Lenin‎ > ‎1916‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19161000 Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung

Wladimir I. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung1

[Geschrieben im Herbst 1916 Veröffentlicht im Oktober 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 1. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 295-340]

In Nummer 2 der marxistischen Zeitschrift der Zimmerwalder Linken, desVorboten (April 1916), sind Thesen für und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen veröffentlicht, von denen die einen von der Redaktion unseres Zentralorgans, des Sozialdemokrat, und die anderen von der Redaktion des Organs der polnischen sozialdemokratischen Opposition, der „Gazeta Robotnicza, unterzeichnet sind.2 Der Leser wird oben den Abdruck der ersten und die Übersetzung der zweiten Thesen finden. Auf der internationalen Arena wird diese Frage wohl zum ersten Male so breit aufgerollt: in der Diskussion, die in der deutschen marxistischen Zeitschrift Neue Zeit vor zwanzig Jahren, 1895/96, vor dem Londoner internationalen Sozialistenkongress von 1896, von Rosa Luxemburg, K. Kautsky und den polnischen „Niepodległościowczy“ (Anhänger der Unabhängigkeit Polens, PPS) geführt wurde, die drei verschiedene Auffassungen vertraten, hatte es sich nur um Polen gehandelt Soweit uns bekannt ist, ist die Frage des Selbstbestimmungsrechtes bisher nur von den Holländern und den Polen einigermaßen systematisch diskutiert worden. Wir wollen hoffen, dass es dem „Vorboten“ gelingen möge, die Erörterung dieser jetzt so aktuellen Frage bei den Engländern, Amerikanern, Franzosen, Deutschen und Italienern vorwärts zu bringen. Der offizielle Sozialismus, der sowohl von den direkten Anhängern der „eigenen“ Regierung, den Plechanow, David und Konsorten, wie auch von den verkappten Verteidigern des Opportunismus, den Kautskyanern (einschließlich Axelrod, Martow, Tschcheïdse u. a.), vertreten wird, hat in dieser Frage so viel zusammen gelogen, dass auf sehr lange Zeit hinaus ein Zustand unvermeidlich sein wird, wo man einerseits krampfhaft versucht, sich auszuschweigen und herauszuwinden, und anderseits die Arbeiter „klare Antworten“ auf die „verdammten Fragen“ verlangen. Über den Gang des Meinungskampfes unter den ausländischen Sozialisten werden wir unsere Leser auf dem Laufenden zu halten trachten.

Für uns russische Sozialdemokraten ist diese Frage noch von besonderer Wichtigkeit; diese Diskussion ist eine Fortsetzung der Diskussionen von 1903 und 1913; die Frage hat während des Krieges unter den Mitgliedern unserer Partei gewisse Schwankungen hervorgerufen; die Frage steht schärfer infolge der hinterlistigen Versuche so hervorragender Führer der Gwosdjewschen oder chauvinistischen Arbeiterpartei, wie Martow und Tschcheïdse, den Kern der Frage zu umgehen. Deshalb ist es notwendig, wenigstens die ersten Ergebnisse dieser auf internationaler Arena begonnenen Diskussion zusammenzufassen.

Wie aus den Thesen ersichtlich, geben uns unsere polnischen Genossen auf einige unserer Argumente, z. B. über Marxismus und Proudhonismus, eine direkte Antwort. Aber meistenteils antworten sie uns nicht direkt, sondern indirekt, indem sie ihre eigenen Behauptungen entgegenstellen. Prüfen wir ihre direkten und indirekten Antworten.

1. Sozialismus und Selbstbestimmung der Nationen

Wir haben behauptet, dass es ein Verrat am Sozialismus wäre, wenn man auf die Verwirklichung der Selbstbestimmung der Nationen unter dem Sozialismus verzichten wollte. Man antwortet uns: „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist auf die sozialistische Gesellschaft nicht anwendbar“. Das ist eine grundlegende Meinungsverschiedenheit. Wo ist ihr Ursprung zu suchen?

Wir wissen“ – wenden unsere Opponenten ein –, „dass der Sozialismus jede nationale Unterdrückung aufheben wird, weil er die Klasseninteressen aufhebt, die zu ihr treiben“

Wozu diese Betrachtung über die ökonomischen Voraussetzungen der Aufhebung der nationalen Unterdrückung, die längst bekannt und nicht umstritten sind, wenn der Streit um eine der Formen der politischen Unterjochung geht, und zwar: um das gewaltsame Festhalten einer Nation innerhalb der Staatsgrenzen einer anderen Nation? Das ist doch einfach ein Versuch, politischen Fragen aus dem Wege zu gehen! Und die weiteren Ausführungen bestärken uns noch mehr in dieser Ansicht:

Wir haben auch keinen Grund anzunehmen, dass der Nation in der sozialistischen Gesellschaft der Charakter einer wirtschaftlich-politischen Einheit zukommen wird. Nach aller Voraussicht wird sie nur den Charakter einer Kultur- und Spracheinheit haben, da die territoriale Einteilung des sozialistischen Kulturkreises, insoweit eine solche bestehen wird, nur nach den Bedürfnissen der Produktion erfolgen kann, wobei über diese Einteilung dann natürlich nicht einzelne Nationen abgesondert, aus eigener Machtvollkommenheit, zu entscheiden (wie es das ,Selbstbestimmungsrecht‘ fordert), sondern alle interessierten Bürger mitzubestimmen hätten.“

Dieses letztere Argument, Mitbestimmung anstatt Selbstbestimmung, gefällt den polnischen Genossen so gut, dass sie es in ihren Thesen dreimal wiederholen! Aber die häufige Wiederholung verwandelt dieses oktobristische und reaktionäre Argument nicht in ein sozialdemokratisches! Denn alle Reaktionäre und Bourgeois räumen den Nationen, die gewaltsam innerhalb der Grenzen des betreffenden Staates festgehalten werden, das Recht ein, über sein Geschick im gemeinsamen Parlament „mitzubestimmen“. Auch Wilhelm II. räumt den Belgiern das Recht ein, im gemeinsamen deutschen Parlament über das Schicksal des deutschen Reiches „mitzubestimmen“.

Gerade das, was strittig ist – nämlich das, was ausschließlich zur Diskussion steht, das Recht der Lostrennung –, bemühen sich unsere Opponenten zu umgehen. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre!

Gleich in unserer ersten These heißt es, dass die Befreiung der unterdrückten Nationen eine zweifache Umgestaltung auf politischem Gebiet voraussetzt: 1. die volle Gleichberechtigung der Nationen. Darüber besteht keine Meinungsverschiedenheit, und das bezieht sich nur auf das, was innerhalb eines Staates vorgeht; 2. die Freiheit der politischen Lostrennung. Das bezieht sich auf die Festlegung der staatlichen Grenzen. Nur das ist strittig. Und gerade darüber schweigen unsere Opponenten. Sie wollen weder an die Staatsgrenzen noch selbst an den Staat überhaupt denken. Das ist „imperialistischer Ökonomismus, ähnlich dem alten „Ökonomismus“ von 1894-1902, der folgendermaßen argumentierte: der Kapitalismus hat gesiegt, darum sind politische Fragen sinnlos. Der Imperialismus hat gesiegt, darum sind politische Fragen sinnlos! Eine solche politische Theorie ist dem Marxismus von Grund auf feind.

Marx schrieb in seiner Kritik des Gothaer Programms:

Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“

Bisher galt das für die Sozialisten als unbestrittene Wahrheit, und in ihr liegt die Anerkennung des Staates, solange der siegreiche Sozialismus nicht in den vollen Kommunismus hinüber gewachsen ist. Der Ausspruch Engels' über das Absterben des Staates ist bekannt. Wir haben absichtlich gleich in der ersten These hervorgehoben, dass die Demokratie eine Staatsform ist, die auch absterben wird, wenn der Staat abstirbt. Und solange unsere Opponenten den Marxismus nicht durch einen neuen, „staatslosen“ Gesichtspunkt ersetzt haben, ist ihre Argumentation von Anfang bis zu Ende irrig.

Anstatt vom Staate (und folglich auch von der Bestimmung seiner Grenzen!) zu sprechen, reden sie von einem „sozialistischen Kulturkreis“, d. h. wählen sie absichtlich einen in der Hinsicht ganz unbestimmten Ausdruck, dass durch ihn alle Fragen des Staates verwischt werden! Es entsteht eine lächerliche Tautologie: natürlich, wenn es keinen Staat gibt, so gibt es auch keine Frage seiner Grenzen. Dann ist auch das ganze demokratisch-politische Programm überflüssig. Es wird auch keine Republik geben, wenn der Staat „abstirbt“.

Der deutsche Chauvinist Lensch hat in seinen Artikeln, die wir in These 5 (Anmerkung) erwähnen, ein interessantes Zitat aus der Schrift Engels’ „Po und Rhein“ angeführt. Engels sagt dort unter anderem, dass die Grenzen der „großen und lebensfähigen europäischen Nationen“ im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, die eine ganze Reihe kleiner und lebensunfähiger Nationen aufgesogen hat, immer mehr und mehr durch die „Sprache und die Sympathien der Bevölkerung“ bestimmt wurden. Diese Grenzen nennt Engels „natürliche“ Grenzen. Dies war die Lage der Dinge in der Epoche des fortschrittlichen Kapitalismus, in Europa etwa in den Jahren 1848-1871. Jetzt durchbricht der reaktionäre, imperialistische Kapitalismus immer öfter diese demokratisch bestimmten Grenzen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass der Imperialismus dem ihn ablösenden Sozialismus weniger demokratische Grenzen, eine Reihe von Annexionen in Europa und in anderen Erdteilen als Erbe hinterlassen wird. Wird nun der siegreiche Sozialismus, der auf der ganzen Linie die vollkommene Demokratie wiederherstellen und zu Ende führen wird, auf die demokratische Bestimmung der Staatsgrenzen verzichten? Wird er mit den „Sympathien“ der Bevölkerung nicht rechnen wollen? Es genügt, diese Fragen zu stellen, um klar zu sehen, wie unsere polnischen Kollegen vom Marxismus weg dem „imperialistischen Ökonomismus“ zu treiben

Die alten „Ökonomisten“, die den Marxismus in eine Karikatur verwandelten, lehrten die Arbeiter, dass für die Marxisten „nur“ das „Ökonomische“ von Wichtigkeit sei. Die neuen „Ökonomisten“ meinen einmal, dass der demokratische Staat des siegreichen Sozialismus ohne Grenzen existieren werde (in der Art eines „Komplexes von Wahrnehmungen“ ohne Materie), einmal, dass die Grenzen „nur“ den Bedürfnissen der Produktion entsprechend bestimmt werden. In Wirklichkeit werden diese Grenzen demokratisch festgesetzt werden, d. h. entsprechend dem Willen und den „Sympathien“ der Bevölkerung. Der Kapitalismus tut diesen Sympathien Gewalt an und vermehrt dadurch die Schwierigkeiten der Annäherung der Nationen. Der Sozialismus, der die Produktion ohne Klassenunterdrückung organisiert und den Wohlstand aller Staatsangehörigen sichert, gewährt dadurch den „Sympathien“ der Bevölkerung vollen Spielraum und erleichtert und beschleunigt gerade dadurch gewaltig die Annäherung und Verschmelzung der Nationen.

Damit der Leser sich von dem schweren und plumpen „Ökonomismus“ etwas erhole, wollen wir die Ausführungen eines sozialistischen Schriftstellers anführen, der unserem Streit fern steht Dieser Schriftsteller ist Otto Bauer, der auch seinen „Punkt“ hat, die „kulturelle und nationale Autonomie, der aber in einer ganzen Reihe wichtigster Fragen sehr richtig argumentiert. In § 29 seines Buches „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ hat er z. B. die Verschleierung imperialistischer Politik durch nationale Ideologie absolut richtig festgestellt. In § 30, „Der Sozialismus und das Nationalitätsprinzip“, sagt er:

Aber nie und nimmer wird ein solches Gemeinwesen ganze Nationen einschließen können, die nicht zu ihm gehören wollen. Die Massen der Nationen im vollen Besitze der nationalen Kultur, ausgestattet mit den Rechten der Teilnahme an der Gesetzgebung und der Selbstverwaltung, und diese Massen bewaffnet – wie könnten solche Nationen gezwungen werden, sich dem Joch eines Gemeinwesens zu beugen, zu dem sie nicht gehören wollen? Alle staatliche Macht ruht auf der Macht der Waffen. Aber das heutige Volksheer ist, dank einem kunstvollen Mechanismus, immer noch ein Machtwerkzeug einer Person, einer Familie, einer Klasse, so gut wie die Ritterheere und Söldnerheere vergangener Zeiten. Das Heer der demokratischen Gemeinwesen einer sozialistischen Gesellschaft, das aus hoch kultivierten Menschen besteht, die in der Werkstätte nicht mehr dem Kommando einer fremden Macht gehorchen und im Staate zur vollen Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung berufen sind, ist aber keine selbständige Macht mehr, sondern nichts anderes, als das bewaffnete Volk selbst. Damit schwindet alle Möglichkeit nationaler Fremdherrschaft.“

Das ist richtig. Unter dem Kapitalismus kann die nationale Unterdrückung (und die politische überhaupt) nicht beseitigt werden. Dazu ist unerlässlich die Aufhebung der Klassen, d. h. die Einführung des Sozialismus. Doch wenn auch der Sozialismus auf der Ökonomik begründet ist, bildet diese doch keineswegs seinen ganzen Inhalt. Zur Beseitigung der nationalen Unterdrückung ist ein Fundament notwendig – die sozialistische Produktion ; aber auf diesem Fundament bedarf es noch einer demokratischen Organisation des Staates, einer demokratischen Armee usw. Indem das Proletariat den Kapitalismus in den Sozialismus umgestaltet, schafft es die Möglichkeit für die völlige Beseitigung der nationalen Unterdrückung; diese Möglichkeit wird „nur“ – „nur“! – dann zur Wirklichkeit werden, wenn auf allen Gebieten die Demokratie vollständig durchgeführt sein wird – selbst bis zur Festlegung der Staatsgrenzen entsprechend den „Sympathien“ der Bevölkerung, bis zur völligen Freiheit der Lostrennung. Auf dieser Basis wird sich ihrerseits die absolute Beseitigung auch der kleinsten nationalen Reibungen, des geringsten nationalen Misstrauens praktisch vollziehen und mit ihr eine beschleunigte Annäherung und Verschmelzung der Nationen, die durch das Absterben des Staates vollendet werden wird. Das ist die Theorie des Marxismus, von der unsere polnischen Kollegen sich irrigerweise entfernt haben.

2. Ist die Demokratie unter dem Imperialismus „zu verwirklichen"?

Die ganze alte Polemik der polnischen Sozialdemokraten gegen die Selbstbestimmung der Nationen ist auf dem Argument der „Unmöglichkeit seiner Verwirklichung“ in der kapitalistischen Gesellschaft aufgebaut. Schon im Jahre 1903, in der Programmkommission des 2. Parteitages der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, haben wir, die „Iskra-Leute, über dieses Argument gelacht und gesagt, dass es eine Wiederholung der Karikatur auf den Marxismus ist, der sich die „Ökonomisten“ (traurigen Gedenkens) befleißigten. In unseren Thesen haben wir uns mit diesem Fehler besonders ausführlich befasst, und gerade hier, wo die theoretische Basis der ganzen Streitfrage liegt, wollten (oder konnten?) die polnischen Genossen auf kein einziges unserer Argumente antworten.

Die ökonomische Unmöglichkeit der Selbstbestimmung müsste durch eine ökonomische Analyse bewiesen werden, so wie wir die Undurchführbarkeit des Verbotes der Maschinen oder der Einführung von Arbeitsgeld usw. nachweisen. Niemand versucht auch, eine solche Analyse zu geben. Niemand wird behaupten wollen, dass es auch nur in einem einzigen Lande „ausnahmsweise“ gelungen sei, in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung „Arbeitsgeld“ einzuführen, wie es in einem kleinen Lande in der Ära des voll entfesselten Imperialismus ausnahmsweise gelungen ist, die nicht zu verwirklichende Selbstbestimmung zu verwirklichen, und das sogar ohne Krieg und Revolution (Norwegen 1905).

Überhaupt ist die politische Demokratie nur eine der möglichen Formen (wenn auch theoretisch für den „reinen“ Kapitalismus die normale Form) des Überbaues über dem Kapitalismus. Wie die Tatsachen beweisen, entwickeln sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und unterwerfen sich alle Formen. Deshalb ist es auch theoretisch grundfalsch, von der „Unmöglichkeit der Verwirklichung“ einer der Formen und einer der Forderungen der Demokratie zu sprechen.

Das Ausbleiben einer Antwort der polnischen Kollegen auf diese Beweisgründe veranlasst uns, die Diskussion über diesen Punkt als abgeschlossen zu betrachten. Der Anschaulichkeit halber haben wir eine höchst konkrete Behauptung aufgestellt, und zwar, dass es „lächerlich“ wäre, die „Durchführbarkeit“ einer Wiederaufrichtung Polens jetzt, im Hinblick auf die strategischen und sonstigen Momente dieses Krieges, zu leugnen. Eine Antwort ist nicht erfolgt!

Die polnischen Genossen haben einfach eine offenbar falsche Behauptung (§II, 1) wiederholt, wenn sie sagen:

In den Fragen der Angliederung fremder Gebiete sind die Formen der politischen Demokratie ausgeschaltet; die offene Gewalt entscheidet … Das Kapital wird niemals die Entscheidung über seine Staatsgrenzen dem Volke überlassen … “

Als ob das „Kapital“ die Wahl seiner, dem Imperialismus dienenden Beamten „dem Volke überlassen“ könnte! Oder als ob überhaupt irgendwelche bedeutungsvolle Entscheidungen in wichtigen demokratischen Fragen, z. B. über die Republik an Stelle der Monarchie oder die Miliz anstatt des stehenden Heeres, ohne „offene Gewalt“ denkbar wären! Subjektiv wollen die polnischen Genossen den Marxismus „vertiefen“, sie tun das aber ganz ungeschickt. Objektiv sind ihre Phrasen über die Undurchführbarkeit Opportunismus, da stillschweigend vorausgesetzt wird: „nicht zu verwirklichen“ ohne eine Reihe von Revolutionen, wie im Imperialismus überhaupt die ganze Demokratie, alle ihre Forderungen nicht zu verwirklichen sind.

Nur ein einziges Mal, am Ende von § II, 1, in den Ausführungen über das Elsass, haben die polnischen Kollegen den Standpunkt des „imperialistischen Ökonomismus“ verlassen und sind an die Fragen über eine der Formen der Demokratie mit einer konkreten Antwort und nicht mit einem allgemein gehaltenen Hinweis auf das „Ökonomische“ herangegangen. Und gerade diese Antwort hat sich als falsch erwiesen! Es wäre „partikularistisch, undemokratisch“ – schreiben sie –, wenn die Elsässer allein, ohne die Franzosen zu fragen, ihnen den Anschluss des Elsass an Frankreich „aufbürden“ wollten, obwohl ein Teil des Elsass zu Deutschland hin neigte und dies eine Kriegsgefahr bedeutete!!! Das Durcheinander ist sehr amüsant; die Selbstbestimmung setzt die Freiheit der Lostrennung vom Unterdrückerstaate voraus (das liegt auf der Hand, und wir haben dies in unseren Thesen besonders hervorgehoben); in der Politik ist es ebenso „nicht üblich“ davon zu sprechen, dass der Anschluss an einen gegebenen Staat dessen Zustimmung voraussetzt, wie man in der Ökonomik nicht von der „Zustimmung“ der Kapitalisten, Profite einzustecken, oder des Arbeiters, Arbeitslohn zu erhalten, spricht! Es ist lächerlich, davon zu sprechen.

Wenn man ein marxistischer Politiker sein will, so muss man, wenn man vom Elsass spricht, die Lumpe des deutschen Sozialismus angreifen, weil sie nicht für die Freiheit der Lostrennung des Elsass kämpfen – die Lumpe des französischen Sozialismus, weil sie die französische Bourgeoisie gewähren lassen, die sich gewaltsam das ganze Elsass aneignen will – und alle beide, weil sie dem Imperialismus „ihres“ Landes dienen und einen selbständigen, wenn auch nur einen kleinen Staat fürchten; es muss gezeigt werden, in welcher Weise die Sozialisten, die das Selbstbestimmungsrecht anerkennen, innerhalb weniger Wochen diese Frage lösen würden, ohne den Willen der Elsässer zu verletzen. Anstatt dessen aber über die furchtbare Gefahr zu diskutieren, die darin besteht, dass die französischen Elsässer sich Frankreich „aufbürden“ könnten – das ist geradezu eine Perle!

    3. Was ist Annexion?

Diese Frage haben wir in unseren Thesen mit aller Bestimmtheit gestellt (§ 7). Die polnischen Genossen haben sie nicht beantwortet: sie haben sie umgangen, indem sie mit Nachdruck erklärten, 1. dass sie gegen Annexionen seien, und 2. auseinandersetzten, warum sie dagegen sind. Das sind zweifellos sehr wichtige Fragen. Aber es sind andere Fragen. Wenn wir auch nur einigermaßen darauf achten, dass unsere Prinzipien theoretisch durchdacht sind und dass sie klar und deutlich formuliert werden, dann können wir die Frage, was Annexionen sind, nicht umgehen, da doch dieser Begriff in unserer politischen Propaganda und Agitation figuriert. Die Umgehung dieser Frage in einer Diskussion unter Kollegen kann nicht anders aufgefasst werden als ein Aufgeben der Positionen.

Warum haben wir diese Frage gestellt? Das haben wir schon erklärt, indem wir sie stellten. Weil „der Protest gegen Annexionen nichts anderes ist als die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes“. Zum Begriff der Annexion gehören üblicherweise 1. der Begriff der Gewalt (gewaltsame Angliederung); 2. der Begriff der nationalen Fremdherrschaft (Angliederung eines „fremden“ Gebietes usw.) und – manchmal – 3. der Begriff der Verletzung des Status quo. Darauf haben wir in den Thesen hingewiesen, und dieser unser Hinweis ist nicht kritisiert worden.

Es fragt sich, ob Sozialdemokraten gegen Gewalt überhaupt sein können? Natürlich nicht. Wir sind also nicht darum gegen Annexionen, weil sie Gewaltakte sind, sondern aus irgendeinem anderen Grunde. Ebenso wenig können die Sozialdemokraten für den Status quo sein. Wie man sich auch dreht und windet, man kann um die Schlussfolgerung nicht herumkommen: eine Annexion ist eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes der Nation, eine Festlegung der Staatsgrenzen gegen den Willen der Bevölkerung.

Gegen Annexionen sein, heißt für das Selbstbestimmungsrecht sein. „Gegen das gewaltsame Festhalten jeder beliebigen Nation innerhalb der Grenzen eines bestimmten Staates“ sein (wir haben absichtlich auch diese, etwas veränderte Formulierung desselben Gedankens in § 4 unserer Thesen gebraucht, und die polnischen Genossen haben uns hierauf ganz klar geantwortet, indem sie am Anfang ihres § I, 4 erklärten, dass sie „gegen das gewaltsame Festhalten der unterdrückten Nationen in den Grenzen des annektierenden Staates“ sind), ist genau das gleiche, wie für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen sein.

Über Worte wollen wir nicht streiten. Wenn es eine Partei gibt, die in ihrem Programm (oder in einer für alle bindenden Resolution – nicht auf die Form kommt es an) erklärt, dass sie gegen Annexionen*, gegen das gewaltsame Festhalten der unterdrückten Nationen innerhalb der Grenzen ihres (dieser Partei) Staates ist, so erklären wir, dass wir mit einer solchen Partei prinzipiell vollständig übereinstimmen. Es wäre sinnlos, wollte man sich an das Wort „Selbstbestimmungsrecht“ klammern. Und wenn sich in unserer Partei Leute finden, die in diesem Sinne die Worte, die Formulierung von § 9 unseres Parteiprogrammes ändern wollen, so werden wir die Meinungsverschiedenheit mit solchen Genossen keineswegs als prinzipielle betrachten!

Es kommt lediglich auf die politische Klarheit und theoretische Durchdachtheit unserer Losungen an.

In den mündlichen Diskussionen zu dieser Frage – deren Wichtigkeit gerade jetzt, im Zusammenhang mit dem Krieg, niemand bestreitet – sind wir auf folgendes Argument gestoßen (in der Presse haben wir es nicht gefunden): der Protest gegen ein bestimmtes Übel bedeutet nicht unbedingt die Anerkennung eines positiven Begriffes, der dieses Übel ausschließt. Dieses Argument ist offenbar unzulänglich, und darum wird es wohl auch nirgends in der Presse wiedergegeben. Wenn eine sozialistische Partei erklärt, dass sie „gegen das gewaltsame Festhalten einer unterdrückten Nation in den Grenzen des annektierenden Staates“ ist, so verpflichtet sich diese Partei dadurch, auf ein gewaltsames Festhalten zu verzichten, sobald sie an der Macht sein wird.

Wir zweifeln keinen Augenblick daran, dass, wenn Hindenburg morgen Russland halb besiegt und als Ausdruck dieses halben Sieges (in Verbindung mit dem Wunsche Englands und Frankreichs, den Zarismus ein wenig zu schwächen) ein neuer polnischer Staat entsteht, der vom Standpunkt der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus und des Imperialismus durchaus „zu verwirklichen“ ist, und wenn dann übermorgen die sozialistische Revolution in Petersburg, Berlin und Warschau siegt, dass dann die polnische sozialistische Regierung, gleich der russischen und deutschen, darauf verzichten wird, sagen wir, die Ukrainer „innerhalb der Grenzen des polnischen Staates gewaltsam festzuhalten“. Wenn in dieser Regierung Redaktionsmitglieder der „Gazeta Robotnicza“ sitzen sollten, so werden sie zweifellos ihre „Thesen“ opfern und dadurch die „Theorie“ widerlegen, dass das „Selbstbestimmungsrecht auf die sozialistische Gesellschaft nicht anwendbar“ sei. Wenn wir etwas anderes annähmen, hätten wir nicht eine kameradschaftliche Diskussion mit den Sozialdemokraten Polens auf die Tagesordnung gesetzt, sondern den unerbittlichen Kampf gegen sie als gegen Chauvinisten.

Gesetzt den Fall, ich gehe in einer beliebigen europäischen Stadt auf die Straße und „protestiere“ öffentlich, und dann auch in den Zeitungen, dagegen, dass man mir nicht gestattet, einen Menschen als Sklaven zu kaufen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass man das Recht haben wird, mich als Sklavenhalter, als Anhänger des Prinzips oder des Systems, wie man will, der Sklaverei zu betrachten. Dass meine Sympathien für die Sklaverei in die negative Form des Protestes und nicht in die positive Form („ich bin für die Sklaverei“) gehüllt sind – das wird niemanden täuschen. Ein politischer „Protest“ ist vollkommen gleichwertig einem politischen Programm, das ist so augenfällig, dass es direkt peinlich ist, das noch auseinandersetzen zu müssen. Auf jeden Fall sind wir fest davon überzeugt, dass wir wenigstens von Seiten der Zimmerwalder Linkenwir sprechen nicht von allen Zimmerwaldern, da Martow und andere Kautskyaner auch dabei sind – keinen „Protest“ zu erwarten haben, wenn wir sagen, dass in der III. Internationale kein Platz für Leute sein wird, die imstande sind, einen politischen Protest vom politischen Programm zu trennen, das eine dem anderen entgegenzustellen u. dgl.

Da wir nicht um Worte streiten wollen, erlauben wir uns, die bestimmte Erwartung auszusprechen, dass die polnischen Sozialdemokraten sich bemühen werden, in Kürze sowohl ihren Vorschlag auf die Beseitigung des § 9 aus unserem (und auch ihrem) Parteiprogramm sowie aus dem Programm der Internationale (Resolution des Londoner Kongresses von 1896) als auch ihre Definition der entsprechenden politischen Ideen über „alte und neue Annexionen“ und über das „gewaltsame Festhalten der unterdrückten Nationen in den Grenzen des annektierenden Staates“ zu formulieren. Gehen wir nun zur nächsten Frage über.

    4. Für oder gegen Annexionen?

In § 3 des ersten Abschnittes ihrer Thesen erklären die polnischen Genossen mit aller Bestimmtheit, dass sie gegen jegliche Annexionen sind. Leider stoßen wir in § 4 desselben Abschnittes auf Behauptungen, die als annexionistisch betrachtet werden müssen. Dieser Paragraph beginnt mit folgendem – gelinde gesagt – merkwürdigen Satz:

Den Ausgangspunkt des Kampfes der Sozialdemokratie gegen die Annexionen, gegen das gewaltsame Festhalten der unterdrückten Nationen in den Grenzen des annektierenden Staates bildet die Ablehnung jeglicher Vaterlandsverteidigung (gesperrt von den Verfassern), die in der Ära des Imperialismus die Verteidigung der Rechte der eigenen Bourgeoisie auf Unterdrückung und Ausplünderung fremder Nationen ist … “

Was? Wie?

Den Ausgangspunkt des Kampfes gegen Annexionen bildet die Ablehnung jeglicher Vaterlandsverteidigung … “ Aber als „Vaterlandsverteidigung“ kann man jeden nationalen Krieg und jeden nationalen Aufstand bezeichnen, und das ist auch bisher allgemein so üblich gewesen. Wir sind gegen Annexionen, aber … wir verstehen das so, dass wir gegen den Krieg der Annektierten für ihre Befreiung von denen, die sie annektiert haben, sind; wir sind gegen den Aufstand der Annektierten, der ihre Befreiung von den Annektierenden bezweckt! Ist das nicht eine annexionistische Behauptung?

Die Verfasser der These motivieren ihre … merkwürdige Behauptung damit, dass die Vaterlandsverteidigung „in der Ära des Imperialismus“ eine Verteidigung des Rechtes der eigenen Bourgeoisie auf die Unterdrückung fremder Völker sei. Aber das ist nur in Bezug auf den imperialistischen Krieg richtig, d. h. auf den Krieg zwischen imperialistischen Staaten oder Staatengruppen, wenn beide kriegführenden Parteien nicht nur „fremde Nationen“ unterdrücken, sondern auch darum Krieg führen, wer mehr fremde Nationen unterdrücken soll!

Offenbar stellen die Verfasser die Frage der „Vaterlandsverteidigung“ durchaus nicht so, wie unsere Partei sie stellt. Wir lehnen die „Vaterlandsverteidigung“ im imperialistischen Kriege ab. Das ist vollkommen klar im Manifest des Zentralkomitees unserer Partei und in den Berner Resolutionen gesagt worden, die in der in deutscher und französischer Sprache erschienenen Broschüre „Sozialismus und Krieg“ veröffentlicht wurden. Wir haben das auch in unseren Thesen (Anmerkung zu §4 und 6) zweimal unterstrichen. Augenscheinlich lehnen die Verfasser der polnischen Thesen die Vaterlandsverteidigung überhaupt ab, d. h. auch in einem nationalen Kriege, da sie vielleicht nationale Kriege „in der Ära des Imperialismus“ als unmöglich erachten. Wir sagen „vielleicht“, da die polnischen Genossen in ihren Thesen eine solche Ansicht nicht dargelegt haben.

Eine solche Ansicht ist klar zum Ausdruck gekommen in den Thesen der deutschen Gruppe „Internationale“ und in der Junius-Broschüre, der wir einen besonderen Artikel widmen. Wir wollen als Ergänzung zu dem dort Gesagten bemerken, dass man einen nationalen Aufstand des annektierten Gebietes oder Landes gegen das annektierende Land eben Aufstand und nicht Krieg nennen kann (wir haben einen solchen Einwand gehört und führen ihn darum an, obgleich wir diesen terminologischen Streit nicht ernst nehmen). In jedem Falle wird es wohl kaum jemand wagen zu bestreiten, dass die annektierten Länder Belgien, Serbien, Galizien, Armenien ihren „Aufstand“ gegen die Staaten, durch die sie annektiert wurden, „Vaterlandsverteidigung“ nennen und mit Recht so nennen werden. Es ergibt sich, dass die polnischen Genossen gegen einen solchen Aufstand sind, und zwar, weil es in diesen annektierten Ländern auch eine Bourgeoisie gibt, die auch fremde Nationen unterdrückt oder, richtiger gesagt, unterdrücken kann, da es sich nur um ihr „Recht auf Unterdrückung“ handelt. Zur Beurteilung eines gegebenen Krieges oder eines gegebenen Aufstandes wird also nicht sein wirklicher sozialer Inhalt genommen (der Kampf der unterdrückten Nation gegen ihre Unterdrücker für ihre Befreiung), sondern die Möglichkeit, dass die jetzt unterdrückte Bourgeoisie von ihrem „Recht auf Unterdrückung“ Gebrauch machen könnte. Würde, sagen wir, Belgien im Jahre 1917 von den Deutschen annektiert werden und 1918 für seine Befreiung einen Aufstand unternehmen, so würden die polnischen Genossen aus dem Grunde gegen den Aufstand sein, weil die belgische Bourgeoisie das „Recht auf Unterdrückung fremder Nationen“ hat!

Von Marxismus, von revolutionärem Geist überhaupt ist in diesen Betrachtungen nicht die Spur. Ohne den Sozialismus preiszugeben, müssen wir jeden Aufstand gegen unseren Hauptfeind, die Bourgeoisie der Großmächte, unterstützen, wenn es nicht ein Aufstand einer reaktionären Klasse ist. Wenn wir die Unterstützung des Aufstandes der annektierten Gebiete ablehnen, so werden wir – objektiv – zu Annexionisten. Gerade „in der Ära des Imperialismus“, die die Ära der beginnenden sozialen Revolution ist, wird das Proletariat mit besonderer Energie heute den Aufstand der annektierten Gebiete unterstützen, um bereits morgen oder gar zur gleichen Zeit die durch einen solchen Aufstand geschwächte Bourgeoisie der „Großmacht“ anzugreifen.

Die polnischen Genossen gehen aber in ihrem Annexionismus noch weiter. Sie sind nicht nur gegen den Aufstand der annektierten Gebiete, sie sind gegen jede Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit, selbst gegen eine solche auf friedlichem Wege! Man höre:

Indem die Sozialdemokratie jede Verantwortung für die Folgen der Unterdrückungspolitik des Imperialismus ablehnt, sie aufs Schärfste bekämpft, tritt sie keineswegs für die Aufrichtung neuer Grenzpfähle in Europa, für die Wiederaufrichtung der vom Imperialismus niedergerissenen ein (gesperrt von den Verfassern).“

Augenblicklich hat „der Imperialismus die Grenzpfähle niedergerissen“ zwischen Deutschland und Belgien, zwischen Russland und Galizien. Die internationale Sozialdemokratie soll gegen ihre Wiederaufrichtung überhaupt sein, in welcher Weise diese auch vor sich gehe? Im Jahre 1905, „in der Ära des Imperialismus“, als das autonome Parlament Norwegens die Lostrennung von Schweden proklamierte und es, sowohl infolge des Widerstandes der schwedischen Arbeiter als auch infolge der internationalen imperialistischen Situation, nicht zu dem Kriege Schwedens gegen Norwegen kam, den die schwedischen Reaktionäre propagierten – da hätte die Sozialdemokratie gegen die Lostrennung Norwegens sein müssen, da diese doch zweifellos die „Aufrichtung neuer Grenzpfähle in Europa“ bedeutete!!

Das ist schon direkter, offener Annexionismus. Ihn zu widerlegen ist überflüssig, er widerlegt sich selbst. Keine einzige sozialistische Partei wird sich entschließen, eine solche Position einzunehmen: „Wir sind gegen Annexionen im Allgemeinen, aber für Europa sanktionieren wir die Annexionen oder finden uns mit ihnen ab, wenn sie schon einmal geschehen sind..

Wir müssen bloß auf die theoretischen Quellen dieses Fehlers eingehen, der unsere polnischen Genossen zu einer so in die Augen springenden … „Unmöglichkeit“ geführt hat. Wie unbegründet es ist, „Europa“ eine Sonderstellung einzuräumen, davon wollen wir weiter unten sprechen. Folgende zwei Sätze aus den Thesen werden über die übrigen Quellen des Fehlers aufklären:

„… Wo über den schon gebildeten kapitalistischen Staat das Rad des Imperialismus zermalmend hinweggeht, dort vollzieht sich in den brutalen Formen der imperialistischen Unterdrückung die politische und ökonomische Konzentration der kapitalistischen Welt, die den Sozialismus vorbereitet … “

Diese Rechtfertigung der Annexionen ist Struvismus und nicht Marxismus. Die russischen Sozialdemokraten, die die neunziger Jahre in Russland in Erinnerung haben, kennen diese Art der Verballhornung des Marxismus, die den Herren Struve, Cunow, Legien und Konsorten gemein ist, sehr gut. Gerade in Bezug auf die deutschen Struvisten, die sogenannten „Sozialimperialisten“, lesen wir in einer anderen These (II, 3) der polnischen Genossen:

(Die Losung der Selbstbestimmung) „gibt den Sozialimperialisten die Möglichkeit, durch den Beweis des illusionären Charakters dieser Losung unsern Kampf gegen die nationale Unterdrückung als eine historisch unberechtigte Sentimentalität darzustellen und so das Vertrauen des Proletariats in die wissenschaftliche Fundiertheit des sozialdemokratischen Programms zu untergraben“ …

Das bedeutet, dass die Verfasser die Position der deutschen Struvisten als „wissenschaftlich“ betrachten! Wir gratulieren.

Nur eine „Kleinigkeit“ zerstört dieses erstaunliche Argument, das uns damit droht, dass die Lensch, Cunow, Parvus uns gegenüber recht haben könnten, und zwar: diese Lensch sind auf ihre Art konsequente Leute, und in Nr. 8 und 9 der chauvinistischen deutschen „Glocke – wir haben absichtlich gerade diese Nummern in unseren Thesen zitiert – weist Lensch gleichzeitig sowohl „die fehlende wissenschaftliche Fundiertheit“ der Losung der Selbstbestimmung (die polnischen Sozialdemokraten haben augenscheinlich diese Argumentation Lenschs als unwiderlegbar angesehen, wie aus den von uns zitierten Ausführungen in ihren Thesen ersichtlich ist … ) als auch „die fehlende wissenschaftliche Fundiertheit“ der Losung „gegen Annexionen“ nach!!

Denn Lensch hat die einfache Wahrheit ausgezeichnet begriffen, auf die wir unsere polnischen Kollegen hingewiesen haben, ohne dass sie auf unseren Hinweis antworten wollten: es gibt keinen Unterschied, „weder einen ökonomischen noch einen politischen“ noch überhaupt einen logischen, zwischen der „Anerkennung“ der Selbstbestimmung und dem „Protest“ gegen Annexionen. Wenn die polnischen Genossen die Argumente der Lensch gegen die Selbstbestimmung als unwiderlegbar betrachten, so müssen sie doch die eine Tatsache anerkennen: alle diese Argumente führen die Lensch auch gegen den Kampf gegen Annexionen ins Feld.

Der theoretische Fehler, der allen Ausführungen unserer polnischen Kollegen zugrunde liegt, hat sie dahin gebracht, dass sie sich als inkonsequente Annexionisten erwiesen haben.

    5. Warum ist die Sozialdemokratie gegen Annexionen?

Von unserem Standpunkt aus ist die Antwort klar: weil eine Annexion das Selbstbestimmungsrecht der Nationen verletzt oder, mit anderen Worten, eine der Formen der nationalen Unterdrückung darstellt.

Vom Standpunkt der polnischen Sozialdemokraten aus muss erst besonders auseinandergesetzt werden, warum wir gegen Annexionen sind, und diese Ausführungen (I, 3 der Thesen) verwickeln die Verfasser unvermeidlich in eine Reihe neuer Widersprüche.

Zwei Argumente werden von ihnen zur „Rechtfertigung“ dessen angeführt, warum wir (entgegen den „wissenschaftlich fundierten“ Argumenten der Lensch) gegen Annexionen sind. Erstens:

„… Der Behauptung, dass Annexionen in Europa notwendig sind zur militärischen Sicherung des siegreichen imperialistischen Staates …, stellt die Sozialdemokratie die Tatsache gegenüber, dass Annexionen die Gegensätze nur verschärfen, somit die Kriegsgefahr vergrößern …“

Das ist eine ungenügende Antwort an die Lensch, denn deren Hauptargument ist nicht die militärische Notwendigkeit, sondern die ökonomische Fortschrittlichkeit der Annexionen, die eine Konzentration unter dem Imperialismus bedeuten sollen. Wo ist hier die Logik, wenn die polnischen Sozialdemokraten einerseits die Fortschrittlichkeit einer solchen Konzentration anerkennen, indem sie sich weigern, die durch den Imperialismus in Europa entfernten Grenzpfähle wieder aufzurichten, und andererseits gegen Annexionen sind?

Weiter. Die Gefahr welcher Kriege wird durch Annexionen vergrößert? Nicht die der imperialistischen, da diese aus anderen Gründen entstehen; die Hauptantagonismen im jetzigen imperialistischen Krieg sind zweifellos die Antagonismen zwischen England und Deutschland, zwischen Russland und Deutschland. Annexionen gab und gibt es dort nicht. Es handelt sich um die erhöhte Gefahr nationaler Kriege und nationaler Aufstände. Aber wie kann man einerseits die nationalen Kriege „in der Ära des Imperialismus“ für unmöglich erklären und andererseits die „Gefahr“ nationaler Kriege unterstreichen? Das ist unlogisch.

Das zweite Argument:

Annexionen schaffen „einen Abgrund zwischen dem Proletariat der herrschenden und dem der unterdrückten Nationen … Das Proletariat der unterdrückten Nation würde sich mit seiner Bourgeoisie verbinden, im Proletariat der herrschenden Nation einen Feind sehen. An Stelle des internationalen Klassenkampfes des Proletariats gegen die internationale Bourgeoisie würde die Spaltung des Proletariats, seine geistige Korruption eintreten …“

Wir stimmen diesen Argumenten vollkommen zu. Ist es aber logisch, in ein und derselben Frage, zu ein und derselben Zeit Argumente vorzubringen, die einander ausschließen? In § 3 des ersten Abschnittes der Thesen lesen wir die angeführten Argumente, die in Annexionen eine Spaltung des Proletariats sehen, gleich daneben aber, in § 4, wird uns gesagt, dass man in Europa gegen die Aufhebung der schon vollzogenen Annexionen und für die „Erziehung der Arbeitermassen der unterdrückten und der unterdrückenden Nationen zum solidarischen Kampf“ eintreten muss. Wenn die Aufhebung der Annexionen eine reaktionäre „Sentimentalität“ ist, dann darf man nicht behaupten, dass die Annexionen einen „Abgrund“ inmitten des „Proletariats“ schaffen und seine „Spaltung“ herbeiführen; dann muss man, im Gegenteil, in den Annexionen eine Bedingung für die Annäherung des Proletariats der verschiedenen Nationen sehen.

Wir sagen: um imstande zu sein, die soziale Revolution zu vollziehen und die Bourgeoisie zu stürzen, müssen die Arbeiter sich enger zusammenschließen, und diesem engen Zusammenschluss dient der Kampf für die Selbstbestimmung, d. h. gegen Annexionen. Wir bleiben konsequent. Die polnischen Genossen hingegen, die die „Unabänderlichkeit“ der europäischen Annexionen, ferner die „Unmöglichkeit“ nationaler Kriege anerkennen, schlagen sich selbst, wenn sie „gegen“ Annexionen ausgerechnet mit Argumenten kämpfen, die von nationalen Kriegen ausgehen! Ausgerechnet mit Argumenten wie dem, dass durch Annexionen die Annäherung und Verschmelzung der Arbeiter verschiedener Nationen erschwert werde!

Mit anderen Worten: um gegen Annexionen Einwände zu machen, sind die polnischen Sozialdemokraten gezwungen, ihre Argumente jenem theoretischen Rüstzeug zu entlehnen, das sie selbst prinzipiell verwerfen.

Noch anschaulicher wird das bei der Kolonialfrage.

    6. Kann man in dieser Frage die Kolonien „Europa" entgegenstellen?

In unseren Thesen heißt es, dass die Forderung der sofortigen Freigabe der Kolonien unter dem kapitalistischen Regime ebenso „nicht zu verwirklichen“ ist (d. h. nicht zu verwirklichen ist ohne eine Reihe von Revolutionen und nicht von Dauer ist ohne den Sozialismus) wie die Selbstbestimmung der Nationen, die Wahl der Beamten durch das Volk, die demokratische Republik usw. – und dass auf der anderen Seite die Forderung der Freigabe der Kolonien nichts anderes ist als die „Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen“.

Die polnischen Genossen haben auf kein einziges dieser Argumente geantwortet. Sie haben den Versuch gemacht, einen Unterschied zwischen „Europa“ und den Kolonien zu konstruieren. Nur in Bezug auf Europa werden sie zu inkonsequenten Annexionisten und weigern sich, die bereits vollzogenen Annexionen aufzuheben. Für die Kolonien dagegen proklamieren sie die unbedingte Forderung: „Fort aus den Kolonien!“

Die russischen Sozialisten sollen fordern: „Fort aus Turkestan, aus Chiwa, aus Buchara usw.“, aber angeblich würden sie in „Utopismus“, in „unwissenschaftliche“ „Sentimentalität“ usw. verfallen, wenn sie dieselbe Freiheit der Lostrennung für Polen, Finnland, die Ukraine usw. forderten. Die englischen Sozialisten sollen fordern: „Fort aus Afrika, aus Indien, aus Australien“, aber nicht aus Irland. Mit welchen theoretischen Begründungen kann man eine durch ihre Unrichtigkeit so in die Augen springende Unterscheidung erklären? Diese Frage lässt sich nicht umgehen.

Die „Hauptbasis“ der Gegner der Selbstbestimmung ist die „Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung“. Derselbe Gedanke kommt mit einer kleinen Nuance auch im Hinweis auf die „ökonomische und politische Konzentration“ zum Ausdruck.

Es ist klar, dass die Konzentration auch durch die Angliederung von Kolonien zustande kommt. Der wirtschaftliche Unterschied zwischen den Kolonien und den europäischen Völkern – wenigstens der Mehrzahl dieser letzteren – bestand früher darin, dass die Kolonien wohl in den Warenaustausch, aber noch nicht in die kapitalistische Produktion einbezogen wurden. Der Imperialismus hat hier Wandel geschaffen. Imperialismus bedeutet unter anderem auch Kapitalausfuhr. Die kapitalistische Produktion wird in immer beschleunigterem Tempo auch in die Kolonien verpflanzt. Sie aus ihrer Abhängigkeit vom europäischen Finanzkapital herauszureißen, ist unmöglich. Vom militärischen Standpunkt aus wie auch vom Standpunkt der Expansion (Ausbreitung) kann die Lostrennung der Kolonien in der Regel erst zusammen mit dem Sozialismus verwirklicht werden, unter dem Kapitalismus hingegen entweder als Ausnahmefall oder aber um den Preis einer Reihe von Revolutionen und Aufständen sowohl in der Kolonie als auch im Mutterlande.

In Europa sind die abhängigen Nationen meistenteils kapitalistisch entwickelter (wenn auch nicht alle: die Albanesen, viele Fremdvölker Russlands) als in den Kolonien. Aber gerade das ruft einen starken Widerstand gegen die nationale Unterdrückung und die Annexionen hervor! Gerade darum ist die Entwicklung des Kapitalismus in Europa unter welchen politischen Verhältnissen immer, auch im Falle einer Lostrennung, gesicherter als in den Kolonien Dort – sagen die polnischen Genossen von den Kolonien (I, 4) – steht dem Kapitalismus noch die Aufgabe der selbständigen Entwicklung der Produktivkräfte bevor …“ In Europa macht sich das noch mehr bemerkbar: in Polen, in Finnland, in der Ukraine und im Elsass entwickelt zweifellos der Kapitalismus die Produktivkräfte rascher, stärker und selbständiger als in Indien, in Turkestan, in Ägypten und den anderen Kolonien von reinstem Typ. In der Gesellschaft der Warenproduktion ist weder eine selbständige noch überhaupt eine Entwicklung ohne Kapital möglich. In Europa haben die abhängigen Nationen sowohl eigenes Kapital als auch die Möglichkeit, zu den verschiedenartigsten Bedingungen sich leicht Kapital zu beschaffen. Die Kolonien haben kein oder fast kein eigenes Kapital, und anders als auf dem Wege der politischen Unterwerfung können sie in der Epoche des Finanzkapitals kein Kapital beschaffen. Was bedeutet nun angesichts all dessen die Forderung, die Kolonien sofort und bedingungslos freizugeben?

Ist es nicht klar, dass sie viel „utopischer“ ist, in dem vulgären, karikiert-„marxistischen“ Sinne des Wortes „Utopie“, in dem es von den Herren Struve, Lensch, Cunow und nach ihnen leider auch von den polnischen Genossen gebraucht wird? Unter „Utopismus“ versteht man hier eigentlich das Abgehen vom spießbürgerlich Gewohnten, darunter auch alles Revolutionäre. Aber revolutionäre Bewegungen aller Art – darunter auch nationale – sind bei der europäischen Lage der Dinge viel eher möglich, eher zu verwirklichen, sind hartnäckiger, zielbewusster, schwerer zu besiegen als in den Kolonien.

Der Sozialismus – sagen die polnischen Genossen (I, 3) – „wird imstande sein, den unentwickelten Völkern in den Kolonien eine uneigennützige Kulturhilfe zu bieten, ohne sie zu beherrschen“. Sehr richtig. Aber wo liegt hier der Grund zur Annahme, dass eine große Nation, ein großer Staat, wenn er zum Sozialismus übergeht, es nicht verstehen wird, eine kleine unterdrückte Nation in Europa durch „uneigennützige Kulturhilfe“ an sich zu fesseln? Gerade die Freiheit der Lostrennung, die die polnischen Sozialdemokraten den Kolonien „gewähren“, wird die kleinen, aber kulturell hochstehenden und politisch anspruchsvollen unterdrückten Nationen Europas zum Bündnis mit den großen sozialistischen Staaten anlocken, denn ein großer Staat wird unter dem Sozialismus bedeuten: so und so viel Arbeitsstunden am Tage weniger, so und so viel Lohn pro Tag mehr. Die werktätigen Massen, die sich vom Joch der Bourgeoisie befreien, werden aus allen Kräften ein Bündnis und die Verschmelzung mit den großen und vorgeschrittenen sozialistischen Nationen anstreben, gerade um dieser „Kulturhilfe“ willen, wenn nur die Unterdrücker von gestern das hochentwickelte demokratische Gefühl der Selbstachtung der lange Zeit hindurch unterdrückten Nation nicht verletzen, wenn ihr nur Gleichheit auf allen Gebieten eingeräumt wird, darunter auch bei dem Staatenbau, bei dem Experiment, einen „eigenen“ Staat zu schaffen. Unter dem Kapitalismus bedeutet dieses „Experiment“ Kriege, Isolierung, Abgeschlossenheit, engstirnigen Egoismus der privilegierten kleinen Nationen (Holland, Schweiz). Unter dem Sozialismus werden sich die werktätigen Massen selbst aus den oben erwähnten rein ökonomischen Motiven nirgends isolieren lassen, und die Mannigfaltigkeit der politischen Formen, die Freiheit des Austrittes aus dem Staatsverbande, das Experiment des staatlichen Aufbaus – all das wird, solange nicht jeder Staat überhaupt abgestorben ist, die Grundlage eines reichen Kulturlebens bilden, die Gewähr für die Beschleunigung des Prozesses der freiwilligen Annäherung und Verschmelzung der Nationen.

Indem die polnischen Genossen die Kolonien herausgreifen und sie Europa entgegenstellen, geraten sie in einen Widerspruch, der ihre ganze fehlerhafte Beweisführung mit einem Schlage zerstört.

    7. Marxismus oder Proudhonismus

Unseren Hinweis auf Marx’ Stellung zur Lostrennung Irlands parieren die polnischen Genossen ausnahmsweise einmal nicht indirekt, sondern direkt. Worin besteht nun ihre Entgegnung? Die Hinweise auf die Stellungnahme von Marx in den Jahren 1848 bis 1861 haben, ihrer Meinung nach, „nicht den geringsten Wert“. Diese ungewöhnlich grimmige und entschiedene Erklärung wird damit motiviert, dass Marx „gleichzeitig“ gegen die Selbständigkeitstendenzen „der Tschechen, Südslawen usw.“ aufgetreten sei.3

Diese Motivierung ist gerade darum besonders erbost, weil sie besonders unzulänglich ist. Den polnischen Marxisten zufolge war Marx einfach ein Konfusionsrat, der „gleichzeitig“ entgegengesetzte Dinge sagte! Das ist durchaus nicht richtig, und das ist durchaus kein Marxismus. Gerade die Forderung der „konkreten“ Analyse, die die polnischen Genossen aufstellen, um sie nicht anzuwenden, verpflichtet uns zu untersuchen, ob nicht die verschiedenartige Stellungnahme Marx’ gegenüber den verschiedenen konkreten „nationalen“ Bewegungen ein und derselben sozialistischen Weltanschauung entsprang.

Wie bekannt, war Marx für die Unabhängigkeit Polens vom Standpunkt der Interessen der europäischen Demokratie in ihrem Kampf gegen die Macht und den Einfluss – man kann sagen: gegen die Allmacht und den überwiegenden, reaktionären Einfluss – des Zarismus. Die Richtigkeit dieser Ansicht erhielt ihre anschaulichste faktische Bestätigung im Jahre 1849, als das russische Leibeigenenheer den national-freiheitlichen, revolutionär-demokratischen Aufstand in Ungarn niederwarf. Von der Zeit an bis zum Tode Marx’, ja sogar später, bis zum Jahre 1890, als ein reaktionärer Krieg des Zarismus im Bunde mit Frankreich gegen das nicht-imperialistische, aber national unabhängige Deutschland drohte, trat Engels vor allen Dingen für den Kampf gegen den Zarismus ein. Aus diesem und nur aus diesem Grunde waren Marx und Engels gegen die nationale Bewegung der Tschechen und Südslawen. Ein kurzer Einblick in das, was Marx und Engels in den Jahren 1848/49 geschrieben haben, wird jedem, der sich für den Marxismus nicht nur interessiert, um ihn mit einer Handbewegung abzutun, zeigen, dass Marx und Engels damals klar und bestimmt „ganze reaktionäre Völker“, die als „russische Vorposten“ in Europa dienten, den „revolutionären Völkern“ – Deutschen, Polen, Ungarn entgegenstellten. Das ist Tatsache. Und auf diese Tatsache ist damals zweifellos richtig hingewiesen worden: im Jahre 1848 fochten die revolutionären Völker für die Freiheit, deren Hauptfeind der Zarismus war, während die Tschechen usw. in der Tat reaktionäre Völker, Vorposten des Zarismus waren.

Was sagt uns dieses konkrete Beispiel, das wir konkret analysieren müssen, wenn wir dem Marxismus treu bleiben wollen? Nur, dass 1. die Interessen der Befreiung einiger großer und größter Völker Europas höher stehen als die Interessen der Freiheitsbewegung der kleinen Nationen; 2. dass die Forderung der Demokratie im europäischen Ausmaße – jetzt muss man sagen: im Weltausmaße – betrachtet werden muss und nicht isoliert.

Nichts mehr. Nicht die Spur einer Widerlegung jenes elementaren sozialistischen Prinzips, das die Polen vergessen und dem Marx stets treu geblieben ist: ein Volk kann nicht frei sein, das andere unterdrückt. Wenn die konkrete Situation, vor der Marx in der Epoche des überwiegenden Einflusses des Zarismus in der internationalen Politik stand, sich wiederholen sollte, z. B. in der Form, dass einige Völker die sozialistische Revolution beginnen (wie im Jahre 1848 in Europa die bürgerlich-demokratische Revolution begonnen wurde), andere Völker sich aber als Grundpfeiler der bürgerlichen Reaktion erweisen sollten – so müssten auch wir für einen revolutionären Krieg gegen sie, für ihre „Niederwerfung“, für die Zerstörung aller ihrer Vorposten eintreten, ganz unabhängig davon, welche kleinen nationalen Bewegungen hier auch hervortreten mögen. Folglich dürfen wir die Beispiele der Marxschen Taktik nicht verwerfen – das würde bedeuten, sich in Worten zum Marxismus bekennen, in der Tat aber mit ihm brechen –, sondern wir müssen aus der konkreten Analyse dieser Beispiele unschätzbare Lehren für die Zukunft ziehen. Die einzelnen Forderungen der Demokratie, darunter das Selbstbestimmungsrecht, sind nichts Absolutes, sondern ein Teilchen der allgemein-demokratischen (jetzt: allgemein-sozialistischen) Weltbewegung. Es ist möglich, dass in einzelnen konkreten Fällen der Teil dem Ganzen widerspricht, dann muss man den Teil verwerfen. Es ist möglich, dass die republikanische Bewegung in einem Lande nur ein Werkzeug einer klerikalen oder einer finanzkapitalistisch-monarchistischen Intrige anderer Länder ist – dann dürfen wir diese gegebene konkrete Bewegung nicht unterstützen; es wäre aber lächerlich, aus diesem Grunde die Losung der Republik im Programm der internationalen Sozialdemokratie streichen zu wollen.

Wie hat sich die konkrete Situation seit der Zeit von 1840 bis 1871 bis zu der von 1898-1916 geändert (ich wähle die wichtigsten Marksteine des Imperialismus als Periode: vom spanisch-amerikanischen imperialistischen Krieg bis zum europäischen imperialistischen Kriege)? Der Zarismus hat zweifellos aufgehört, die wichtigste Stütze der Reaktion zu sein, erstens infolge der Unterstützung durch das internationale Finanzkapital, besonders das Frankreichs, und zweitens infolge des Jahres 1905. Damals verhieß das System der großen Nationalstaaten – der Demokratien Europas – der Welt, trotz des Zarismus, die Demokratie und den Sozialismus.** Marx und Engels haben den Imperialismus nicht mehr erlebt. Jetzt hat sich das System einer Handvoll imperialistischer „Großmächte“ (fünf bis sechs an der Zahl) herausgebildet, von denen jede fremde Nationen unterdrückt, wobei diese Unterdrückung mit dazu dient, den Sturz des Kapitalismus künstlich aufzuhalten und den Opportunismus und Sozialchauvinismus der die Welt beherrschenden imperialistischen Nationen künstlich zu unterstützen. Damals war die westeuropäische Demokratie, die die größten Nationen befreite, gegen den Zarismus, der einzelne kleine nationale Bewegungen zu reaktionären Zwecken ausnutzte. Jetzt steht das Bündnis des zaristischen Imperialismus mit dem fortgeschrittenen kapitalistischen europäischen Imperialismus auf der Basis der gemeinsamen Unterdrückung einer Reihe von Nationen dem sozialistischen Proletariat entgegen, das in ein chauvinistisches, „sozialimperialistisches“ und ein revolutionäres gespalten ist.

Das ist die konkrete Änderung der Lage, die die polnischen Sozialdemokraten außer acht lassen, trotz ihres Versprechens, konkret zu sein! Hieraus ergibt sich die konkrete Änderung in der Anwendung derselben sozialistischen Prinzipien: damals ging es vor allen Dingen „gegen den Zarismus“ (und gegen einige von ihm in antidemokratischer Richtung ausgenutzten Bewegungen kleiner Nationen) und für die zu den großen Nationen gehörenden revolutionären Völker des Westens. Jetzt geht es gegen die ausgerichtete Einheitsfront der imperialistischen Mächte, der imperialistischen Bourgeoisie, der Sozialimperialisten, für die Ausnutzung aller nationalen Bewegungen gegen den Imperialismus im Interesse der sozialistischen Revolution. Je reiner der Kampf des Proletariats gegen die gemeinsame imperialistische Front jetzt ist, um so aktueller wird offenbar das internationalistische Prinzip: „Ein Volk kann nicht frei sein, das andere unterdrückt“.

Die Proudhonisten ignorierten im Namen der doktrinär aufgefassten sozialen Revolution die internationale Rolle Polens und gingen über die nationalen Bewegungen mit einer Handbewegung hinweg. Genau so doktrinär handeln die polnischen Sozialdemokraten, die die internationale Kampffront gegen die Sozialimperialisten dadurch zerschlagen, dass sie durch ihr Schwanken in der Annexionsfrage diese (objektiv) unterstützen. Denn gerade die internationale Front des proletarischen Kampfes hat sich geändert, was die konkrete Stellung der kleinen Nationen betrifft: damals (1848-1871) hatten die kleinen Nationen eine Bedeutung als mögliche Bundesgenossen entweder der „westlichen Demokratie“ und der revolutionären Völker oder aber des Zarismus; jetzt (1898-1914) haben die kleinen Nationen diese Bedeutung verloren; ihre Bedeutung ist es jetzt, mit ein Nährboden des Parasitismus und folglich des Sozialimperialismus der „Großmachtnationen“ zu sein. Nicht das ist wichtig, ob 1/80 oder 1/100 der kleinen Völker sich schon vor der sozialistischen Revolution befreit, sondern es ist wichtig, dass das Proletariat in der imperialistischen Epoche, kraft objektiver Ursachen, sich in zwei internationale Lager geteilt hat, von denen das eine durch die Brosamen, die vom Tische der Bourgeoisie der Großmächte fallen – unter anderem auch infolge der doppelten und dreifachen Ausbeutung der kleinen Nationen –, korrumpiert worden ist, das andere aber sich nicht selbst befreien kann, ohne die kleinen Nationen zu befreien und ohne die Massen in anti-chauvinistischem, d. h. anti-annexionistischem Geiste, d. h. im Geiste des „Selbstbestimmungsrechtes“ zu erziehen.

Diese, die wichtigste, Seite lassen die polnischen Genossen außer Acht, und betrachten die Dinge nicht von dem in der Epoche des Imperialismus zentralen Standpunkt aus, nicht vom Standpunkt der zwei Lager des internationalen Proletariats.

Hier noch einige anschauliche Beispiele ihres Proudhonismus: 1. die Stellung zum irischen Aufstand von 1916, wovon später noch die Rede sein wird, 2. die Erklärung in den Thesen (II, 3, am Ende des § 3), dass die Losung der sozialistischen Revolution „durch nichts verhüllt werden“ dürfe. Das ist gerade eine zutiefst antimarxistische Idee, wenn man annimmt, dass die Losung der sozialistischen Revolution dadurch „verhüllt“ werden könnte, dass man sie mit dem konsequent-revolutionären Standpunkt in jeder Frage, darunter auch in der nationalen, verbindet.

Die polnischen Sozialdemokraten finden unser Programm „national-reformistisch“. Man vergleiche die beiden praktischen Vorschläge miteinander: 1. für die Autonomie (polnische Thesen III, 4) und 2. für die Freiheit der Lostrennung. Hier, und nur hier liegt der Unterschied zwischen unseren Programmen! Ist es nicht klar, dass gerade das erste Programm zum Unterschied vom zweiten reformistisch ist? Reformistisch ist eine Veränderung, die die Grundlagen der Macht der herrschenden Klasse nicht untergräbt, sondern nur ein Zugeständnis ihrerseits unter Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft ist. Das Revolutionäre untergräbt die Grundlage der Macht. Das Reformistische im nationalen Programm hebt nicht alle Privilegien der herrschenden Nation auf, schafft keine volle Gleichberechtigung, beseitigt nicht jegliche nationale Unterdrückung. Die „autonome“ Nation ist mit der „herrschenden“ Nation nicht gleichberechtigt, die polnischen Genossen hätten das bemerken müssen, wenn sie nicht (genau wie unsere alten „Ökonomisten“) die Analyse der politischen Begriffe und Kategorien hartnäckig außer acht ließen. Das autonome Norwegen hat als ein Teil Schwedens bis zum Jahre 1905 weitestgehende Autonomie genossen, aber gleichberechtigt war es mit Schweden nicht. Nur seine freie Lostrennung drückte in der Tat seine Gleichberechtigung aus und bekundete sie (wobei – das wollen wir in Klammern hinzufügen – gerade diese freie Lostrennung die Grundlage für eine viel engere, viel demokratischere, auf der Gleichberechtigung beruhende Annäherung geschaffen hat). Solange Norwegen nur autonom war, besaß die schwedische Aristokratie ein Privileg mehr, und dieses Privileg wurde nicht „abgeschwächt“ (das Wesen des Reformismus besteht in der Abschwächung des Übels und nicht in seiner Beseitigung), sondern durch die Lostrennung vollständig beseitigt (das grundlegende Merkmal des Revolutionären im Programm).

Nebenbei bemerkt: Die Autonomie als Reform ist von der Freiheit der Lostrennung als revolutionärer Maßnahme prinzipiell verschieden. Das unterliegt keinem Zweifel. Aber die Reform ist bekanntlich in der Praxis oft nur ein Schritt zur Revolution. Eben die Autonomie gestattet der Nation, die gewaltsam innerhalb der Grenzen eines Staates festgehalten wird, sich endgültig als Nation zu konstituieren, ihre Kräfte zu sammeln, kennen zu lernen, zu organisieren und den durchaus geeigneten Moment zu einer Erklärung im „norwegischen“ Geiste zu wählen: wir, das autonome Parlament dieser oder jener Nation oder dieses oder jenes Gebietes, erklären, dass der Zar aller Reußen aufgehört hat, König von Polen zu sein u. ä. Dagegen wird gewöhnlich „eingewendet“: solche Fragen werden durch Kriege und nicht durch Deklarationen entschieden. Richtig: in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle entscheiden darüber Kriege (wie die Fragen der Regierungsform der großen Staaten in der übergroßen Mehrzahl der Fälle nur durch Kriege oder Revolutionen entschieden werden). Es schadet aber nicht, darüber nachzudenken, ob ein ähnlicher „Einwand“ gegen das politische Programm einer revolutionären Partei logisch ist. Sind wir denn etwa Gegner von Kriegen und Revolutionen für das, was gerecht und für das Proletariat nützlich ist, für Demokratie und Sozialismus?

Aber wir können doch nicht für einen Krieg zwischen den großen Völkern sein, für das Hinschlachten von 20 Millionen Menschen um der problematischen Befreiung einer kleinen Nation willen, deren Bevölkerung vielleicht 10-20 Millionen zählt!“ Natürlich können wir das nicht! Aber nicht, weil wir die volle nationale Gleichberechtigung in unserem Programm streichen, sondern weil die Interessen der Demokratie eines Landes den Interessen der Demokratie mehrerer und aller Länder unterordnet werden müssen. Setzen wir den Fall, dass zwischen zwei großen Monarchien sich eine kleine befindet, deren Serenissimus durch verwandtschaftliche und andere Bande mit den Monarchen beider Nachbarländer „verknüpft“ ist. Stellen wir uns weiter vor, dass die Ausrufung der Republik in dem kleinen Lande, die Vertreibung seines Monarchen in der Praxis einen Krieg zwischen den zwei großen Nachbarländern um die Wiedereinsetzung dieses oder jenes Monarchen in dem kleinen Lande bedeuten würde. Kein Zweifel, dass die gesamte internationale Sozialdemokratie wie auch der wahrhaft internationale Teil der Sozialdemokratie des kleinen Landes in diesem Falle gegen die Ersetzung der Monarchie durch die Republik wäre. Die Ersetzung der Monarchie durch die Republik ist nichts Absolutes, sondern nur eine der demokratischen Forderungen, die den Interessen der Demokratie (und in noch viel höherem Maße natürlich denen des sozialistischen Proletariats) als Ganzes untergeordnet sind. Sicherlich würde ein solcher Fall nicht die geringste Meinungsverschiedenheit unter den Sozialdemokraten beliebiger Länder hervorrufen. Aber wenn ein Sozialdemokrat auf Grund dessen den Vorschlag machte, die Losung der Republik aus dem Programm der internationalen Sozialdemokratie überhaupt zu streichen, so würde man ihn sicher für verrückt halten. Man würde ihm sagen: die elementar logische Unterscheidung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen vergessen, das geht nun doch nicht.

Dieses Beispiel führt uns, von einer etwas anderen Seite, zur Frage der internationalistischen Erziehung der Arbeiterklasse. Kann diese Erziehung – über deren Notwendigkeit und äußerste Dringlichkeit es in der Zimmerwalder Linken keine Meinungsverschiedenheiten geben kann – konkret gleich sein für die großen, unterdrückenden und für die kleinen, unterdrückten Nationen, für die annektierenden und für die annektierten Nationen?

Offenbar nicht. Die konkreten Wege zum gemeinsamen Ziel: zur vollen Gleichberechtigung, zur engsten Annäherung und weiteren Verschmelzung aller Nationen sind hier augenscheinlich verschieden, ebenso wie, sagen wir, der Weg zu einem Punkt, der sich in der Mitte dieses Blattes befindet, von einem Rande aus nach links, vom gegenüberliegenden Rande aus nach rechts führt. Wenn ein Sozialdemokrat einer großen, unterdrückenden und annektierenden Nation, der im allgemeinen die Verschmelzung der Nationen predigt, auch nur eine Minute lang vergisst, dass „sein“ Nikolaus II., „sein“ Wilhelm, Georg, Poincaré usw. auch für die Verschmelzung mit den kleinen Nationen sind (mittels Annexionen) – Nikolaus II. für die „Verschmelzung“ mit Galizien, Wilhelm II. für die „Verschmelzung“ mit Belgien usw. –, so ist ein solcher Sozialdemokrat ein lächerlicher Doktrinär in der Theorie, ein Helfershelfer des Imperialismus in der Praxis.

Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muss unbedingt in der Propagierung und Verteidigung des Rechtes auf Lostrennung der unterdrückten Länder liegen. Ohne diese gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer Unterdrückernation, der diese Propaganda nicht treibt, als Imperialisten und als Schuft zu behandeln. Diese Forderung ist unbedingt und auch dann aufzustellen, wenn diese Lostrennung vor dem Siege der Revolution auch nur in einem Falle von tausend möglich und „durchführbar“ wäre.

Wir sind verpflichtet, die Arbeiter zur „Gleichgültigkeit“ den nationalen Unterschieden gegenüber zu erziehen. Das ist unbestreitbar. Aber nicht zur Gleichgültigkeit von Annexionisten. Dem Angehörigen einer Unterdrückernation muss es „gleichgültig“ sein, ob die kleinen Nationen seinem Lande oder dem Nachbarlande oder sich selbst angehören, je nach ihren Sympathien: ohne diese „Gleichgültigkeit“ ist er kein Sozialdemokrat. Um ein internationalistischer Sozialdemokrat zu sein, darf man nicht nur an seine eigene Nation denken, sondern muss höher als sie stellen die Interessen aller Nationen, ihre allgemeine Freiheit und Gleichberechtigung. In der „Theorie“ sind alle damit einverstanden, in der Praxis aber zeigt man gerade eine annexionistische Gleichgültigkeit. Das ist die Wurzel des Übels.

Umgekehrt muss der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: „freiwillige Vereinigung“ der Nationen. Er kann, ohne seine Verpflichtungen als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluss an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein, in allen Fällen muss er aber gegen die eng-nationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolierung auftreten, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen eines Teiles unter die Interessen der Gesamtheit.

Leute, die sich in diese Frage nicht vertieft haben, finden, dass es „widerspruchsvoll“ sei, wenn die Sozialdemokraten der Unterdrückernationen auf der „Freiheit der Lostrennung“ beharren, während die Sozialdemokraten der unterdrückten Nationen dagegen die „Freiheit der Vereinigung“ verlangen. Etwas Überlegung wird aber zeigen, dass es keinen anderen Weg zum Internationalismus und zur Verschmelzung der Nationen, dass es aus dem gegebenen Zustand heraus keinen anderen Weg zu diesem Ziele gibt und geben kann.

Und hier wären wir bei der besonderen Lage der holländischen und der polnischen Sozialdemokratie angelangt.

    8. Das Besondere und das Gemeinsame in der Stellung der holländischen und der polnischen internationalistischen Sozialdemokraten

Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die holländischen und die polnischen Marxisten, die gegen das Selbstbestimmungsrecht sind, zu den besten revolutionären und internationalistischen Elementen der internationalen Sozialdemokratie gehören. Wie ist es aber möglich, dass ihre theoretischen Ausführungen, wie wir gesehen haben, ein ganzes Netz von Fehlern darstellen? Keine einzige richtige allgemeine Erwägung, nichts als „imperialistischer Ökonomismus“!

Die Sache erklärt sich keineswegs aus besonders schlechten subjektiven Eigenschaften der holländischen und der polnischen Genossen, sondern aus den besonderen objektiven Verhältnissen ihrer Länder. Beide Länder sind 1. klein und hilflos im gegenwärtigen „System“ der Großmächte; 2. beide liegen geographisch zwischen den am stärksten miteinander rivalisierenden, riesenstarken imperialistischen Räubern (England und Deutschland; Deutschland und Russland); 3. in beiden sind die Erinnerungen und Traditionen jener Zeiten, da sie noch selbst „Großmächte“ waren, ungeheuer stark; Holland war eine stärkere Kolonialmacht als England; Polen war eine kulturell höherstehende und stärkere Großmacht als Russland und Preußen; 4. beide haben bis jetzt Privilegien bewahrt, die in der Unterdrückung fremder Völker bestehen: der holländische Bourgeois beherrscht das überaus reiche Holländisch-Indien; der polnische Gutsbesitzer unterdrückt den ukrainischen und weißrussischen „Knecht“, der polnische Bourgeois den Juden usw.

Eine solche Eigenart, die in der Kombination dieser vier besonderen Bedingungen besteht, ist nicht zu finden in der Lage Irlands, Portugals (das eine Zeitlang von Spanien annektiert war), des Elsass, Norwegens, Finnlands, der Ukraine, des lettischen, des weißrussischen und vieler anderer Gebiete. Und in dieser Eigenart liegt eben das ganze Wesen der Sache! Wenn die holländischen und die polnischen Sozialdemokraten mit Hilfe allgemeiner Argumente, d. h. solcher, die sich auf den Imperialismus im Allgemeinen, den Sozialismus im Allgemeinen, die nationale Unterdrückung im Allgemeinen beziehen, gegen das Selbstbestimmungsrecht auftreten, so kann man wohl sagen, dass sie einen Fehler nach dem anderen machen, dass ein Fehler den anderen jagt. Man braucht aber nur diese offensichtlich fehlerhafte Hülle der allgemeinen Argumente abzustreifen und den Kern der Dinge vom Gesichtspunkt der Eigenart der besonderen Bedingungen Hollands und Polens zu betrachten, dann erscheint ihre eigenartige Stellungnahme verständlich und durchaus berechtigt. Man kann sagen, ohne zu fürchten, in ein Paradoxon zu verfallen, dass die holländischen und die polnischen Marxisten, wenn sie wutschnaubend gegen das Selbstbestimmungsrecht wettern, nicht ganz das sagen, was sie sagen möchten, oder, mit anderen Worten, nicht ganz das sagen wollen, was sie sagen.***

Ein Beispiel haben wir schon in unseren Thesen angeführt.

Gorter ist gegen die Selbstbestimmung seines Landes, aber für die Selbstbestimmung von Holländisch-Indien, das von „seiner“ Nation unterdrückt wird! Was Wunder, wenn wir in ihm einen aufrichtigeren Internationalisten und uns näherstehenden Gesinnungsgenossen sehen als in den Leuten, die das Selbstbestimmungsrecht so anerkennen – so mit dem Munde, so voller Heuchelei wie Kautsky in Deutschland, Trotzki und Martow bei uns? Aus den allgemeinen und grundlegenden Prinzipien des Marxismus ergibt sich zweifellos die Pflicht, für die Freiheit der Lostrennung der Nationen zu kämpfen, die von „meiner eigenen“ Nation unterdrückt werden, aber es ergibt sich aus ihnen keineswegs die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit gerade Hollands voranzustellen, das am meisten an einer engen, verstockten, eigennützigen und verdummenden Abgeschlossenheit leidet: mag die ganze Welt in Flammen stehen, uns geht das nichts an, „wir“ sind mit unserer alten Beute und ihrem so reichen „Restchen“, Indien, zufrieden, alles übrige geht „uns“ nichts an!

Ein anderes Beispiel. Karl Radek, ein polnischer Sozialdemokrat, der sich durch seinen entschiedenen Kampf für den Internationalismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie nach Beginn des Krieges ein besonders großes Verdienst erworben hat, rennt in einem Artikel „Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung“ („Lichtstrahlen4 – eine von der preußischen Zensur verbotene linksradikale Monatsschrift, die von J. Borchardt redigiert wird – 1915, 5. Dezember, III. Jahrgang, Nr. 3) sehr heftig gegen das Selbstbestimmungsrecht an, wobei er übrigens nur die Meinungen holländischer und polnischer Autoritäten zu seinen Gunsten zitiert und unter anderem folgendes Argument anführt: das Selbstbestimmungsrecht stärke den Glauben, „als sei es Pflicht der Sozialdemokratie, jeden Unabhängigkeitskampf zu unterstützen“.

Vom Standpunkt der allgemeinen Theorie ist dieses Argument geradezu empörend, denn es ist offensichtlich unlogisch: erstens gibt es und kann es keine einzige demokratische Teilforderung geben, die nicht zu Missbräuchen führen könnte, wenn man das Einzelne nicht dem Ganzen unterordnet; wir sind nicht verpflichtet, „jeden“ Unabhängigkeitskampf oder „jede“ republikanische oder antiklerikale Bewegung zu unterstützen. Zweitens gibt es und kann es keine einzige Formulierung für den Kampf gegen die nationale Unterdrückung geben, die nicht an dem gleichen „Mangel“ litte. Radek selbst gebrauchte in der „Berner Tagwacht“5 (1915, Nr. 253) die Formel: „Gegen alte und neue Annexionen“. Jeder beliebige polnische Nationalist wird mit Recht aus dieser Formel „folgern“: „Polen ist ein annektiertes Land, ich bin gegen Annexionen, das heißt, ich bin für die Unabhängigkeit Polens“. Oder Rosa Luxemburg hat, wenn wir uns recht erinnern, in einem Artikel aus dem Jahre 19086 die Meinung zum Ausdruck gebracht, dass die Formel: „Gegen die nationale Unterdrückung“ vollständig ausreichend sei. Aber jeder beliebige polnische Nationalist wird – und zwar mit vollem Recht – sagen, dass die Annexion eine der Arten der nationalen Unterdrückung ist, folglich usw.

Betrachten wir aber statt dieser allgemeinen Argumente die besonderen Verhältnisse in Polen: seine Unabhängigkeit ist jetzt ohne Kriege oder Revolutionen „nicht zu verwirklichen“. Einzig und allein um der Wiederaufrichtung Polens willen für einen europäischen Krieg sein – das würde heißen ein Nationalist schlimmster Sorte sein, die Interessen der kleinen Anzahl von Polen höher stellen als die Interessen von Hunderten Millionen Menschen, die durch den Krieg leiden. So sind aber z. B. die „Fraki“ (rechter Flügel der PPS), die nur mit Worten Sozialisten sind und denen gegenüber die polnischen Sozialdemokraten tausendmal recht haben. Die Losung der Unabhängigkeit Polens jetzt aufstellen, angesichts des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen den imperialistischen Nachbarstaaten, das heißt in der Tat einer Utopie nachjagen, in engen Nationalismus verfallen, die Voraussetzung der europäischen oder zum mindesten der russischen und der deutschen Revolution vergessen. Ebenso bedeutete die Forderung der Koalitionsfreiheit als selbständige Losung im Russland der Jahre 1908-1914, dass man einer Utopie nachjagte und objektiv der Stolypinschen Arbeiterpartei (heute der Partei der Potressow-Gwosdjew, was im Übrigen ganz dasselbe ist) Vorschub leistete. Es wäre aber Wahnsinn, die Forderung der Koalitionsfreiheit aus dem Programm der Sozialdemokratie überhaupt streichen zu wollen!

Jetzt das dritte und wohl das wichtigste Beispiel. In den polnischen Thesen (III, Ende von § 2) wird gegen die Idee eines unabhängigen polnischen Pufferstaates der Einwand erhoben, dass dies

eine hohle Utopie kleiner, ohnmächtiger Gruppen ist. Verwirklicht, würde diese Idee die Schaffung eines kleinen polnischen Rumpfstaates bedeuten, der die Militärkolonie einer oder einer anderen Großmächtegruppe, ein Spielball ihrer militärischen Interessen, ein Ausbeutungsgebiet des fremden Kapitals, ein Schlachtfeld der zukünftigen Kriege wäre.“

All das ist sehr richtig gegenüber der Losung der Unabhängigkeit Polens für heute, denn selbst eine Revolution in Polen allein würde hier keine Änderung schaffen, die Aufmerksamkeit der polnischen Massen würde nur abgelenkt werden von der Hauptsache: vom Zusammenhang ihres Kampfes mit dem Kampf des russischen und des deutschen Proletariats. Es ist kein Paradoxon, sondern eine Tatsache, dass das polnische Proletariat als solches heute der Sache des Sozialismus und der Freiheit, auch der polnischen, nur dienen kann, wenn es zusammen mit dem Proletariat der Nachbarländer gegen die eng-polnischen Nationalisten kämpft. Es ist unmöglich, das große historische Verdienst der polnischen Sozialdemokraten im Kampf gegen diese letzteren zu leugnen.

Aber dieselben Argumente, die vom Standpunkt der besonderen Verhältnisse Polens in der gegenwärtigen Epoche richtig sind, sind offenkundig falsch in jener allgemeinen Form, die ihnen gegeben worden ist. In Kriegen zwischen Deutschland und Russland wird Polen stets, solange es Kriege gibt, das Schlachtfeld bleiben, das ist kein Argument gegen eine größere politische Freiheit (und folglich auch politische Unabhängigkeit) in den Perioden zwischen den Kriegen. Dasselbe gilt auch für den Einwand, der die Ausbeutung durch fremdes Kapital und die Rolle eines Spielballes fremder Interessen betrifft. Die polnischen Sozialdemokraten können jetzt nicht die Losung der Unabhängigkeit Polens aufstellen, da sie als proletarische Internationalisten nichts dafür tun können, ohne, wie die „Fraki“, sich zu Lakaien einer der imperialistischen Monarchien zu erniedrigen. Den russischen und den deutschen Arbeitern ist es aber nicht gleichgültig, ob sie an der Annexion Polens beteiligt sein werden (das bedeutet die Erziehung der deutschen und der russischen Arbeiter und Bauern im Geiste der gemeinsten Knechtsgesinnung des Sichabfindens mit der Rolle des Henkers fremder Völker), oder ob Polen unabhängig sein wird.

Die Lage ist zweifellos sehr verwirrt, aber aus ihr gibt es einen Ausweg, bei dem alle Beteiligten Internationalisten bleiben: die russischen und die deutschen Sozialdemokraten, indem sie die bedingungslose „Freiheit der Lostrennung“ Polens verlangen, und die polnischen Sozialdemokraten, indem sie für die Einheit des proletarischen Kampfes in einem kleinen und den großen Ländern kämpfen, ohne in der gegebenen Epoche oder Periode die Losung der Unabhängigkeit Polens aufzustellen.

    9. Ein Brief Engels' an Kautsky

In seiner Broschüre „Der Sozialismus und die Kolonialpolitik“ (Berlin 1907) veröffentlichte Kautsky – damals noch Marxist – einen Brief Engels’ an ihn vom 12. September 1882, der gerade für die uns interessierende Frage von größtem Interesse ist. Hier der wichtigste Abschnitt dieses Briefes:

„… Meiner Ansicht nach werden die eigentlichen Kolonien, d. h. die von europäischer Bevölkerung besetzten Länder, Kanada, Kap, Australien, alle selbständig werden; dagegen die bloß beherrschten, von Eingeborenen besetzten Länder, Indien, Algier, die holländischen, portugiesischen und spanischen Besitzungen vom Proletariat vorläufig übernommen werden und so rasch wie möglich der Selbständigkeit entgegen geführt werden müssen. Wie sich dieser Prozess abwickeln wird, ist schwer zu sagen, Indien macht vielleicht Revolution, sogar sehr wahrscheinlich, und da das sich befreiende Proletariat keine Kolonialkriege führen kann, würde man es gewähren lassen müssen, wobei es natürlich nicht ohne allerhand Zerstörung abgehen würde. Aber dergleichen ist eben von allen Revolutionen unzertrennlich. Dasselbe könnte sich auch noch anderwärts abspielen, z. B. in Algier und Ägypten, und wäre für uns sicher das Beste. Wir werden genug zu Hause zu tun haben. Ist Europa erst reorganisiert und Nordamerika, so gibt das eine so kolossale Macht und ein solches Exempel, dass die halb zivilisierten Völker ganz von selbst ins Schlepptau kommen; das besorgen allein schon die ökonomischen Bedürfnisse. Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder dann durchzumachen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Organisation kommen, darüber, glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. Nur das eine ist sicher: Das siegreiche Proletariat kann keinem fremden Volk irgendwelche Beglückung aufzwingen, ohne damit seinen eigenen Sieg zu untergraben. Womit natürlich Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind …“

Engels nimmt keineswegs an, dass das „Ökonomische“ von selbst und unmittelbar alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumen würde. Die wirtschaftliche Umwälzung wird alle Völker veranlassen, sich dem Sozialismus zuzuwenden, doch sind dabei auch Revolutionen – gegen den sozialistischen Staat – und Kriege möglich. Die Anpassung der Politik an die Ökonomik wird unvermeidlich eintreten, aber nicht auf einmal und nicht ganz glatt, nicht einfach, nicht unmittelbar. Als „sicher“ stellt Engels nur ein einziges, unbedingt internationalistisches Prinzip auf, das er allen „fremden Völkern“ gegenüber, d. h. nicht nur gegenüber den Kolonialvölkern, an wendet: ihnen Beglückung aufzwingen wollen, hieße den Sieg des Proletariats untergraben.

Das Proletariat wird nicht heilig und gegen Fehler und Schwächen gefeit werden, nur weil es die soziale Revolution vollbringen wird. Aber die möglichen Fehler (und die eigennützigen Interessen – der Versuch, auf Kosten des anderen zu leben) werden das Proletariat unvermeidlich zur Erkenntnis dieser Wahrheit führen.

Wir, die Zimmerwalder Linken, sind alle davon überzeugt, wovon z. B. auch Kautsky bis zu seiner Wendung vom Marxismus zur Verteidigung des Chauvinismus im Jahre 1914 überzeugt war, nämlich, dass die sozialistische Revolution in allernächster Zukunft, „von heute auf morgen“, wie sich einmal derselbe Kautsky ausdrückte, durchaus möglich ist. Die nationalen Antipathien werden so schnell nicht verschwinden; der Hass – und zwar ein durchaus berechtigter Hass – der unterdrückten Nation gegen die Unterdrückernation wird eine Zeitlang noch bestehen; er wird erst nach dem Sieg des Sozialismus und nach der endgültigen Herstellung vollkommen demokratischer Beziehungen zwischen den Nationen verschwinden. Wenn wir dem Sozialismus treu bleiben wollen, so müssen wir schon jetzt für die internationalistische Erziehung der Massen Sorge tragen, die bei Unterdrückernationen nicht möglich ist ohne die Propagierung der Freiheit der Lostrennung für die unterdrückten Nationen.

    10. Der irische Aufstand 1916

Unsere Thesen sind vor diesem Aufstand verfasst worden, der als Material zur Überprüfung der theoretischen Ansichten dienen soll.

Die Ansichten der Gegner der Selbstbestimmung führen zu der Schlussfolgerung, dass die Lebensfähigkeit der kleinen, vom Imperialismus unterdrückten Nationen schon erschöpft sei, dass sie nicht imstande seien, dem Imperialismus gegenüber irgendeine Rolle zu spielen, dass die Unterstützung ihrer rein nationalen Bestrebungen zu nichts führe usw. Die Erfahrung des imperialistischen Krieges 1914/16 bedeutet eine tatsächliche Widerlegung dieser Schlussfolgerungen.

Der Krieg war eine Epoche der Krise für die westeuropäischen Nationen, für den gesamten Imperialismus. Jeder Krieg räumt auf mit dem Konventionellen, sprengt die äußeren Hüllen, fegt das Überlebte hinweg, deckt die tieferliegenden Triebfedern und Kräfte auf. Was hat er vom Standpunkt der Bewegung der unterdrückten Nationen ans Tageslicht gebracht? In den Kolonien eine ganze Reihe von Aufstandsversuchen, die die Unterdrückernationen natürlich mit Hilfe der Militärzensur auf jede Art zu verheimlichen suchten. Trotzdem ist es bekannt, dass die Engländer in Singapur die Meuterei ihrer indischen Truppen in grausamster Weise unterdrückt haben; dass im französischen Annam (siehe „Nasche Slowo) und im deutschen Kamerun (siehe Junius-Broschüre) Aufstände versucht worden sind; dass es in Europa einerseits zum Aufstand in Irland kam, dessen die „freiheitsliebenden“ Engländer durch Hinrichtungen Herr zu werden suchten, ohne jedoch zu wagen, für die Iren die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, und dass andererseits die österreichische Regierung Abgeordnete des böhmischen Landtages wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilte und tschechische Soldaten für dasselbe „Verbrechen“ regimenterweise erschießen ließ.

Natürlich ist diese Liste lange nicht vollständig. Und doch zeigt sie, dass Flammen nationaler Aufstände im Zusammenhang mit der Krise des Imperialismus sowohl in den Kolonien als auch in Europa aufloderten, dass die nationalen Sympathien und Antipathien trotz aller Drohungen und drakonischer Maßnahmen zum Ausbruch gelangten. Und dabei war die Krise des Imperialismus noch weit entfernt vom Höhepunkt ihrer Entwicklung: die Macht der imperialistischen Bourgeoisie war damals noch nicht untergraben (der Krieg „bis zur Erschöpfung“ kann dahin führen, hat es aber noch nicht getan); die proletarischen Bewegungen innerhalb der imperialistischen Staaten sind noch sehr schwach. Was wird aber sein, wenn der Krieg zur vollen Erschöpfung führt oder wenn die Macht der Bourgeoisie, sei es auch nur in einem Lande, unter den Schlägen des proletarischen Kampfes so ins Wanken gerät wie die Macht des Zarismus im Jahre 1905?

In der „Berner Tagwacht“, dem Organ der Zimmerwalder einschließlich einiger Linken, erschien am 9. Mai 1916 anlässlich des irischen Aufstandes ein mit K. R. gezeichneter Artikel unter dem Titel: „Ein ausgespieltes Lied“. Der irische Aufstand wird dort kurz und bündig für einen „Putsch“ erklärt, denn „die irische Frage sei eine Agrarfrage“ gewesen, die Bauern seien durch Reformen beruhigt worden, die nationalistische Bewegung sei jetzt eine „rein städtische, kleinbürgerliche Bewegung, hinter der trotz des vielen Lärms, den sie machte, sozial nicht viel steckte.“

Kein Wunder, dass dieses in seinem Doktrinarismus und seiner Pedanterie so ungeheuerliche Urteil mit dem eines russischen Nationalliberalen, des Kadetten A. Kulischer („Rjetsch, 15. April 1916, Nr. 102), übereinstimmt, der den Aufstand ebenfalls als „Dubliner Putsch“ bezeichnete.7

Man darf wohl hoffen, dass nach dem Sprichwort „Alles Schlechte hat auch sein Gutes“ vielen Genossen, die nicht begriffen, in welchen Sumpf sie geraten, wenn sie die „Selbstbestimmung“ ablehnen und die nationalen Bewegungen der kleinen Nationen mit Geringschätzung behandeln, jetzt, unter dem Eindruck dieses „zufälligen“ Übereinstimmens des Urteils eines Vertreters der imperialistischen Bourgeoisie mit dem Urteil eines Sozialdemokraten die Augen aufgehen werden!!

Von einem „Putsch“ im wissenschaftlichen Sinne des Wortes kann man nur dann reden, wenn ein Aufstandsversuch nur einen Zirkel von Verschwörern oder unsinnigen Narren zutage fördert und in den Massen keinerlei Sympathien erweckt. Die irische nationale Bewegung, die schon auf Jahrhunderte zurückblickt und durch verschiedene Etappen und Kombinationen der Klasseninteressen hindurchgegangen ist, fand unter anderem in dem von großen Massen beschickten irischen Nationalkongress in Amerika ihren Ausdruck („Vorwärts vom 20. März 19168), der sich für die Unabhängigkeit Irlands aussprach; sie kam zum Ausdruck in den Straßenkämpfen eines Teiles des städtischen Kleinbürgertums und eines Teiles der Arbeiter, nach lang dauernder Agitation unter den Massen, nach Demonstrationen, Zeitungsverboten usw. Wer einen solchen Aufstand einen Putsch nennt, ist entweder der schlimmste Reaktionär oder ein hoffnungsloser Doktrinär, der unfähig ist, sich die soziale Revolution als eine lebendige Erscheinung vorzustellen.

Denn zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teiles des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung rückständiger proletarischer und halb proletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische und nationale Unterdrückung usw. – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. Es soll wohl so sein, dass an einer Stelle sich ein Heer sammelt und erklärt: „Wir sind für den Sozialismus“, an einer anderen Stelle ein anderes Heer, das erklärt: „Wir sind für den Imperialismus“, und dies dann die soziale Revolution ist! Nur unter einem solchen pedantischen und lächerlichen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen „Putsch“ zu schimpfen.

Wer eine „reine“ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der die wirkliche Revolution nicht versteht.

Die russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, es gab Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, es gab Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewussten Arbeitern geführt.

Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantasien, ihre Fehler und Schwächen hinein tragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, disharmonischen, bunten und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu koordinieren und zu lenken, die Macht zu erobern, von den Banken Besitz zu ergreifen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhassten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Maßnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlage aller kleinbürgerlichen Schlacken „entledigen“ wird.

Die Sozialdemokratie – lesen wir in den polnischen Thesen (I. 4)

hat die gegen den europäischen Imperialismus gerichteten Kämpfe der jungen kolonialen Bourgeoisie zur Verschärfung der revolutionären Krise in Europa auszunützen“ (gesperrt von den Verfassern).

Ist es nicht klar, dass es in dieser Beziehung am wenigsten zulässig ist, Europa den Kolonien entgegenzustellen? Ein Kampf der unterdrückten Nationen in Europa, der imstande wäre, zu Aufständen und Straßenkämpfen, zur Verletzung der eisernen Disziplin des Heeres und zum Belagerungszustand zu führen, – ein solcher Kampf würde „die revolutionäre Krise in Europa“ in ungleich höherem Maße „verschärfen“ als ein viel weiter entwickelter Aufstand in einer entlegenen Kolonie. Ein Schlag von gleicher Stärke, der der Macht der englischen imperialistischen Bourgeoisie durch einen Aufstand in Irland versetzt wird, hat eine hundertmal größere politische Bedeutung als ein gleicher Schlag in Asien oder in Afrika.

Vor kurzem meldete die französische chauvinistische Presse, dass in Belgien die 80. Nummer der illegalen Zeitung „La Libre BeIgique („Das freie Belgien“) erschienen sei. Die chauvinistische Presse Frankreichs lügt natürlich sehr oft, aber diese Meldung sieht aus, als ob sie wahr wäre. Während die chauvinistische und die kautskyanische deutsche Sozialdemokratie es in zwei Jahren des Krieges nicht fertiggebracht hat, sich eine freie Presse zu schaffen, sondern knechtisch das Joch der Kriegszensur trägt (nur die linksradikalen Elemente, zu ihrer Ehre sei es gesagt, haben nicht-zensurierte Broschüren und Flugschriften herausgebracht), beantwortet eine unterdrückte, kulturell hochstehende Nation das unerhörte Wüten der militärischen Unterdrückung mit der Schaffung eines Organs des revolutionären Protestes! Die Dialektik der Geschichte ist die, dass die kleinen Nationen, die als selbständiger Faktor im Kampf gegen den Imperialismus machtlos sind, die Rolle eines der Fermente, eines der Bazillen spielen, die dem wahren Gegenspieler des Imperialismus, dem sozialistischen Proletariat, auf den Plan zu treten helfen.

Die Generalstäbe sind im gegenwärtigen Krieg eifrig bemüht, jede nationale und revolutionäre Bewegung im Lager ihrer Gegner auszunutzen, die Deutschen – den irischen Aufstand, die Franzosen – die tschechische Bewegung usw. Und von ihrem Standpunkt aus handeln sie vollkommen richtig. Man kann sich einem ernsten Kriege gegenüber nicht ernsthaft verhalten, ohne die geringste Schwäche des Gegners auszunutzen, ohne jede Chance aufzugreifen, um so mehr, als man nicht im Voraus wissen kann, in welchem Augenblick und mit welcher Kraft hier oder dort dieses oder jenes Pulverfass „explodiert“. Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir es nicht verstünden, im großen Befreiungskampf des Proletariats für den Sozialismus jede Volksbewegung gegen die einzelnen Drangsale des Imperialismus zur Verschärfung und Ausbreitung der Krise auszunutzen. Wenn wir einerseits auf tausenderlei Art zu erklären und zu wiederholen begännen, dass wir „gegen“ jede nationale Unterdrückung sind, andererseits aber den heldenhaften Aufstand des beweglichsten und intelligentesten Teiles gewisser Klassen einer unterdrückten Nation gegen ihre Unterdrücker als „Putsch“ bezeichneten – so würden wir auf ein ebenso stumpfsinniges Niveau hinab gleiten wie die Kautskyaner.

Das Unglück der Iren ist, dass ihr Aufstand nicht zeitgemäß war, da der Aufstand des europäischen Proletariats noch nicht herangereift ist. Der Kapitalismus ist nicht so harmonisch aufgebaut, dass die verschiedenen Aufstandsherde sich ganz von selbst, ohne Misserfolge und Niederlagen, miteinander auf einmal vereinigen könnten. Im Gegenteil, gerade der Umstand, dass die Aufstände zu verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten ausbrechen, dass sie verschieden geartet sind, gewährleistet die Breite und Tiefe der allgemeinen Bewegung; nur in unzeitgemäßen, partiellen, zersplitterten und darum misslingenden revolutionären Bewegungen werden die Massen Erfahrungen machen, werden sie lernen, werden sie ihre Kräfte sammeln, ihre wahren Führer, die sozialistischen Proletarier, erkennen und dadurch den allgemeinen Ansturm vorbereiten, ebenso wie einzelne Streiks, Demonstrationen in einzelnen Städten und im ganzen Land, Meutereien im Heer, Bauernunruhen usw. den allgemeinen Ansturm im Jahre 1905 vorbereitet haben.

    11. Schluss

Die Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen hat, entgegen der falschen Behauptung der polnischen Sozialdemokraten, in unserer Parteiagitation keine geringere Rolle gespielt als z. B. die Volksbewaffnung, die Trennung von Kirche und Staat, die Beamtenwahl durch das Volk und andere von den Spießbürgern als „utopisch“ bezeichnete Forderungen. Umgekehrt hat die Belebung der nationalen Bewegungen nach dem Jahre 1905 natürlicherweise auch eine Belebung unserer Agitation hervorgerufen: davon zeugen eine Reihe von Artikeln aus den Jahren 1912/13 und die Resolution unserer Partei aus dem Jahre 1913, die eine genaue und „anti-kautskyanische“ (d. h. mit einem bloßen Lippenbekenntnis unvereinbare) Definition des Wesens der Sache gegeben hat.

Schon damals ist eine Tatsache zutage getreten, die man nicht umgehen darf: die Opportunisten der verschiedenen Nationen, der Ukrainer Jurkjewitsch, der Bundist Liebmann, Sjemkowski, der Lakai der Potressow und Co. in Russland, traten für die Argumente Rosa Luxemburgs gegen das Selbstbestimmungsrecht ein! Was bei der polnischen Sozialdemokratie nur eine irrige theoretische Verallgemeinerung der besonderen Verhältnisse der Bewegung in Polen war, hat sich plötzlich in anderen Verhältnissen, in Verhältnissen nicht eines kleinen, sondern eines großen Staates, im internationalen, nicht eng-polnischen Maßstabe objektiv als opportunistische Unterstützung des großrussischen Imperialismus erwiesen. Die Geschichte der politischen Gedankenrichtungen (zum Unterschied von verschiedenen persönlichen Anschauungen) hat die Richtigkeit unseres Programms bestätigt.

Jetzt treten aufrichtige Sozialimperialisten, wie Lensch, offen sowohl gegen das Selbstbestimmungsrecht als auch gegen die Ablehnung der Annexionen auf. Die Kautskyaner hingegen erkennen heuchlerisch das Selbstbestimmungsrecht an – bei uns in Russland gehen Trotzki und Martow diesen Weg. Mit Worten sind beide für das Selbstbestimmungsrecht, ebenso wie Kautsky. Und wie sieht es in Wirklichkeit aus? Bei Trotzki – man nehme seine Artikel „Nation und Wirtschaft“ in „Nasche Slowo“ – sehen wir seinen gewohnten Eklektizismus: einerseits führe die Wirtschaft die Verschmelzung der Nationen herbei, andererseits würden die Völker durch die nationale Unterdrückung zersplittert. Und der Schluss? Der Schluss ist, dass die herrschende Heuchelei unenthüllt, die Agitation ohne Leben bleibt und die Hauptsache, das Wesentliche, der Grund der Dinge und das der Praxis am nächsten Liegende gar nicht berührt wird – das Verhältnis zur Nation, die von „meiner“ Nation unterdrückt wird. Martow und die anderen Auslandssekretäre haben es vorgezogen, den Kampf ihres Kollegen und Amtsbruders Sjemkowski gegen die Selbstbestimmung einfach zu vergessen – eine bequeme Vergesslichkeit! In der legalen Presse der Gwosdjew-Leute („Nasch Golos) schrieb Martow für das Selbstbestimmungsrecht, wobei er die unbestrittene Wahrheit nachzuweisen suchte, dass das in einem imperialistischen Kriege noch nicht zur Teilnahme an ihm verpflichte usw.; er umgeht aber die Hauptsache – er umgeht sie auch in der illegalen, freien Presse! – und zwar, dass Russland auch während des Friedens den Weltrekord in der Unterdrückung der Nationen auf der Grundlage eines viel brutaleren, mittelalterlichen, wirtschaftlich rückständigen, militärisch-bürokratischen Imperialismus geschlagen hat. Ein russischer Sozialdemokrat, der das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ungefähr in der Weise „anerkennt“ wie die Herren Plechanow, Potressow und Konsorten, d. h. ohne für die Freiheit der Lostrennung der vom Zarismus unterdrückten Nationen zu kämpfen, ist in Wirklichkeit ein Imperialist und ein Lakai des Zarismus.

Was immer die subjektiv „edlen“ Absichten Trotzkis und Martows sein mögen, objektiv unterstützen sie durch ihr Ausweichen den russischen Sozialimperialismus. Die imperialistische Epoche hat alle „Großmächte“ zu Unterdrückern einer Reihe von Nationen gemacht, und die Entwicklung des Imperialismus wird unvermeidlich auch in der internationalen Sozialdemokratie zu einer reinlicheren Scheidung der Strömungen in dieser Frage führen.

1 In dem Artikel „Die Ergebnisse der Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht“, der im Oktober 1916 in Nummer 1 des „Sbornik Sozialdemokrata“ erschien, fasste Lenin die Ergebnisse dieser Diskussion innerhalb der Zimmerwalder Linken in den Jahren 1915-1916 zusammen, wobei er die bereits in seinen Thesen „Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ enthaltene Position beibehielt. Die im Kapitel X von Lenin entwickelten Gedanken über die Rolle und die Bedeutung der nationalen Befreiungsbewegung in den abhängigen und in den Kolonialländern für die sozialistische Weltrevolution stehen mit dem revolutionären Aufschwung in Zusammenhang, der zu dieser Zeit in Verbindung mit dem imperialistischen Kriege in diesen Ländern zu bemerken war. Trotz der strengen Zensur war aus den spärlichen Mitteilungen der Presse zu ersehen, wie der Krieg zugleich mit der Erweckung der revolutionären Bewegung in den kriegführenden Ländern, besonders in Russland, auch die von ihnen unterdrückten Nationen zur Erhebung bringt. [Aus Anmerkung 107 der „Ausgewählten Werke“, Band 5]

2 Die hier erwähnten Thesen waren in Nr. 25 des „Gazeta Robotnicza“ abgedruckt. Ihr Autor war Radek.

*Gegen alte und neue Annexionen“, formulierte es K. Radek in einem seiner Artikel in der „Berner Tagwacht“.

3 Gemeint ist der Artikel von Marx oder Engels (die Autorschaft steht nicht fest – Mehring hält Engels, Lenin – wie aus dem Text ersichtlich – Marx für den Verfasser) „Der demokratische Panslawismus“ in der „Neuen Rheinischen Zeitung vom 14. und 15. Februar 1849 (abgedruckt in „Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels 1841 bis 1850“, herausgegeben von Franz Mehring, Bd. III, S. 246-264).

** Rjasanow hat in Grünbergs „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ (1916, I) einen äußerst interessanten Artikel von Engels aus dem Jahre 1866 über die Polenfrage veröffentlicht. Engels unterstreicht hier die Notwendigkeit für das Proletariat, die politische Unabhängigkeit und die Selbstbestimmung (right to dispose of itself) der großen Nationen Europas anzuerkennen, indem er die Sinnlosigkeit des „Nationalitätenprinzips“ betont (besonders in seiner bonapartistischen Anwendung), d. h. die Gleichsetzung einer beliebigen kleinen Nation mit diesen großen Nationen. „Russland“ – sagt Engels – „ist Besitzer einer riesigen Menge gestohlenen Gutes“ (d. h. unterdrückter Nationen), „das es am Tage der Abrechnung wird wiedergeben müssen.“ Sowohl der Bonapartismus wie auch der Zarismus nutzen die kleinen nationalen Bewegungen zu ihren eigenen Gunsten, gegen die europäische Demokratie aus.

*** Wir erinnern daran, dass alle polnischen Sozialdemokraten in ihrer Zimmerwalder Deklaration das Selbstbestimmungsrecht der Völker im allgemeinen anerkannt haben, nur in einer ganz wenig anderen Formulierung. [Lenin hat offenbar folgenden Satz der Erklärung im Auge: „Die deutsche und die österreichische Regierung, die das polnische Volk der Möglichkeit berauben, sein Schicksal selbst zu entscheiden.“ {„Ohne dem polnischen Volke die Entscheidung über seine Geschicke einzuräumen, behandelt die deutsche und österreichische Regierung…“} Die Erklärung ist in dem Sammelbuch „Internazional i Woina“ Nr. 1, S, 97-99, abgedruckt.]

4 Hier ist der Artikel „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker“ von Karl Radek gemeint („Lichtstrahlen“ Nr. 3 vom 5. Dezember 1915).

5 Der hier von Lenin erwähnte Artikel Radeks „Annexionen und Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Standpunkt“ ist in den Nummern 252 und 253 vom 28. und 29. Oktober 1916 der Berner Tagwacht mit der Unterschrift „Parabellum“ erschienen.

6 Gemeint ist der Artikel „Die nationale Frage und die Autonomie“ von Rosa Luxemburg, der in den Nummern 6, 10, 12 und 14 der polnischen Zeitschrift „Przegląd Socjal-Demokratyczny in den Jahren 1908 und 1909 erschien.

7 Gemeint ist der Artikel „Der Dubliner Putsch“ von A. Kulischer („Rjetsch“ vom 15./28. April 1915), in dem Kulischer schrieb, dass die irländischen Nationalisten „mit deutschem Geld“ den „jetzigen Putsch in Dublin vorbereitet haben“.

[Anm. 108 der „Ausgewählten Werke“, Band 5:] Radek halte in seinem Artikel u. a. geschrieben: „Diese Bewegung der Sinn-feiner war nur eine Bewegung des städtischen Kleinbürgertums, die trotz des großen Lärms, den sie erhob, keine breite soziale Basis hatte. Wenn sie sich in der Hoffnung auf deutsche Hilfe zum Aufstand entschlossen, so kam es nur zu einem Putsch, mit dem die englische Regierung leicht fertig wurde.“ In dem Artikel des Kadetten Kulischer hieß es zum Schluss: „Die allgemeine Nichtachtung der Sinn-feiner gab ihnen augenscheinlich die Möglichkeit, mit Hilfe deutscher Freunde und deutschen Geldes den jetzigen Dubliner Putsch vorzubereiten, der höchstwahrscheinlich auch nicht der letzte in seiner Art gewesen sein wird. Eines kann mit Sicherheit gesagt werden: dass auch dieser Versuch Deutschlands, England zu verwunden, an demselben unüberwindlichen Hindernis scheitern wird: an der englischen Flotte und an der englischen Freiheit.“

8 Die Notiz über den Kongress, der am 4. und 5. März stattfand, ist im „Vorwärts“ Nr. 79 vom 20. März 1916 unter dem Titel „Ein Kongress der amerikanischen Irländer“ abgedruckt.

[Anm. 109 der „Ausgewählten Werke“, Band 5:] In der Notiz des Zentralorgans der deutschen Sozialdemokratie, des „Vorwärts“, auf die sich Lenin beruft (,Ein Kongress der amerikanischen Irländer", Nummer 79 vom 20. März 1916), wurde über den Kongress der amerikanischen Irländer berichtet, der am 4. und 5. März 1916 in New York stattgefunden hatte. Bei der Eröffnung waren 2.000, als er geschlossen wurde, 3.000 Menschen anwesend. Der Kongress beschloss eine Resolution, in der die Selbständigkeit Irlands gefordert wurde, und gründete eine Organisation, die sich „Freunde Irlands“ nannte.

Kommentare