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Diskussion über die nationale Frage

Die erste Diskussion über die nationale Frage in der SDAPR hing mit der Ausarbeitung des Parteiprogramms zusammen, das auf dem 2. Parteitag 1903 angenommen wurde (Genaueres siehe Bd. V der „Sämtlichen Werke“). Die zweite Diskussion fand 1912-1914 statt und wurde geführt zwischen den Liquidatoren und Bundisten auf der einen und den Bolschewiki auf der anderen Seite über die Frage der national-kulturellen Autonomie. Gleichzeitig wandte sich Lenin auch gegen Rosa Luxemburg, die den § 9 des Programms der SDAPR angegriffen und das Selbstbestimmungsrecht abgelehnt hatte. Den Standpunkt der Liquidatoren und Bundisten vertraten Sjemkowski, Kossowski, Medem u. a., den bolschewistischen Lenin, Stalin und Sinowjew.

Von den Artikeln der Liquidatoren und Bundisten seien erwähnt: „Der deutsch-tschechische Konflikt in der österreichischen Arbeiterbewegung“ und „Unverzeihliche Demagogie“ von Kossowski in Nr. 7/8 und 9/10 der Zeitschrift „Nascha Sarja“, 1912, „Vereinfachter Marxismus in der nationalen Frage“ von S. Sjemkowski in der Zeitung „Nowaja Rabotschaja Gaseta“, 1913, Nr. 69 und 71; von den Artikeln der Bolschewiki: „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ und „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ von (W. Iljin) Lenin in der Zeitschrift „Proswjeschtschenije“ Nr. 10-12, 1913, und 4-6, 1914, „Die nationale Frage und die Sozialdemokratie“ von Stalin (Nr. 3, 4, 5 der gleichen Zeitschrift für 1913), „Zur nationalen Frage“ und „Wie die Bundisten die Liquidatoren entlarvten“ von N. Skopin (G. Sinowjew) in Nr. 3 und 6 der gleichen Zeitschrift für 1913. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 19, Anm. 115]

Die Diskussion hatte damit begonnen, dass die Konferenz des menschewistischen kaukasischen Gebietsverbandes, die 1912 stattfand, die Forderung der „kulturell-nationalen Autonomie“ aufstelle. In der Augustkonferenz der Liquidatoren im Jahre 1912 [...] wurde eine Resolution beschlossen, in der behauptet wurde, dass die von den kaukasischen Menschewiki gegebene „Auslegung des Punktes des Parteiprogramms, der jeder Nationalität das Recht der Selbstbestimmung zuerkennt, dem genauen Sinne dieses Punktes nicht widerspricht“. Gleich nachher begannen in der Presse der Menschewiki und der Bundisten Artikel zu erscheinen, in denen die „kulturell-nationale Autonomie“ verteidigt und das Parteiprogramm, in welchem die Selbstbestimmung gefordert wurde, kritisiert wurde. Die erste Antwort Lenins auf diesen Angriff der Opportunisten gegen den Punkt des Parteiprogramms über die nationale Frage waren seine „Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage“, die zum ersten Male im Oktober und November 1913 in der legalen bolschewistischen Zeitschrift „Proswjeschtschenije“ erschienen. Der Hauptinhalt dieses längeren Artikels, der gegen die Forderung der national-kulturellen Autonomie gerichtet war, wurde von Lenin damals in der „Prawda“ in einem kürzeren populären Artikel „Über die ,national-kulturelle' Autonomie“ wiedergegeben. In diesem Artikel gibt Lenin eine klare, sorgfältige Bestimmung des Wesens „des Planes oder des Programms“ der „kulturell-nationalen“ Autonomie, die, wie er sagt, „in Russland nur sämtliche bürgerlichen Parteien des Judentums, ferner (im Jahre 1907) die Konferenz der kleinbürgerlichen linken Narodniki verschiedener Nationen und schließlich die kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente der pseudo-marxistischen Gruppen, d. h. die Bundisten und die Liquidatoren … angenommen haben“. Das Wesen dieses „Planes oder Programms“ bestehe in der Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten. „Diese Tatsache muss umso ausdrücklicher betont werden, je öfter verschiedene offene und verschleierte Nationalisten (darunter die Bundisten) sie zu verdunkeln bemüht sind. Jede Nation bildet, unabhängig davon, wo eine beliebige ihr angehörende Person lebt (unabhängig vom Territorium, daher der Name „exterritoriale“ Autonomie), einen einheitlichen, staatlich anerkannten Verband, dem die kulturell-nationalen Angelegenheiten unterstehen. Die wichtigste dieser Angelegenheiten ist das Schulwesen. Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Nation durch die freiwillige Eintragung jedes Staatsbürgers in einen beliebigen nationalen Verband, unabhängig von seinem Aufenthaltsort, garantiert die Folgerichtigkeit der Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten. Darin bestehe die Forderung der kulturell-nationalen Autonomie, und Lenin hält sie für „unbedingt unzulässig“ sowohl vom Gesichtspunkt der konsequenten Demokratie als auch insbesondere vom Gesichtspunkt der „Interessen des proletarischen Klassenkampfes“. „Wenn das wirtschaftliche Moment die in einem Staate lebenden Nationen zusammenschweißt, so ist der Versuch, sie in den ,kulturellen' und namentlich in den Schulfragen ein für allemal von einander zu trennen, sinnlos und reaktionär." Noch schärfer widerspreche die kulturell-nationale Autonomie den Interessen des Zusammenschlusses des Proletariats zum Kampfe gegen die Bourgeoisie, da sie nicht der Vereinigung der Arbeiter untereinander sondern ihrer Zersplitterung und ihrer Vereinigung mit der eigenen nationalen Bourgeoisie und der Unterordnung unter die Interessen dieser Bourgeoisie, unter ihre „nationale“, d. h. bürgerliche Kultur diene. „Die Arbeiter“ – schreibt Lenin – „können durch das Propagieren einer solchen Idee und noch mehr durch die Teilung der Volksschulen nach Nationalitäten zersplittert, voneinander getrennt und geschwächt werden“, und „das Proletariat, das sich seines Internationalismus bewusst ist und ihn schätzt, wird sich auf diese Dämlichkeit des verfeinerten Nationalismus niemals einlassen“.

Aber so wie in den anderen Fragen des Programms und der Taktik führte Lenin in dieser Periode den Kampf für das nationale Programm der Partei nicht nur gegen die menschewistischen Liquidatoren von rechts. Die Losung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wurde auch von den linken polnischen und deutschen Sozialdemokraten mit R. Luxemburg an der Spitze angegriffen. [...] So war es sowohl in der Zeit vor dem imperialistischen Kriege als auch nach demselben, [...] während er anderseits von den damals „äußerst linken“ Bolschewiki der Gruppe Bucharin-Pjatakow aufgegriffen wurde, die ebenfalls gegen die Leninsche Linie in der nationalen Frage kämpfte..

Lenin wehrte sowohl vor dem Kriege als auch in den folgenden Perioden alle diese „linken“ Attacken auf die bolschewistischen Positionen in der nationalen und dann in der Kolonialfrage mit derselben Entschiedenheit ab wie die Angriffe der Opportunisten von rechts. Im vorliegenden Artikel „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, der vor dem Kriege geschrieben wurde, sowie in seinen Arbeiten während des Krieges führte Lenin denn auch die Hauptschläge gegen Rosa Luxemburg und ihre Anhänger, wobei er in seiner Kritik wiederum auch die „kulturell-nationale Autonomie“ berührte. Außer dem Auftreten Lenins in der Parteipresse vor dem Kriege nahm die bolschewistische Partei auch in einem offiziellen Parteibeschluss zu dieser Frage Stellung. Gefasst wurde dieser Beschluss auf der „Sommer“-Beratung des ZK mit den Parteifunktionären im Jahre 1913. Die Resolution dieser Beratung über die nationale Frage spricht von einer unbedingten Verpflichtung der proletarischen Partei, das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen bis zur Loslösung und zur Bildung eines selbständigen Staates, zu vertreten, und lehnte die Forderung der „kulturell-nationalen Autonomie“ als „unbedingt schädlich“ ab. Zugleich lehnte die Beratung einen Resolutionsantrag ab, der die „Programmlosigkeit“ Vorschlag. Auf diese Weise grenzten sich die Bolschewiki in der entschiedensten Weise sowohl von den Vertretern der „kulturell-nationalen Autonomie“ als auch gegenüber der Haltung der „Programmlosen“ ab. Die Resolution der Beratung war von Lenin geschrieben, und alle seine Artikel über diese Frage, die er nach der Beratung schrieb, sind der Verteidigung dieser Resolution gewidmet. Die von Lenin in der Diskussion von 1913 entwickelten Ideen sind eine logische Weiterentwicklung seiner Haltung in der nationalen Frage während des zweiten Parteitages. Sowohl dort wie hier war der Kampf für das nationale Programm der Partei zugleich der Kampf für eine der wichtigsten demokratischen Forderungen des Programms des Proletariats. Daneben finden wir in den Artikeln Lenins aus dieser Epoche etwas, was in seinen Arbeiten aus dem Jahre 1902-1903 noch nicht zu finden ist. Und zwar den Hinweis auf die reaktionären imperialistischen Bestrebungen der liberalen Bourgeoisie Russlands, die gegen die Befreiung der unterdrückten Nationen Russlands gerichtet sind. „Bis 1905 kannten wir fast nur Nationalreaktionäre. Nach der Revolution entstanden bei uns Nationalliberale“, schrieb Lenin. Den oben angeführten Artikel „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ beginnt Lenin auch mit dem Hinweis darauf, dass unter den Erscheinungen, die im Jahre 1913 die nationale Frage in den Vordergrund rückten, sich auch der „Übergang des konterrevolutionären Liberalismus zum Nationalismus“ befinde. Die Folge davon konnte nicht das Aufgeben der Losung des Selbstbestimmungsrechts sein. Im Gegenteil, das Aufkommen der imperialistischen Bestrebungen in der nationalen Frage innerhalb der russischen Bourgeoisie musste ihre Bedeutung noch verstärken. Diese Forderung war nun nicht mehr bloß gegen den Zarismus sondern auch gegen die imperialistischen Bestrebungen der liberalen Bourgeoisie gerichtet. So wie die Stellung Lenins in den Jahren 1913–1914 die Weiterentwicklung seiner Haltung in den Jahren 1902–1903 war, so war die Haltung seiner Gegner ebenfalls die Weiterentwicklung der alten Fehler des „Bund“ und der polnischen Sozialdemokraten aus der Zeit des zweiten Parteitages. „… Diesen Kampf zu vergessen“ – schreibt Lenin im Dezember 1913 – „bedeutet alles Gedächtnis zu verlieren und sich von der geschichtlichen und ideologischen Grundlage der ganzen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Russlands zu entfernen“. „Und heute, zehn Jahre später, verläuft der Kampf auf den nämlichen zwei Hauptlinien, was seinerseits wiederum beweist, wie tief der Zusammenhang dieses Kampfes mit allen objektiven Bedingungen der nationalen Frage in Russland ist“ (Diese beiden Zitate sind aus dem Artikel „Über das nationale Programm der SDAPR“).

Dieser ganze Kampf gegen links und gegen rechts, gegen den offenen Opportunismus der menschewistischen Liquidatoren und gegen den Opportunismus der „Linken“, der sich hinter revolutionären Phrasen verbarg, war nur ein Teil der allgemeinen Kampfes, den die Bolschewiki zu dieser Zeit für das revolutionäre Programm und die Taktik der Partei führten. Die opportunistischen Ansichten in der nationalen Frage vereinigten sich mit dem ganzen System der opportunistischen Ansichten sowohl der Liquidatoren als auch der „Linken“.

Der später angeführte §9 des Programms der russischen Marxisten, d. h. des Programms der SDAPR, wie es vom 2. Parteitage angenommen worden war, enthielt die Forderung des „Selbstbestimmungsrechtes für alle Nationen, die zum Staate gehören“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 116]

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