter geht, für den subjektiven Idealismus – kann es keine objektive Wahrheit geben. Für den zweiten Standpunkt, d. h. für den Materialismus, ist die Anerkennung der objektiven Wahrheit wesentlich. Diese alte philosophische Frage nach den zwei Tendenzen, oder richtiger: nach den zwei möglichen Folgerungen aus den Voraussetzungen des Empirismus und Sensualismus, wird durch Mach weder gelöst noch beseitigt noch überwunden, sondern vermittels einer Taschenspielerei mit dem Worte „Element" u. dergl. verwirrt. Wenn Bogdanow die objektive Wahrheit verneint, so ist das nur das unvermeidliche Resultat des ganzen Machismus, nicht aber eine Abweichung davon.

Engels bezeichnet in „Ludwig Feuerbach" Hume und Kant als Philosophen, „die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten." Engels hebt also das Hume und Kant Gemeinsame hervor, nicht aber das Trennende. Er weist dabei darauf hin, dass „das Entscheidende zur Widerlegung dieser (Humeschen und Kantschen) Ansicht bereits von Hegel gesagt ist" (Seite 16). Bei dieser Gelegenheit dürfte es nicht uninteressant sein, zu erwähnen, dass Hegel, indem er den Materialismus das „konsequente System des Empirismus" nennt, folgendes schreibt:

Für den Empirismus ist überhaupt das Äußerliche das Wahre, und wenn dann auch ein Übersinnliches zugegeben wird, so soll doch eine Erkenntnis desselben nicht stattfinden können, sondern man sich lediglich an das der Wahrnehmung Angehörige zu halten haben. Dieser Grundsatz aber in seiner Durchführung hat dasjenige gegeben, was man später als Materialismus bezeichnet hat. Diesem Materialismus gilt die Materie als solche als das wahrhaft Objektive."E

Alle Erkenntnis stammt aus Erfahrung, Empfindungen, Wahrnehmungen. Das ist richtig. Es fragt sich aber nur, ob die objektive Realität selbst „der Wahrnehmung angehört", d. h. ob sie die Quelle der Wahrnehmung ist? Wenn ja, so sind Sie Materialist. Wenn nein, so sind Sie inkonsequent und müssen unvermeidlich zum Subjektivismus, zum Agnostizismus gelangen, gleichviel, ob Sie die Erkennbarkeit des Dinges an sich, die Objektivität von Zeit, Raum und Kausalität (nach Kant) verneinen, oder ob Sie (nach Hume) nicht einmal den Gedanken an das Ding an sich zulassen. Die Inkonsequenz Ihres Empirismus, Ihrer Philosophie der Erfahrung wird in diesem Fall darin bestehen, dass Sie den objektiven Inhalt in der Erfahrung, die objektive Wahrheit in der Erfahrungserkenntnis leugnen.

Die Anhänger der Richtung Kants und Humes (unter ihnen auch Mach und Avenarius, insofern sie nicht reine Berkeleyaner sind) nennen uns Materialisten „Metaphysiker", weil wir die objektive Realität, die uns durch die Erfahrung gegeben ist, also eine von den Menschen unabhängige, objektive Quelle unserer Empfindungen anerkennen. Wir Materialisten bezeichnen mit Engels die Kantianer und Humeisten als Agnostiker, weil sie die objektive Realität als Quelle unserer Empfindungen leugnen. Agnostiker ist ein griechisches Wort: a bedeutet nicht, gnosis Wissen. Der Agnostiker sagt: ich weiß nicht, ob es eine objektive Realität gibt, die durch unsere Empfindungen abgebildet, abgespiegelt wird, und ich erkläre, dass es unmöglich ist, dies zu wissen (siehe oben die Engelssche Darstellung der Position des Agnostikers). Daher die Negation der objektiven Wahrheit durch den Agnostiker und seine Toleranz, die spießerhafte, philiströse, feige Toleranz gegenüber der Lehre von Trollen, Kobolden, katholischen Heiligen und ähnlichen Dingen. Mach und Avenarius wiederholen, indem sie anspruchsvoll eine „neue" Terminologie, einen angeblich „neuen" Standpunkt in den Vordergrund schieben, tatsächlich nur, sich verwirrend und abschweifend, die Antwort des Agnostikers: einerseits sind die Körper Empfindungskomplexe (reiner Subjektivismus, reiner Berkeleyanismus); andererseits kann man, wenn man die Empfindungen in Elemente umtauft, ihre Existenz unabhängig von unseren Sinnesorganen denken!

Die Machisten reiten mit besonderer Vorliebe darauf herum, dass sie Philosophen sind, die dem Zeugnis unserer Sinnesorgane völlig vertrauen, und dass sie die Welt wirklich für das halten, was sie uns scheint, voll von Farben und Tönen usw. Für die Materialisten hingegen, sagen sie, sei die Welt tot, ohne Farben und ohne Töne, für sie sei die Welt an sich von der Welt, wie sie scheint, verschieden u. a. m. In solchen Deklamationen schwelgt z. B. Petzoldt in seiner „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" und im „Weltproblem von positivistischem Standpunkte aus" (1906). Dem Petzoldt plappert dasselbe Viktor Tschernow nach, den die „neue" Idee begeistert. In Wirklichkeit aber sind die Machisten Subjektivisten und Agnostiker, denn sie trauen den Zeugnissen unserer Sinnesorgane nicht genügend, sie führen den Sensualismus nicht konsequent durch. Sie leugnen eine von den Menschen unabhängige, objektive Realität als Quelle unserer Empfindungen. Sie sehen in den Empfindungen nicht eine getreue Kopie dieser objektiven Realität, sie geraten in direkten Widerspruch zur Naturwissenschaft und öffnen dem Fideismus alle Tore. Dagegen ist für den Materialisten die Welt reicher, lebendiger und mannigfaltiger, als sie scheint, denn jeder Schritt der wissenschaftlichen Entwicklung entdeckt in ihr neue Seiten. Für den Materialisten sind unsere Empfindungen Abbilder der einzigen und letzten objektiven Realität – der letzten Realität nicht in dem Sinn, dass sie schon bis zu Ende erkannt ist, sondern in dem Sinne, dass es eine andere außer ihr nicht gibt und nicht geben kann. Dieser Standpunkt versperrt nicht nur jeglichem Fideismus unwiderruflich den Zutritt, sondern auch jener professoralen Scholastik, die, außerstande, die objektive Realität als Quelle unserer Empfindungen zu sehen, durch gequälte Wortkonstruktionen den Begriff des Objektiven als des Allgemeingeltenden, Sozialorganisierten usw. „ableitet" und die nicht fähig, manchmal auch nicht willens ist, die objektive Wahrheit von der Troll- und Koboldlehre zu trennen.

Die Machisten zucken verächtlich die Achseln über die „veralteten" Ansichten der „Dogmatiker", der Materialisten, die sich an den Begriff der Materie halten, der ja durch die „neueste" Wissenschaft und den „neuesten Positivismus" widerlegt sein soll. Über die neueren Theorien der Physik, die die Struktur der Materie betreffen, werden wir noch besonders sprechen. Es ist aber völlig unzulässig, die Lehre von dieser oder jener Struktur der Materie mit einer erkenntnistheoretischen Kategorie zu vermengen – die Frage nach den neuen Eigenschaften der neuen Arten der Materie (z. B. Elektronen) zu vermengen mit dem alten Problem der Erkenntnistheorie, der Frage nach den Quellen unseres Wissens, der Existenz einer objektiven Wahrheit u. a. m., wie die Machisten es tun. Mach soll die „Weltelemente entdeckt" haben: das Rote, das Grüne, das Harte, das Weiche, das Laute, das Lange usw. – so sagt man uns. Wir fragen: ist dem Menschen, der das Rote sieht, das Harte empfindet usw., die objektive Realität gegeben oder nicht? Diese uralte philosophische Frage ist von Mach verwirrt worden. Ist die Realität nicht gegeben, dann rutscht ihr zusammen mit Mach unvermeidlich hinunter zum Subjektivismus und Agnostizismus und liefert euch der wohlverdienten Umarmung der Immanenzphilosophen aus, d. h. der philosophischen Menschikows. Ist aber die Realität gegeben, dann braucht man für diese objektive Realität einen philosophischen Begriff, und dieser Begriff ist schon vor sehr langer Zeit geschaffen worden, dieser Begriff ist eben die Materie. Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, photographiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert. Davon zu reden, dass ein solcher Begriff „veralten" kann, ist deshalb kindliches Geschwätz, eine sinnlose Wiederholung der Argumente der reaktionären Modephilosophie! Konnte der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in den zwei Jahrtausenden der Entwicklung der Philosophie veralten? Der Kampf zwischen den Tendenzen oder Richtungen eines Plato und Demokrit in der Philosophie? Der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft? Zwischen der Verneinung der objektiven Wahrheit und ihrer Anerkennung? Der Kampf zwischen den Anhängern eines übersinnlichen Wissens und ihren Gegnern?

Die Frage, ob der Begriff Materie anerkannt oder abgelehnt werden soll, ist die Frage, ob der Mensch den Aussagen seiner Sinnesorgane vertrauen soll, ist die Frage nach der Quelle unserer Erkenntnis, die von allem Anfang der Philosophie an gestellt und erörtert wurde, eine Frage, die zwar von den professoralen Clowns auf tausenderlei Art vermummt werden, aber doch niemals veralten kann, ebenso wenig wie die Frage veralten kann, ob Gesicht, Gehör, Tastgefühl und Geruch die Quellen unserer Erkenntnis seien. Unsere Empfindungen für Abbilder der Außenwelt halten, eine objektive Wahrheit anerkennen, auf dem Standpunkt der materialistischen Erkenntsnistheorie stehen, das ist ein und dasselbe. Um dies zu illustrieren, möchte ich hier nur je ein Zitat aus Feuerbach und aus zwei Handbüchern der Philosophie anführen, damit der Leser sehen kann, wie elementar diese Frage ist.

Wie abgeschmackt – schrieb Ludwig Feuerbach –, der Empfindung das Evangelium, die Verkündigung eines objektiven Heilands abzusprechen."F

Es ist zwar eine merkwürdige, monströse Terminologie, aber die philosophische Linie ist durchaus klar. Die Empfindung offenbart dem Menschen die objektive Wahrheit.

Meine Empfindung ist subjektiv, aber ihr Grund ist ein objektiver." (S. 195.)

Man vergleiche die weiter oben zitierte Stelle, in der Feuerbach sagt, dass der Materialismus von der sinnlichen Welt als einer ausgemachten objektiven Wahrheit ausgehe.

Der Sensualismus – lesen wir im „Dictionaire des sciences philosophiques" von Franck (Paris 1874) – ist die Lehre, die „alle unsere Ideen aus der Erfahrung der Sinne ableitet und die Erkenntnis auf die Empfindung zurückführt". Der Sensualismus könne ein subjektiver ( Skeptizismus und Berkeleyanismus), ein moralischer (Epikurismus) und ein objektiver sein.

Der objektive Sensualismus ist der Materialismus, denn die Materie oder die Körper sind, nach Ansicht der Materialisten, die einzigen Objekte, die auf unsere Sinne wirken können" (atteindre nos sens).

Behauptete der Sensualismus – sagt Schwegler in seiner „Geschichte der Philosophie" (es handelt sich um die französische Philosophie am Ende des XVIII. Jahrhunderts. L.) –, die Wahrheit oder das Seiende könne bloß durch die Sinne wahrgenommen werden, so durfte man diesen Satz nur objektiv fassen und man hat die These des Materialismus: nur das Sinnliche ist; es gibt kein anderes Sein als das materielle Sein."G

Das sind ABC-Wahrheiten, die bereits in die Lehrbücher Eingang gefunden haben, aber von unseren Machisten vergessen worden sind.

5. Absolute und relative Wahrheit oder der von A. Bogdanow bei Engels entdeckte Eklektizismus

Bogdanow hat seine Entdeckung im Jahre 1906 in dem Vorwort zu Buch III des „Empiriomonismus" gemacht. Er schreibt:

Engels drückt sich im ,Anti-Dühring' fast in demselben Sinn aus, in dem ich jetzt die Relativität der Wahrheit charakterisiert habe" (S. V.) (d. h. im Sinne der Verneinung aller ewigen Wahrheiten. L.), „der Negation der absoluten Objektivität einer jeden wie immer gearteten Wahrheit". „Engels tut mit seiner Unentschiedenheit sehr unrecht daran, durch all seine Ironie doch irgendwelche, wenn auch armselige, ewige Wahrheiten durchschimmern zu lassen." (S. VIII.) „Nur Inkonsequenz lässt eklektische Vorbehalte, wie die von Engels zu." (S. IX.)

Hier ein Beispiel, wie Bogdanow den Eklektizismus von Engels widerlegt. „Napoleon ist am 5. Mai 1821 gestorben", sagt Engels im „Anti-Dühring" (Kapitel: „Ewige Wahrheiten"), um dem Dühring zu erklären, auf welche Plattheiten und Gemeinplätze man angewiesen ist, wenn man in den geschichtlichen Wissenschaften auf die Entdeckung von ewigen Wahrheiten Anspruch erhebt. Darauf erwidert Bogdanow folgendermaßen:

Was für eine ,Wahrheit' ist das? Und was hat sie ,Ewiges' an sich? Das ist nur die Konstatierung einer Einzelbeziehung, die vielleicht selbst für unsere Generation schon keine reale Bedeutung mehr hat, die keiner einzigen Tätigkeit als Ausgangspunkt dienen und nirgendswo hinführen kann." (S. IX.)

Und auf Seite VIII:

Kann man Plattheiten als Wahrheiten bezeichnen? Sind Plattheiten denn Wahrheiten? Wahrheit – das ist die lebendige, organisierende Form der Erfahrung, sie führt uns in unserem Handeln irgendwohin, verleiht uns im Lebenskampf einen Stützpunkt."

Aus diesen beiden Zitaten ersieht man klar genug, dass Bogdanow, anstatt Engels zu widerlegen, zu deklamieren anfängt. Kannst du nicht behaupten, dass der Satz „Napoleon ist am 5. Mai 1821 gestorben" falsch oder ungenau ist, so erkennst du ihn als wahr an. Kannst du nicht behaupten, dass dieser Satz vielleicht in Zukunft widerlegt werden kann, so erkennst du diese Wahrheit als ewig an. Wenn aber solche Phrasen, wie: „Wahrheit ist die lebendige, organisierende Form der Erfahrung", als Widerlegung bezeichnet werden, so heißt das einfachen Wortschwall für Philosophie ausgeben. Hat die Erde jene Geschichte hinter sich, wie sie in der Geologie dargestellt wird, oder ist die Erde in sieben Tagen erschaffen worden? Darf man dieser Frage dadurch ausweichen, dass man Phrasen über die „lebendige" (was soll das heißen?) Wahrheit drechselt, welche irgendwo „hinführt" usw.? Hat wirklich die Kenntnis der Erd- und Menschheitsgeschichte „keine reale Bedeutung"? Das ist doch einfach schwülstige Albernheit, womit Bogdanow seinen Rückzug deckt. Denn es ist ein Rückzug, wenn er sich erst anheischig macht, zu beweisen, dass Engels' Annahme ewiger Wahrheiten Eklektizismus sei, und gleichzeitig mit großem Wortschwall sich vor der Frage drückt, indem er unwiderlegt lässt, dass Napoleon wirklich am 5. Mai 1821 gestorben ist, und dass die Annahme, diese Wahrheit könnte in Zukunft widerlegt werden, unsinnig ist.

Das Beispiel von Engels ist ganz elementar, und jeder kann mühelos Dutzende ähnlicher Beispiele von Wahrheiten finden, die ewig, absolut sind, und die nur Verrückte bezweifeln können (wie Engels sagt, indem er ein anderes ähnliches Beispiel anführt: „Paris liegt in Frankreich"). Warum spricht Engels hier von Plattheiten? Weil er den dogmatischen, metaphysischen Materialisten Dühring widerlegt und verspottet, der nicht verstand, die Dialektik auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen absoluter und relativer Wahrheit anzuwenden. Materialist sein heißt, die objektive Wahrheit, die uns durch die Sinnesorgane zugänglich wird, anerkennen. Die objektive, d. h. von dem Menschen und der Menschheit unabhängige Wahrheit anerkennen, heißt die absolute Wahrheit auf diese oder jene Weise anerkennen. Eben dieses „auf diese oder jene Weise" trennt den metaphysischen Materialisten Dühring von dem dialektischen Materialisten Engels. Dühring liebte es, in den kompliziertesten Fragen der Wissenschaft überhaupt und der Geschichtswissenschaft insbesondere, mit Worten um sich zu werfen, wie: die letzte, die ewige, die endgültige Wahrheit. Engels verlacht ihn: Allerdings, antwortet er, gibt es ewige Wahrheiten, es ist aber unvernünftig, auf sehr einfache Dinge gewaltige Worte anzuwenden. Um den Materialismus zu fördern, muss man das abgeschmackte Spiel mit dem Wort „ewige Wahrheit" lassen, muss man verstehen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen absoluter und relativer Wahrheit dialektisch zu stellen und zu lösen. Darum drehte sich der Kampf vor 30 Jahren zwischen Dühring und Engels. Bogdanow jedoch, der es fertiggebracht hat, „nicht zu bemerken", dass Engels im selben Kapitel in die Frage der absoluten und relativen Wahrheit Klarheit gebracht hat, Bogdanow, der es fertiggebracht hat, Engels „Eklektizismus" vorzuwerfen, weil er einen zum ABC jedes Materialismus gehörigen Satz eingeräumt hat, offenbarte dadurch nur noch einmal seine absolute Unkenntnis sowohl des Materialismus als auch der Dialektik.

„… Hier kommen wir vor die Frage“ – schreibt Engels am Anfang des obengenannten Kapitels –, „ob und welche Produkte des menschlichen Erkennens überhaupt souveräne Geltung und unbedingten Anspruch auf Wahrheit haben können." (S. 79 der 5. deutschen Auflage.)

Und Engels löst diese Frage auf folgende Weise:

Die Souveränität des Denkens verwirklicht sich in einer Reihe höchst unsouverän denkender Menschen; die Erkenntnis, welche unbedingten Anspruch auf Wahrheit hat, in einer Reihe von relativen Irrtümern; weder die eine noch die andere kann anders als durch eine unendliche Lebensdauer der Menschheit vollständig verwirklicht werden.

Wir haben hier wieder denselben Widerspruch, wie schon oben, zwischen dem notwendig als absolut vorgestellten Charakter des menschlichen Denkens und seiner Realität in lauter beschränkt denkenden Einzelmenschen, ein Widerspruch, der sich nur im unendlichen Progress, in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Menschengeschlechter lösen kann. In diesem Sinne ist das menschliche Denken ebenso sehr souverän wie nicht souverän und seine Erkenntnisfähigkeit ebenso sehr unbeschränkt wie beschränkt. Souverän und unbeschränkt der Anlage, dem Beruf, der Möglichkeit, dem geschichtlichen Endziel nach; nicht souverän und beschränkt der Einzelausführung und der jedesmaligen Wirklichkeit nach."H

Ebenso“ – fährt Engels fort – „verhält es sich mit den ewigen Wahrheiten." (S. 80 u. 81.)

Diese Betrachtung ist außerordentlich wichtig für die Frage des Relativismus, des Prinzips der Relativität unserer Kenntnisse, die von allen Machisten so sehr betont wird. Alle Machisten betonen, dass sie Relativisten sind; die russischen Machisten, die den deutschen Wort für Wort nachsprechen, haben jedoch Angst oder verstehen es nicht, die Frage nach dem Verhältnis des Relativismus zur Dialektik klar und unumwunden zu stellen. Für Bogdanow, wie für alle Machisten, schließt die Annahme der Relativität unseres Wissens die allergeringste Annahme der absoluten Wahrheit aus. Für Engels setzt sich die absolute Wahrheit aus den relativen Wahrheiten zusammen. Bogdanow ist Relativist, Engels – Dialektiker. Hier noch eine nicht weniger wichtige Betrachtung von Engels aus demselben Kapitel des „Anti-Dühring":

Wahrheit und Irrtum, wie alle sich in polaren Gegensätzen bewegenden Denkbestimmungen, haben absolute Gültigkeit eben nur für ein äußerst beschränktes Gebiet; wie wir das eben gesehen haben, und wie auch Herr Dühring wissen würde, bei einiger Bekanntschaft mit den ersten Elementen der Dialektik, die gerade von der Unzulänglichkeit aller polaren Gegensätze handeln. Sobald wir den Gegensatz von Wahrheit und Irrtum außerhalb jenes oben bezeichneten engen Gebiets anwenden, wird er relativ und damit für genaue wissenschaftliche Ausdrucksweise unbrauchbar; versuchen wir aber ihn außerhalb jenes Gebiets als absolut gültig anzuwenden, so kommen wir erst recht in die Brüche; die beiden Pole des Gegensatzes schlagen in ihr Gegenteil um, Wahrheit wird Irrtum und Irrtum Wahrheit." (S. 86.)

Es folgt ein Beispiel – das Boylesche Gesetz (wonach das Volumen der Gase bei gleichbleibender Temperatur sich umgekehrt verhält, wie der Druck, dem sie ausgesetzt sind). Das in diesem Gesetz enthaltene „Körnchen Wahrheit" ist nur innerhalb bestimmter Grenzen absolute Wahrheit. Das Gesetz erweist sich „nur annähernd" als Wahrheit.

Also das menschliche Denken ist seiner Anlage nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die eine Summe von relativen Wahrheiten ist, zu geben, und gibt sie uns auch. Jede Stufe in der Entwicklung der Wissenschaft fügt dieser Summe der absoluten Wahrheit neue Körnchen hinzu; die Schranken der Wahrheit jedes wissenschaftlichen Satzes aber sind relativ und werden durch die weitere Zunahme des Wissens entweder enger oder weiter gezogen.

Die absolute Wahrheit“ – sagt Dietzgen in den „Streifzügen eines Sozialisten" – „lässt sich sehen, hören, riechen, fühlen, allerdings auch erkennen; aber sie geht nicht auf in Erkenntnis." (S. 195 u. 196.) „Es ist doch selbstredend, dass das Bild den Gegenstand nicht erschöpft und der Maler hinter seinem Modell zurückbleibt… Wie kann das Bild mit seinem Modell ,übereinstimmen'? – Annähernd, ja." (S. 197.) „Also nur relativ können wir die Natur und ihre Teile erkennen; denn auch jeder Teil, obgleich nur eine Relation der Natur, hat doch auch wieder die Natur des Absoluten, die mit der Erkenntnis nicht zu erschöpfende Natur des Naturganzen an sich. Woher wissen wir nun, dass hinter den Naturerscheinungen, hinter den relativen Wahrheiten, eine universale, unbegrenzte, absolute Natur sitzt, die sich dem Menschen nicht vollständig offenbart?… Woher diese Wissenschaft? Sie ist uns angeboren; sie ist mit dem Bewusstsein gegeben." (S. 198.)

Das letzte ist eine der Ungenauigkeiten Dietzgens, die Marx dazu veranlassten, in einem Brief an Kugelmann die Konfusion in den Ansichten Dietzgens festzustellen. Nur wenn man sich an solche unrichtige Stellen klammert, kann man von einer besonderen Philosophie Dietzgens im Unterschiede zum dialektischen Materialismus sprechen. Aber Dietzgen verbessert sich auf derselben Seite selber:

Wenn ich sage, dass das Bewusstsein von der unendlichen, absoluten Wahrheit uns angeboren, eine und die einzige Wissenschaft a priori sei, so bestätigt doch auch die Erfahrung dieses angeborene Bewusstsein." (S. 198.)

Aus allen diesen Erklärungen von Engels und Dietzgen ersieht man klar, dass es für den dialektischen Materialismus keine unüberbrückbare Kluft zwischen relativer und absoluter Wahrheit gibt. Bogdanow hat das absolut nicht begriffen, wenn er schreiben konnte:

Sie (die Weltanschauung des alten Materialismus) will eine unbedingt objektive Erkenntnis des Wesens der Dinge sein (gesperrt von Bogdanow) und ist mit der geschichtlichen Bedingtheit jeder Ideologie nicht in Einklang zu bringen." (Buch III des „Emplriomonismus", S. IV.)

Vom Standpunkt des modernen Materialismus, d. h. des Marxismus, sind nur die Grenzen der Annäherung unserer Erkenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt, die Existenz dieser Wahrheit selbst aber ist unbedingt, unbedingt ist, dass wir uns ihr nähern. Geschichtlich bedingt sind die Konturen eines Bildes, aber unbedingt ist, dass dieses Bild ein objektiv existierendes Modell wiedergibt. Geschichtlich bedingt ist, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen wir in unserer Erkenntnis des Wesens der Dinge bis zu der Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer kamen oder bis zur Entdeckung der Elektronen im Atom, aber unbedingt ist, dass jede solche Entdeckung ein Vorwärtsschreiten der „unbedingt objektiven Erkenntnis" ist. Kurz gesagt, geschichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber unbedingt ist, dass jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied z. B. zur religiösen Ideologie) eine objektive Wahrheit entspricht, eine absolute Natur. Ihr werdet sagen: diese Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Wahrheit sei unbestimmt. Ich antworte darauf: diese Unterscheidung ist gerade „unbestimmt" genug, um die Verwandlung der Wissenschaft in ein Dogma im schlechten Sinn dieses Wortes, d. h. in etwas Totes, Erstarrtes, Versteinertes zu verhindern, sie ist aber zugleich „bestimmt" genug, um sich auf das Entschiedenste und Unwiderruflichste vom Fideismus und Agnostizismus, vom philosophischen Idealismus und der Sophistik der Nachfolger Kants und Humes abzugrenzen. Hier ist eine Trennungslinie, die ihr nicht bemerkt habt, und weil ihr sie nicht bemerkt habt, seid ihr in den Sumpf der reaktionären Philosophie hinab geglitten. Dies ist die Trennungslinie zwischen dialektischem Materialismus und Relativismus.

Wir sind Relativisten, verkünden Mach, Avenarius, Petzoldt. Wir sind Relativisten – fallen in den Chor Herr Tschernow und einige russische Machisten, die Marxisten sein möchten, ein. Ja, Herr Tschernow und ihr Genossen Machisten – das ist gerade euer Fehler? Denn den Relativismus zur Grundlage der Erkenntnistheorie machen, heißt, unvermeidlich sich entweder zum absoluten Skeptizismus, Agnostizismus und zur Sophistik oder zum Subjektivismus verdammen. Der Relativismus als Grundlage der Erkenntnistheorie bedeutet nicht nur die Anerkennung der Relativität unserer Erkenntnisse, sondern auch die Leugnung irgendeines objektiven, unabhängig von der Menschheit existierenden Maßes oder Modells, dem sich unsere relative Erkenntnis nähert. Vom Standpunkt des nackten Relativismus aus kann man jede Sophistik rechtfertigen, kann man es als „bedingt" hinstellen, ob Napoleon am 5. Mai des Jahres 1821 gestorben oder nicht gestorben ist, kann man zur Bequemlichkeit des Menschen oder der Menschheit neben der wissenschaftlichen Ideologie (die in einer Beziehung recht „bequem" ist) auch eine religiöse Ideologie (die in anderer Beziehung recht „bequem" ist) gelten lassen.

Die Dialektik schließt in sich, wie schon Hegel erklärte, ein Moment des Relativismus, der Negation, des Skeptizismus ein, aber reduziert sich nicht auf den Relativismus. Die materialistische Dialektik von Marx und Engels schließt unbedingt den Relativismus ein, reduziert sich aber nicht auf ihn, d. h. sie gibt die Relativität aller unserer Kenntnisse zu, aber nicht im Sinne der Verneinung der objektiven Wahrheit, sondern im Sinne der geschichtlichen Bedingtheit der Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an diese Wahrheit.

Bogdanow schreibt in Sperrdruck: „Der konsequente Marxismus lässt weder eine solche Dogmatik noch eine solche Statik zu", wie die ewigen Wahrheiten es sind. (III. Buch, „Empiriomonismus", S. IX.) Das ist Konfusion. Wenn die Welt eine sich ewig bewegende, sich entwickelnde Materie (wie die Marxisten meinen) ist, die sich in dem sich entwickelnden menschlichen Bewusstsein widerspiegelt, – was hat dann hier die „Statik" zu schaffen? Es handelt sich hier durchaus nicht um das unveränderliche Wesen der Dinge und auch nicht um das unveränderliche Bewusstsein, sondern um die Übereinstimmung zwischen dem die Natur abbildenden Bewusstsein und der im Bewusstsein abgebildeten Natur. In Bezug auf diese – und zwar nur auf diese – Frage hat der Terminus Dogmatik einen besonderen, charakteristischen philosophischen Beigeschmack: es ist dies das Lieblingswort der Idealisten und Agnostiker gegen die Materialisten, wie wir schon an dem Beispiel des ziemlich „alten" Materialisten Feuerbach gesehen haben. Ein uralter Kram – eben als das erweisen sich alle Einwände gegen den Materialismus, die vom Standpunkt des viel gerühmten „neuesten Positivismus" aus gemacht werden.

6. Das Kriterium der Praxis in der Erkenntnistheorie

Wir haben gesehen, dass Marx 1845, Engels 1888 und 1891 das Kriterium der Praxis zur Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie gemacht haben. Von der Praxis isoliert die Frage stellen, „ob dem menschlichen Denken gegenständliche (d. h. objektive) Wahrheit zukomme", ist reine Scholastik – so Marx in der zweiten These über Feuerbach. Die schlagendste Widerlegung des Kantschen und Humeschen Agnostizismus wie aller anderen philosophischen Schrullen ist die Praxis – wiederholt Engels. „… Die Erfolge unserer Handlungen liefern den Beweis für die Übereinstimmung unserer Wahrnehmungen mit der gegenständlichen (objektiven) Natur der wahrgenommenen Dinge", – erwidert Engels den Agnostikern.

Man vergleiche damit die Betrachtung Machs über das Kriterium der Praxis:

Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüberzustellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der anderen gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein hinab zu drücken? … Unsere Erwartung wird allerdings getäuscht, wenn wir… den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen Fällen dennoch das Gewöhnliche zu erwarten. Die Tatsachen sind daran unschuldig. Es hat nur einen praktischen, aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist, oder ob wir sie bloß träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn. Auch der wüsteste Traum ist eine Tatsache, so gut als jede andere." („Analyse der Empfindungen", S. 8 u. 9.)

Es ist richtig: nicht nur der wüsteste Traum ist eine Tatsache, sondern auch die wüsteste Philosophie. Daran ist kein Zweifel möglich, nachdem man die Philosophie Ernst Machs kennengelernt hat. Wie der allerletzte Sophist, vermengt er die erkenntnisgeschichtliche und psychologische Untersuchung der menschlichen Irrtümer, der „wüstesten Träume" der Menschheit, wie des Glaubens an Trolle, Kobolde usw., mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung des Wahren und des „Wüsten". Das ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein Nationalökonom sagen würde, dass die Theorie von William N. Senior, nach der der ganze Gewinn der Kapitalisten das Resultat der „letzten Arbeitsstunde" des Arbeiters sei, eine ebensolche Tatsache sei, wie die Theorie von Marx, und dass vom wissenschaftlichen Standpunkt aus die Frage gar keinen Sinn habe, welche Theorie die objektive Wahrheit und welche die Vorurteile der Bourgeoisie und die Käuflichkeit ihrer Professoren ausdrücke. Der Lohgerber Joseph Dietzgen sah in der wissenschaftlichen, d h. materialistischen Erkenntnistheorie eine „Universalwaffe wider den religiösen Glauben" („Kleinere philosophische Schriften", S. 55), für den ordentlichen Professor Ernst Mach aber hat die Unterscheidung zwischen der materialistischen und der subjektiv-idealistischen Erkenntnistheorie keinen wissenschaftlichen Sinn! Die Wissenschaft sei im Kampfe des Materialismus gegen Idealismus und Religion parteilos, – das ist nicht allein eine Lieblingsidee von Mach, sondern auch die aller modernen bürgerlichen Professoren, all dieser, um den treffenden Ausdruck desselben J. Dietzgen zu gebrauchen, „diplomierten Lakaien, die … mit einem geschraubten Idealismus … Volksbetörung treiben …" (Ebenda, S. 53.)

Es ist eben ein solcher geschraubter Professoren-Idealismus, wenn das Kriterium der Praxis, das für jedermann die Illusion von der Wirklichkeit sondert, von Ernst Mach über die Grenzen der Wissenschaft, über die Grenzen der Erkenntnistheorie hinaus verlegt wird. Die menschliche Praxis beweist die Richtigkeit der materialistischen Erkenntnistheorie – erklären Marx und Engels, und sie nannten die Versuche, die Grundfrage der Erkenntnistheorie ohne Rücksicht auf die Praxis zu lösen, reine „Scholastik" und „philosophische Schrullen". Für Mach ist Praxis eines und Erkenntnistheorie etwas ganz anderes. Man kann sie nebeneinanderstellen, ohne dass die erstere die letztere bedingt. In seinem letzten Werke „Erkenntnis und Irrtum" (2. Aufl., S. 115) sagt Mach:

Eine Erkenntnis ist stets ein uns… biologisch förderndes physisches Erlebnis." „Nur der Erfolg vermag beide (Erkenntnis und Irrtum) zu scheiden." (S. 116.) Der Begriff ist eine „physikalische Arbeitshypothese". (S. 143.)

Unsere russischen Machisten, die gern Marxisten sein wollen, nehmen solche Phrasen von Mach mit erstaunlicher Naivität als Beweis dafür hin, dass er sich dem Marxismus nähere. Er nähert sich aber dem Marxismus ebenso, wie sich Bismarck der Arbeiterbewegung oder der Bischof Eulogius der Demokratie genähert hat. Bei Mach stehen solche Sätze neben seiner idealistischen Erkenntnistheorie, sie bedeuten nicht Entscheidung für diese oder jene erkenntnistheoretische Richtung. Die Erkenntnis kann nur dann biologisch fördernd sein, fördernd für das menschliche Handeln, für die Erhaltung des Lebens, für die Erhaltung der Gattung, wenn sie eine objektive, vom Menschen unabhängige Wahrheit widerspiegelt. Für einen Materialisten beweist „der Erfolg" der menschlichen Praxis die Übereinstimmung unserer Vorstellungen mit der objektiven Natur der von uns wahrgenommenen Dinge. Für den Solipsisten ist „Erfolg" alles, wessen ich in der Praxis bedarf, die man getrennt von der Erkenntnistheorie betrachten kann. Schließen wir das Kriterium der Praxis in die Grundlage der Erkenntnistheorie ein, so kommen wir unvermeidlich zum Materialismus, – sagt der Marxist. Mag die Praxis meinetwegen materialistisch sein, die Theorie gehört in ein ganz besonderes Gebiet – sagt Mach.

Praktisch“ – schreibt er in der „Analyse der Empfindungen" – „können wir nun handelnd die Ichvorstellung so wenig entbehren, als die Körpervorstellung nach einem Dinge greifend. Physiologisch bleiben wir Egoisten und Materialisten, so wie wir die Sonne immer wieder aufgehen sehen. Theoretisch muss aber diese Auffassung nicht festgehalten werden." (S. 291.)

Der Egoismus ist hier gar nicht am Platze, denn er ist durchaus keine erkenntnistheoretische Kategorie; ebenso wenig auch die scheinbare Bewegung der Sonne um die Erde, denn die uns als erkenntnistheoretisches Kriterium dienende Praxis umfasst auch die Praxis der astronomischen Beobachtungen, Entdeckungen usw. Es bleibt nur das wertvolle Eingeständnis von Mach, dass die Menschen sich in ihrer Praxis durchgängig und ausschließlich von der materialistischen Erkenntnistheorie leiten lassen; der Versuch aber, sie „theoretisch" zu umgehen, ist nur eine gelahrt-scholastische und ausgeklügelt-idealistische Tendenz von Mach.

Wie wenig neu diese Bemühungen sind, die Praxis als nicht zur Erkenntnistheorie gehörig auszuschalten, um dem Agnostizismus und dem Idealismus Platz zu machen, zeigt folgendes Beispiel aus der Geschichte der deutschen klassischen Philosophie. Zwischen Kant und Fichte steht hier G. E. Schulze (der in der Geschichte der Philosophie sogenannte Schulze-Änesidemus). Er verteidigt offen die skeptische Richtung in der Philosophie und bezeichnet sich als Nachfolger Humes (und unter den Alten – Pyrrhons und Sextus'). Er leugnet auf das Entschiedenste jedes Ding an sich und die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis und verlangt entschieden, dass man über die Erfahrung, die Empfindungen nicht hinausgehe, wobei er auch die Einwände des anderen Lagers voraussieht:

Da … der Skeptiker …, wenn er … an den Angelegenheiten des Lebens Anteil nimmt, sowohl die Wirklichkeit objektiver Gegenstände als gewiss voraussetzt und denselben gemäß sich beträgt als auch ein Kriterium der Wahrheit zugibt: so ist sein eigenes Betragen die beste und deutlichste Widerlegung der Vernunftmäßigkeit seiner Zweifelssucht."I

Durch dieselben“ (Vorwürfe) – antwortet entrüstet Schulze – „kann man freilich bei dem… Pöbel sehr viel ausrichten." (S. 254.) Denn „meine Zweifel müssen innerhalb der Grenzen der Philosophie bleiben" und berühren nicht „die Bedürfnisse des gegenwärtigen Lebens"… (S. 255.)

Ebenso hofft der subjektive Idealist Fichte in den Grenzen der idealistischen Philosophie Platz zu finden für jenen „Realismus, der sich uns allen und selbst dem entschiedensten Idealisten aufdringt, wenn es zum Handeln kommt, d. h. die Annahme, dass Gegenstände ganz unabhängig von uns außer uns existieren". (Werke I, S. 455.)

Der neueste Positivismus von Mach ist über Schulze und Fichte nicht weit hinausgekommen! Als Kuriosum erwähnen wir, dass für Basarow auch in dieser Frage niemand außer Plechanow existiert: es gibt eben kein stärkeres Tier als die Katze. Basarow höhnt über die „saltovitale Philosophie Plechanows („Beiträge …", S. 69), bei dem sich tatsächlich die abgeschmackte Phrase findet:

Glaube" an die Existenz der Außenwelt sei „der unvermeidliche Salto vitale (Lebenssprung) der Philosophie". („Anmerkungen zu Ludwig Feuerbach2", S. 111.) Der Ausdruck „Glaube", den er, wenn auch in Anführungszeichen, Hume nachspricht, offenbart bei Plechanow allerdings einen Wirrwarr in der Terminologie – das lässt sich nicht leugnen. Aber wozu immerfort Plechanow!? Warum suchte sich Basarow keinen anderen Materialisten aus, etwa Feuerbach? Vielleicht nur deswegen, weil er ihn nicht kennt? Unwissenheit ist aber kein Argument. Auch Feuerbach macht, wie Marx und Engels, in den erkenntnistheoretischen Grundfragen einen vom Standpunkt Schutzes, Fichtes und Machs unerlaubten „Sprung" zur Praxis. In seiner Kritik des Idealismus stellt Feuerbach dessen Wesen mit einem prägnanten Zitat aus Fichte dar, das in ausgezeichneter Weise den Machismus erledigt:

Du setzest – sagt der klassische Idealist Fichte – die Dinge als wirklich, als außer dir vorhanden, nur weil du siehst, hörst, fühlst. Aber sehen, fühlen, hören sind nur Empfindungen Du empfindest also nicht die Gegenstände, sondern nur die Empfindungen." (Feuerbach: „Werke", Bd. X, S. 185.)

Und Feuerbach erwidert, der Mensch sei kein abstraktes Ich, sondern entweder ein Mann oder ein Weib, und man sei vollkommen berechtigt, die Frage:

ist die Welt nur eine Vorstellung und Empfindung von mir oder auch eine Existenz außer mir? mit der Frage: ist das Weib oder der Mann nur eine Empfindung von mir oder ein Wesen außer mir? auf gleichen Fuß zu stellen.., Das eben ist der Grundmangel des Idealismus, dass er die Frage von der Objektivität oder Subjektivität, von der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt nur vom theoretischen Standpunkt aus sich stellt und löst." (S. 189, ebenda.)

Feuerbach nimmt als Grundlage der Erkenntnistheorie die menschliche Gesamtpraxis. Freilich sagt er, auch die Idealisten nehmen in der Praxis die Realität sowohl unseres „Ich" als auch des fremden „Du" an. Für die Idealisten ist das

ein nur für das Leben, aber nicht für die Spekulation gültiger Standpunkt. Allein eine Spekulation, die mit dem Leben in Widerspruch steht, die den Standpunkt des Todes, der vom Leibe geschiedenen Seele zum Standpunkt der Wahrheit macht, ist selbst eine tote und falsche Spekulation." (S. 192.)

Bevor wir empfinden, atmen wir. Wir können nicht ohne Luft, ohne Nahrung und Trinken existieren.

Also ums Essen und Trinken handelt es sich auch bei der Frage von der Idealität oder Realität der Welt? ruft entrüstet der Idealist aus. Welche Gemeinheit! Welcher Verstoß gegen die gute Sitte, auf dem Katheder der Philosophie ebenso wie auf der Kanzel der Theologie über den Materialismus im wissenschaftlichen Sinne aus allen Leibeskräften zu schimpfen, dafür aber an der Table d'hôte von ganzem Herzen und von ganzer Seele dem Materialismus im gemeinsten Sinne zu huldigen." (S. 196.)

Und Feuerbach ruft aus, dass die subjektive Empfindung der objektiven Welt gleichstellen „heißt die Pollution mit der Zeugung identifizieren". (S. 198.)

Diese Bemerkung ist nicht besonders höflich, sie trifft aber bei jenen Philosophen, die lehren, dass die „Sinnesvorstellungen eben die außer uns existierende Wirklichkeit seien", den Nagel auf den Kopf.

Leben und Praxis müssen der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein. Und dieser Gesichtspunkt führt unvermeidlich zum Materialismus, indem er von vornherein die zahllosen Schrullen der Professorenscholastik verwirft. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, dass das Kriterium der Praxis dem Wesen nach niemals irgendeine menschliche Vorstellung völlig bestätigen oder widerlegen kann. Auch dieses Kriterium ist „unbestimmt" genug, um die Verwandlung der menschlichen Erkenntnis in ein „Absolutum" zu verhindern, zugleich aber auch bestimmt genug, um mit allen Spielarten des Idealismus und Agnostizismus einen unerbittlichen Kampf zu führen. Wenn das, was unsere Praxis bestätigt, die einzige, objektive Wahrheit letzter Instanz ist, so ergibt sich daraus, dass der einzige Weg zu dieser Wahrheit der Weg der Wissenschaft ist, die auf dem materialistischen Standpunkt steht. Bogdanow z. B. gibt für Marx' Theorie des Geldumlaufes die objektive Wahrheit nur „für unsere Zeit" zu, und nennt es „Dogmatismus", wenn man dieser Theorie eine „übergeschichtlich-objektive" Wahrheit zuerkenne. (Buch III des „Empiriomonismus", S. VII.) Das ist wieder ein Durcheinander. Dass diese Theorie der Praxis entspricht, kann durch keine künftigen Umstände geändert werden, und zwar aus demselben Grunde, aus welchem die Wahrheit, dass Napoleon am 5. Mai 1821 gestorben, ewig ist. Da aber das Kriterium der Praxis, d. h. der Verlauf der Entwicklung aller kapitalistischen Länder in den letzten Jahrzehnten die objektive Wahrheit der ganzen sozialökonomischen Theorie von Marx überhaupt und nicht nur die Wahrheit eines ihrer Teile oder einer ihrer Formulierungen und dergleichen beweist, so ist es klar, dass es ein unverzeihliches Zugeständnis an die bürgerliche Ökonomie ist, wenn hier vom „Dogmatismus" der Marxisten gesprochen wird. Die einzige Schlussfolgerung, die man aus der von den Marxisten geteilten Auffassung, dass die Marxsche Theorie objektive Wahrheit sei, ziehen kann, besteht in folgendem: auf dem Wege der marxistischen Theorie nähern wir uns der objektiven Wahrheit immer mehr und mehr (ohne sie jemals zu erschöpfen); auf jedem anderen Wege aber können wir zu nichts anderem gelangen als zu Konfusion und Lüge.

A Fr. Engels: L. Feuerbach usw. 4. Auflage. S. 15. Herr V. Tschernow übersetzt das Wort Spiegelbild wörtlich ins Russische зеркальное отражение») und wirft Plechanow vor, dass er die Engelssche Theorie viel zu abgeschwächt wiedergebe, indem er von einem Abbild und nicht von einem Spiegelbild spricht. Dies ist eine offensichtliche Nörgelei. Das Wort „Spiegelbild" wird im Deutschen auch im selben Sinne gebraucht, wie „Abbild".

1 Die „Werke Band 14“ bringen hier „Göring“. Gemeint ist wohl der Philosoph und Schachmeister Carl Göring. (Bekanntlich wird im Russischen ein „h“ in westeuropäischen Eigennamen mit „g“ wiedergegeben.) An einer späteren Stelle ist dort der Name „Hering“ beibehalten worden.

B Siehe W. Iljin [eines der Pseudonyme Lenins. Die Redaktion.]: „Die Agrarfrage". I. Teil. St. Petersburg 1908. S. 195.

C Albert Levy: „La philosophie de Feuerbach et son influence sur la littera-ture allemande", Paris 1904, S. 249–338 „Feuerbachs Einfluss auf Marx"; S. 290–298 Analyse der „Thesen".

D Einleitung zu der englischen Übersetzung der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", Deutsch übersetzt von Engels selbst in der „Neuen Zeit", Jahrgang XI, 1892/93, S. 15 ff. Russische Übersetzung – wenn ich mich nicht irre, die einzige – in der Sammlung „Der historische Materialismus" (russisch), S. 162ff. Das Zitat findet sich bei Basarow in den „Beiträgen ,zur' Philosophie des Marxismus", S. 64.

F L. Feuerbach: „Sämtliche Werke", Bd. X, 1866, S. 194.

G Dr. Albert Schwegler: „Geschichte der Philosophie im Umriss", 15. Aufl., S. 194.

H Vgl. V. Tschernow, obengenanntes Werk, S. 64 ff. Der Machist Herr Tschernow nimmt genau dieselbe Stellung ein wie Bogdanow, der sich nicht als Machist bekennen will. Der Unterschied besteht nur darin, dass Bogdanow versucht, seine Divergenz mit Engels zu vertuschen, als etwas Zufälliges usw. hinzustellen, während Tschernow fühlt, dass es sich um einen Kampf ebenso gegen den Materialismus wie gegen die Dialektik handelt.

I G. E. Schulze: „Änesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie", 1792, S. 253.

2 Es handelt sich um die russische Übersetzung der Engelsschen Schrift „Ludwig Feuerbach" von Plechanow und seine Anmerkungen dazu, 2. Aufl., Genf 1905. Die Red.

Kommentare