Kapitel V. Die neueste Revolution in der Naturwissenschaft und der philosophische Idealismus

Kapitel V. Die neueste Revolution in der Naturwissenschaft und der pHphilosophische Idealismus

1. Die Krise der modernen Physik.

2. „Die Materie ist verschwunden."

3. Ist Bewegung ohne Materie denkbar?

4. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der englische Spiritualismus.

5. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der deutsche Idealismus.

6. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der französische Fideismus.

7. Der russische „Physikalische Idealist".

8. Wesen und Bedeutung des „physikalischen" Idealismus.

Vor einem Jahr erschien in der Zeitschrift „Die neue Zeit" ein Aufsatz von Josef Diner-Dénes: „Der Marxismus und die neueste Revolution in den Naturwissenschaften" (1907, Nr. 52). Der Mangel dieses Aufsatzes ist, dass die erkenntnistheoretischen Schlüsse, die aus der „neueren" Physik gezogen werden, und die uns jetzt speziell interessieren, ignoriert werden. Aber gerade dieser Mangel macht uns den Standpunkt und die Folgerungen des genannten Verfassers besonders interessant. Josef Diner-Dénes steht, wie der Schreiber dieser Zeilen auch, auf dem Standpunkt des nämlichen „einfachen Marxisten", von dem unsere Machisten mit so großartiger Verachtung zu sprechen pflegen. „Dialektischer Materialist“ – schreibt z. B. Herr Juschkewitsch – „nennt sich gewöhnlich der durchschnittliche einfache Marxist." (Seite 1 seines Buches.) Dieser einfache Marxist nun in Person von J. Diner-Dénes brachte die neuesten Entdeckungen der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik (X-Strahlen, Becquerel-Strahlen, Radium usw.) unmittelbar mit Engels' „Anti-Dühring" in Beziehung. Zu welchem Schluss ist er dabei gekommen?

Auf den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaften sind neue Erkenntnisse gewonnen worden, die alle nach jenem Punkte hinzielen, den Engels klarstellen wollte, dass es nämlich in der Natur ,keine unversöhnlichen Gegensätze gibt, keine gewaltsam fixierten Grenzlinien und Unterschiede', und dass, wenn schon Gegensätze und Unterschiede in der Natur vorkommen, nur wir ihre Starrheit und absolute Gültigkeit in die Natur hineingetragen haben." (S. 859.)

Es wurde z. B. entdeckt, dass Licht und Elektrizität die Äußerungen ein und derselben Naturkraft sind. Mit jedem Tage wird es wahrscheinlicher, dass sich die chemische Affinität auf elektrische Vorgänge zurückführen lässt. Die unzerstörbaren und unzerlegbaren Elemente der Chemie, deren Zahl gleichsam zum Hohn auf die Einheit der Welt noch fortwährend wächst, erweisen sich als zerstörbar und zerlegbar. Es gelang, das Element Radium in das Element Helium überzuführen.

So wie die Naturkräfte auf eine Kraft, sind mit dieser Erkenntnis auch alle Naturstoffe auf einen Stoff (gesperrt von Diner-Dénes) zurückgeführt."

Nachdem der Verfasser die Ansicht eines jener Gelehrten zitiert hat, die das Atom nur für verdichteten Äther halten, ruft er aus:

Wie glänzend ist damit Engels' vor dreißig Jahren gemachter Ausspruch gerechtfertigt: Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie … Alle Naturerscheinungen sind Bewegung, und die Unterschiede zwischen ihnen bestehen nur darin, dass wir Menschen diese Bewegung in verschiedenen Formen wahrnehmen … Es ist, wie Engels gesagt hat. Ganz ebenso wie die Geschichte, wird auch die Natur von dem dialektischen Bewegungsgesetz beherrscht."

Andererseits ist es unmöglich, die machistische Literatur oder die Literatur über den Machismus in die Hand zu nehmen, ohne prätentiöse Berufungen auf die neue Physik anzutreffen, die den Materialismus widerlegt haben soll usw. usf. Ob diese Berufungen begründet sind, ist eine andere Frage, aber der Zusammenhang der neuen Physik oder vielmehr einer bestimmten Schule der neuen Physik mit dem Machismus und den anderen Spielarten der modernen idealistischen Philosophie unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Sich mit dem Machismus auseinandersetzen und diesen Zusammenhang ignorieren – wie es Plechanow tut –, heißt sich über den Geist des dialektischen Materialismus lustig machen, das heißt die Engelssche Methode diesem oder jenem Engelsschen Buchstaben zum Opfer bringen. Engels sagt ausdrücklich, dass „der Materialismus mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiete (von der Geschichte der Menschheit ganz abgesehen) seine Form ändern muss." („L. Feuerbach", S. 19.) Eine Revision der „Form" des Engelsschen Materialismus, eine Revision seiner naturphilosophischen Sätze enthält folglich nicht nur nichts „Revisionistisches" im landläufigen Sinne des Wortes, im Gegenteil, sie ist eine unumgängliche Forderung des Marxismus. Den Machisten machen wir auch keineswegs eine solche Revision zum Vorwurf, sondern ihre rein revisionistische Methode: – das Wesen des Materialismus zu ändern unter dem Schein einer Kritik an seiner Form, die grundlegenden Sätze der reaktionären bürgerlichen Philosophie zu übernehmen ohne den geringsten Versuch, sich direkt, offen und entschieden z. B. mit solchen für die Frage unbedingt sehr wesentlichen Sätzen von Engels auseinanderzusetzen, wie diesem: „ … Bewegung ohne Materie ist undenkbar". („Anti-Dühring", S. 50.)

Selbstverständlich sind wir, wenn wir die Frage nach dem Zusammenhang einer gewissen Schule unter den neuesten Physikern mit der Wiedergeburt des philosophischen Idealismus untersuchen, von dem Gedanken weit entfernt, die Speziallehren der Physik zu erörtern. Uns interessieren lediglich die erkenntnistheoretischen Folgerungen aus einigen bestimmten Sätzen und allgemein bekannten Entdeckungen. Diese erkenntnistheoretischen Folgerungen drängen sich derart ganz von selber auf, dass sie auch schon manche Physiker berühren. Mehr noch, unter den Physikern gibt es bereits verschiedene Richtungen, auf diesem Boden bilden sich bestimmte Schulen heraus. Unsere Aufgabe beschränkt sich deshalb darauf, präzis darzustellen, worin das Wesentliche der Divergenz dieser Richtungen besteht und in welchem Verhältnis sie zu den Grundrichtungen der Philosophie stehen.

1. Die Krise der modernen Physik

Der bekannte französische Physiker Henri Poincaré meint in seinem Buche: „Der Wert der Wissenschaft" („La valeur de la science"), es gebe „Anzeichen einer ernsthaften Krise" der Physik, und er widmet dieser Krise ein besonderes Kapitel (VIII, vgl. S. 171). Diese Krise erschöpfe sich nicht allein darin, dass „der große Revolutionär Radium" das Prinzip der Erhaltung der Energie in Frage stelle. „Auch alle anderen Prinzipien sind in Gefahr." (S. 180.) Zum Beispiel das Lavoisiersche Prinzip oder das Prinzip der Erhaltung der Masse sei durch die Elektronentheorie der Materie unterwühlt. Nach dieser Theorie werden die Atome von kleinsten, mit positiver oder negativer Elektrizität geladenen Teilchen (Elektronen) gebildet, die „in eine Umgebung getaucht sind, die wir Äther nennen". Die Experimente der Physiker liefern das Material zur Berechnung der Bewegungsgeschwindigkeit der Elektronen und ihrer Masse (oder des Verhältnisses ihrer Masse zu ihrer elektrischen Ladung). Die Bewegungsgeschwindigkeit erweist sich vergleichbar mit der des Lichts (300.000 km in einer Sekunde), sie erreicht z. B. ein Drittel dieser Geschwindigkeit. Unter diesen Umständen muss eine zweifache Masse des Elektrons entsprechend der Notwendigkeit der Überwindung erstens der Trägheit des Elektrons selbst, zweitens des Äthers in Betracht gezogen werden. Die erste Masse wird die wirkliche oder mechanische Masse des Elektrons sein, die zweite die „elektrodynamische Masse, die den Widerstand des Äthers darstellt". Und nun erweist sich die erste Masse gleich Null. Die ganze Masse der Elektronen, oder wenigstens der negativen Elektronen, erweist sich ihrem Ursprung nach gänzlich und ausschließlich als elektrodynamische. Die Masse verschwindet. Die Grundlagen der Mechanik werden unterwühlt. Das Prinzip Newtons, die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung, wird unterwühlt usw.1

Vor uns liegen, sagt Poincaré, die „Ruinen" der alten Prinzipien der Physik, wir erleben den „allgemeinen Zusammenbruch der Prinzipien". Allerdings, bemerkt er, „alle diese Bedenken gegen die Prinzipien ergeben sich nur im unendlich Kleinen"; denn es ist gut möglich, dass wir das andere unendlich Kleine, das die Erschütterung der alten Gesetze aufheben würde, noch nicht kennen. Dazu ist außerdem das Radium sehr selten, jedenfalls aber ist die „Periode der Zweifel" eingeleitet. Die erkenntnistheoretischen Folgerungen des Verfassers aus dieser „Periode der Zweifel" haben wir schon kennengelernt: „Nicht die Natur zwingt uns die Begriffe von Raum und Zeit auf, sondern wir der Natur", „alles, was nicht Gedanke ist, ist das reinste Nichts." Das sind idealistische Folgerungen. Die Brüchigkeit der Grundprinzipien selbst beweise (so der Gedankengang Poincarés), dass diese Prinzipien keine Kopien, keine Konterfeie der Natur, keine Abbilder von irgend etwas außerhalb des menschlichen Bewusstseins Liegendem seien, sondern Produkte dieses Bewusstseins. Poincaré entwickelt diese Folgerungen nicht konsequent, er interessiert sich in der Hauptsache nicht für die philosophische Seite der Frage. In ausführlichster Weise behandelt sie der französische philosophische Schriftsteller Abel Rey in seinem Buch: „Die physikalische Theorie bei den modernen Physikern" („La théorie physique chez les physiciens contemporains", Paris, F. Allan, 1907). Der Verfasser ist allerdings selbst Positivist, das heißt ein Wirrkopf, und zur Hälfte Machist, aber in diesem Falle bietet das sogar einen gewissen Vorteil, da man ihn nicht verdächtigen kann, den Götzen unserer Machisten „verleumden" zu wollen. Wo es sich um die genaue philosophische Definition der Begriffe oder gar um den Materialismus handelt, darf man Rey nicht trauen, denn Rey ist gleichfalls Professor und als solcher voll grenzenloser Verachtung für die Materialisten (in Bezug auf die Erkenntnistheorie des Materialismus zeichnet er sich durch bodenlose Unwissenheit aus). Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass irgendein Marx oder ein Engels für diese „Männer der Wissenschaft" überhaupt nicht existiert. Doch fasst Rey die außerordentlich reiche Literatur über diese Frage, und zwar nicht nur die französische, sondern auch die englische und die deutsche (besonders Ostwald und Mach) sorgfältig und im allgemeinen gewissenhaft zusammen, so dass wir uns des öfteren seiner Arbeit bedienen werden.

Die Aufmerksamkeit der Philosophen im allgemeinen – meint der Verfasser – sowie derjenigen, die aus diesen oder jenen Motiven die Wissenschaft überhaupt kritisieren wollen, sei jetzt besonders auf die Physik gerichtet.

Indem man die Grenzen und den Wert der physikalischen Erkenntnisse erörtert, kritisiert man im Grunde die Berechtigung der positiven Wissenschaft, die Möglichkeit, das Objekt zu erkennen." (S. I u. II.)

Man beeilt sich, aus der „Krisis der modernen Physik" skeptische Schlussfolgerungen zu ziehen. (S. 14.) Worin besteht das Wesen dieser Krise? Während der ersten zwei Drittel des XIX. Jahrhunderts stimmten die Physiker in allem Wesentlichen miteinander überein.

Man glaubte an eine rein mechanische Erklärung der Natur. Man nahm an, dass die Physik nur kompliziertere Mechanik sei, nämlich – Molekularmechanik. Uneinig war man nur über die Frage, wie die Physik auf Mechanik zurückzuführen sei, und über die Details des ,Mechanismus'.

Heute scheint das Bild, das die physikalisch-chemischen Wissenschaften uns bieten, ein völlig umgekehrtes zu sein. An die Stelle der früheren Einigkeit sind extreme Unstimmigkeiten getreten, und zwar Unstimmigkeiten nicht über Details, sondern über die grundlegenden und leitenden Ideen. Wenn es auch übertrieben wäre, zu sagen, dass jeder Forscher seine eigenen Tendenzen habe, so ist es doch nötig, zu konstatieren, dass, ebenso wie die Kunst, auch die Wissenschaft, besonders die Physik, zahlreiche Schulen aufweist, deren Schlussfolgerungen oft weit auseinandergehen, ja mitunter einander direkt feindlich gegenübertreten …

Daraus kann man die Bedeutung und den Umfang dessen, was man die Krise der modernen Physik genannt hat, ersehen.

Bis zur Mitte des XIX. Jahrhunderts nahm die traditionelle Physik an, es genüge die einfache Fortsetzung der Physik, um zu einer Metaphysik der Materie zu gelangen. Diese Physik verlieh ihren Theorien ontologische Bedeutung, und diese Theorien waren ganz und gar mechanistisch. Der traditionelle Mechanismus (Rey gebraucht dieses Wort in einem besonderen Sinne und versteht darunter das System der Anschauungen, die die Physik auf Mechanik zurückführen. L.) stellte demnach über die Ergebnisse der Erfahrung, über die Grenzen der Erfahrungsergebnisse hinaus, die reale Erkenntnis der materiellen Welt dar. Das war nicht ein hypothetischer Ausdruck der Erfahrung, das. war ein Dogma." (S. 16.)

Hier müssen wir den ehrwürdigen „Positivisten" unterbrechen. Es ist klar, dass er uns die materialistische Philosophie der traditionellen Physik schildert, ohne den Teufel (d. h. den Materialismus) beim Namen nennen zu wollen. Einem Humeisten muss der Materialismus als Metaphysik, als Dogma, als ein Überschreiten der Grenzen der Erfahrung usw. erscheinen. Der Humeist Rey, der den Materialismus nicht kennt, hat erst recht keine Ahnung von der Dialektik, von dem Unterschied zwischen dialektischem und metaphysischem Materialismus im Engelsschen Sinne des Wortes. Deswegen ist z. B. das Verhältnis von absoluter und relativer Wahrheit für Rey absolut unklar.

Die kritischen Bemerkungen, die in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts gegen den traditionellen Mechanismus erhoben wurden, untergruben die Voraussetzung der ontologischen Realität des Mechanismus. Auf dem Boden dieser Kritik setzte sich eine philosophische Auffassung der Physik fest, die gegen Ende des XIX. Jahrhunderts in der Philosophie schon fast zur Tradition wurde. Die Wissenschaft ist nach dieser Auffassung nur mehr eine symbolische Formel, eine Methode des Vermerkens (der Bezeichnung, repérage, der Schaffung von Merkzeichen, Merkmalen, Symbolen), und da diese Methoden des Vermerkens bei den verschiedenen Schulen verschieden sind, so wurde gar bald der Schluss gezogen, dass hierbei nur das vermerkt werde, was vorher vom Menschen für die Bezeichnung (für die Symbolisierung) geschaffen (façonné) wurde. Die Wissenschaft wurde zum Kunstgriff für die Dilettanten und die Utilitaristen: ein Standpunkt, den man natürlicherweise allgemein als Verneinung der Möglichkeit der Wissenschaft auszulegen begann. Die Wissenschaft als bloßes künstliches Mittel, um auf die Natur einzuwirken, als einfache utilitaristische Technik, hat kein Recht, sich Wissenschaft zu nennen, wenn man den Sinn des Wortes nicht entstellen will. Sagen, dass die Wissenschaft nichts anderes als ein künstliches Einwirkungsmittel sein könne, heißt die Wissenschaft im eigentlichen Sinne leugnen.

Der Zusammenbruch des traditionellen Mechanismus oder genauer, die Kritik, der er unterworfen wurde, führte zu der These: die Wissenschaft selbst ist auch gescheitert. Von der Unmöglichkeit, sich schlechtweg und ausschließlich an den traditionellen Mechanismus zu halten, wurde auf die Unmöglichkeit der Wissenschaft geschlossen." (S. 17.)

Und der Verfasser wirft die Frage auf:

Ist die jetzige Krise der Physik ein vorübergehender, äußerlicher Zwischenfall in der Entwicklung der Wissenschaft, oder macht die Wissenschaft eine jähe Wendung und verlässt endgültig den bisher eingeschlagenen Weg?" (S. 18.)

„… Wenn die physikalisch-chemischen Wissenschaften, welche in der Geschichte wesentlich emanzipatorisch gewirkt haben, in einer Krise untergehen, die ihnen nur den Wert technisch nützlicher Rezepte lässt, ihnen jedoch jegliche Bedeutung in Beziehung auf die Naturerkenntnis nimmt, so muss dies in der Logik sowohl wie in der Geschichte der Ideen einen völligen Umsturz hervorrufen. Die Physik verliert jeden erzieherischen Wert; der Geist der positiven Wissenschaft, den sie repräsentiert, wird falsch und gefährlich."

Die Wissenschaft kann nur praktische Rezepte geben, aber keine wirkliche Erkenntnis.

Die Erkenntnis des Realen muss mit anderen Mitteln gesucht werden … Man muss einen anderen Weg einschlagen, man muss der subjektiven Intuition, dem mystischen Gefühl der Realität, mit einem Wort, dem Geheimnisvollen, alles zurückgeben, was man ihm durch die Wissenschaft entrissen zu haben glaubte." (S. 19.)

Als Positivist hält der Verfasser eine derartige Auffassung für unrichtig und die Krise der Physik für vorübergehend. Wie Rey es zuwege bringt, Mach, Poincaré und Co. von diesen Folgerungen zu reinigen, werden wir weiter unten sehen. Jetzt wollen wir uns darauf beschränken, die Tatsache der „Krise" und ihre Bedeutung zu konstatieren. Aus den letzten von uns angeführten Worten Reys geht klar hervor, welche reaktionären Elemente sich diese Krise zunutze gemacht und sie dadurch verschärft haben. Im Vorwort zu seinem Werk erklärt Rey ohne Umschweife, dass „die fideistische und antiintellektualistische Strömung der letzten Jahre des XIX. Jahrhunderts" bestrebt sei, sich auf den „allgemeinen Geist der modernen Physik zu stützen" (S. II). Fideisten (vom lateinischen Wort fides = glauben) nennt man in Frankreich diejenigen, die den Glauben über die Vernunft setzen. Als Antiintellektualismus wird die Lehre bezeichnet, die die Rechte oder Ansprüche der Vernunft leugnet. Folglich besteht in philosophischer Hinsicht das Wesen der „Krise der modernen Physik" darin, dass die alte Physik in ihren Theorien „die reale Erkenntnis der materiellen Welt" sah, d. h. die Widerspiegelung der objektiven Realität; die neue Strömung in der Physik sieht dagegen in der Theorie nur Symbole, Zeichen, Merkmale für die Praxis, d. h. sie stellt die Existenz einer von unserem Bewusstsein unabhängigen und von ihm widergespiegelten objektiven Realität in Abrede. Würde Rey sich einer richtigen philosophischen Terminologie bedienen, so müsste es bei ihm heißen: die von der früheren Physik instinktiv angenommene materialistische Erkenntnistheorie machte der idealistischen und agnostischen Platz, was sich der Fideismus, entgegen dem Willen der Idealisten und Agnostiker, zunutze macht.

Doch diesen Wechsel, der die Krise ausmacht, stellt sich Rey nicht so vor, als ob sämtliche neuen Physiker gegen sämtliche alten Physiker stünden. Nein. Er zeigt, dass die modernen Physiker nach ihren erkenntnistheoretischen Tendenzen sich in drei Schulen scheiden: in eine energetische oder konzeptualistische (conceptuelle – von dem Wort concept = reiner Begriff), eine mechanistische oder neomechanistische, an der nach wie vor die große Mehrzahl der Physiker festhält, und eine dazwischenliegende, kritische Schule. Zur ersten zählen Mach und Duhem; zur dritten Henri Poincaré; zur zweiten Kirchhoff, Helmholtz, Thomson (Lord Kelvin), Maxwell von den älteren, Larmor, Lorentz von den jüngeren Physikern. Worin das Wesen der beiden Grundrichtungen besteht (die dritte ist nämlich unselbständig und zwitterhaft), ersieht man aus folgenden Worten Reys:

Der traditionelle Mechanismus konstruierte ein System der materiellen Welt." In der Lehre von der Struktur der Materie ging er von „den qualitativ homogenen und identischen Elementen" aus, wobei die Elemente als „unveränderlich, undurchdringlich" usw. zu betrachten waren. Die Physik „konstruierte ein reales Gebäude aus realen Materialien und realem Mörtel. Der Physiker verfügte über die materiellen Elemente, die Ursachen und die Art ihres Wirkens, über die realen Gesetze ihres Wirkens". (S. 33–38.) „Die Modifikationen in der Auffassung der Physik bestehen vornehmlich darin, dass der ontologische Wert der Theorien abgelehnt und die phänomenologische Bedeutung der Physik außerordentlich betont wird." Die konzeptualistische Auffassung hat es mit „reinen Abstraktionen" zu tun, sie „sucht nach einer rein abstrakten Theorie, die möglichst die Hypothese der Materie ausschalten soll". „Der Begriff der Energie wird zum Unterbau (substructure) der neuen Physik, und daher kann die konzeptualistische Physik größtenteils als energetische Physik bezeichnet werden," obzwar diese Bezeichnung zum Beispiel auf einen solchen Vertreter der konzeptualistischen Physik wie Mach schlecht passt. (S. 46.)

Diese Vermengung von Energetik mit Machismus bei Rey ist selbstverständlich nicht ganz richtig, ebenso wie die Versicherung, dass auch die neomechanistische Schule, bei all ihrer tiefgehenden Divergenz mit den Konzeptualisten, zur phänomenologischen Auffassung der Physik gelange. (S. 48.) Die „neue" Terminologie von Rey hellt die Sache nicht auf, sondern verdunkelt sie; sie ließ sich aber nicht vermeiden, wollte man dem Leser einen Begriff von der Auffassung eines „Positivisten" über die Krise in der Physik geben. Dem Wesen der Sache nach deckt sich die Gegenüberstellung der „neuen" Schule und der alten Auffassung, wie der Leser sich vergewissern konnte, durchaus mit der oben angeführten Kritik, die Kleinpeter an Helmholtz übte. Bei der Wiedergabe der Auffassung der verschiedenen Physiker spiegelt Rey in seiner Darstellung die ganze Unbestimmtheit und Vagheit ihrer philosophischen Anschauungen wider. Das Wesen der Krise der modernen Physik besteht in dem Zusammenbruch der alten Gesetze und Grundprinzipien, in der Preisgabe der objektiven Realität außerhalb des Bewusstseins, d. h. in der Ersetzung des Materialismus durch den Idealismus und Agnostizismus. „Die Materie ist verschwunden" – so kann man die fundamentale und in Bezug auf manche Einzelfrage typische Schwierigkeit, die diese Krise geschaffen hat, ausdrücken. Bei dieser Schwierigkeit wollen wir auch verweilen.

2. „Die Materie ist verschwunden"

Einen solchen Ausspruch kann man wörtlich bei den modernen Physikern bei der Schilderung der neuesten Entdeckungen finden. L. Houllevigue betitelte z. B. in seinem Buch: „Die Evolution der Wissenschaften" das Kapitel über die neuen Theorien der Materie: „Existiert die Materie?" „Das Atom entmaterialisiert sich“ – sagt er dort –, „die Materie verschwindet."A Um zu sehen, wie leicht die Machisten daraus weitgehende philosophische Schlüsse ziehen, genügt es, auch nur Valentinow zu nehmen.

Die Behauptung, dass die wissenschaftliche Erklärung der Welt nur im Materialismus eine feste Begründung gewinnen könne, ist nichts weiter als eine Erfindung – schreibt er – und überdies eine unsinnige Erfindung." (S. 67.)

Als Vernichter dieser unsinnigen Erfindung wird der bekannte italienische Physiker Augusto Righi zitiert, der sagt, dass die Elektronentheorie „nicht so sehr eine Theorie der Elektrizität als vielmehr der Materie sei; das neue System setzt geradezu die Elektrizität an die Stelle der Materie".B

Indem er diese Worte zitiert (S. 64), ruft Herr Valentinow aus:

Wieso kommt Augusto Righi dazu, gegen die heilige Materie diese Beleidigung zu schleudern? Vielleicht, weil er Solipsist, Idealist, bürgerlicher Kritizist irgendein Empiriomonist oder gar noch Schlimmeres ist?"

Diese Bemerkung gegen die Materialisten, die Herrn Valentinow furchtbar bissig dünkt, zeigt seine ganze jungfräuliche Unschuld in der Frage des philosophischen Materialismus. Worin der wirkliche Zusammenhang des philosophischen Idealismus mit dem „Verschwinden der Materie" besteht, das hat Herr Valentinow absolut nicht kapiert. Dagegen hat jenes „Verschwinden der Materie", wovon er, den modernen Physikern folgend, spricht, nichts zu schaffen mit der erkenntnistheoretischen Unterscheidung von Materialismus und Idealismus. Um das zu erläutern, nehmen wir einen der konsequentesten und klarsten Machisten, Karl Pearson. Die physische Welt besteht für ihn aus Gruppen von Sinneswahrnehmungen. „Unser Erkenntnismodell der physischen Welt" illustriert er durch folgendes Diagramm, mit dem Vorbehalt, dass die Größenverhältnisse in diesem Diagramm außer acht gelassen sind (S. 282, „The grammar of science"):

Zur Vereinfachung seines Diagramms ließ Pearson die Frage nach dem Verhältnis von Äther und Elektrizität oder von positiven und negativen Elektronen ganz fallen. Das ist jedoch nicht wichtig. Von Wichtigkeit ist, dass der idealistische Standpunkt Pearsons die „Körper" für Sinneswahrnehmungen nimmt; die Zusammensetzung dieser Körper aus Partikeln, der Partikeln aus Molekülen usw. dagegen betrifft schon die Veränderungen am Modell der physischen Welt, auf keinen Fall aber die Frage, ob die Körper Symbole der Empfindungen oder die Empfindungen Abbilder der Körper seien. Materialismus und Idealismus unterscheiden sich durch die eine oder die andere Lösung der Frage nach der Quelle unserer Erkenntnis, nach dem Verhältnis der Erkenntnis (und des „Psychischen" überhaupt) zur physischen Welt; die Frage der Struktur der Materie, der Atome und Elektronen, ist aber eine Frage, die ausschließlich diese „physische Welt" betrifft. Wenn die Physiker sagen: „die Materie verschwindet", so wollen sie damit sagen, dass die Naturwissenschaft bisher alle ihre Forschungen über die physische Welt auf die drei letzten Begriffe: Materie, Elektrizität und Äther zurückführte; jetzt dagegen bleiben nur die zwei letzten übrig, denn es gelingt, die Materie auf Elektrizität zurückzuführen. Es gelingt, das Atom als eine Art unendlich kleinen Sonnensystems zu erklären, innerhalb dessen sich um das positive Elektron mit einer bestimmten (und wie wir gesehen haben, unermesslich großen) Geschwindigkeit die negativen Elektronen bewegen. Anstatt auf Dutzende von Elementen, gelingt es folglich, die physische Welt auf zwei oder drei zurückzuführen (sofern das positive und das negative Elektron „zwei wesentlich verschiedene Stoffe" bilden, wie der Physiker W. Pellat meint – Rey, l. c, S. 294 u. 295.) Die Naturwissenschaft führt also zur „Einheit der Materie" (ebendaC) – das ist der wirkliche Inhalt jener Phrase vom Verschwinden der Materie, von der Ersetzung der Materie durch Elektrizität usw., die so viele Köpfe verwirrt. „Die Materie verschwindet" heißt: es verschwindet jene Grenze, bis zu welcher wir bis dahin die Materie kannten, heißt: unsere Kenntnis reicht tiefer; es verschwinden solche Eigenschaften der Materie, die früher als absolut, unveränderlich, ursprünglich gegolten haben (die Undurchdringlichkeit, die Trägheit, die Masse usw.) und die sich nunmehr als relativ, nur einigen Zuständen der Materie eigen entpuppen. Denn die einzige „Eigenschaft" der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus geknüpft ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewusstseins zu existieren.

Der Fehler des Machismus überhaupt wie der neuen machistischen Physik besteht darin, dass diese Grundlage des philosophischen Materialismus und der Unterschied zwischen metaphysischem und dialektischem Materialismus ignoriert wird. Die Annahme irgendwelcher unveränderlicher Elemente, eines „unveränderlichen Wesens der Dinge" usw. ist kein dialektischer Materialismus, es ist vielmehr metaphysischer, d. h. antidialektischer Materialismus. Deswegen betonte auch J. Dietzgen, dass „das Objekt aller Wissenschaft ein unendliches ist", dass nicht nur das Unendliche unermesslich, unauskenntlich, unerschöpflich ist, sondern auch das „kleinste Atömchen", denn „die Natur ist sowohl im Ganzen wie in allen Teilen ohne Anfang und Ende". („Kleinere philosophische Schriften", S. 229 u. 230.) Deswegen hat auch Engels sein Beispiel der Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer angeführt und den mechanischen Materialismus kritisiert. Um die Frage vom einzig richtigen, d. h. dialektisch-materialistischen Standpunkt zu stellen, hat man zu fragen: existieren Elektronen, Äther und so weiter außerhalb des menschlichen Bewusstseins, als objektive Realität oder nicht? Auf diese Frage müssen die Naturforscher ohne Zögern antworten, und sie antworten auch beständig mit ja, ebenso wie sie ohne Zögern die Existenz der Natur vor der des Menschen und der organischen Materie anerkennen. Und damit wird die Frage zugunsten des Materialismus entschieden, denn der Begriff der Materie bedeutet erkenntnistheoretisch, wie wir bereits sagten, nichts anderes als: die objektive, unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierende und von ihm abgebildete Realität.

Aber der dialektische Materialismus betont den annähernden, relativen Charakter jeder wissenschaftlichen These über die Struktur der Materie und ihre Eigenschaften, das Nichtvorhandensein absoluter Grenzen in der Natur, die Verwandlung der sich bewegenden Materie aus einem Zustand in einen anderen, die von unserem Standpunkt aus anscheinend doch damit nicht zu vereinbaren ist usw. Mag vom Standpunkte des „gesunden Menschenverstandes" die Verwandlung des unwägbaren Äthers in wägbare Materie noch so wunderlich, das Fehlen jeder anderen als elektromagnetischen Masse beim Elektron noch so „seltsam", die Beschränkung der mechanischen Bewegungsgesetze auf nur ein Gebiet der Naturerscheinungen und ihre Unterordnung unter die tieferen Gesetze der elektromagnetischen Erscheinungen noch so ungewöhnlich sein usw., – das alles ist nur eine weitere Bestätigung des dialektischen Materialismus. Die neue Physik ist hauptsächlich gerade deswegen in den Idealismus hineingeraten, weil die Physiker die Dialektik nicht kannten. Sie kämpften gegen den metaphysischen (im Engelsschen, nicht im positivistischen, d. h. Humeschen Sinne des Wortes) Materialismus, gegen seine „mechanische Einseitigkeit" und schütteten dabei das Kind mit dem Bade aus. Die Unveränderlichkeit der bis dahin bekannten Elemente und Eigenschaften der Materie verneinend, gelangten sie zur Verneinung der Materie selbst, d. h. der objektiven Realität der physischen Welt. Den absoluten Charakter der wichtigsten und fundamentalsten Gesetze verneinend, gerieten sie dahin, jede objektive Gesetzmäßigkeit in der Natur zu verneinen, die Naturgesetze für bloße Konvention, für „Erwartungsbeschränkung", für „logische Notwendigkeit" usw. auszugeben. Auf dem annähernden, relativen Charakter unserer Erkenntnisse bestehend, gelangten sie zur Verneinung des von unserer Erkenntnis unabhängigen Objekts, das annähernd treu, relativ richtig von dieser Erkenntnis widergespiegelt wird; usw. usf. ins Unendliche.

Die Raisonnements Bogdanows im Jahre 1899 über das „unveränderliche Wesen der Dinge", die Raisonnements Valentinows und Juschkewitschs über die „Substanz" usw. – das alles ist gleichfalls das Produkt der Unkenntnis der Dialektik. Unveränderlich ist vom Engelsschen Standpunkt nur eines: die Widerspiegelung im menschlichen Bewusstsein (wenn menschliches Bewusstsein schon existiert) der unabhängig von ihm existierenden und sich entwickelnden äußeren Welt. Irgendeine andere „Unveränderlichkeit", irgendeine andere „Wesenheit", irgendeine andere „absolute Substanz" in dem Sinne, in dem die müßige professorale Philosophie diese Begriffe ausmalte, existiert für Marx und Engels nicht. Die „Wesenheit" der Dinge oder die „Substanz" ist auch relativ; sie bringt nur die Vertiefung der menschlichen Erkenntnis der Objekte zum Ausdruck, und wenn gestern diese Vertiefung nicht weiter als bis zum Atom reichte, heute nicht weiter als bis zum Elektron und Äther, so betont der dialektische Materialismus den zeitlichen, relativen, annähernden Charakter aller dieser Absteckpfähle in der Erkenntnis der Natur durch die fortschreitende Wissenschaft des Menschen. Das Elektron ist ebenso unerschöpflich, wie das Atom, die Natur ist unendlich, aber sie existiert unendlich, und eben diese einzig kategorische, einzig bedingungslose Anerkennung ihrer Existenz außerhalb des Bewusstseins und außerhalb der Empfindung des Menschen unterscheidet den dialektischen Materialismus vom relativistischen Agnostizismus und vom Idealismus.

Wir wollen zwei Beispiele dafür anführen, wie die neue Physik unbewusst und instinktiv zwischen dem dialektischen Materialismus, der den bürgerlichen Gelehrten verschlossen bleibt, und dem „Phänomenalismus" mit seinen unvermeidlichen subjektivistischen (und manchmal geradezu fideistischen) Konsequenzen hin und her pendelt.

Derselbe Augusto Righi, den Herr Valentinow nicht über die ihn interessierende Frage des Materialismus zu befragen verstand, schreibt in der Einleitung zu seinem Buch:

Was eigentlich die Elektronen oder elektrischen Atome sind, bleibt auch jetzt noch ein Geheimnis; dessen ungeachtet aber ist es der neuen Theorie vielleicht gegeben, mit der Zeit auch eine nicht geringe philosophische Bedeutung zu erlangen, insofern sie betreffs der Struktur der ponderablen Materie zu völlig neuen Annahmen kommt und sämtliche Erscheinungen der Außenwelt auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen strebt

Für die positivistischen und utilitaristischen Tendenzen unserer Zeit mag ein derartiger Vorteil nicht viel bedeuten, und mag eine Theorie in erster Linie nur als ein Mittel gelten, um die Tatsachen auf bequeme Weise zu ordnen und zusammenzustellen, und um bei der Suche nach weiteren Erscheinungen als Führer zu dienen. Aber wenn frühere Zeiten den Fähigkeiten des menschlichen Geistes vielleicht ein allzu großes Vertrauen schenkten und zu leicht schon die letzten Ursachen aller Dinge mit den Händen zu fassen meinten, so ist man heute geneigt, in den entgegengesetzten Fehler zu verfallen." (l. c, S. 3.)

Warum grenzt sich hier Righi von den positivistischen und utilitaristischen Tendenzen ab? Weil er, der augenscheinlich keinen bestimmten philosophischen Standpunkt hat, instinktiv an der Realität der Außenwelt festhält und die neue Theorie anerkennt nicht nur als „Bequemlichkeit" (Poincaré), nicht nur als „Empiriosymbol" (Juschkewitsch), nicht nur als „Harmonisierung" der Erfahrung (Bogdanow) und wie derartige subjektivistische Schrullen sonst noch heißen mögen, sondern als einen weiteren Schritt in der Erkenntnis der objektiven Realität. Wäre dieser Physiker mit dem dialektischen Materialismus vertraut gewesen, so wäre sein Urteil über den dem alten metaphysischen Materialismus entgegengesetzten Fehler vielleicht zum Ausgangspunkt einer richtigen Philosophie geworden. Aber das ganze Milieu, in dem diese Leute leben, stößt sie von Marx und Engels ab und treibt sie in die Arme der faden offiziellen Philosophie.

Auch Rey kennt absolut nicht die Dialektik. Doch ist auch er gezwungen, zu konstatieren, dass unter den neuesten Physikern solche vorhanden sind, die die Überlieferungen des „Mechanismus" (d. h. des Materialismus) weiterführen. Dem Wege des „Mechanismus" sagt er, folgen nicht nur Kirchhoff, Hertz, Boltzmann, Maxwell, Helmholtz, Lord Kelvin.

Reine Mechanisten und von einem gewissen Standpunkt aus noch mechanistischer als alle anderen, ja die extremsten (l'aboutissant) Vertreter des Mechanismus sind jene, die mit Lorentz und Larmor eine elektrische Theorie der Materie formulieren und zur Leugnung der Konstanz der Masse gelangen, indem sie aus dieser eine Funktion der Bewegung machen. Alle sind sie Mechanisten, weil sie die realen Bewegungen zum Ausgangspunkt nehmen." (Gesperrt von Rey, S. 290 u. 291.)

Würden die neuen Hypothesen von Lorentz, Larmor und Langevin durch die Erfahrung bestätigt werden und eine genügend feste Basis für die Systematisierung der Physik bekommen, dann würde feststehen, dass die Gesetze der gegenwärtigen Mechanik von den Gesetzen des Elektromechanismus abhängen; die Gesetze der Mechanik wären ein Spezialfall und auf streng bestimmte Grenzen beschränkt. Die Konstanz der Masse, unser Trägheitsprinzip wären dann nur für die mittleren Geschwindigkeiten der Körper gültig, wobei der Ausdruck „mittlere" im Verhältnis zu unseren Sinnen und zu den Erscheinungen, die unsere gewöhnliche Erfahrung ausmachen, zu verstehen ist. Eine allgemeine Umgestaltung der Mechanik wäre unumgänglich und folglich auch eine allgemeine Umgestaltung der Physik als System." (S. 275.)

Würde das den Verzicht auf den Mechanismus bedeuten? Keineswegs. Die rein mechanistische Tradition würde nach wie vor bewahrt bleiben, der Mechanismus würde die normale Bahn seiner Entwicklung weiter verfolgen." (S. 295.)

Die Elektronenphysik, welche (dem Geiste nach) zu den mechanistischen Theorien zu zählen ist, hat die Tendenz, ihre Systembildung auf die gesamte Physik auszudehnen. Ihr Geist ist ein mechanistischer, wenn auch die Hauptprinzipien der Physik nicht mehr durch die Mechanik, sondern durch die experimentellen Daten der Elektrizitätstheorie geliefert werden, und zwar:

1. Weil sie anschauliche (figures), materielle Elemente verwendet, um die physikalischen Eigenschaften und deren Gesetze darzustellen (sie drückt sich in Termini der Wahrnehmung aus).

2. Betrachtet sie auch nicht mehr die physikalischen Erscheinungen als Sonderfälle der mechanischen Prozesse, so doch die mechanischen Prozesse als einen Sonderfall der physikalischen Erscheinungen. Die Gesetze der Mechanik bleiben somit in unmittelbarem Zusammenhange mit denen der Physik; die Begriffe der Mechanik bleiben Begriffe derselben Art wie die physiko-chemischen. Im traditionellen Mechanismus waren diese Begriffe das Konterfei (calqués) von relativ langsamen Bewegungen, die, da nur sie allein bekannt und der direkten Beobachtung zugänglich waren …, für die Vorbilder aller möglichen Bewegungen gehalten wurden. Die neuen Experimente haben gezeigt, dass unsere Vorstellung von den möglichen Bewegungen erweitert werden muss. Die traditionelle Mechanik bleibt zwar im Ganzen unangetastet, aber sie ist nunmehr anwendbar nur auf die relativ langsamen Bewegungen … Für große Geschwindigkeiten sind die Bewegungsgesetze andere. Die Materie wird auf elektrische Partikeln, die letzten Elemente des Atoms zurückgeführt …

3. Die Bewegung, der Raumwechsel bleibt das einzige anschauliche (figuré) Element der physikalischen Theorie.

4. Schließlich – und vom Standpunkt des allgemeinen Geistes der Physik steht diese Erwägung höher als alle anderen – bleibt die Auffassung von der Physik, ihrer Methode, ihrer Theorie und ihrem Verhältnis zur Erfahrung absolut identisch mit der des Mechanismus, mit der Theorie der Physik seit der Renaissance." (S. 47.)

Ich habe diese langen Auszüge aus Rey angeführt, weil es sonst, angesichts seiner fortwährenden ängstlichen Bemühungen, der „materialistischen Metaphysik" zu entgehen, unmöglich gewesen wäre, seine Behauptung darzulegen. So sehr aber Rey und die Physiker, von denen er handelt, den Materialismus abschwören mögen, es bleibt dennoch außer Zweifel, dass die Mechanik das Konterfei der langsamen realen Bewegungen war, während die neue Physik ein Konterfei der gigantisch schnellen realen Bewegungen ist. Die Anerkennung der Theorie als Konterfei, als annähernde Kopie der objektiven Realität – darin besteht eben der Materialismus. Wenn Rey sagt, dass unter den neuen Physikern eine „Reaktion gegen die konzeptualistische (machistische) und energetische Schule" zu verzeichnen sei, und wenn er unter die Vertreter dieser Reaktion die Physiker der Elektronentheorie einreiht (S. 46), so könnten wir uns eine bessere Bestätigung der Tatsache gar nicht wünschen, dass im Grunde genommen der Kampf zwischen den materialistischen und den idealistischen Tendenzen vor sich geht. Man darf nur nicht vergessen, dass bei den hervorragendsten Theoretikern, neben den allgemeinen Vorurteilen des gesamten gebildeten Spießertums gegen den Materialismus, sich noch die völlige Unkenntnis der Dialektik geltend macht.

3. Ist Bewegung ohne Materie denkbar?

Die Ausschlachtung der neuen Physik durch den philosophischen Idealismus oder die idealistischen Folgerungen daraus werden nicht dadurch verursacht, dass etwa neue Arten von Stoff und Kraft, von Materie und Bewegung entdeckt werden, sondern dadurch, dass der Versuch gemacht wird, sich Bewegung ohne Materie zu denken. Eben diesen Versuch lassen unsere Machisten im Wesentlichen unerörtert. Sich mit der These von Engels, dass „Bewegung ohne Materie undenkbar ist", auseinanderzusetzen, behagte ihnen nicht. J. Dietzgen hat bereits im Jahre 1869 in seinem „Wesen der menschlichen Kopfarbeit" denselben Gedanken wie Engels ausgesprochen, allerdings nicht ohne seine üblichen konfusen Versuche, den Materialismus mit dem Idealismus zu „versöhnen". Lassen wir diese Versuche, die zu einem erheblichen Teil sich dadurch erklären lassen, dass Dietzgen gegen den Materialismus Büchners, dem die Dialektik fremd war, polemisiert, auf sich beruhen und sehen wir uns die eigenen Erklärungen Dietzgens in der uns interessierenden Frage an.

Sie (die Idealisten) wollen“ – sagt Dietzgen – „das Allgemeine ohne Besonderes, Geist ohne Materie, Kraft ohne Stoff, Wissenschaft ohne Erfahrung oder Material, Absolutes ohne Relatives." („Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit", 1903, S. 108.)

Also, das Bestreben, die Bewegung von der Materie, die Kraft vom Stoff zu trennen, verbindet Dietzgen mit dem Idealismus, stellt er in eine Reihe mit dem Bestreben, den Gedanken vom Gehirn zu trennen.

Liebig“ – fährt Dietzgen fort –, „der es besonders liebt, von seiner induktiven Wissenschaft hinüber zur Spekulation abzuschweifen, sagt im Sinne des Idealismus: ,Die Kraft lässt sich nicht sehen'." (S. 109.) „Der Spiritualist oder Idealist glaubt an ein geistiges, d. h. gespenstiges, unerklärbares Wesen der Kraft." (S. 110.) „Der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff ist so alt, wie der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus." (S. 111.) „Allerdings, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern… Geisterseher." (S. 114.)

Wir ersehen daraus, dass es vor vierzig Jahren ebenfalls Naturforscher gegeben hat, die die Denkbarkeit der Bewegung ohne Materie anzunehmen bereit waren, und dass Dietzgen sie „in diesem Punkt" für Geisterseher erklärte. Worin besteht nun der Zusammenhang des philosophischen Idealismus mit der Trennung der Materie von der Bewegung, mit der Entfernung des Stoffs von der Kraft? Wäre es denn wirklich nicht „ökonomischer", die Bewegung ohne Materie zu denken?

Stellen wir uns einen konsequenten Idealisten vor, der, sagen wir, auf dem Standpunkt steht, dass die ganze Welt meine Empfindung oder meine Vorstellung usw. sei (nimmt man die Empfindung oder Vorstellung eines „Niemand" an, so ändert sich dadurch nur die Spielart des philosophischen Idealismus, nicht aber sein Wesen). Der Idealist denkt gar nicht daran, zu leugnen, dass die Welt Bewegung ist, nämlich: die Bewegung meiner Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen. Die Frage, was sich bewegt, wird der Idealist ablehnen und für unsinnig halten: es findet ein Wechsel meiner Empfindungen statt, es vergehen und entstehen Vorstellungen, weiter nichts. Außer mir gibt es nichts. „Es bewegt sich", und damit basta! Ein „ökonomischeres" Denken kann man sich nicht vorstellen. Und durch keinerlei Argumente, Syllogismen, Definitionen kann man den Solipsisten widerlegen, wenn er seine Auffassung konsequent durchführt.

Der grundlegende Unterschied des Materialisten von dem Anhänger der idealistischen Philosophie besteht darin, dass der Materialist die Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und überhaupt das Bewusstsein der Menschen für das Abbild der objektiven Realität nimmt. Die Welt ist die Bewegung dieser objektiven Realität, die sich in unserem Bewusstsein widerspiegelt. Der Bewegung der Vorstellungen, Wahrnehmungen usw. entspricht die Bewegung der Materie außer mir. Der Begriff der Materie drückt nichts anderes aus als die objektive Realität, die uns in der Empfindung gegeben ist. Daher ist die Trennung der Bewegung von der Materie gleichbedeutend mit der Trennung des Denkens von der objektiven Realität, der Trennung meiner Empfindungen von der Außenwelt, d.h. mit dem Übergang auf die Seite des Idealismus. Das Kunststück, das gewöhnlich mit der Leugnung der Materie, mit der Annahme von Bewegung ohne Materie vollführt wird, besteht darin, dass man sich über die Beziehung der Materie zum Gedanken ausschweigt. Man stellt die Sache so dar, als ob diese Beziehung gar nicht existierte, während man sie in Wirklichkeit heimlich einschmuggelt; man lässt sie am Anfang der Betrachtung unausgesprochen, doch taucht sie am Schluss mehr oder weniger unmerklich auf.

Die Materie ist verschwunden, sagt man uns in der Absicht, daraus erkenntnistheoretische Folgerungen zu ziehen. Ist aber der Gedanke geblieben? – fragen wir. Wenn nicht, wenn mit der verschwundenen Materie auch der Gedanke verschwunden ist, wenn mit dem verschwundenen Gehirn und Nervensystem auch die Vorstellungen und Empfindungen verschwunden sind, dann ist also alles verschwunden, dann ist auch eure Betrachtung als Ausdruck irgendeines „Gedankens" (oder der Gedankenlosigkeit) verschwunden! Wenn aber ja, wenn beim Verschwinden der Materie der nicht verschwundene Gedanke (Vorstellung, Empfindung usw.) vorausgesetzt wird, dann seid ihr also heimlich auf den Standpunkt des philosophischen Idealismus übergegangen. Das eben passiert immer mit Leuten, die aus „Ökonomie" die Bewegung ohne Materie denken wollen, denn stillschweigend schon allein dadurch, dass sie ihre Betrachtung fortsetzen, geben sie ja die Existenz des Gedankens nach dem Verschwinden der Materie zu.

Das aber bedeutet, dass ein sehr einfacher oder ein sehr komplizierter philosophischer Idealismus zur Grundlage genommen wird: ein sehr einfacher, wenn die Sache offen auf den Solipsismus hinausläuft (ich existiere, die ganze Welt ist nur meine Empfindung); ein sehr komplizierter, wenn an Stelle des Gedankens, der Vorstellung, der Empfindung des lebendigen Menschen eine tote Abstraktion genommen wird: Niemandes Gedanken, Niemandes Vorstellung, Niemandes Empfindung, der Gedanke überhaupt (die absolute Idee, der Universalwille usw.), die Empfindung als ein unbestimmtes „Element", das „Psychische", das für die ganze physische Natur substituiert wird usw. usf. Unter den Spielarten des philosophischen Idealismus sind dabei tausenderlei Nuancen möglich, und man kann jederzeit noch eine tausendunderste Nuance schaffen; dem Urheber eines derartigen tausendundersten Systemchens (z.B. des Empiriomonismus) mag sein Unterschied von den anderen wichtig dünken, vom Standpunkte des Materialismus sind diese Unterschiede unwesentlich. Wesentlich ist der Ausgangspunkt. Wesentlich ist, dass der Versuch, die Bewegung ohne Materie zu denken, den von der Materie losgetrennten Gedanken einschmuggelt, und das ist eben philosophischer Idealismus.

Deshalb beginnt z. B. der englische Machist Karl Pearson, der klarste, konsequenteste, allen Wortausflüchten abholde Machist, das VII., der „Materie" gewidmete Kapitel seines Buches direkt mit einem Paragraph, der den charakteristischen Titel trägt: „Alle Dinge bewegen sich, aber nur im Begriffe" („All things move – but only in conception"). „In Bezug auf die Wahrnehmungen ist die Frage eitel (it is idle to ask), was sich bewege und warum es sich bewege" („The grammar of science", S. 243).

Deshalb begann auch bei Bogdanow sein philosophisches Missgeschick eigentlich schon vor seiner Bekanntschaft mit Mach, es begann mit dem Augenblick, als er dem großen Chemiker und kleinen Philosophen Ostwald Glauben schenkte, dass man Bewegung ohne Materie denken könne. Es ist um so angebrachter, bei dieser längst vergangenen Episode der philosophischen Entwicklung Bogdanows zu verweilen, da es unmöglich ist, Ostwalds „Energetik" zu übergehen, wenn man über den Zusammenhang des philosophischen Idealismus mit gewissen Strömungen in der neuen Physik spricht.

Wir sagten schon“ – schrieb Bogdanow 1899 , „dass es dem XIX. Jahrhundert nicht gelungen ist, die Frage des ,unveränderlichen Wesens der Dinge' endgültig zu lösen. Dieses Wesen spielt sogar eine gewichtige Rolle in der Weltanschauung der fortgeschrittensten Denker des Jahrhunderts unter dem Namen ,Materie'." („Grundelemente der historischen Auffassung der Natur", S. 38.)

Wir sagten, dass das Konfusion ist. Hier wird die Anerkennung der objektiven Realität der Außenwelt, die Anerkennung der Existenz einer außerhalb unseres Bewusstseins sich ewig bewegenden und ewig verändernden Materie mit der Anerkennung des unveränderlichen Wesens der Dinge durcheinander geworfen. Es ist unmöglich anzunehmen, dass Bogdanow im Jahre 1899 Marx und Engels nicht zu den „fortgeschrittenen Denkern" gezählt haben sollte. Er begriff aber offenbar den dialektischen Materialismus nicht.

Noch immer unterscheidet man gewöhnlich zwei Seiten der Naturvorgänge: die Materie und ihre Bewegung. Man kann nicht sagen, dass der Begriff Materie sich durch große Klarheit auszeichnet. Auf die Frage, was denn Materie sei, ist nicht leicht eine befriedigende Antwort zu geben. Man definiert sie als ,Ursache der Empfindungen' oder als ,ständige Möglichkeit der Empfindungen'; es ist aber einleuchtend, dass die Materie hier mit der Bewegung vermengt ist …"

Es ist offensichtlich, dass Bogdanow hier unrichtige Betrachtungen anstellt. Nicht genug, dass er die materialistische Anerkennung der objektiven Quelle der Empfindungen (unklar formuliert in den Worten „Ursache der Empfindungen") mit der agnostischen Millschen Definition der Materie als ständiger Möglichkeit der Empfindungen verwechselt. Der Grundfehler ist hier der, dass der Verfasser, nachdem er hart an die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz einer objektiven Quelle der Empfindungen herangetreten ist, diese Frage auf halbem Wege liegen lässt und auf die andere Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz von Materie ohne Bewegung überspringt. Der Idealist kann die Welt für die Bewegung unserer Empfindungen halten (mögen sie auch „sozial organisiert" und im höchsten Grade „harmonisiert" sein); der Materialist – für die Bewegung der objektiven Quelle, des objektiven Modells unserer Empfindungen. Der metaphysische, d. h. antidialektische Materialist kann die Existenz von Materie ohne Bewegung annehmen (sei es auch nur zeitlich, vor dem „ersten Anstoß"). Der dialektische Materialist hält nicht nur die Bewegung für eine unzertrennliche Eigenschaft der Materie, sondern er lehnt auch die vereinfachte Auffassung der Bewegung ab usw.

„… Am genauesten wäre vielleicht folgende Definition: ,Materie ist das, was sich bewegt'; doch wäre dies ebenso inhaltslos, als wenn wir sagen würden: die Materie ist das Subjekt eines Satzes, dessen Prädikat ,sich bewegt'. Indessen dürfte wohl die Sache sich so verhalten, dass die Menschen in der Epoche der Statik sich gewöhnt haben, in der Rolle des Subjekts durchaus irgend etwas Solides, irgendeinen Gegenstand' zu sehen; ein für das statische Denken so unbequemes Ding aber, wie die ,Bewegung', wollten sie lediglich in der Eigenschaft als Prädikat, als eines der Attribute der ,Materie' dulden."

Das ist schon ganz in der Art jener Akimowschen Beschuldigung gegen die „Iskra"-Anhänger, dass in ihrem Programm das Wort Proletariat niemals im Nominativ vorkäme! Ob wir sagen: die Welt ist die sich bewegende Materie, oder: die Welt ist die materielle Bewegung, – dadurch wird die Sache nicht anders.

. … Die Energie muss doch einen Träger haben!" sagen die Anhänger der Materie. „Warum denn?" entgegnet mit Recht Ostwald. – „Ist denn die Natur verpflichtet, zusammengesetzt zu sein aus Subjekt und Prädikat?" (S. 39.)

Die Antwort Ostwalds, die im Jahre 1899 Bogdanows Beifall gefunden hatte, ist ein einfacher Sophismus. Sind denn – könnte man Ostwald antworten –- unsere Urteile verpflichtet, aus Elektronen und Äther zu bestehen? Tatsächlich bedeutet die gedankliche Entfernung der Materie als des „Subjekts" aus der „Natur" die stillschweigende Aufnahme des Gedankens als „Subjekt" (d. h. etwas Ursprüngliches, Ausgangspunktbildendes, von der Materie Unabhängiges) in die Philosophie. Nicht das Subjekt wird beseitigt, sondern die objektive Quelle der Empfindung, und die Empfindung wird zum „Subjekt", d. h. die Philosophie wird berkeleyanisch, mag man später das Wort Empfindung maskieren, wie man will. Ostwald versuchte, der unvermeidlichen philosophischen Alternative (Materialismus oder Idealismus) vermittels einer unbestimmten Anwendung des Wortes ,.Energie" zu entgehen, aber gerade sein Versuch zeigt wieder einmal die Vergeblichkeit derartiger Kunstgriffe. Wenn die Energie Bewegung ist, so habt ihr nur die Schwierigkeit vom Subjekt auf das Prädikat verschoben, so habt ihr nur die Frage, ob die Materie sich bewege, umgestellt in die Frage, ob die Energie materiell sei. Geschieht die Verwandlung der Energie außerhalb meines Bewusstseins, unabhängig von dem Menschen und der Menschheit, oder sind das nur Ideen, Symbole, konventionelle Zeichen usw.? An dieser Frage hat sich auch die „energetische" Philosophie, dieser Versuch, durch eine neue Terminologie die alten erkenntnistheoretischen Fehler zu verwischen, den Hals gebrochen.

Hier ein paar Beispiele dafür, in welche Verwirrung der Energetiker Ostwald geraten ist. Im Vorwort zu seinen „Vorlesungen über Naturphilosophie"D erklärt er, dass ihm

die einfache und natürliche Aufhebung der alten Schwierigkeiten, welche der Vereinigung der Begriffe Materie und Geist sich entgegenstellen, durch die Unterordnung beider unter den Begriff der Energie als ein großer Gewinn erscheint."

Das ist kein Gewinn, sondern ein Verlust, denn die Frage, ob die erkenntnistheoretische Untersuchung (Ostwald ist sich dessen nicht klar bewusst, dass er eben eine erkenntnistheoretische und keine chemische Frage stellt) in materialistischer oder idealistischer Richtung geführt werden soll, wird durch den willkürlichen Gebrauch des Wortes „Energie" nicht gelöst, sondern verwirrt. Freilich, wenn man unter diesen Begriff sowohl Geist als auch Materie „unterordnet", dann ist der Gegensatz in Worten unzweifelhaft aufgehoben, aber die Absurdität der Lehre von den Wald- und Hausgeistern wird doch nicht dadurch verschwinden, dass wir sie „energetisch" nennen. Auf Seite 394 der „Vorlesungen" Ostwalds lesen wir:

Dass nun aber äußere Geschehnisse sich als Vorgänge zwischen Energien darstellen lassen, erfährt seine einfachste Deutung, wenn eben unsere Bewusstseinsvorgänge selbst energetische sind und diese ihre Beschaffenheit allen äußeren Erscheinungen aufprägen."

Das ist reinster Idealismus: nicht unser Gedanke spiegelt die Verwandlung der Energie in der Außenwelt, sondern die Außenwelt spiegelt die „Beschaffenheit" unseres Bewusstseins wider! Der amerikanische Philosoph Hibben sagt sehr treffend, indem er auf diese und andere ähnliche Stellen der „Vorlesungen" Ostwalds hinweist, dass Ostwald hier „im Kostüm des Kantianismus auftritt": die Erklärbarkeit der Erscheinungen der Außenwelt wird aus den Eigenschaften unseres Geistes abgeleitet.E

Es ist klar“ – sagt Hibben –, „wenn wir den ursprünglichen Begriff der Energie so definieren, dass er auch psychische Erscheinungen einschließt, so wird das schon nicht mehr jener einfache Begriff der Energie sein, wie er in den wissenschaftlichen Kreisen und sogar von den Energetikern selbst verstanden wird."

Die Verwandlung der Energie wird von der Naturwissenschaft als ein objektiver, vom Bewusstsein des Menschen und von der Erfahrung der Menschheit unabhängiger Vorgang betrachtet, d. h. sie wird materialistisch betrachtet. Auch bei Ostwald selbst wird in einer Unmenge von Fällen, wahrscheinlich sogar in der Mehrzahl der Fälle, unter Energie die materielle Bewegung verstanden.

Daher auch die originelle Erscheinung, dass Ostwalds Schüler Bogdanow, nachdem er zum Jünger Machs geworden, Ostwald Vorwürfe zu machen begann, und zwar nicht deswegen, weil er die materialistische Auffassung der Energie nicht konsequent durchführt, sondern weil er die materialistische Auffassung der Energie zulässt (sie manchmal sogar zugrunde legt). Die Materialisten üben an Ostwald Kritik deswegen, weil er in den Idealismus verfällt, weil er den Materialismus mit dem Idealismus auszusöhnen sucht. Bogdanow kritisiert Ostwald vom idealistischen Standpunkt:

„… Die dem Atomismus feindliche, im Übrigen aber dem alten Materialismus nahe verwandte Energetik Ostwalds“ – schreibt Bogdanow im Jahre 1906 – „hat meine wärmsten Sympathien erweckt. Bald bemerkte ich jedoch einen wichtigen Widerspruch in seiner Naturphilosophie: obzwar er viele Male die rein methodologische Bedeutung des Begriffs Energie hervorhebt, hält er sich selbst in einer Unmenge von Fällen nicht daran. Die Energie wird bei ihm aus einem reinen Symbol der Wechselbeziehungen der Erfahrungstatsachen immer wieder in eine Substanz der Erfahrung, in die Weltmaterie verwandelt." („Empiriomonismus", Buch III, S. XVI u. XVII.)

Die Energie ein reines Symbol! Nun kann sich Bogdanow mit dem „Empiriosymbolisten" Juschkewitsch, mit den „reinen Machisten", Empiriokritizisten usw. herumstreiten soviel er Lust hat, – vom Standpunkt der Materialisten aus wird es ein Streit sein zwischen einem Menschen, der an den gelben Teufel, und einem, der an den grünen Teufel glaubt. Denn wichtig sind nicht die Unterschiede zwischen Bogdanow und den anderen Machisten, sondern das, was ihnen allen gemeinsam ist: die idealistische Interpretierung der „Erfahrung" und der „Energie", die Leugnung der objektiven Realität; die Anpassung an diese macht die menschliche Erfahrung aus, in ihrer Abbildung besteht die einzig wissenschaftliche „Methodologie" und wissenschaftliche „Energetik".

Für sie (die Energetik von Ostwald) ist das Material der Welt gleichgültig; mit ihr lässt sich sowohl der alte Materialismus als auch der Panpsychismus (soll wohl heißen philosophischer Idealismus? L.) durchaus vereinbaren." (S. XVII.)

Und Bogdanow ging von der konfusen Energetik nicht den materialistischen, sondern den idealistischen Weg.

„… Wenn man die Energie als Substanz darstellt, so ist das nichts anderes als der alte Materialismus abzüglich der absoluten Atome – Materialismus mit einer Korrektur im Sinne der Kontinuität des Seienden." (Ebenda.)

Jawohl, vom „alten" Materialismus, d. h. von dem metaphysischen Materialismus der Naturforscher, ging Bogdanow nicht zum dialektischen Materialismus, den er im Jahre 1906 ebenso wenig verstand wie im Jahre 1899, sondern zum Idealismus und Fideismus, denn gegen den „methodologischen" Begriff der Energie, gegen deren Interpretation als ein „reines Symbol der Wechselbeziehungen der Erfahrungstatsachen" wird kein gebildeter Vertreter des modernen Fideismus, kein Immanenzphilosoph, kein „Neokritizist" usw. etwas einzuwenden haben. Man nehme P. Carus, dessen Physiognomie wir oben genügend kennengelernt haben, und man wird sehen, dass dieser Machist Ostwald ganz nach Bogdanow scher Art kritisiert.

Materialismus und Energetik“ – schreibt Carus – „gehören unbedingt ein und derselben Kategorie an." („The Monist", vol. XVII, 1907, Nr. 4, S. 536.) „Wir werden durch den Materialismus sehr wenig aufgeklärt, wenn er uns sagt, alles sei Materie, die Körper seien Materie und der Gedanke sei nur die Funktion der Materie; und die Energetik von Professor Ostwald ist nicht im geringsten besser, wenn sie uns sagt, dass die Materie Energie und dass die Seele nur ein Faktor der Energie sei." (S. 533.)

Ostwalds Energetik ist ein gutes Beispiel dafür, wie rasch eine „neue“ Terminologie zur Mode werden kann, und wie rasch es sich zeigt, dass eine etwas veränderte Ausdrucksweise nicht im Mindesten die grundlegenden philosophischen Probleme und die grundlegenden philosophischen Richtungen beseitigen kann. In den Termini der „Energetik" kann man ebenso gut den Materialismus und den Idealismus (natürlich mehr oder minder konsequent) ausdrücken, wie in den Termini der „Erfahrung" usw. Die energetische Physik ist die Quelle neuer idealistischer Versuche, die Bewegung ohne Materie zu denken, – veranlasst durch die Zerlegung von bis dahin für unzerlegbar gehaltenen Partikeln der Materie und durch die Entdeckung von bis dahin unbekannten Formen der materiellen Bewegung.

4. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der englische Spiritualismus

Um den philosophischen Kampf, der aus Anlass der einen oder der anderen Folgerungen aus der neuen Physik in der modernen Literatur entbrannte, konkret zu demonstrieren, überlassen wir den unmittelbaren Teilnehmern an der „Schlacht" das Wort, und zwar zunächst den Engländern. Der Physiker Arthur W. Rücker verteidigt die eine Richtung – vom Standpunkt des Naturforschers; der Philosoph James Ward die andere – vom Standpunkt der Erkenntnistheorie.

Auf dem Kongress der englischen Naturforscher in Glasgow 1901 wählte der Vorsitzende der physikalischen Sektion, A. W. Rücker, als Thema für seine Rede die Frage nach dem Wert der physikalischen Theorie, nach den Zweifeln, denen insbesondere die Existenz der Atome und des Äthers unterzogen wurde. Der Redner berief sich auf die Physiker Poincaré und Poynting (den englischen Gesinnungsgenossen der Symbolisten oder Machisten), die diese Frage aufgeworfen haben, auf den Philosophen Ward, auf das bekannte Buch von E. Haeckel und versuchte eine Darstellung seiner Auffassung zu geben.F „Die Streitfrage dreht sich darum“ – sagte Rücker –, „ob die Hypothesen, die den am meisten verbreiteten wissenschaftlichen Theorien zugrunde liegen, als eine genaue Beschreibung der Struktur der uns umgebenden Welt oder nur als bequeme Fiktionen betrachtet werden sollen." (In den Termini unseres Streites mit Bogdanow, Juschkewitsch u. Co. ausgedrückt: sind sie eine Kopie der objektiven Realität, der sich bewegenden Materie, oder nichts als „Methodologie", „reines Symbol", „Formen der Organisation der Erfahrung"?) Rücker gibt zu, dass sich praktisch möglicherweise zwischen beiden Theorien kein Unterschied ergeben wird: die Richtung eines Flusses kann wohl ebenso gut derjenige bestimmen, der nur einen blauen Streifen auf einer Karte oder auf einem Diagramm betrachtet, wie jener, der weiß, dass dieser Streifen einen wirklichen Fluss darstellt. Vom Standpunkt der bequemen Fiktion wäre die Theorie eine „Erleichterung des Gedächtnisses", ein „Hineintragen von Ordnung" in unsere Beobachtungen, ihre Einordnung in ein gewisses künstliches System, eine „Regulierung unseres Wissens", seine Reduktion auf Gleichungen usw. Man kann sich z. B. darauf beschränken, dass die Wärme eine Form der Bewegung oder Energie sei, „indem man auf diese Weise das lebendige Bild der sich bewegenden Atome durch eine matte (colourless) Erklärung über die Wärmeenergie ersetzt, deren reale Natur wir nicht weiter zu bestimmen suchen." Rücker erkennt durchaus die Möglichkeit großer wissenschaftlicher Fortschritte auf diesem Wege an, doch „wagt er zu behaupten, dass man ein solches System der Taktik nicht als das letzte Wort der Wissenschaft im Kampfe um die Wahrheit betrachten könne". Die Frage behält ihre Kraft:

Können wir von den Erscheinungen der Materie auf die Struktur der Materie selbst schließen?" „Haben wir Anlass, zu vermuten, dass der Grundriss der Theorie, den die Wissenschaft bereits gegeben, gewissermaßen eine Kopie und nicht ein einfaches Diagramm der Wahrheit ist?"

Bei der Untersuchung der Frage nach der Struktur der Materie nimmt Rücker als Beispiel die Luft, er führt aus, dass die Luft aus Gasen bestehe, und dass die Wissenschaft „jedes elementare Gas in Atome und Äther zerlege". Hier nun – fährt er fort – ruft man uns „Halt!". Moleküle und Atome könne man nicht sehen; wohl können sie brauchbar sein als „bloße Begriffe (mere conceptions), man kann sie aber nicht als Realitäten betrachten". Rücker beseitigt diesen Einwand durch den Hinweis auf einen der zahllosen Fälle in der Entwicklung der Wissenschaft: die Ringe des Saturn erscheinen im Fernrohr als zusammenhängende Masse. Die Mathematiker erbrachten durch Berechnungen den Beweis, dass dies unmöglich ist, und die Spektralanalyse bestätigte die Schlüsse, die auf Grund der Berechnungen gezogen wurden. Ein anderer Einwand: den Atomen und dem Äther werden Eigenschaften zugeschrieben, die uns unsere Sinne an der gewöhnlichen Materie nicht anzeigen. Rücker beseitigt auch diesen, indem er auf Beispiele, wie die Diffusion der Gase und der Flüssigkeiten usw. hinweist. Eine Reihe von Tatsachen, Beobachtungen und Experimenten beweist, dass die Materie aus einzelnen Partikeln oder Kernen besteht. Die Frage, ob sich diese Partikeln, die Atome, von der „Urumgebung", von der „Grundumgebung", die sie umschließt (Äther), unterscheiden, oder ob sie nur in einem besonderen Zustand befindliche Teile dieser Umgebung sind, bleibt vorläufig offen, ohne dass dadurch die Theorie der Existenz der Atome selbst berührt wird. Es ist kein Grund vorhanden, a priori, entgegen den Hinweisen der Erfahrung, die Existenz der „quasimateriellen Substanzen", die von der gewöhnlichen Materie verschieden sind (der Atome und des Äthers), zu leugnen. Fehler in Einzelheiten sind hier unvermeidlich, doch lässt die Gesamtheit der wissenschaftlichen Tatsachen keinen Zweifel an der Existenz der Atome und Moleküle aufkommen.

Rücker verweist dann auf die neuen Daten über die Zusammensetzung der Atome aus mit negativer Elektrizität geladenen Korpuskeln (Körperchen, Elektronen) und stellt die Ähnlichkeit der Resultate der verschiedenen Experimente und Berechnungen über die Größe der Moleküle fest: die „erste Annäherung" ergibt einen Durchmesser von etwa 100 Millimikron (Millionstel eines Millimeters) . Wir übergehen die Details von Rücker sowie seine Kritik des Neovitalismus und zitieren seine Schlussfolgerungen:

Diejenigen, die die Bedeutung der bisher für den Fortschritt der wissenschaftlichen Theorie maßgebenden Ideen herabsetzen, nehmen allzu oft an, dass es keine andere Wahl gäbe als zwischen den zwei entgegengesetzten Behauptungen: entweder dass Atom und Äther bloße Fiktionen der wissenschaftlichen Einbildung seien oder dass die mechanische Theorie der Atome und des Äthers – jetzt ist sie noch nicht vollendet, aber falls sie vollendet werden könnte – uns eine vollkommene, ideal exakte Vorstellung von der Realität liefere. Meiner Ansicht nach gibt es einen Mittelweg."

Ein Mensch in einem dunklen Zimmer kann nur sehr undeutlich die Gegenstände unterscheiden, doch wenn er sich nicht an den Möbeln stößt und nicht durch den Spiegel gleichwie durch eine Tür geht, bedeutet das, dass er irgend etwas richtig sieht. Wir brauchen daher weder auf den Anspruch zu verzichten, weiter als bis zur Oberfläche der Natur vorzudringen, noch den Anspruch zu erheben, schon alle Schleier des Geheimnisses der uns umgebenden Welt gelüftet zu haben.

Man kann ohne weiteres zugeben, dass wir uns noch kein geschlossenes Bild weder von der Natur der Atome noch von der Natur des Äthers, in dem diese existieren, gemacht haben; ich versuchte aber zu zeigen, dass trotz des annähernden (wörtlich: tastenden, tentative) Charakters einiger unserer Theorien, trotz vieler einzelner Schwierigkeiten, die Theorie der Atome… in ihren Hauptgrundlagen richtig ist; dass die Atome nicht nur Hilfsbegriffe (helps) für die Mathematiker (puzzled mathematicians) sind, sondern physische Realitäten."

So schloss Rücker seinen Vortrag. Der Leser sieht, dass der Redner sich zwar nicht mit Erkenntnistheorie befasste, aber dem Wesen der Sache nach vertrat er, zweifellos im Namen der überwiegenden Mehrzahl der Naturforscher, den instinktiv-materialistischen Standpunkt. Die Quintessenz seiner Position ist: die Theorie der Physik ist ein (immer genaueres) Abbild der objektiven Realität. Die Welt ist sich bewegende Materie, die wir immer tiefer erkennen. Die Ungenauigkeiten der Philosophie Rückers entspringen der durchaus unverbindlichen Verteidigung der „mechanischen" (warum nicht elektromagnetischen?) Theorie der Bewegungen des Äthers und der Verkennung des Verhältnisses zwischen relativer und absoluter Wahrheit. Was diesem Physiker fehlt, ist lediglich die Kenntnis des dialektischen Materialismus (abgesehen natürlich von den sehr wichtigen irdischen Erwägungen, die die englischen Professoren veranlassen, sich „Agnostiker" zu nennen).

Nun wollen wir sehen, wie der Spiritualist James Ward diese Philosophie kritisierte.

„…Der Naturalismus ist keine Wissenschaft“ – schrieb er – „und die ihm als Grundlage dienende mechanische Theorie der Natur ist auch keine Wissenschaft … Doch obwohl Naturalismus und Naturwissenschaft, die mechanische Welttheorie und die Mechanik als Wissenschaft logisch sehr verschiedene Dinge sind, so sind sie doch auf den ersten Blick einander sehr ähnlich und geschichtlich eng verknüpft. Es besteht keine Gefahr, dass die Naturwissenschaft mit einer Philosophie idealistischer oder spiritualistischer Richtung vermengt würde, denn eine solche Philosophie schließt notwendig eine Kritik der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die die Wissenschaft unbewusst macht, ein …"G

Richtig! Die Naturwissenschaft nimmt unbewusst an, dass ihre Lehre die objektive Realität widerspiegelt, und nur eine solche Philosophie ist mit der Naturwissenschaft vereinbar.

„… Anders verhält es sich mit dem Naturalismus, der in Bezug auf die Erkenntnistheorie ebenso unschuldig ist, wie die Wissenschaft selbst. In der Tat, Naturalismus, gleichwie Materialismus, ist einfach Physik, die als Metaphysik behandelt wird… Der Naturalismus ist unzweifelhaft weniger dogmatisch als der Materialismus, denn er macht agnostische Vorbehalte betreffs der Natur der letzten Realität; doch beharrt er ganz entschieden auf der Priorität der materiellen Seite dieses ,Unerkennbaren'…"

Der Materialist behandelt die Physik als Metaphysik. Ein bekanntes Argument! Als Metaphysik wird die Anerkennung der objektiven Realität außerhalb des Menschen bezeichnet: die Spiritualisten stimmen mit den Kantianern und Humeisten in diesen Vorwürfen gegenüber dem Materialismus überein. Das ist auch begreiflich: ohne die objektive Realität der jedermann bekannten Dinge, Körper, Gegenstände beseitigt zu haben, ist es unmöglich, den Weg für die „realen Begriffe" im Geiste eines Rehmke freizumachen! …

„… Wenn die ihrem Wesen nach philosophische Frage auftaucht, wie die Erfahrung als Ganzes am besten zu systematisieren sei (ein Plagiat aus Bogdanow, Herr Ward! L.), dann behauptet der Naturalist, wir müssten von der physischen Seite anfangen. Nur diese Tatsachen seien exakt, bestimmt und straff miteinander verbunden; jeder Gedanke, der das menschliche Herz bewegte … lasse sich, so sagt man uns, auf eine ganz exakte Umgruppierung der Materie und der Bewegung zurückführen… Dass Behauptungen von solcher philosophischen Bedeutung und Tragweite berechtigte Folgerungen aus der physikalischen Wissenschaft (d. h. der Naturwissenschaft) seien, das getrauen sich die modernen Physiker nicht direkt zu behaupten. Aber viele unter ihnen sind der Auffassung, dass diejenigen, die danach streben, die geheime Metaphysik aufzudecken, den physikalischen Realismus, auf dem die mechanische Welttheorie beruht, zu enthüllen, die Bedeutung der Wissenschaft untergraben …" Auch Rücker fasste meine Philosophie so auf. „… In Wirklichkeit aber fußt meine Kritik (dieser ,Metaphysik', die auch allen Machisten verhasst ist. L.) durchaus auf den Ergebnissen der physikalischen Schule, wenn man sie so nennen darf, einer an Zahl immer mehr wachsenden und ihren Einfluss erweiternden Schule, die diesen fast mittelalterlichen Realismus verwirft… Dieser Realismus begegnete so lange keinen Einwänden, dass die Auflehnung gegen ihn gleichgesetzt wird mit einer Proklamierung der wissenschaftlichen Anarchie. Indessen wäre es wirklich extravagant, etwa solche Männer wie Kirchhoff und Poincaré – ich nenne nur zwei große Namen unter vielen – zu verdächtigen, dass sie ,die Bedeutung der Wissenschaft untergraben' wollen… Um sie von der alten Schule zu trennen, die wir berechtigt sind, als die der physikalischen Realisten zu bezeichnen, können wir die neue Schule die der physikalischen Symbolisten nennen. Dieser Ausdruck ist nicht ganz glücklich, doch unterstreicht er wenigstens einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Schulen, der uns augenblicklich speziell interessiert. Die Streitfrage ist sehr einfach. Beide Schulen gehen selbstverständlich von derselben sinnlichen (perceptual) Erfahrung aus; beide wenden abstrakte Begriffssysteme an, die im Detail verschieden, dem Wesen nach aber gleich sind; beide greifen zu denselben Methoden der Überprüfung der Theorien. Nur nimmt die eine an, dass sie sich immer mehr der letzten Realität nähere und immer mehr Scheindinge hinter sich lasse. Die andere meint, dass sie die verallgemeinerten, beschreibenden Szenen, die für die intellektuellen Operationen gebraucht werden, den komplizierten konkreten Tatsachen substituiere (is substituting) … Weder von der einen noch von der anderen Seite wird der Wert der Physik als eines systematischen Wissens von (gesperrt von Ward) den Dingen berührt; die Möglichkeit der Weiterentwicklung der Physik und ihrer praktischen Anwendung besteht gleichermaßen in dem einen wie in dem anderen Falle, aber der philosophische (spekulative) Unterschied zwischen den beiden Schulen ist sehr groß, und in dieser Beziehung gewinnt die Frage, welche von ihnen Recht habe, Wichtigkeit…"

Die Fragestellung des offenherzigen und konsequenten Spiritualisten ist merkwürdig richtig und klar. Der Unterschied der beiden Schulen in der modernen Physik ist tatsächlich nur ein philosophischer, nur ein erkenntnistheoretischer. Der grundlegende Unterschied besteht tatsächlich nur darin, dass die eine die „letzte" (es müsste heißen: objektive) Realität anerkennt, deren Widerspiegelung unsere Theorie ist, während die andere dies verneint, indem sie die Theorie nur als eine Systematisierung der Erfahrung, als System von Empiriosymbolen usw. usf. betrachtet. Die neue Physik, die neue Arten von Materie und neue Formen ihrer Bewegung entdeckt hat, hat anlässlich des Zusammenbruchs der alten physikalischen Begriffe die alten philosophischen Probleme aufgerollt. Und wenn die Leute der „mittleren" philosophischen Richtungen („Positivisten", Humeisten, Machisten) es nicht verstehen, die Streitfrage eindeutig zu stellen, so hat der offene Idealist Ward alle Hüllen weggerissen.

„… Rücker widmete seine Presidential Adress der Verteidigung des physikalischen Realismus gegen die symbolistische Interpretation, die in letzter Zeit von den Professoren Poincaré, Poynting und mir vertreten wurde." (S. 306; an anderen Stellen seines Buches ergänzt Ward diese Liste durch die Namen Duhem, Pearson und Mach; siehe II. Bd., S. 161, 63, 57, 75, 83 u. a.)

„… Rücker spricht beständig von ,Gedankenbildern', dabei erklärt er immer, dass Atom und Äther etwas mehr als Gedankenbilder seien. Eine solche Betrachtungsweise läuft in Wirklichkeit auf folgendes hinaus: im Falle soundso kann ich mir kein anderes Bild machen, daher muss die Realität ihm ähnlich sein… Professor Rücker gibt die abstrakte Möglichkeit eines anderen Gedankenbildes zu… Er gibt sogar den ,ungefähren' (tastenden, tentative) Charakter einiger unserer Theorien und viele ,Einzelschwierigkeiten' zu. Letzten Endes verteidigt er nur eine Arbeitshypothese (a working hypothesis) und dabei noch eine solche, die in der letzten Hälfte des Jahrhunderts bedeutend an Prestige verloren hat. Wenn aber die atomistische sowie die anderen Theorien über die Struktur der Materie nur Arbeitshypothesen, und zwar durch die physikalischen Erscheinungen streng begrenzte Hypothesen sind, so lässt sich durch nichts eine Theorie rechtfertigen, die behauptet, dass der Mechanismus die Grundlage von Allem sei, und dass er die Tatsachen des Lebens und des Geistes auf Epiphänomena zurückführe, d. h. dass er sie gewissermaßen um einen Grad mehr phänomenal und um einen Grad weniger real als Materie und Bewegung mache. Das ist die mechanische Welttheorie, und wenn Professor Rücker diese Theorie nicht geradezu aufrechterhalten will, so haben wir mit ihm über nichts zu streiten." (S. 315.)

Das ist natürlich blanker Unsinn. Als ob der Materialismus die „geringere" Realität des Bewusstseins oder unbedingt ein „mechanisches" Bild der Welt als der sich bewegenden Materie behauptete, nicht aber ein elektromagnetisches oder ein sonstiges noch ungleich komplizierteres Weltbild! Aber mit einer wahrhaft verblüffenden Gewandtheit, viel besser als unsere Machisten (d. h. die konfusen Idealisten) hat der gerade und offene Idealist Ward die schwachen Stellen des „instinktiven" naturwissenschaftlichen Materialismus herausgefischt, so z. B. das Unvermögen, die Wechselbeziehung zwischen relativer und absoluter Wahrheit verständlich zu machen. Ward schlägt Purzelbäume und erklärt, da die Wahrheit relativ, annähernd sei, da sie nach dem Wesen der Dinge nur „taste" – könne sie also die Realität nicht abbilden! Außerordentlich richtig dagegen stellt unser Spiritualist die Frage der Atome als „Arbeitshypothese" hin. Mehr, als die naturwissenschaftlichen Begriffe für „Arbeitshypothesen" zu erklären, verlangt auch der moderne, kulturelle Fideismus (Ward folgert diesen offen aus seinem Spiritualismus) gar nicht. Wir überlassen euch die Wissenschaft, meine Herren Naturforscher, und ihr überlasst uns die Erkenntnistheorie, die Philosophie, – das ist die Bedingung für das Zusammenleben der Theologen und Professoren in den „fortgeschrittenen" kapitalistischen Ländern.

Was die anderen Punkte der Wardschen Erkenntnistheorie betrifft, die er mit der „neuen" Physik in Zusammenhang bringt, so gehört dazu noch sein entschlossener Kampf gegen die Materie. Was ist Materie? was ist Energie? – fragt Ward, indem er die Fülle der einander widersprechenden Hypothesen verspottet. Äther oder Äther ähnliches? – irgendeine „vollkommene Flüssigkeit", die man willkürlich mit neuen und unwahrscheinlichen Eigenschaften ausstattet! Wards Ergebnis ist:

Wir finden nichts Bestimmtes außer Bewegung. Die Wärme ist eine Art Bewegung, die Elastizität ist eine Art Bewegung, das Licht, der Magnetismus – Arten von Bewegung. Sogar die Masse selbst erweist sich letzten Endes, wie angenommen wird, als eine Art Bewegung – Bewegung von irgend etwas, das weder ein fester Körper noch Flüssigkeit noch Gas ist, – es ist selbst weder Körper noch Aggregat von Körpern –, es ist nicht phänomenal und darf nicht nomenal sein, ein wahres apeiron (Ausdruck der griechischen Philosophie – etwas der Erfahrung Unzugängliches, Unerkennbares), auf welches wir unsere eigenen Charakteristiken anwenden können." (Bd. I, S. 140.)

Der Spiritualist bleibt sich treu, indem er die Bewegung von der Materie trennt. Die Bewegung der Körper verwandelt sich in der Natur in Bewegung von etwas, das nicht Körper mit ständiger Masse ist, in Bewegung von etwas, das eine unbekannte Ladung einer unbekannten Elektrizität in einem unbekannten Äther ist, – diese Dialektik der materiellen Verwandlungen, die im Laboratorium und in der Fabrik ausgeführt werden, dient in den Augen des Idealisten (genau so, wie in den Augen des breiten Publikums und der Machisten) nicht als Bestätigung der materialistischen Dialektik, sondern als Argument gegen den Materialismus.

„… Die mechanische Theorie als vorgebliche (professed) Erklärung der Welt erhält einen tödlichen Schlag durch den Fortschritt der mechanischen Physik selbst." (S. 143.)

Die Welt ist sich bewegende Materie, antworten wir, und die Bewegungsgesetze dieser Materie werden, was die langsamen Bewegungen betrifft, durch die Mechanik, und was die schnellen Bewegungen betrifft, durch die elektromagnetische Theorie widergespiegelt …

„… Das ausgedehnte, feste, unzerstörbare Atom war immer die Stütze der materialistischen Weltauffassung. Doch zum Unglück für diese Auffassung befriedigte das ausgedehnte Atom nicht die Anforderungen (was not equal to the demands), die das wachsende Wissen an dieses gestellt hat." (S. 144.)

Die Zerstörbarkeit des Atoms, seine Unerschöpflichkeit, die Veränderlichkeit aller Formen der Materie und ihrer Bewegung waren immer Grundstützen des dialektischen Materialismus. Alle Grenzen in der Natur sind bedingt, relativ, beweglich, drücken das Näherkommen unseres Geistes an die Erkenntnis der Materie aus, – was aber nicht im mindesten beweist, dass die Natur, die Materie selbst nur ein Symbol, ein konventionelles Zeichen, d. h. ein Produkt unseres Geistes ist. Das Elektron verhält sich zum Atom wie ein Punkt in diesem Buch zum Umfang eines Gebäudes, dessen Länge 30, dessen Breite 15 und dessen Höhe 7,5 Faden ist (Lodge), es bewegt sich mit einer Geschwindigkeit bis 270.000 km in der Sekunde, seine Masse verändert sich mit seiner Geschwindigkeit, es macht 500 Trillionen Umdrehungen in einer Sekunde, – das alles ist viel wunderlicher als die alte Mechanik, aber es ist dennoch die Bewegung der Materie in Raum und Zeit. Viel Wunderbares hat der Menschengeist in der Natur entdeckt, er wird noch mehr entdecken und dadurch seine Macht über die Natur ausdehnen, aber das bedeutet nicht, dass die Natur die Schöpfung unseres Geistes oder eines abstrakten Geistes, d. h. des Wardschen Gottes, der Bogdanowschen „Substitution" usw. ist.

„… Streng (rigorously) durchgeführt als Theorie der realen Welt, bringt uns dieses Ideal (das Ideal des ,Mechanismus') zum Nihilismus: alle Veränderungen sind Bewegungen, denn die Bewegungen sind die einzigen Veränderungen, die wir erkennen können, das aber, was sich bewegt, muss wiederum Bewegung sein, um von uns erkannt werden zu können …" (S. 166.) „Wie ich zu zeigen versuchte, erweist sich gerade der Fortschritt der Physik als das mächtigste Kampfmittel gegen den unwissenden Glauben an Materie und Bewegung, gegen deren Anerkennung als letzte (utmost) Substanz, und nicht als das abstrakteste Symbol der Daseinssumme… Durch den nackten Mechanismus werden wir niemals zu Gott gelangen." (S. 180.)

Nun, das schaut schon ganz so aus, wie in den „Beiträgen ,zur' Philosophie des Marxismus"! Sie sollten doch einmal versuchen, sich dorthin zu wenden, Herr Ward, an Lunatscharski und Juschkewitsch, an Basarow und Bogdanow: die sind zwar etwas „verschämter" als Sie, doch predigen sie ganz dasselbe.

5. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der deutsche Idealismus

Im Jahre 1896 trat außergewöhnlich feierlich und frohlockend der bekannte Kantianer und Idealist Hermann Cohen auf in der Einleitung zur 5. Auflage der von Fr. Albert Lange falsifizierten „Geschichte des Materialismus".

Der theoretische Idealismus“ – rief Cohen aus – „hat bereits angefangen, in weiteren Kreisen den theoretischen Materialismus der Naturforscher zu erschüttern, und es möchte in diesen Grundfragen nur noch einer kurzen Zeit bedürfen, um das Geheimnis zur Bildungswahrheit zu machen: dass alle echte Wissenschaft von jeher und für immer nichts ist als Idealismus." „Wenn wir … diese Durchwirkung des Idealismus in der neueren Physik betrachten …" (S. XXVI.) „… der Atomismus musste der Dynamik weichen." (S. XXVIII.) „Es ist eine wundersame Wendung, dass das Zurückgehen auf die chemischen Stoffprobleme zur grundsätzlichen Überwindung der materialistischen Ansicht von der Materie führen sollte. Wie Thales die erste Abstraktion des Stoffes vollzog, damit aber … Spekulationen über das Elektron verband, so war es der Elektrizitätslehre beschieden, die größte Umwandlung in der Auffassung der Materie und durch die Verwandlung der Materie in die Kraft den Sieg des Idealismus herbeizuführen." (S. XXIX.)

Wie James Ward, so stellt auch Hermann Cohen klar und bestimmt die grundlegenden philosophischen Richtungen fest, ohne sich in die kleinlichen Verschiedenheiten irgendeines energetischen, symbolischen, empiriokritischen, empiriomonistischen und sonstigen Idealismus zu verlieren (wie es unsere Machisten tun). Cohen nimmt die grundlegende philosophische Tendenz jener physikalischen Schule, die mit den Namen Machs, Poincarés u. a. verbunden ist, indem er richtig diese Tendenz als idealistisch kennzeichnet. „Die Verwandlung der Materie in die Kraft" scheint für Cohen die Haupterrungenschaft des Idealismus zu sein, – ganz so, wie für jene naturforschenden „Geisterseher", die Dietzgen im Jahre 1869 entlarvte. Die Elektrizität wird zum Gehilfen des Idealismus proklamiert, denn sie hat die alte Theorie von der Struktur der Materie zerstört, die Atome zersetzt, neue Formen der materiellen Bewegung entdeckt, die den alten so unähnlich, noch so wenig untersucht, so unerforscht, so ungewöhnlich und „wundersam" sind, dass sich eine Möglichkeit ergibt, eine Interpretation der Natur als einer immateriellen (also geistigen, gedanklichen, psychischen) Bewegung einzuschmuggeln. Die gestrige Schranke unserer Kenntnis der unendlich kleinen Teilchen der Materie ist verschwunden, – folglich, schließt der idealistische Philosoph, ist auch die Materie verschwunden (der Gedanke aber ist geblieben). Jeder Physiker und jeder Ingenieur weiß, dass die Elektrizität eine (materielle) Bewegung ist, aber niemand weiß recht, was sich hier bewegt, – folglich, schließt der idealistische Philosoph, kann man die philosophisch ungebildeten Leute durch einen verführerisch „ökonomischen" Vorschlag düpieren: lasst uns die Bewegung ohne Materie denken

H. Cohen bemüht sich, den berühmten Physiker Heinrich Hertz als Bundesgenossen für sich zu gewinnen. Hertz gehört uns, er ist Kantianer, man findet bei ihm die Annahme des a priori. Hertz gehört uns, er ist Machist, behauptet dagegen der Machist Kleinpeter, denn Hertz „bekundet dieselbe subjektivistische Auffassung vom Wesen unserer Begriffe wie Mach".H Dieser sonderbare Streit darüber, wem Hertz gehört, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die idealistischen Philosophen nach dem geringsten Fehler, nach der geringsten Unklarheit in der Ausdrucksweise bei den berühmten Naturforschern haschen, um ihre aufgefrischte Verteidigung des Fideismus rechtfertigen zu können. In Wirklichkeit zeigt die philosophische Einleitung von H. Hertz zu seiner „Mechanik"I den üblichen Standpunkt des Naturforschers, der durch das Professorengeheul gegen die „Metaphysik" des Materialismus eingeschüchtert ist, aber dennoch die instinktive Überzeugung von der Realität der Außenwelt nicht überwinden kann. Das gibt Kleinpeter selbst zu, der einerseits durch und durch verlogene populäre Broschürchen über die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft unter das breite Lesepublikum wirft, in denen Mach neben Hertz figuriert, und andererseits in fachphilosophischen Aufsätzen gesteht, dass „Hertz (im Gegensatz zu Mach und Pearson) noch an dem Vorurteil, die ganze Physik mechanisch erklären zu können, festhält"J, dass er den Begriff des Dinges an sich und den „üblichen Standpunkt der Physiker" beibehalte, dass Hertz „immer noch an der Existenz der Welt an sich festhält" usw.K Es dürfte interessant sein, Hertz' Auffassung der Energetik zu vermerken.

Fragen wir“ – schrieb er – „nach dem eigentlichen Grunde, aus welchem die Physik es heutzutage liebt, ihre Betrachtungen in der Ausdrucksweise der Energielehre zu halten, so dürfen wir antworten: weil sie es auf diese Weise am besten vermeidet, von Dingen zu reden, von welchen sie sehr wenig weiß … Nun sind wir ja allerdings gegenwärtig überzeugt davon, dass die wägbare Materie aus Atomen besteht; auch haben wir von der Größe dieser Atome und ihren Bewegungen in gewissen Fällen einigermaßen bestimmte Vorstellungen. Aber die Gestalt der Atome, ihr Zusammenhang, ihre Bewegungen in den meisten Fällen, alles dies ist uns gänzlich verborgen… Unsere Vorstellung von den Atomen ist daher selbst ein wichtiges und interessantes Ziel weiterer Forschung, keineswegs aber ist sie besonders geeignet, als bekannte und gesicherte Grundlage mathematischer Theorien zu dienen." (l. c, Bd. III, S. 21.)

Hertz erwartet die Klärung „des Wesens der alten Materie, ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere und der Trägheit" von der weiteren Untersuchung des Äthers. (Bd. I, S. 354.)

Daraus ist ersichtlich, dass Hertz nicht einmal die Möglichkeit einer nichtmaterialistischen Auffassung der Energie in den Sinn kommt. Für die Philosophen war die Energetik ein Anlass, vom Materialismus zum Idealismus zu flüchten. Der Naturforscher betrachtet die Energetik als ein geeignetes Mittel, die Gesetze der materiellen Bewegung darzustellen zu einer Zeit, wo die Physiker, wenn man sich so ausdrücken darf, vom Atom sich entfernt haben, aber beim Elektron noch nicht angelangt sind. Diese Zeit hält in beträchtlichem Grade auch jetzt noch an: eine Hypothese löst die andere ab; vom positiven Elektron weiß man gar nichts; vor drei Monaten erst (am 22. Juni 1908) teilte Jean Becquerel der französischen Akademie der Wissenschaften mit, dass es ihm gelungen sei, diesen „neuen Bestandteil der Materie" zu entdecken.L Wie sollte da die idealistische Philosophie den so günstigen Umstand sich nicht zunutze machen: die „Materie" wird vom menschlichen Geist erst noch „gesucht", – folglich ist diese nichts weiter als ein „Symbol" usw.

Ein anderer deutscher Idealist von weit reaktionärerer Färbung als Cohen, Eduard von Hartmann, widmete ein ganzes Buch der „Weltanschauung der modernen Physik".M Die Spezialbetrachtungen des Verfassers über die von ihm vertretene Spielart des Idealismus interessieren uns natürlich nicht. Wichtig für uns ist nur, darauf hinzuweisen, dass auch dieser Idealist die gleichen Erscheinungen feststellt, wie sie sowohl von Rey als auch von Ward und Cohen konstatiert wurden.

Die moderne Physik“ – sagt E. v. Hartmann – „war auf realistischem Boden erwachsen und ließ sich nur durch die neukantianische und agnostische Zeitströmung verleiten, ihre Ergebnisse im idealistischen Sinne umzudeuten." (S. 218.)

Nach Hartmann liegen der modernen Physik drei erkenntnistheoretische Systeme zugrunde: die Hylokinetik (von den griechischen Worten: hyle = Materie, kinesis = Bewegung, d. h. die Anerkennung der physikalischen Erscheinungen als Bewegung der Materie), die Energetik und der Dynamismus (d. h. die Anerkennung einer Kraft ohne Stoff). Selbstverständlich vertritt der Idealist Hartmann den „Dynamismus" und folgert daraus, dass die Naturgesetze Weltgedanken seien, mit einem Wort, er „substituiert" das Psychische für die physische Natur. Doch muss er zugeben, dass auf Seiten der Hylokinetik die Mehrzal der Physiker steht, dass dieses „am meisten gebrauchte" (S. 190) System einen ernsten Mangel habe in dem „von der reinen Hylokinetik her drohenden Materialismus und Atheismus". (S. 189.) Die Energetik betrachtet der Verfasser ganz richtig als Zwittersystem und bezeichnet sie als Agnostizismus. (S. 136.) Freilich sei sie ein „Bundesgenosse des reinen Dynamismus, denn sie entthront den Stoff" (S. VI u. 92), ihr Agnostizismus missfällt aber Hartmann als eine gewisse „Anglomanie", die dem waschechten Idealismus eines echt deutschen Reaktionärs widerstrebt.

Es ist außerordentlich lehrreich, zu sehen, wie dieser parteiisch unversöhnliche Idealist (die parteilosen Leute sind in der Philosophie ebensolche hoffnungslosen Stümper wie in der Politik) den Physikern auseinandersetzt, was es eigentlich heißt, die eine oder die andere erkenntnistheoretische Richtung einzuschlagen.

Die wenigsten von den Physikern, die eine solche Mode mitmachten – schreibt Hartmann über die idealistische Auslegung der letzten Ergebnisse der Physik –, mochten sich der Tragweite und Konsequenzen einer solchen Umdeutung voll bewusst sein. Sie bemerkten auch nicht, dass die Physik samt ihren Gesetzen gerade nur soweit noch einen Sinn behielt, als sie ihrem Idealismus zum Trotz realistische Grundgedanken festhielten, nämlich die Existenz von Dingen an sich, die reellen, zeitlichen Veränderungen derselben, die reelle Kausalität… Nur unter diesen realistischen Voraussetzungen (transzendenter Gültigkeit von Kausalität, Zeitlichkeit und dreidimensionalem, dem Raum entsprechenden Beziehungssystem oder intelligibler Räumlichkeit), also nur unter Gleichsetzung derjenigen ,Natur', von deren Gesetzen die Physik redet, mit einem … Reiche der Dinge an sich, kann von Naturgesetzen im Unterschied von psychologischen Gesetzen die Rede sein. Nur wenn die Naturgesetze sich in einem von unserem Denken unabhängigen Gebiete abspielen, nur dann können sie zur Erklärung dafür dienen, dass die denknotwendigen Folgen unserer Bilder stets wieder die Bilder sind von naturnotwendigen Folgen des Unbekannten, das sie in unserem Bewusstsein abbilden oder symbolisieren." (S. 218 u. 219.)

Hartmann hat das richtige Gefühl, dass der Idealismus der modernen Physik eben eine Mode ist, aber keine ernste philosophische Abkehr vom naturwissenschaftlichen Materialismus, daher setzt er auch den Physikern richtig auseinander, dass man, um die „Mode" in einen konsequenten, in sich geschlossenen philosophischen Idealismus zu verwandeln, die Lehre von der objektiven Realität der Zeit, des Raumes, der Kausalität und der Naturgesetze radikal umgestalten muss. Es geht nicht an, nur die Atome, die Elektronen, den Äther für ein einfaches Symbol, für eine einfache „Arbeitshypothese" zu halten, – man muss auch Zeit und Raum und Naturgesetze und die ganze Außenwelt für eine „Arbeitshypothese" erklären. Entweder Materialismus oder universale Substitution des Psychischen für die ganze physische Natur; es gibt eine Unmenge von Leuten, die es lieben, diese zwei Dinge in einen Topf zu werfen, doch wir und Bogdanow gehören nicht zu ihnen.

Von den deutschen Physikern kämpfte systematisch gegen die machistische Strömung der im Jahre 1906 verstorbene Ludwig Boltzmann. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass er denen, die „durch die neuen, erkenntnistheoretischen Dogmen ganz befangen sind", einfach und klar entgegenhielt, dass der Machismus auf den Solipsismus hinauslaufe (siehe oben Kap. I, § 6). Boltzmann hat natürlich Angst, sich Materialist zu nennen, und erklärt sogar ausdrücklich, dass er durchaus nicht gegen die Existenz Gottes sei.N Seine Erkenntnistheorie ist jedoch ihrem Wesen nach materialistisch und bringt, wie der Historiker der Naturwissenschaften des XIX. Jahrhunderts, S. GüntherO, zugibt, die Meinung der Mehrzahl der Naturforscher zum Ausdruck. „Wir erschließen die Existenz aller Dinge“ – sagt L. Boltzmann – „bloß aus den Eindrücken, welche sie auf unsere Sinne machen." (l. c, S. 29.) Die Theorie ist ein „Abbild" (oder eine Kopie) der Natur, der Außenwelt. (S. 77.) Diejenigen, die da sagen, die Materie sei nur ein Komplex von Sinnesempfindungen, verweist Boltzmann darauf, dass in diesem Falle alle übrigen Menschen auch nur die Empfindungen des Aussagenden wären. (S. 168.) Diese „Ideologen", wie Boltzmann manchmal die philosophischen Idealisten nennt, zeichnen uns ein „subjektives Weltbild" (S. 176), der Verfasser dagegen zieht ein „einfacheres objektives Weltbild" vor.

Der Idealist vergleicht die Behauptung, dass die Materie ebenso wie unsere Empfindungen existiere, mit der Meinung des Kindes, dass der geschlagene Stein Schmerz empfinde, der Realist die, dass man sich nie vorstellen könne, wie Psychisches durch Materielles oder gar durch ein Spiel von Atomen dargestellt werden könne, mit der eines Ungebildeten, der behauptet, die Sonne könne nicht 20 Millionen Meilen von der Erde entfernt sein, denn das könne er sich nicht vorstellen." (S. 186.)

Boltzmann will nicht auf das Ideal der Wissenschaft verzichten, Geist und Wille als „komplizierte Wirkungen von Teilen der Materie" (S. 396) darzustellen.

Gegen die Ostwaldsche Energetik polemisierte L. Boltzmann mehrfach vom Standpunkt des Physikers, indem er nachwies, dass Ostwald die Formel der kinetischen Energie (das halbe Produkt der Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit) weder widerlegen noch beseitigen kann, und dass er sich in einem fehlerhaften Kreis bewegt, indem er erst die Energie aus der Masse ableitet (akzeptiert die Formel der kinetischen Energie) und dann wieder die Masse als Energie definiert. (S. 112 u. 139.) Bei dieser Gelegenheit kommt mir die Bogdanowsche Wiedergabe Machs im III. Buch des „Empiriomonismus" in Erinnerung.

In der Wissenschaft“ – schreibt Bogdanow unter Berufung auf Machs ,Mechanik' – „wird der Begriff der Materie auf den in den Gleichungen der Mechanik hervortretenden Koeffizienten der Masse reduziert, bei einer genauen Analyse erweist sich aber dieser letztere als die umgekehrte Größe der Beschleunigung von zwei physischen Körperkomplexen." (S. 146.)

Selbstverständlich, wenn man irgendeinen Körper als Einheit nimmt, kann man die (mechanische) Bewegung aller übrigen Körper durch ein einfaches Verhältnis der Beschleunigung ausdrücken. Doch verschwinden darum die „Körper" (d. h. die Materie) durchaus noch nicht, ebenso wenig hören sie auf, unabhängig von unserem Bewusstsein zu existieren. Wenn die ganze Welt auf die Elektronenbewegung zurückgeführt wird, wird es möglich sein, das Elektron aus allen Gleichungen gerade deswegen zu entfernen, weil es überall inbegriffen gedacht wird, und das Verhältnis der Gruppen oder Aggregate der Elektronen wird sich auf ihre gegenseitige Beschleunigung reduzieren, – wenn die Formen der Bewegung ebenso einfach wären wie in der Mechanik.

Gegen die „phänomenologische" Physik von Mach u. Co. ankämpfend, behauptete Boltzmann, dass

derjenige welcher die Atomistik durch Differentialgleichungen losgeworden zu sein glaubt, den Wald vor Bäumen nicht sieht." (S. 144.) „Will man sich keiner Illusion über die Bedeutung einer Differentialgleichung oder überhaupt einer kontinuierlich ausgedehnten Größe hingeben, so kann man nicht im Zweifel sein dass dieses Weltbild (durch Differentialgleichungen) m seinem Wesen wieder ein atomistisches sein muss, d. h. eine Vorschrift, sich die zeitlichen Veränderungen einer überaus großen Anzahl von in einer Mannigfaltigkeit von wohl drei Dimensionen angeordneten Dingen nach bestimmten Regeln zu denken. Die Dinge können natürlich gleichartig oder von verschiedener Art, unveränderlich oder veränderlich sein …" (S. 156.)

Wird man sich vollkommen darüber klar“ – sagt Boltzmann 1899 in einem Vortrag, gehalten auf der Münchener Naturforscherversammlung – „dass die Phänomenologen versteckt im Gewande der Differentialgleichungen ebenfalls von atomartigen Einzelwesen ausgehen, die sie allerdings für jede Erscheinungsgruppe anders, bald mit diesen, bald mit jenen Eigenschaften in kompliziertester Weise begabt denken müssen, so wird sich bald wieder das Bedürfnis nach einer vereinfachten einheitlichen Atomistik einstellen." (S. 223.)

(Die Elektronentheorie) entwickelte sich zu einer atomistischen Theorie der gesamten Elektrizitätslehre." (S. 357.)

Die Einheit der Natur zeigt sich in der „überraschenden Analogie" der Differentialgleichungen auf den verschiedenen Erscheinungsgebieten.

Dieselben Gleichungen können als Auflösung eines Problems der Hydrodynamik und der Potentialtheorie betrachtet werden. Die Theorie der Flüssigkeitswirbel sowie die der Gasreibung zeigt die überraschendste Analogie mit der des Elektromagnetismus usw." (S. 7.)

Die Leute, die die „Theorie der universalen Substitution" anerkennen, werden die Frage keinesfalls loswerden können, wem denn der Gedanke gekommen sei, so einheitlich die psychische Natur zu „substituieren".

Gleichsam als Antwort an diejenigen, die von dem „Physiker der alten Schule" nichts mehr wissen wollen, schildert Boltzmann ausführlich, wie einige Spezialisten der „physikalischen Chemie" sich auf einen dem Machismus entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Standpunkt stellen. Der Verfasser (nach Boltzmann) „eines der besten" zusammenfassenden Bücher vom Jahre 1903, W. Vaubel, „setzt sich in den schroffsten Gegensatz zu der heute oft empfohlenen sogenannten Phänomenologie". (S. 381.)

Er macht sich vielmehr von der Natur der Atome und Moleküle, der zwischen ihnen wirkenden Kräfte und Agenzien eine möglichst konkrete, anschauliche Vorstellung, welche er den neuesten Erfahrungen auf diesem Gebiete … anzupassen sucht." (Ionen, Elektronen, Radium, Zeeman-Effekt usw.)

… „Der Verfasser … hält streng an dem Dualismus von der Materie und Energie festP, die beide das gemein haben, dass für jedes ein besonderes Erhaltungsgesetz gilt. In Bezug auf die Materie hält er wieder an dem Dualismus zwischen ponderablen Stoffen und Äther fest, welchen letzteren er aber auch im strengsten Sinn als materiell betrachtet." (S. 381.)

Im zweiten Band seiner Arbeit (Theorie der Elektrizität) stellte sich der Verfasser

gleich von vornherein auf den Standpunkt, dass die elektrischen Erscheinungen durch die Wechselwirkung und Bewegung von atomähnlichen Individuen, den Elektronen, bedingt sind." (S. 383.)

Also auch für Deutschland gilt dasselbe, was der Spiritualist James Ward für England festgestellt hat, nämlich: dass die Physiker der realistischen Schule nicht weniger erfolgreich als die der symbolischen Schule die Tatsachen und Entdeckungen der letzten Jahre systematisieren, und dass der wesentliche Unterschied „nur" in dem erkenntnistheoretischen Standpunkt besteht.Q

6. Zwei Richtungen in der modernen Physik und der französische Fideismus

Die idealistische Philosophie in Frankreich griff nicht weniger entschlossen die Schwankungen der machistischen Physik auf. Wir haben bereits gesehen, wie die Neokritizisten die „Mechanik" Machs aufgenommen haben, indem sie sofort den idealistischen Charakter der Grundlagen der Machschen Philosophie hervorhoben. Der französische Machist Henri Poincaré hatte in dieser Hinsicht noch größere Erfolge zu verzeichnen. Die reaktionärste idealistische Philosophie mit ausgesprochen fideistischen Schlussfolgerungen stürzte sich sogleich auf seine Theorie. Der Vertreter dieser Philosophie, Le Roy, urteilte folgendermaßen: die wissenschaftlichen Wahrheiten sind konventionelle Zeichen, Symbole; ihr habt die unsinnigen, „metaphysischen" Ansprüche auf die Erkenntnis der objektiven Realität fallen lassen; seid also logisch und gebt mit uns zu, dass die Wissenschaft praktische Bedeutung nur auf einem Gebiete der menschlichen Handlungen hat und die Religion eine nicht weniger reelle Bedeutung als die Wissenschaft auf einem anderen Gebiete der Handlungen; die „symbolistische", machistische Wissenschaft hat kein Recht, die Theologie zu leugnen. Henri Poincaré schämte sich dieser Schlussfolgerungen und griff sie in seinem Buche: „Der Wert der Wissenschaft" besonders an. Man höre aber, welche erkenntnistheoretische Stellung er einnehmen musste, um Bundesgenossen vom Schlage eines Le Roy abzuschütteln.

Herr Le Roy“ – schreibt Poincaré – „erklärt den Verstand für unabänderlich machtlos nur, um anderen Quellen der Erkenntnis einen größeren Platz einzuräumen, z. B. dem Herzen, dem Gefühl, dem Instinkt oder dem Glauben." (S. 215.)

Ich folge ihm nicht bis zu Ende": die wissenschaftlichen Gesetze sind Konventionalitäten, Symbole, doch,

wenn… die wissenschaftlichen ,Rezepte' als Regel des Handelns einen Wert haben, so deshalb, weil sie, wie wir wissen, im großen und ganzen Erfolg haben. Dieses zu wissen, heißt schon etwas wissen, und wenn dem so ist – wie kann man dann sagen, dass wir nichts wissen können." (S. 219.)

H. Poincaré beruft sich auf das Kriterium der Praxis. Doch damit verschiebt er nur die Frage, löst sie aber nicht, denn man kann ja dieses Kriterium ebenso gut im subjektiven wie im objektiven Sinn interpretieren. Le Roy gibt dieses Kriterium für die Wissenschaft von der Industrie ebenfalls zu; er leugnet nur, dass dieses Kriterium die objektive Wahrheit beweise, da ihm eine solche Leugnung für die Anerkennung der subjektiven Wahrheit der Religion neben der subjektiven (außerhalb der Menschheit nicht existierenden) Wahrheit der Wissenschaft genügt. H. Poincaré sieht ein, dass es nicht angeht, gegen Le Roy sich lediglich auf die Praxis zu berufen, und so geht er zu der Frage der Objektivität der Wissenschaft über:

Was ist das Kriterium der Objektivität der Wissenschaft? Eben dasselbe wie das Kriterium unseres Glaubens an die äußeren Objekte. Diese sind insofern real, als die Empfindungen, die sie in uns erregen (qu'ils nous font éprouver), uns untereinander durch ein gewisses unzerstörbares Bindemittel verknüpft scheinen, nicht aber durch einen flüchtigen Zufall." (S. 270.)

Dass der Urheber einer solchen Betrachtung ein großer Physiker sein kann, ist möglich. Absolut unbestreitbar aber ist, dass nur Woroschilow-Juschkewitsche ihn als Philosophen ernst nehmen können. Man verkündete, der Materialismus sei vernichtet, und zwar durch eine „Theorie", die schon beim ersten Ansturm des Fideismus sich unter die Fittiche des Materialismus flüchtet! Denn es ist reinster Materialismus, wenn man der Meinung ist, dass die Empfindungen in uns durch reale Gegenstände hervorgerufen werden, und dass der „Glaube" an die Objektivität der Wissenschaft das gleiche ist wie der „Glaube" an die objektive Existenz der äußeren Gegenstände.

„…Man kann z. B. sagen, dass der Äther nicht weniger Realität besitzt als jeder beliebige äußere Körper." (S. 270.)

Welchen Lärm würden die Machisten gemacht haben, wenn das ein Materialist gesagt hätte! Wie viele faule Witze über „ätherischen Materialismus" u. ä. m. wären da gemacht worden! Aber schon fünf Seiten weiter verkündet der Begründer des neuesten „Empiriosymbolismus":

Alles, was nicht Gedanke ist, ist das reine Nichts; denn wir können nichts als den Gedanken denken." (S. 276.)

Sie irren, Herr Poincaré: Ihre Werke liefern den Beweis, dass es Leute gibt, die nur Unsinn denken können. Zu diesen Leuten gehört auch der bekannte Konfusionsrat Georges Sorel, der behauptet, dass die „zwei ersten Teile" des Buches von Poincaré über den Wert der Wissenschaft „im Geiste Le Roys geschrieben" seien und dass sich die beiden Philosophen daher auf folgendes „einigen" könnten: der Versuch, die Identität von Wissenschaft und Welt herzustellen, ist eine Illusion; es ist unnötig, die Frage zu stellen, ob die Wissenschaft die Natur erkennen kann, es genügt, dass die Wissenschaft den von uns geschaffenen Mechanismen entspricht. (Georges Sorel, „Les préoccupations metaphysiques des physiciens modernes", Paris 1907, S. 77, 80 u. 81.)

Verdient die „Philosophie" Poincarés nur flüchtige Erwähnung, so ist es notwendig, bei dem Werke Abel Reys länger zu verweilen. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die ,zwei Grundrichtungen in der modernen Physik, die Rey als „konzeptualistisch" und „neomechanistisch" bezeichnet, sich auf den Unterschied zwischen idealistischer und materialistischer Erkenntnistheorie zurückführen lassen. Wir haben nunmehr zu sehen, wie der Positivist Rey die Aufgabe löst, die der des Spiritualisten James Ward und der Idealisten H. Cohen und E. Hartmann diametral entgegengesetzt ist, nämlich: nicht die philosophischen Fehler der neuen Physik, ihre Abweichung nach der Seite des Idealismus aufzugreifen, sondern diese Fehler auszumerzen und zu beweisen, wie unberechtigt die idealistischen (und fideistischen) Folgerungen aus der neuen Physik sind.

Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Werk Reys die Anerkennung der Tatsache, dass der „Fideismus" (S. 11, 17, 220, 362 u. a.) und der „philosophische Idealismus" (S. 200), der Skeptizismus bezüglich der Rechte der Vernunft und der Wissenschaft (S.210, 220), der Subjektivismus (S.311) usw. sich an die neue physikalische Theorie der „Konzeptualisten" (Machisten) anklammern. Daher stellt A. Rey ganz richtig in den Mittelpunkt seiner Arbeit die Analyse der „Meinungen der Physiker über den objektiven Wert der Physik". (S. 3.)

Welches sind nun die Ergebnisse dieser Analyse?

Nehmen wir einen Grundbegriff, den Begriff der Erfahrung. Rey versichert, dass die subjektivistische Auslegung Machs (wir nehmen ihn der Einfachheit und der Kürze halber als Vertreter jener Schule, welche Rey als konzeptualistisch bezeichnet) ein bloßes Missverständnis sei. Allerdings, zu den „hauptsächlichen neuen Merkmalen der Philosophie am Ende des XIX. Jahrhunderts" gehöre es, dass

der an Nuancen immer feinere, immer reichere Empirismus zum Fideismus, zur Anerkennung der Suprematie des Glaubens führt, – derselbe Empirismus, der einst eine mächtige Waffe im Kampfe des Skeptizismus gegen die Behauptungen der Metaphysik war. Ist das nicht dadurch geschehen, dass im Grunde genommen durch unmerkliche Nuancen, allmählich, der reale Sinn des Wortes ,Erfahrung' entstellt wurde? In Wirklichkeit führt uns die Erfahrung, wenn man sie in ihren Existenzbedingungen, in jener experimentellen Wissenschaft nimmt, welche sie präzisiert und läutert, zur Notwendigkeit und zur Wahrheit." (S. 398.)

Ohne Zweifel, der ganze Machismus im weitesten Sinne des Wortes ist nichts anderes als eine Entstellung des realen Sinnes des Wortes „Erfahrung" durch unmerkliche Nuancen! Wie korrigiert jedoch diese Entstellung Rey, der nur die Fideisten, nicht aber Mach selbst der Entstellung bezichtigt? Man höre:

Die Erfahrung ist nach der geläufigen Definition die Erkenntnis des Objekts. In der physikalischen Wissenschaft ist diese Definition angebrachter als irgendwo anders… Die Erfahrung ist das, worüber unser Geist keine Macht hat, was unsere Wünsche, unser Wille nicht verändern können, das, was gegeben ist, und was wir nicht schaffen. Die Erfahrung, das ist das Objekt gegenüber (en face du) dem Subjekt." (S. 314.)

Da habt ihr ein Musterbeispiel, wie Rey den Machismus verteidigt! Wie genial-weitsichtig war doch Engels, der den neuesten Typus der Anhänger des philosophischen Agnostizismus und des Phänomenalismus mit dem Namen „verschämte Materialisten" kennzeichnete! Der Positivist und eifrige Phänomenalist Rey ist ein ausgezeichnetes Exemplar dieses Typus. Wenn die Erfahrung die „Erkenntnis des Objekts" ist, wenn die „Erfahrung das Objekt gegenüber dem Subjekt ist", wenn die Erfahrung darin besteht, dass „etwas Äußeres (quelque chose du dehors) existiert und notwendig existiert" (se pose et en se posant s'impose, S. 324), so läuft das offensichtlich auf den Materialismus hinaus! Der Phänomenalismus von Rey, seine eifrigste Betonung, dass es nichts außer Empfindungen gebe, dass das Objektive das Allgemeingültige sei usw. usf., – das alles ist nichts als ein Feigenblättchen, eine vergebliche phrasenhafte Bemäntelung des Materialismus, sobald man uns sagt:

Objektiv ist das, was uns von außen gegeben, durch die Erfahrung aufgenötigt (imposé) ist; das, was wir nicht erzeugen, sondern was unabhängig von uns auftritt und in gewissem Sinne uns selbst erzeugt." (S. 320.)

Rey verteidigt den „Konzeptualismus", indem er den Konzeptualismus vernichtet! Die Widerlegung der idealistischen Folgerungen aus dem Machismus wird nur dadurch erreicht, dass der Machismus im Sinne des verschämten Materialismus interpretiert wird. Nachdem Rey den Unterschied der beiden Richtungen in der modernen Physik selber zugegeben hat, bemüht er sich im Schweiße seines Angesichts, zugunsten der materialistischen Richtung alle Unterschiede zu verwischen. Z. B. sagt Rey von der neomechanistischen Schule, dass sie „nicht den geringsten Zweifel, nicht die geringste Unsicherheit" in der Frage der Objektivität der Physik zulasse. (S. 237.)

Hier (d. h. auf dem Boden der Lehren dieser Schule. L.) ist man fern allen jenen Umwegen, die man vom Standpunkt der anderen Theorien der Physik machen musste, um zur Behauptung dieser Objektivität gelangen zu können."

Eben diese „Umwege" des Machismus bemäntelt Rey, überzieht sie in seiner ganzen Darstellung mit einem Schleier. Der Grundzug des Materialismus ist eben, dass er von der Objektivität, der Wissenschaft, von der Anerkennung der objektiven Realität, die durch die Wissenschaft abgebildet wird, ausgeht, während der Idealismus der Umwege bedarf, um die Objektivität so oder so aus dem Geiste, dem Bewusstsein, dem „Psychischen" „abzuleiten". Die neomechanistische (d. h. die herrschende) Schule in der Physik – schreibt Rey – „glaubt an die Realität der physikalischen Theorie in demselben Sinne, in dem die Menschheit an die Realität der Außenwelt glaubt". (S. 234, § 22: Thesis.) Für diese Schule „will die Theorie das Konterfei (le décalque) des Objekts sein". (S. 235.)

Ganz richtig. Nur dass dieser Grundzug der neomechanistischen Schule nichts anderes ist als die Grundlage der materialistischen Erkenntnistheorie, keine Lossagungen Reys von den Materialisten, keine Versicherungen seinerseits, dass die Neomechanisten eigentlich auch Phänomenalisten seien usw., können diese fundamentale Tatsache abschwächen. Der wesentliche Unterschied zwischen den Neomechanisten (mehr oder weniger verschämten Materialisten) und den Machisten besteht gerade darin, dass die letzteren von dieser Erkenntnistheorie abweichen und, indem sie von ihr abweichen, unvermeidlich in den Fideismus hinein stolpern.

Betrachten wir, wie sich Rey zur Machschen Lehre der Kausalität und Naturnotwendigkeit verhält. Nur auf den ersten Blick, versichert Rey, scheint es, als ob sich Mach „dem Skeptizismus und dem Subjektivismus nähere". (S. 76.) Diese „Zweideutigkeit" (equivoque, S. 115) verflüchtige sich, wenn man die Machsche Lehre in ihrer Gesamtheit nimmt. Und Rey nimmt sie in ihrer Gesamtheit, er führt eine Reihe Zitate an aus der „Wärmelehre" und aus der „Analyse der Empfindungen", verweilt speziell beim Kapitel über die Kausalität im ersten der genannten Werke, aber – aber er hütet sich, die entscheidende Stelle zu zitieren, die Erklärung Machs, dass eine physikalische Notwendigkeit nicht vorhanden sei, sondern nur eine logische! Darauf kann man nur sagen, dass dies keine Interpretation, sondern eine Beschönigung Machs, dass es eine Verwischung der Unterschiede zwischen „Neomechanismus" und Machismus ist. Reys Schlussfolgerung ist:

Mach setzt die Analyse fort und akzeptiert die Folgerungen von Hume, Mill und allen Phänomenalisten, nach deren Ansicht die Kausalität nichts Substantielles an sich habe und nur eine Denkgewohnheit sei. Mach akzeptiert die Grundthese des Phänomenalismus, der gegenüber die Kausalitätslehre eine einfache Konsequenz ist, nämlich, dass nichts existiert außer Empfindungen. Mach fügt aber in durchaus objektivistischem Sinne hinzu: die Wissenschaft entdeckt bei der Untersuchung der Empfindungen in ihnen konstante und gemeinsame Elemente, die, wenn sie von den Empfindungen abstrahiert werden, die gleiche Realität wie diese haben, da sie durch Sinnesbeobachtung aus den Empfindungen geschöpft sind. Und diese konstanten und gemeinsamen Elemente, wie Energie und deren Verwandlungen, sind die Grundlage für die Systematisierung der Physik." (S. 117.)

Es stellt sich also heraus, dass Mach die subjektivistische Kausalitätstheorie von Hume übernommen hat und sie im objektivistischen Sinne interpretiert! Rey macht Ausflüchte, indem er Mach durch den Hinweis auf seine Inkonsequenz verteidigt und schließlich meint, dass bei einer „realen" Auslegung der Erfahrung diese Erfahrung zur „Notwendigkeit" führe. Erfahrung aber ist das, was von außen gegeben ist; wenn nun die Naturnotwendigkeit, die Naturgesetze dem Menschen auch von außen gegeben sind, aus der objektiv realen Natur, – dann verschwindet allerdings jeder Unterschied zwischen Machismus und Materialismus. Rey verteidigt also den Machismus gegen den „Neomechanismus" dadurch, dass er auf der ganzen Linie vor diesem kapituliert und nur mehr das Wörtchen Phänomenalismus, nicht aber den Kernpunkt dieser Richtung verteidigt.

Poincaré z. B. leitet ganz im Geiste Machs die Naturgesetze – auch dass der Raum dreidimensional ist – von der „Bequemlichkeit" ab. Dies bedeute aber durchaus nicht „willkürlich", beeilt sich Rey zu „verbessern"; nein, „bequem" bedeute hier „Anpassung an das Objekt" (gesperrt von Rey, S. 196). Wirklich, eine köstliche Abgrenzung der beiden Schulen und „Widerlegung" des Materialismus! …

Ist auch die Theorie Poincarés logisch durch eine unüberbrückbare Kluft von der ontologischen Deutung der mechanistischen Schule (d. h. von der Anerkennung dieser Schule, dass die Theorie das Konterfei des Objektes sei. L.) getrennt … ist auch die Theorie Poincarés geeignet, dem philosophischen Idealismus als Stützpunkt zu dienen, so lässt sie sich doch wenigstens auf dem Boden der Wissenschaft sehr wohl in Einklang bringen mit der allgemeinen Entwicklung der Ideen der klassischen Physik, mit der Tendenz, die Physik als ein objektives Wissen zu betrachten, das ebenso objektiv ist wie die Erfahrung, d. h. wie die Empfindungen, denen die Erfahrung entspringt." (S. 200.)

Einerseits ist es nicht zu leugnen, andererseits muss man zugeben … Einerseits trennt Poincaré eine unüberbrückbare Kluft vom Neomechanismus, obwohl Poincaré in der Mitte steht zwischen dem „Konzeptualismus" Machs und dem Neomechanismus, und Mach ja doch durch gar keine Kluft vom Neomechanismus getrennt sein soll; andererseits lässt sich Poincaré mit der klassischen Physik, die nach Reys eigenen Worten ganz und gar auf dem Standpunkt des „Mechanismus" steht, durchaus in Einklang bringen. Einerseits ist Poincarés Theorie geeignet, als Stütze des philosophischen Idealismus zu dienen, andererseits lässt sie sich vereinbaren mit der objektiven Interpretation des Wortes Erfahrung. Einerseits haben diese bösen Fideisten den Sinn des Wortes Erfahrung verdreht durch unmerkliche Abweichungen von der richtigen Ansicht, dass „Erfahrung das Objekt sei"; andererseits bedeutet die Objektivität der Erfahrung nur, dass Erfahrung aus Empfindungen bestehe, – womit sowohl Berkeley als auch Fichte durchaus einverstanden sind!

Rey geriet deshalb in Verwirrung, weil er sich eine unlösbare Aufgabe gestellt hat: den Gegensatz zwischen der materialistischen und der idealistischen Schule in der neuen Physik zu „überbrücken". Er versucht, den Materialismus der neomechanistischen Schule abzuschwächen, indem er die Anschauungen der Physiker, die ihre Theorie für ein Abbild des Objekts halten, auf den Phänomenalismus zurückführt.R Und er versucht, den Idealismus der konzeptualistischen Schule abzuschwächen, indem er die entschiedensten Erklärungen ihrer Anhänger hinauswirft und die übrigen im Sinne des verschämten Materialismus interpretiert. Wie fiktiv, wie krampfhaft dabei Reys Abschwören des Materialismus ist, zeigt z. B. seine Beurteilung der theoretischen Bedeutung der Differentialgleichungen von Maxwell und Hertz. Die Machisten sehen in dem Umstand, dass diese Physiker ihre Theorie auf ein System von Gleichungen beschränken, eine Widerlegung des Materialismus: Gleichungen sind eben Gleichungen und weiter nichts, keine Materie, keine objektive Realität, bloße Symbole. Boltzmann widerlegt diese Auffassung und ist sich dessen bewusst, dass er die phänomenologische Physik widerlegt. Rey aber widerlegt sie und vermeint den Phänomenalismus zu verteidigen!

Man darf“ – sagt Rey – „Maxwell und Hertz nicht deshalb aus der Zahl der ,Mechanisten' ausschließen, weil sie sich auf Gleichungen, ähnlich den Differentialgleichungen der Dynamik von Lagrange beschränkten. Das bedeutet nicht etwa, nach der Meinung von Maxwell und Hertz könne man nicht eine mechanische Theorie der Elektrizität auf reale Elemente gründen. Im Gegenteil, diese Möglichkeit wird durch die Tatsache bewiesen, dass die elektrischen Erscheinungen durch eine Theorie dargestellt werden, deren Form mit der allgemeinen Form der klassischen Mechanik identisch ist." (S. 253.)

Die Unbestimmtheit der jetzigen Lösung des Problems „wird sich im selben Maße vermindern, je exakter die Natur jener quantitativen Einheiten, d. h. der Elemente, welche in die Gleichungen eingehen, hervortreten wird".

Der Umstand, dass diese oder jene Form der materiellen Bewegung noch unerforscht ist, ist für Rey kein Anlass, die Materialität der Bewegung zu leugnen. Die „Gleichartigkeit der Materie" (S. 262), nicht als Postulat, sondern als Resultat der Erfahrung und der Entwicklung der Wissenschaft, die „Homogenität des Objekts der Physik", das ist die Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Messungen und mathematischen Berechnungen.

Und nun Reys Beurteilung des Kriteriums der Praxis in der Erkenntnistheorie:

Im Gegensatz zu den Prämissen des Skeptizismus sind wir berechtigt zu sagen, dass der praktische Wert der Wissenschaft sich aus ihrem theoretischen Wert ergibt." (S. 368.)

Dass diese Prämissen des Skeptizismus ganz unzweideutig von Mach, Poincaré" und ihrer ganzen Schule angenommen worden sind, zieht Rey vor, zu verschweigen …

Der eine wie der andere Wert sind die zwei untrennbaren und streng parallelen Seiten ihres objektiven Wertes. Sagt man, das gegebene Naturgesetz habe einen praktischen Wert … so läuft das im Grunde auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagt, dass dieses Naturgesetz einen objektiven Wert habe… Die Einwirkung auf das Objekt setzt die Modifikation des Objekts, eine Reaktion, des Objekts voraus, die der Erwartung oder der Voraussicht entspricht, auf Grund deren wir die Einwirkung unternommen haben. Folglich enthält diese Erwartung oder Voraussicht Elemente in sich, die durch das Objekt und durch unsere Handlung kontrolliert werden … In diesen verschiedenen Theorien steckt also ein Teil des Objektiven." (S. 368.)

Das ist eine durchaus materialistische und nur materialistische Erkenntnistheorie; denn die anderen Auffassungen, der Machismus, insbesondere, leugnen die objektive, d. h. die vom Menschen und der Menschheit unabhängige Bedeutung des Kriteriums der Praxis.

Das Fazit: Rey ist an die Frage nicht von derselben Seite wie Ward, Cohen und Kompanie herangetreten, aber seine Ergebnisse» sind die gleichen – Anerkennung der materialistischen und idealistischen Tendenz als Grundlage der Trennung der beiden Hauptschulen in der modernen Physik.

7. Der russische „physikalische Idealist"

Gewisse ungünstige Umstände, unter denen sich meine Arbeit vollzog, haben es mir fast unmöglich gemacht, die russische Literatur über die zur Erörterung stehende Frage kennenzulernen. Ich beschränke mich nur auf die Darstellung eines für mein Thema sehr wichtigen Aufsatzes unseres bekannten philosophischen Reaktionärs, Herrn Lopatin: „Der Physikalische Idealist", veröffentlicht in „Probleme der Philosophie und Psychologie" (1907, Sept.-Okt.-Heft). Der echt russische philosophische Idealist, Herr Lopatin, steht zu den modernen europäischen Idealisten ungefähr in demselben Verhältnis, wie etwa der „Bund des russischen Volkes" zu den westlichen reaktionären Parteien. Um so lehrreicher ist es, einen Blick darauf zu werfen, wie gleichartige philosophische Tendenzen in vollständig verschiedenem Kultur- und Sittenmilieu zutage treten. Der Aufsatz Lopatins ist, wie die Franzosen sagen, ein éloge – eine Lobrede auf den verstorbenen russischen Physiker N. J. Schischkin (gestorben 1906). Herr Lopatin wurde dadurch verführt, dass dieser gebildete Mann, der sich für Hertz und überhaupt für die neue Physik sehr interessierte, nicht nur ein rechter Kadett war (S. 339), sondern auch ein tiefgläubiger Mensch, ein Anbeter der Philosophie von Wl. Solowjow usw. usw. Indessen weiß Herr Lopatin, trotzdem er sein „Augenmerk" hauptsächlich auf das Grenzgebiet des Philosophischen und Polizeilichen richtet, auch noch einiges Material zur Charakteristik der erkenntnistheoretischen Anschauungen des physikalischen Idealisten beizutragen.

Er war“ – schreibt Herr Lopatin – „ein echter Positivist in seinem beharrlichen Streben nach weitestgehender Kritik der Forschungsmethoden, der Hypothesen und der wissenschaftlichen Tatsachen in Bezug auf ihre Brauchbarkeit als Mittel und Material zum Aufbau einer einheitlichen und vollendeten Weltanschauung. In dieser Beziehung war N. J. Schischkin ein absoluter Antipode sehr vieler seiner Zeitgenossen. In meinen früheren Aufsätzen in dieser Zeitschrift habe ich schon mehrmals klarzulegen versucht, aus welchem heterogenen und oft vagen Stoff eine sogenannte wissenschaftliche Anschauung sich zusammensetzt: es befinden sich darunter sowohl feststehende Tatsachen wie mehr oder weniger kühne Verallgemeinerungen und für das eine oder das andere wissenschaftliche Gebiet im gegebenen Augenblick bequeme Hypothesen, ja sogar wissenschaftliche Hilfsfiktionen, und das alles wird zum Range unanfechtbarer objektiver Wahrheiten erhoben; vom Standpunkt dieser Wahrheiten aus hat man alle anderen Ideen und Bekenntnisse philosophischer und religiöser Art zu beurteilen und alles, was in diesen Wahrheiten nicht enthalten ist, zu verwerfen. Unser hochbegabter materialistischer Denker, Prof. Wl. J. Wernadski, zeigte mit mustergültiger Klarheit, wie hohl und unangebracht derartige Ansprüche sind, die wissenschaftlichen Anschauungen einer gegebenen geschichtlichen Epoche in ein unbewegliches, allgemein verpflichtendes, dogmatisches System verwandeln zu wollen. An solchen Verwandlungen tragen indessen nicht allein breite Kreise des Lesepublikums die Schuld (Fußnote des Herrn Lopatin: „Für diese Kreise ist eine ganze Reihe populärer Bücher geschrieben, deren Aufgabe darin besteht, sie von der Existenz eines alle Probleme lösenden wissenschaftlichen Katechismus zu überzeugen. Typische Werke dieser Art sind: ,Kraft und Stoff von Büchner oder ,Die Welträtsel' von Haeckel") und auch nicht allein die einzelnen Gelehrten der naturwissenschaftlichen Spezialfächer; viel merkwürdiger ist es, dass sich in dieser Richtung gar nicht selten die akademischen Philosophen versündigen, die manchmal alle ihre Bemühungen nur darauf richten, zu beweisen, dass sie nichts anderes sagen, als was von den Vertretern der einzelnen Spezialwissenschaften bereits gesagt wurde, nur sagen sie es in ihrer besonderen Sprache.

N. J. Schischkin war kein voreingenommener Dogmatiker. Er ist ein überzeugter Streiter der mechanischen Erklärung der Naturerscheinungen, doch ist sie für ihn nur eine Forschungsmethode … (Hm, hm, bekannte Melodien! L.) Er dachte nicht daran, dass die mechanische Theorie das Wesen der zu erforschenden Erscheinungen selbst aufdecke, er sah in ihr nur die bequemste und fruchtbarste Weise ihrer Vereinheitlichung und Begründung für wissenschaftliche Zwecke. Deshalb fällt für ihn die mechanische Interpretation der Natur und ihre materialistische Auffassung bei weitem nicht zusammen."

Ganz so wie bei den Verfassern der „Beiträge ,zur' Philosophie des Marxismus"!

Ganz im Gegenteil, ihm schien es, dass in den Fragen höherer Ordnung die mechanische Theorie eine streng kritische, ja sogar eine versöhnende Haltung einzunehmen hat."

In der Sprache der Machisten heißt das, die „veraltete, enge und einseitige" Gegenüberstellung von Materialismus und Idealismus überwinden.

Die Fragen nach dem ersten Anfang und dem letzten Ende der Dinge, nach dem inneren Wesen unseres Geistes, nach der Willensfreiheit, nach der Unsterblichkeit der Seele usw. können nicht in vollem Umfange ihrer Kompetenz unterworfen sein, schon deshalb nicht, weil sie als eine Forschungsmethode angewiesen ist auf die natürlichen Grenzen ihrer Anwendbarkeit lediglich auf die Tatsachen der physischen Erfahrung…" (S. 342.)

Die zwei letzten Zeilen sind zweifellos ein Plagiat aus Bogdanows „Empiriomonismus".

Das Licht – schrieb Schischkin in seinem Aufsatz: ,Über die psycho-physischen Erscheinungen vom Standpunkt der mechanischen Theorie aus' (.Probleme der Philosophie und Psychologie', Bd. I, S. 127) kann betrachtet werden als Stoff, als Bewegung, als Elektrizität, als Empfindung."

Kein Zweifel, Herr Lopatin zählte ganz mit Recht Schischkin zu den Positivisten, dieser Physiker gehörte ganz und gar zur machistischen Schule der neuen Physik. Schischkin will mit seiner Betrachtung über das Licht sagen, dass die verschiedenen Weisen, das Licht zu betrachten, je nach dem Standpunkte verschiedene gleichberechtigte Methoden der „Organisierung der Erfahrung" (nach A. Bogdanows Terminologie) oder verschiedene „Verbindungen der Elemente" (nach der Terminologie E. Machs) darstellen, und dass jedenfalls die Lehre der Physiker vom Licht kein Abbild der objektiven Realität sei. Doch ist die Betrachtungsweise von Schischkin eine überaus schlechte. „Das Licht kann betrachtet werden als Stoff, als Bewegung …" Es gibt in der Natur weder Stoff ohne Bewegung noch Bewegung ohne Stoff. Die erste „Gegenüberstellung" Schischkins ist also sinnlos. „… als Elektrizität." Die Elektrizität ist die Bewegung des Stoffes, folglich hat auch hier Schischkin Unrecht. Die elektromagnetische Theorie des Lichtes hat den Beweis erbracht, dass Licht und Elektrizität Formen der Bewegung ein und desselben Stoffes (des Äthers) sind. „… als Empfindung." Die Empfindung ist ein Abbild der sich bewegenden Materie. Anders als durch Empfindungen können wir weder über irgendwelche Formen des Stoffes noch über irgendwelche Formen der Bewegung etwas erfahren; die Empfindungen werden hervorgerufen durch die Wirkung der sich bewegenden Materie auf unsere Sinnesorgane. Dieser Ansicht ist die Naturwissenschaft. Die Empfindung des Roten spiegelt Ätherschwingungen wider, die mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 450 Trillionen in der Sekunde geschehen. Die Empfindung des Blauen spiegelt Ätherschwingungen von etwa 620 Trillionen in der Sekunde wider. Die Ätherschwingungen existieren unabhängig von unseren Lichtempfindungen. Unsere Lichtempfindungen hängen ab von der Wirkung der Ätherschwingungen auf das menschliche Gesichtsorgan. Unsere Empfindungen widerspiegeln die objektive Realität, d. h. das, was unabhängig von der Menschheit und von den menschlichen Empfindungen existiert. Dieser Ansicht ist die Naturwissenschaft. Die gegen den Materialismus gerichtete Betrachtung Schischkins ist die allerbilligste Sophistik.

8. Wesen und Bedeutung des „physikalischen Idealismus"

Wir sahen, dass die Frage nach den erkenntnistheoretischen Folgerungen aus der modernen Physik sowohl in der englischen als auch in der deutschen und der französischen Literatur aufgeworfen und von den verschiedensten Standpunkten aus erörtert wird. Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir es hier mit einer gewissen internationalen ideologischen Strömung zu tun haben, die nicht allein von irgendeinem philosophischen System abhängt, sondern die gewissen allgemeinen, außerhalb der Philosophie liegenden Ursachen entspringt. Die oben gegebene Übersicht über die Tatsachen zeigt zweifellos, dass der Machismus mit der neuen Physik „zusammenhängt", – sie zeigt aber zugleich die grundfalsche Vorstellung auf, die über diesen Zusammenhang bei unseren Machisten verbreitet ist. Wie in der Philosophie, so folgen unsere Machisten auch in der Physik sklavisch der Mode und verstehen es nicht, von ihrem marxistischen Standpunkt aus eine Gesamtübersicht der bekannten Strömungen zu geben und ihren Platz zu bewerten.

Doppelt falsch ist alles Gerede darüber, dass die Machsche Philosophie die „Philosophie der Naturwissenschaft des XX. Jahrhunderts", die „neueste Philosophie der Naturwissenschaften", der „neueste naturwissenschaftliche Positivismus" usw. sei (Bogdanow im Vorwort zur „Analyse der Empfindungen", S. IV, XII; vgl. dasselbe bei Juschkewitsch, Valentinow u. Co.). Erstens ist der Machismus nur mit einer Schule in einem Zweige der modernen Naturwissenschaft ideell verbunden. Zweitens, und das ist die Hauptsache, mit dieser Schule verbindet den Machismus nicht das, was ihn von allen anderen Richtungen und Systemchen der idealistischen Philosophie unterscheidet, sondern das, was er mit dem ganzen philosophischen Idealismus überhaupt gemein hat. Es genügt, einen Blick auf die ganze in Betracht kommende ideologische Strömung in ihrer Gesamtheit zu werfen, damit auch der leiseste Zweifel an der Richtigkeit dieses Satzes verschwindet. Nehmt die Physiker dieser Schule: den Deutschen Mach, den Franzosen Henri Poincaré, den Belgier P. Duhem, den Engländer K. Pearson. Sie haben vieles miteinander gemein, sie haben das gleiche Fundament, die gleiche Richtung, wie jeder von ihnen ganz mit Recht zugibt, aber zu diesem Gemeinsamen gehört weder die Lehre des Empiriokritizismus im allgemeinen noch auch nur die Lehre Machs von den „Weltelementen" im besonderen. Die eine sowohl als auch die andere Lehre ist den drei letztgenannten Physikern nicht einmal bekannt. Sie alle haben „nur" eines gemeinsam: den philosophischen Idealismus, zu dem sie alle ausnahmslos, mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger entschieden, neigen. Nehmt die Philosophen, die sich auf diese Schule der neuen Physik stützen und sich bemühen, sie erkenntnistheoretisch zu begründen und zu entwickeln, und ihr werdet wiederum erblicken deutsche Immanenzphilosophen, Machs Schüler, französische Neokritizisten und Idealisten, englische Spiritualisten, den Russen Lopatin nebst dem einzigen Empiriomonisten A. Bogdanow. Sie haben nur eines miteinander gemeinsam, nämlich dass sie alle, mehr oder minder bewusst, mehr oder minder entschieden, sei es mit einer schroffen und hastigen Wendung zum Fideismus, sei es mit persönlichem Widerwillen gegen diesen (wie A. Bogdanow) den philosophischen Idealismus durchführen.

Die Grundidee der in Betracht kommenden Schule der neuen Physik ist die Leugnung der objektiven Realität, die uns in der Empfindung gegeben ist und durch unsere Theorie abgebildet wird, oder der Zweifel an der Existenz einer solchen Realität. Hier sondert sich diese Schule von dem nach allgemeinem Eingeständnis unter den Physikern vorherrschenden Materialismus (der ungenau Realismus, Neomechanismus, Hylokinetik genannt und von den Physikern selbst einigermaßen bewusst nicht entwickelt wird) ab, – sie sondert sich ab als Schule des „physikalischen" Idealismus.

Um diesen recht sonderbar klingenden Ausdruck zu erklären, ist es nötig, eine Episode aus der Geschichte der neueren Philosophie und der neueren Naturwissenschaft in Erinnerung zu bringen. Im Jahre 1866 fiel L. Feuerbach über Johannes Müller, den berühmten Begründer der neueren Physiologie, her und bezeichnete ihn als „physiologischen Idealisten". (Werke, X, S. 197.) Der Idealismus dieses Physiologen bestand darin, dass er bei der Untersuchung der Bedeutung des Mechanismus unserer Sinnesorgane in ihrer Beziehung zu den Empfindungen – indem er z. B. darauf hinwies, dass die Lichtempfindung die Folge verschiedenartiger Einwirkung auf das Auge ist – geneigt war, daraus den Schluss zu ziehen, dass der Satz, unsere Empfindungen sind Abbilder der objektiven Realität, zu verneinen sei. Diese Tendenz einer Naturforscherschule zum „physiologischen Idealismus", d. h. zu einer idealistischen Deutung gewisser Resultate der Physiologie, hat Ludwig Feuerbach außerordentlich treffsicher erfasst. Der „Zusammenhang" der Physiologie mit dem philosophischen Idealismus, vorwiegend kantischer Observanz, wurde dann längere Zeit durch die reaktionäre Philosophie ausgebeutet. F. A. Lange spielte die Physiologie zugunsten des Kantischen Idealismus und zur Widerlegung des Materialismus aus, und von den Immanenzphilosophen (die Bogdanow so unrichtig zur mittleren Linie zwischen Mach und Kant rechnet) zog speziell J. Rehmke im Jahre 1882 gegen die vermeintliche Bestätigung des Kantianismus durch die Physiologie zu Felde.S Dass eine Reihe der großen Physiologen in jener Zeit zum Idealismus und zum Kantianismus hinstrebte, ist ebenso unbestreitbar, wie es unbestreitbar ist, dass eine Reihe großer Physiker in unserer Zeit zum philosophischen Idealismus hinstrebt. Der „physikalische" Idealismus, d. h. der Idealismus einer gewissen Physikerschule am Ende des XIX. und zu Beginn des XX. Jahrhunderts, „widerlegt" ebenso wenig den Materialismus, beweist ebenso wenig den Zusammenhang des Idealismus (oder des Empiriokritizismus) mit der Naturwissenschaft, wie es etwa die entsprechenden Bemühungen eines F. A. Lange und der „physiologischen" Idealisten bewiesen haben. Die Abweichung nach der Seite der reaktionären Philosophie, die in dem einen wie in dem andern Falle bei einer Naturforscherschule in einem Zweig der Naturwissenschaft hervorgetreten ist, ist ein zeitweiliger Zickzack, eine vorübergehende krankhafte Periode in der Geschichte der Wissenschaft, eine Wachstumskrankheit, hervorgerufen vor allem durch den jähen Zusammenbruch der alten bis dahin feststehenden Begriffe.

Der Zusammenhang des modernen „physikalischen" Idealismus mit der Krise der modernen Physik ist allgemein anerkannt, wie wir schon oben gezeigt haben. „Die Argumente der skeptischen Kritik, die sich gegen die moderne Physik richten – schreibt A. Rey, wobei er nicht so sehr die Skeptiker als vielmehr die offenen Anhänger des Fideismus vom Schlage eines Brunetière im Auge hat –, laufen im Grunde alle auf das berühmte Argument aller Skeptiker hinaus: auf die Verschiedenheit der Meinungen" (unter den Physikern). Doch diese Meinungsverschiedenheiten „beweisen gar nichts gegen die Objektivität der Physik".

In der Geschichte der Physik lassen sich, wie in jeder Geschichte, bedeutende Perioden unterscheiden, die gekennzeichnet sind durch die verschiedene Form, durch den verschiedenen allgemeinen Charakter der Theorien… Sobald eine jener Entdeckungen auftritt, die alle Teile der Physik beeinflussen, weil sie irgendeine bis dahin unbekannte oder nicht vollständig gewürdigte Grundtatsache feststellen, so verändert sich das ganze Aussehen der Physik; eine neue Periode beginnt. So war es nach den Entdeckungen von Newton, nach den Entdeckungen von Joule-Mayer und Carnot-Clausius. Dasselbe geschieht offenbar auch nach der Entdeckung der Radioaktivität… Der Historiker, der später die Ereignisse aus einer gewissen notwendigen Entfernung betrachten wird, wird ohne Mühe dort, wo die Zeitgenossen nur Konflikte, Widersprüche, Spaltungen in verschiedene Richtungen sahen, eine stetige Entwicklung erblicken. Offenbar ist die Krise, die die Physik in den letzten Jahren erlebt hat, auch nichts anderes (trotz der Schlüsse, die die philosophische Kritik auf Grund dieser Krise gezogen hat). Es ist eine typische Krise des Wachstums (crise de croissance), hervorgerufen durch die großen neuen Entdeckungen. Es ist unbestreitbar, dass die Krise zu einer Umgestaltung der Physik führt – sonst gäbe es ja keine Entwicklung, keinen Fortschritt –, doch wird sie den wissenschaftlichen Geist nicht verändern." (l. c. S. 370–372.)

Der Versöhnler Rey bemüht sich, alle Schulen der modernen Physik gegen den Fideismus miteinander zu vereinen! Das ist zwar eine gutgemeinte Verfälschung, aber immerhin eine Verfälschung, denn das Hinneigen der Schule Mach-Poincaré-Pearson zum Idealismus (d. h. zu einem raffinierten Fideismus) ist unbestreitbar. Jene Objektivität der Physik aber, die mit den Grundlagen des „wissenschaftlichen Geistes", im Unterschiede zum fideistischen Geiste, zusammenhängt, und die Rey so eifrig verteidigt, ist nichts anderes als eine „verschämte" Formulierung des Materialismus. Der fundamentale materialistische Geist der Physik wie aller modernen Naturwissenschaft wird alle möglichen Krisen überwinden, aber unbedingt nur, wenn der metaphysische Materialismus durch den dialektischen ersetzt wird.

Dass die Krise der modernen Physik in ihrem Abweichen von der unumwundenen, entschiedenen und unwiderruflichen Anerkennung des objektiven Wertes ihrer Theorien besteht, das sucht der Versöhnler Rey oft zu vertuschen, doch die Tatsachen sind stärker als alle Versöhnungsversuche.

Die Mathematiker“ – schreibt Rey –, „die gewohnt sind, mit einer Wissenschaft umzugehen, in der das Objekt – wenigstens scheinbar – vom Geist des Gelehrten erzeugt wird oder wo jedenfalls die konkreten Erscheinungen sich nicht in die Forschungen hinein mengen, haben sich von der Physik eine zu abstrakte Vorstellung gebildet: indem sie bemüht waren, die Physik der Mathematik anzunähern, übertrugen sie die allgemeine Theorie der Mathematik auf die Physik… Alle Experimentatoren weisen auf den Einbruch (invasion) des Geistes der Mathematik in die Methoden des physikalischen Urteilens und in die Auffassung der Physik hin. Lässt sich nicht durch diesen Einfluss – der dadurch nicht geringer wird, dass er mitunter verborgen bleibt – die häufige Unsicherheit, das schwankende Denken betreffs der Objektivität der Physik, die Umwege, auf denen man zur Objektivität gelangt, die Hindernisse, die dabei zu überwinden sind, erklären?…" (S. 227.)

Das ist ganz vortrefflich gesagt. „Schwankendes Denken" in der Frage der Objektivität der Physik, – das ist das Wesen des modischen „physikalischen" Idealismus.

„… Die abstrakten Fiktionen der Mathematik haben gewissermaßen ein Gitter aufgerichtet zwischen der physischen Realität und der Weise, wie die Mathematiker die Wissenschaft von dieser Realität verstehen. Sie spüren dunkel die Objektivität der Physik sie wollen, wenn sie sich an die Physik machen, vor allem objektiv sein, sie suchen, sich auf die Realität zu stützen und diese Stütze beizubehalten, doch die früheren Gewohnheiten setzen sich durch. Und bis hinauf zur Energetik, die die Welt viel solider und mit weniger Hypothesen als die alte mechanische Physik konstruieren wollte – bestrebt, die Sinnenwelt nachzubilden (décalquer) und nicht neu zu erschaffen –, haben wir es immerhin mit Theorien der Mathematiker zu tun… Die Mathematiker haben alles getan, um die Objektivität der Physik zu retten, denn ohne Objektivität, das verstehen sie recht wohl, kann von Physik keine Rede sein… Doch die Kompliziertheit ihrer Theorien, ihre Umschweife hinterlassen ein peinliches Gefühl. Es ist zu gemacht, zu sehr gesucht, konstruiert (édifié); der Experimentator findet hier nicht jenes spontane Vertrauen, das ihm die stete Berührung mit der physischen Realität einflößt… Das ist es, was alle Physiker, die vor allem Physiker – und deren Namen ist Legion – oder die nur Physiker sind, im Grunde genommen sagen, das ist es, was die ganze neomechanistische Schule sagt… Die Krise der Physik besteht in der Eroberung der Physik durch den Geist der Mathematik. Die Fortschritte der Physik einerseits und die der Mathematik anderseits führten im XIX. Jahrhundert zu einer innigen Verbindung dieser beiden Wissenschaften… Die theoretische Physik wurde zur mathematischen Physik… Dann begann die Periode der formalen Physik, d. h. der mathematischen Physik, die rein mathematisch geworden ist – mathematische Physik nicht als ein Zweig der Physik, sondern als ein Zweig der Mathematik. In dieser neuen Phase konnte der an die konzeptuellen (rein logischen) Elemente, die das einzige Material seiner Arbeit bilden, gewöhnte Mathematiker, der sich durch die groben, materiellen Elemente, welche er wenig geschmeidig fand, beengt fühlte, nicht umhin, danach zu streben, möglichst viel von ihnen zu abstrahieren, sich dieselben ganz immateriell, rein logisch vorzustellen, oder gar sie völlig zu ignorieren. Die Elemente als reale, objektive Gegebenheiten, d. h. als physische Elemente, waren ganz verschwunden. Übriggeblieben sind formale Relationen, ausgedrückt in Differentialgleichungen … Falls der Mathematiker sich durch diese konstruktive Arbeit seines Geistes nicht narren lässt… wird er den Zusammenhang der theoretischen Physik mit der Erfahrung herauszufinden wissen, aber auf den ersten Blick und für einen uneingeweihten Menschen bekommt es den Anschein einer willkürlichen Konstruktion der Theorie Der abstrakte Begriff (le concept) tritt an die Stelle der realen Elemente So erklärt sich geschichtlich, infolge der mathematischen Form, die die theoretische Physik angenommen hat … das Missbehagen (le malaise), die Krise und die scheinbare Entfernung der Physik von den objektiven Tatsachen." (S. 227–232.)

Das ist die erste Ursache des „physikalischen" Idealismus. Die reaktionären Neigungen werden durch den Fortschritt der Wissenschaft selbst erzeugt. Der große Erfolg der Naturwissenschaft, die Annäherung an so gleichartige und einfache Elemente der Materie, deren Bewegungsgesetze sich mathematisch bearbeiten lassen, lässt die Mathematiker die Materie vergessen. „Die Materie verschwindet", es bleiben nur Gleichungen. Auf einer neuen Entwicklungsstufe und gleichsam auf neue Art erhält man die alte Kantische Idee: die Vernunft schreibt der Natur die Gesetze vor. Hermann Cohen, der, wie wir gesehen haben, über den idealistischen Geist der neuen Physik entzückt ist, versteigt sich soweit, dass er die Einführung der höheren Mathematik in die Schulen predigt, – um in die Gymnasiasten den durch unsere materialistische Epoche verdrängten Geist des Idealismus einzupflanzen. („Geschichte des Materialismus" von A. Lange, 5. Auflage, 1896, S. XLIX.) Freilich ist dies eine unsinnige Träumerei eines Reaktionärs, und in Wirklichkeit gibt es und kann es nichts weiter geben als die vorübergehende Schwärmerei eines kleinen Teils von Fachleuten für den Idealismus. Es ist aber im höchsten Grade bezeichnend, wie der Ertrinkende sich an einen Strohhalm klammert, mit welchen raffinierten Mitteln die Vertreter der gebildeten Bourgeoisie versuchen, für den Fideismus, der in den unteren Schichten der Volksmassen durch die Unwissenheit, durch die Eingeschüchtertheit und durch die widersinnige Barbarei der kapitalistischen Widersprüche erzeugt wird, künstlich ein Plätzchen zu bewahren oder ausfindig zu machen.

Die andere Ursache, die den „physikalischen" Idealismus erzeugte, ist das Prinzip des Relativismus, der Relativität unseres Wissens, ein Prinzip, das sich mit besonderer Kraft den Physikern in einer Periode des jähen Zusammenbruchs der alten Theorien aufdrängt, und das – bei der Unkenntnis der Dialektik – unvermeidlich zum Idealismus führt.

Diese Frage nach dem Verhältnis von Relativismus und Dialektik ist wohl die allerwichtigste für die Erklärung des theoretischen Unglücks des Machismus. Rey z. B. hat, wie alle europäischen Positivisten, keine Ahnung von der Marxschen Dialektik. Das Wort Dialektik gebraucht er ausschließlich im Sinne der idealistischen philosophischen Spekulation. Da er fühlt, dass die neue Physik am Relativismus gestolpert ist, wirft er sich hilflos hin und her und versucht, einen maßvollen und einen maßlosen Relativismus zu unterscheiden. Freilich „grenze der maßlose Relativismus, wenn auch nicht praktisch, so doch logisch, an einen wahren Skeptizismus" (S. 215), doch bei Poincaré soll eben dieser „maßlose" Relativismus nicht vorhanden sein. Als ob man auf einer Apothekerwaage ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Relativismus auswägen und damit die Sache des Machismus verbessern könnte!

In Wirklichkeit bietet die einzige theoretisch richtige Fragestellung hinsichtlich des Relativismus die materialistische Dialektik von Marx und Engels, und deren Unkenntnis muss unvermeidlich vom Relativismus zum philosophischen Idealismus führen. Die Verkennung dieses Umstandes allein schon genügt unter anderem, um dem abgeschmackten Büchlein des Herrn Berman über die „Dialektik vom Standpunkt der modernen Erkenntnistheorie aus" jede Bedeutung zu nehmen. Herr Bermann wiederholte den uralten Unsinn über die Dialektik, die er absolut nicht verstand. Wir haben schon gesehen, dass alle Machisten auf Schritt und Tritt dieselbe Verständnislosigkeit in Bezug auf die Erkenntnistheorie offenbaren.

Alle alten Wahrheiten der Physik, bis zu jenen, die als unbestreitbar und unerschütterlich gegolten haben, erweisen sich als relative Wahrheiten – also kann es keine objektive, von der Menschheit unabhängige Wahrheit geben. So urteilt nicht nur der ganze Machismus, sondern der ganze „physikalische" Idealismus überhaupt. Dass sich die absolute Wahrheit aus der Summe der relativen Wahrheiten in ihrer Entwicklung zusammensetzt, dass die relativen Wahrheiten relativ richtige Abbildungen des von der Menschheit unabhängigen Objektes sind, dass diese Abbildungen immer richtiger werden, dass in jeder wissenschaftlichen Wahrheit trotz ihrer Relativität ein Element der absoluten Wahrheit enthalten ist, alle diese Sätze, die sich für jeden, der über Engels' „Anti-Dühring" nachgedacht hat, von selbst verstehen, sind für die „moderne" Erkenntnistheorie ein Buch mit sieben Siegeln.

Werke, wie „Die Theorie der Physik" von P. DuhemT oder „Die Begriffe und Theorien der modernen Physik" von StalloU, die von Mach besonders empfohlen werden, zeigen überaus anschaulich, dass diese „physikalischen" Idealisten die größte Bedeutung gerade dem Beweis der Relativität unserer Kenntnisse beimessen und im Grunde zwischen Idealismus und dialektischem Materialismus schwanken. Die beiden Verfasser, die verschiedenen Epochen angehören und an die Frage von verschiedenen Gesichtspunkten herantreten (Duhem ist Physiker von Fach, der zwanzig Jahre auf diesem Gebiet gearbeitet hat; Stallo ist ehemaliger orthodoxer Hegelianer, der sich seiner im Jahre 1848 veröffentlichten, im althegelianischen Geiste gehaltenen Naturphilosophie schämt), kämpfen am energischsten gegen die atomistisch-mechanische Auffassung der Natur. Sie weisen auf die Beschränktheit einer solchen Auffassung hin, auf die Unmöglichkeit, sie als Schranke unserer Erkenntnis anzuerkennen, auf die Starrheit vieler Begriffe bei den Anhängern dieser Auffassung. Dieser Mangel des alten Materialismus steht auch außer Zweifel; Verkennung der Relativität aller wissenschaftlichen Theorien, Unkenntnis der Dialektik, Überschätzung des mechanischen Gesichtspunktes, – das warf auch Engels den früheren Materialisten vor. Nur verstand Engels (im Unterschied zu Stallo) den Hegelschen Idealismus über Bord zu werfen und den genial-wahren Kern der Hegelschen Dialektik zu begreifen. Engels sagte sich von dem alten, metaphysischen Materialismus los zugunsten des dialektischen Materialismus, nicht aber zugunsten des Relativismus, der in den Subjektivismus hinüber gleitet.

Die mechanische Theorie“ – sagt z. B. Stallo – „hypostasiert so wie alle metaphysischen Theorien einzelne, ideale und vielleicht rein konventionelle Gruppen von Attributen oder Einzelattribute und behandelt sie als verschiedene Arten der objektiven Realität." (S. 150.)

Das ist richtig, wenn man auf die Anerkennung der objektiven Realität nicht verzichtet und die Metaphysik als antidialektisch bekämpft. Stallo gibt sich keine klare Rechenschaft darüber. Die materialistische Dialektik hat er nicht begriffen, daher gleitet er oft über den Relavitismus zum Subjektivismus und Idealismus.

Desgleichen Duhem. Mit großem Kraftaufwand, mit einer Reihe ebenso interessanter wie wertvoller Beispiele aus der Geschichte der Physik, wie sie oft bei Mach zu finden sind, liefert er den Beweis, dass „jedes physikalische Gesetz provisorisch und relativ ist, weil es angenähert ist" (S. 280). Welche Lust, offene Türen einzurennen! – denkt der Marxist, der die langen Betrachtungen über dieses Thema liest. Aber das ist eben das Unglück der Duhem, Stallo, Mach, Poincaré, dass sie die von dem dialektischen Materialismus geöffnete Tür nicht sehen. Weil sie keine richtige Formulierung des Relativismus geben können, gleiten sie von diesem zum Idealismus. „Ein physikalisches Gesetz ist, genau gesprochen, weder richtig noch falsch, sondern angenähert", schreibt Duhem (S. 272). In diesem „sondern" steckt schon der Anfang des Falschen, der Anfang des Verwischens der Grenzlinie zwischen der wissenschaftlichen Theorie, die annähernd das Objekt abbildet, d. h. sich der objektiven Wahrheit nähert, und der willkürlichen, phantastischen, rein konventionellen Theorie, wie z. B. der Religionstheorie oder der des Schachspiels.

Das Falsche geht bei Duhem so weit, dass er die Frage, ob den sinnlichen Erscheinungen eine „materielle Realität" entspreche, für Metaphysik erklärt (S. 10). Fort mit der Frage nach der Realität, unsere Begriffe und Hypothesen sind bloße Symbole (signes, S. 26), „willkürliche" Konstruktionen (S. 27) u. ä. m. Von hier ist nur ein Schritt zum Idealismus, zur „Physik des Gläubigen", die Herr Pierre Duhem im Geiste des Kantianismus auch predigt (bei Rey, S. 162; vergl. S. 160). Der gute Fritz Adler aber – auch ein Machist, der Marxist sein will – wusste nichts Klügeres zu tun, als Duhem folgendermaßen zu „korrigieren": er beseitige die „Realitäten, die hinter den Erscheinungen verborgen sind", nur als „Objekte der Theorie", nicht aber „als Objekte der Wirklichkeit".V Das ist die uns schon bekannte Kritik des Kantianismus vom Standpunkt Humes und Berkeleys aus.

Doch kann von einem bewussten Kantianismus bei Duhem keine Rede sein. So wie Mach schwankt er einfach hin und her und weiß nicht, worauf er seinen Relativismus stützen soll. An einer ganzen Reihe von Stellen kommt er hart an den dialektischen Materialismus heran. Wir kennen den Ton,

wie er in Beziehung zu uns ist, nicht aber wie er selbst in den tönenden Körpern beschaffen ist. Die Theorien der Akustik gehen darauf aus, uns die Wirklichkeit, von der unsere Eindrücke bloß die Hülle und der Schleier sind, zur Kenntnis zu bringen. Sie wollen uns lehren, dass da, wo wir nur diese Erscheinung, die wir den Ton nennen, wahrnehmen, in Wirklichkeit eine sehr kleine und sehr schnelle Schwingung vorhanden ist." (S. 7.)

Nicht die Körper sind Symbole der Empfindungen, sondern die Empfindungen sind Symbole (richtiger; Abbilder) der Körper.

Die Entwicklung der Physik bewirkt einen fortwährenden Kampf zwischen der Natur, die nicht müde wird, Neues zu zeigen, und dem Verstand, der nicht müde werden will, zu begreifen." (S. 32.)

Die Natur ist unendlich, so wie ihr kleinstes Teilchen (darunter auch das Elektron) unendlich ist, doch die Vernunft verwandelt ebenso unendlich die „Dinge an sich" in „Dinge für uns".

So wird sich dieser Kampf zwischen der Wirklichkeit und den physikalischen Gesetzen unendlich ausdehnen. Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Widerlegung durch eine Tatsache entgegenstellen. Aber unermüdlich wird die Physik das widerlegte Gesetz verbessern, modifizieren und verwickelter machen …" (S. 290.)

Das wäre eine ganz richtige Darstellung des dialektischen Materialismus, wenn nur der Verfasser fest bei der Existenz dieser von der Menschheit unabhängigen, objektiven Realität bliebe.

„… die physikalische Theorie ist nicht ein rein künstliches System, welches heute bequem, morgen aber nutzlos sein wird, sie wird eine immer mehr naturgemäße Klassifikation, ein immer klarerer Reflex der Realitäten, die die experimentelle Methode nicht von Angesicht zu Angesicht (face à face) sehen kann." (S. 445.)

Der Machist Duhem liebäugelt in der letzten Phrase mit dem Kantischen Idealismus: es erweckt den Anschein, als ob ein Weg für eine andere außer der „experimentellen" Methode offen wäre, als ob wir nicht direkt, unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht die „Dinge an sich" erkennen könnten. Wenn aber die physikalische Theorie immer naturgemäßer wird, dann existiert also unabhängig von unserem Bewusstsein eine „Natur", eine Realität, die sich in dieser Theorie „spiegelt", – eben das ist die Ansicht des dialektischen Materialismus.

Mit einem Wort, der „physikalische" Idealismus von heute, so gut wie der „physiologische" Idealismus von gestern, bedeutet nur, dass eine Naturforscherschule in einem Zweig der Naturwissenschaft zur reaktionären Philosophie hinab geglitten ist, weil sie nicht vermochte, direkt und von allem Anfang an sich vom metaphysischen Materialismus zum dialektischen Materialismus zu erheben.W

Diesen Schritt macht und wird die moderne Physik machen, aber sie steuert auf diese einzig richtige Methode und einzig richtige Philosophie der Naturwissenschaft nicht schnurstracks, sondern im Zickzack hin, nicht bewusst, sondern instinktiv, das eigene „Endziel" nicht klar sehend, sondern indem sie sich diesem tastend, schwankend nähert, manchmal sogar mit dem Rücken voran. Die moderne Physik liegt in Geburtswehen. Sie ist dabei, den dialektischen Materialismus zu gebären. Die Entbindung ist schmerzhaft. Außer einem lebendigen und lebensfähigen Wesen kommen unvermeidlich noch gewisse tote Produkte, einige Abfälle, zum Vorschein, die in die Kehrichtgrube gehören. Zu diesen Abfällen gehört auch der ganze physikalische Idealismus, die ganze empiriokritische Philosophie samt dem Empiriosymbolismus, Empiriomonismus und dergleichen mehr.

1 Die Charakteristik des Begriffs Masse, die Henri Poincaré gibt und die von W. I. Lenin angeführt wird, entspricht dem damaligen Entwicklungsstand der Physik. Die der Entdeckung des Elektrons folgende Entwicklung der Elektronentheorie ermöglichte es, die Natur der Elektronenmasse zu erklären. J. J. Thomson stellte eine Hypothese auf, nach der die eigentliche Masse des Elektrons durch die Energie seines elektromagnetischen Feldes bedingt ist ( d. h., das Beharrungsvermögen des Elektrons entspringt dem Beharrungsvermögen des Feldes); es wurde der Begriff der elektromagnetischen Masse des Elektrons eingeführt, die von der Geschwindigkeit seiner Bewegung abhängt; die mechanische Masse des Elektrons aber, ebenso wie die jedes beliebigen anderen Teilchens, galt als unveränderlich. Das Vorhandensein der mechanischen Masse sollte durch Experimente nachgewiesen werden, die man zur Untersuchung der Abhängigkeit der elektromagnetischen Masse des Elektrons von der Geschwindigkeit anstellte. Diese im Jahre 1901/1902 von W. Kaufmann durchgeführten Versuche ergaben jedoch ganz unerwartet, dass das Elektron sich so verhält, als ob seine ganze Masse elektromagnetisch sei. Daraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die mechanische Masse, die früher als unabdingbare Eigenschaft der Materie galt, beim Elektron verschwinde. Dieser Umstand diente als Vorwand für die verschiedenartigsten philosophischen Spekulationen und Erklärungen über ein „Verschwinden der Materie", deren Unhaltbarkeit W. I. Lenin nachwies. Die weitere Entwicklung der Physik (Relativitätstheorie) zeigte, dass die mechanische Masse ebenso von der Geschwindigkeit der Bewegung abhängt und dass die Masse des Elektrons nicht gänzlich auf die elektromagnetische Masse reduziert werden kann. [Fußnote der „Werke“, Band 14]

A L- Houllevigue: Révolution des sciences", Paris, A. Collin, 1908, S. 63 87, 88. Vgl. seinen Aufsatz „Les idees des physiciens sur la matière" in „Année Psychologique", 1908.

BAugusto Righi, „Die moderne Theorie der physikalischen Erscheinungen“, Leipzig 1905, S. 131.

C Vgl. Oliver Lodge: „Sur les électrons", Paris 1906, S. 159: „Die elektrische Theorie der Materie" (mit ihrer Annahme der Elektrizität als ,fundamentaler Substanz') „ist beinahe ein theoretisches Erreichen des Ziels, das die Philosophen von jeher anstrebten, nämlich: der Einheit der Materie." Vgl. auch Augusto Righi: „Über die Struktur der Materie", Leipzig 1908; J. J. Thomson: „The corpuscular theory of matter", London 1907; P. Langevin: „La physique des électrons" in „Revue générale des sciences", 1905, S. 257–276.

D Wilhelm Ostwald: „Vorlesungen über Naturphilosophie", Leipzig 1902, S. VIII.

E J. Gr. Hibben: „The Theory of Energetics and its Philosophical Bearings", The Monist, vol. XIII, April 1903, S. 229 u. 230.

F The British Association at Glasgow, 1901. Presidential Adress by Prof. Arthur W. Rücker, in „Scientific American Supplement", 1901, Nr. 1345 u. 1346.

G James Ward: „Naturalism and Agnosticism", Bd. I, 1906, S. 303.

HArchiv für systematische Philosophie", Bd. V. 1898/99, S. 167.

I Heinrich Hertz: „Gesammelte Werke", Bd. III, Leipzig 1895, bes. S. 1, 2, 49.

JKantstudien", Bd. VIII, 1903, S. 309.

KThe Monist", vol. XVI, 1906, Nr. 9, S. 164, Aufsatz über den „Monismus" Machs.

L „Comptes rendus des séances de l'Académie des Sciences", S. 1311.

M Eduard v. Hartmann: „Die Weltanschauung der modernen Physik", Leipzig 1902.

N Dr. Ludwig Boltzmann: „Populäre Schriften", Leipzig 1905, S. 187.

O Siegmund Günther: „Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im XIX. Jahrhundert", Berlin 1901, S. 941 u. 942.

P Boltzmann will sagen, dass der Verfasser nicht versucht, Bewegung ohne Materie zu denken. Von „Dualismus" hier zu sprechen, ist lächerlich. Der philosophische Monismus oder Dualismus besteht in einer konsequenten oder inkonsequenten Durchführung des Materialismus oder des Idealismus.

Q Die Arbeit von Erich Becher: „Philosophische Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaften" (Leipzig 1907), die ich erst nach Beendigung dieses Buches kennengelernt habe, bestätigt das in diesem Paragraph Ausgeführte. Der Verfasser, der dem erkenntnistheoretischen Standpunkt von Helmholtz und Boltzmann, d. h. dem „verschämten", nicht zu Ende gedachten Materialismus am nächsten steht, macht sich in seiner Arbeit zur Aufgabe die Rechtfertigung und Deutung der Grundannahmen von Physik und Chemie. Aus dieser Rechtfertigung wird natürlich ein Kampf gegen die Mode gewordene, aber auf immer größeren Widerstand stoßende machistische Richtung in der Physik (vgl. S. 91 u. a.). Treffend charakterisiert E. Becher diese Richtung als einen „subjektivistischen Positivismus" (S. III) und verlegt den Schwerpunkt des Kampfes gegen sie auf den Nachweis der „Hypothese" der Außenwelt (Kap. III–VII), auf den Nachweis ihrer „vom Wahrgenommenwerden unabhängigen Existenz". Die Verneinung dieser „Hypothese" durch die Machisten führe diese häufig zum Solipsismus (S. 78–82 u. a.). Die Auffassung Machs, dass den einzigen Gegenstand der Naturwissenschaften die „Empfindungen und ihre Empfindungskomplexe, nicht aber die Außenwelt" ausmachen (S. 138), bezeichnet Becher als „Empfindungsmonismus" und zählt sie zu den „rein konszientialistischen Richtungen". Dieser plumpe und unsinnige Ausdruck ist nach dem lateinischen conscientia = Bewusstsein gebildet und bedeutet nichts anderes als philosophischen Idealismus. (Vgl. S. 156.) In den letzten zwei Kapiteln des Buches vergleicht E. Becher ziemlich gut die alte mechanistische Theorie mit der neuen elektrischen Theorie der Materie und deren Weltbild („kinetisch-elastische" und „kinetisch-elektrische" Auffassung der Natur, wie sich der Verfasser ausdrückt). Letztere Theorie, die auf der Elektronenlehre beruht, sei ein Schritt vorwärts in der Erkenntnis der Einheit der Welt; für sie seien „die Elemente der materiellen Welt elektrische Ladungen." (S. 223.) „Jede rein kinetische Naturauffassung kennt nichts als eine Zahl bewegter Dinge, mögen diese Elektronen heißen oder wie auch immer. Der Bewegungszustand dieser Dinge im folgenden Zeitteilchen ist durch den Lage- und Bewegungszustand im vorhergehenden Zeitteilchen vollständig gesetzmäßig bestimmt." (S. 225.) Der Grundmangel des Becherschen Buches ist des Verfassers absolute Unkenntnis des dialektischen Materialismus. Diese Unkenntnis verleitet ihn oft zu ungereimtem und krausem Zeug, bei dem wir uns hier nicht aufhalten können.

R Der „Versöhner" Rey verschleiert nicht nur die Fragestellung des philosophischen Materialismus, er ließ auch die prägnantesten materialistischen Erklärungen der französischen Physiker unbeachtet. Er erwähnte z. B. mit keiner Silbe den 1902 verstorbenen Alfred Cornu. Dieser Physiker begegnete der Ostwaldschen „Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus" mit einer geringschätzigen Bemerkung über die anspruchsvolle, feuilletonistische Behandlung des Problems. (Siehe „Revue générale des Sciences", 1895, S. 1030 u. 1031.) Auf dem internationalen Kongress der Physiker in Paris 1900 sagte A. Cornu:

„… Je mehr wir die Naturerscheinungen erkennen, desto mehr entwickelt sich, desto exakter wird die mutige kartesianische Auffassung des Weltmechanismus: in der physischen Welt gibt es nichts außer Materie und Bewegung. Das Problem der Einheit der physischen Kräfte … tritt nach den großen Entdeckungen, die das Ende des XIX. Jahrhunderts auszeichneten, wieder in den Vordergrund. Das Hauptaugenmerk unserer modernen Führer der Wissenschaft – Faraday, Maxwell, Hertz (wenn wir nur von den bereits verstorbenen berühmten Physikern sprechen wollen) – ist darauf gerichtet, die Natur immer exakter zu bestimmen und die Eigenschaften der unwägbaren Materie (matière subtile), der Trägerin der Weltenergie, zu enträtseln … Die Rückkehr zu den kartesianischen Ideen ist offensichtlich." („Rapports présentés au congres International de physique", Paris 1900, I. vol. 4-me, S. 7.)

Lucien Poincaré bemerkt mit Recht in seinem Buche über die „Moderne Physik" („La physique moderne", Paris 1906, S. 14), dass diese kartesianische Idee von den Enzyklopädisten des XVIII. Jahrhunderts aufgenommen und entwickelt wurde, aber weder dieser Physiker noch A. Cornu wissen irgend etwas darüber, wie die dialektischen Materialisten Marx und Engels diese Grundvoraussetzung des Materialismus von den Einseitigkeiten des mechanischen Materialismus geläutert haben.

S Johannes Rehmke: „Philosophie und Kantianismus", Eisenach 1883, S. 15 ff.

T P. Duhem: „La theorie physique, son objet et sa structure", Paris 1906.

U I. B. Stallo: „The concepts and theories of modern physics", London 1882. Es gibt eine französische und eine deutsche Übersetzung.

V „Vorbemerkung des Übersetzers" zur deutschen Übersetzung von Duhems Buch, Leipzig 1908, J. Barth.

W Der berühmte Chemiker William Ramsay sagt: „Man fragte mich öfters: ist die Elektrizität nicht eine Schwingung? Wie ist es dann möglich, die drahtlose Telegraphie durch die Fortbewegung der kleinen Teilchen oder Korpuskeln zu erklären? Darauf lautet die Antwort: Die Elektrizität ist ein Ding; sie besteht (gesperrt von Ramsay) aus diesen kleinen Korpuskeln, und wenn diese Korpuskeln von irgendeinem Objekte wegfliegen, so verbreitet sich im Äther eine Welle, ähnlich der Lichtwelle, und diese Welle wird für den drahtlosen Telegraph ausgenützt." (William Ramsey: „Essays biographical and chemical", London 1908, p. 126.)

Nachdem Ramsay die Verwandlung des Radiums in das Helium geschildert, bemerkt er: „Wenigstens kann ein sogenanntes Element schon jetzt nicht mehr als letzte Materie betrachtet werden, es wird selbst in eine einfachere Form der Materie verwandelt." (S. 160.) „Es besteht fast kein Zweifel, dass die negative Elektrizität eine besondere Form der Materie ist, und die positive Elektrizität Materie ist, der negative Elektrizität fehlt, d. h. es ist Materie minus diese elektrische Materie." (S. 176.) „Was ist Elektrizität? Früher dachte man, dass es zwei Arten von Elektrizität gäbe: positive und negative. Damals war es unmöglich, auf die Frage zu antworten. Aber die neuesten Forschungen machen es wahrscheinlich, dass, was man als negative Elektrizität zu bezeichnen pflegt, in Wirklichkeit (really) Substanz ist. In der Tat ist das spezifische Gewicht seiner Teilchen ausgemessen; dieses Teilchen ist gleich ungefähr einem Siebenhundertstel der Masse eines Wasserstoffatoms … Die Elektrizitätsatome heißen Elektronen." (S. 196.) Würden unsere Machisten, die Bücher und Aufsätze über philosophische Themen schreiben, denken können, dann würden sie begriffen haben, dass Ausdrücke, wie „die Materie verschwindet", „die Materie reduziert sich auf Elektrizität" usw. nur der erkenntnistheoretisch-hilflose Ausdruck jener Wahrheit sind, dass es gelingt, neue Formen der Materie, neue Formen der materiellen Bewegung zu entdecken, die alten Formen auf diese neuen zurückzuführen usw.

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