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Wladimir I. Lenin 19150600 Der Zusammenbruch der II. Internationale

Wladimir I. Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale1

Geschrieben im Sommer 1915. Zum ersten Mal veröffentlicht in der Zeitschrift „Kommunist Nr. 1/2. Gez. N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 311-372]

Unter dem Zusammenbruch der Internationale versteht man mitunter einfach die formelle Seite der Sache, die Unterbrechung der internationalen Verbindung zwischen den sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder, die Unmöglichkeit, eine internationale Konferenz oder das Internationale Sozialistische Büro einzuberufen usw. Auf diesem Standpunkt stehen manche Sozialisten in den neutralen, kleinen Ländern, wahrscheinlich sogar die Mehrheit ihrer offiziellen Parteien, dann die Opportunisten und ihre Verteidiger. In der russischen Presse übernahm mit einer Offenherzigkeit, die höchste Anerkennung verdient, Herr Wl. Kossowski in Nr. 8 des „Informationsblattes“ des „Bund“ die Verteidigung dieses Standpunkts; dabei gab die Redaktion des „Informationsblattes“ mit keinem Worte zu erkennen, dass sie mit dem Autor nicht einverstanden sei.2 Es ist zu hoffen, dass die Verteidigung des Nationalismus durch Herrn Kossowski – er verstieg sich bis zur Entschuldigung der deutschen Sozialdemokraten, die für die Kriegskredite gestimmt haben – vielen Arbeitern helfen wird, sich endgültig von dem bürgerlich-nationalistischen Charakter des „Bund“ zu überzeugen.

Bei den klassenbewussten Arbeitern ist der Sozialismus eine ernste Überzeugung und nicht eine bequeme Deckung für spießbürgerlich-versöhnliche und nationalistisch-oppositionelle Bestrebungen. Unter dem Zusammenbruch der Internationale verstehen sie den himmelschreienden Verrat der Mehrheit der offiziellen sozialdemokratischen Parteien an ihren Überzeugungen, an den feierlichsten Erklärungen in den zu Stuttgart und Basel auf Internationalen Kongressen gehaltenen Reden, in den Resolutionen dieser Kongresse usw. Vor diesem Verrat die Augen schließen kann nur der, der ihn nicht sehen will, für den das nicht zum Vorteil gereicht. Wenn wir die Sache wissenschaftlich, d. h. vom Standpunkte der Beziehungen zwischen den Klassen der modernen Gesellschaft formulieren, so müssen wir sagen, dass die sozialdemokratischen Parteien und an ihrer Spitze in erster Linie die größte und einflussreichste Partei der II. Internationale, die deutsche Sozialdemokratie, sich in ihrer Mehrheit gegen das Proletariat auf die Seite ihres Generalstabs, ihrer Regierung und ihrer Bourgeoisie geschlagen haben. Das ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung, und man hat auf die möglichst allseitige Analyse dieses Ereignisses allen Nachdruck zu legen. Es ist längst anerkannt, dass Kriege, trotz all der Schrecken und Nöte, die sie mit sich führen, durch schonungslose Aufdeckung, Enthüllung und Zerstörung von vielem, was in den menschlichen Institutionen faul, überlebt und abgestorben ist, mehr oder minder großen Nutzen bringen. Unstreitigen Nutzen für die Menschheit hat auch der europäische Krieg von 1914/15 bereits zu bringen begonnen – er zeigte der fortgeschrittensten Klasse der zivilisierten Länder, dass in ihren Parteien etwas wie eine abscheuliche Eiterbeule reif geworden ist und dass sich von irgendwoher unerträglicher Kadavergeruch verbreitet.

I

Ist es Tatsache, dass wir es mit einem Verrat der wichtigsten sozialdemokratischen Parteien Europas an allen ihren Überzeugungen und Aufgaben zu tun haben? Selbstverständlich lieben es die Verräter selbst nicht, davon zu sprechen, und ebenso wenig die Leute, die genau wissen – oder dunkel ahnen –, dass sie mit ihnen in Frieden und Freundschaft werden leben müssen. Aber wie sehr das für verschiedene „Autoritäten“ der II. Internationale oder für ihre Fraktionsfreunde unter den russischen Sozialdemokraten auch unangenehm sein möge, wir müssen den Dingen offen in die Augen schauen, sie bei ihrem Namen nennen, den Arbeitern die Wahrheit sagen.

Gibt es Tatsachenmaterial darüber, wie vor dem jetzigen Krieg und in Voraussicht dieses Kriegs die sozialistischen Parteien ihre Aufgaben und ihre Taktik aufgefasst haben? Unstreitig gibt es das. Es ist dies die Resolution des Baseler Internationalen Sozialistenkongresses vom Jahre 1912, die wir zusammen mit der Resolution des Chemnitzer Parteitags der deutschen Sozialdemokratie aus dem gleichen Jahre wieder abdrucken3 – als Erinnerung an die „vergessenen Worte“ des Sozialismus. Diese Resolution zieht das Fazit der gegen den Krieg gerichteten ungeheuren Propaganda- und Agitationsliteratur aller Länder, – sie ist die präziseste und vollständigste, die feierlichste und formellste Darstellung der sozialistischen Ansichten über den Krieg und die Taktik gegenüber dem Kriege. Nicht anders denn als Verrat ist schon allein die Tatsache zu bezeichnen, dass die Autoritäten der Internationale von gestern, des Sozialchauvinismus von heute, ohne eine einzige Ausnahme – weder Hyndman noch Guesde noch Kautsky noch Plechanow – sich samt und sonders nicht entschließen können, ihre Leser an diese Resolution zu erinnern, sie vielmehr entweder völlig verschweigen oder (wie Kautsky) nur minder wichtige Stellen unter Auslassung alles Wesentlichen aus ihr zitieren. Äußerst „radikale“, erzrevolutionäre Resolutionen – und das schamloseste Vergessen und Verleugnen dieser Resolutionen: das ist eine der anschaulichsten Offenbarungen des Zusammenbruchs der Internationale, – zugleich aber auch einer der anschaulichsten Beweise dafür, dass an eine „Korrektur“ des Sozialismus, an ein „Geradebiegen seiner Linie“ mit Hilfe einzig und allein von Resolutionen heute nur noch Leute glauben können, deren beispiellose Naivität mit dem schlauen Wunsch benachbart ist, die alte Heuchelei bis in alle Ewigkeit andauern zu lassen.

Hyndman galt, man kann sagen, noch gestern, seitdem er vor dem Kriege zur Verteidigung des Imperialismus abgeschwenkt war, bei allen „anständigen“ Sozialisten als ein auf Abwege geratener Sonderling, und niemand sprach von ihm anders als im Tone der Geringschätzung. Heute aber sind die angesehensten sozialdemokratischen Führer aller Länder – unterschieden untereinander nur durch Nuancen und Temperamente – ganz auf Hyndmans Standpunkt hinunter geglitten. Und wir sind gar nicht imstande, mit einem auch nur einigermaßen parlamentarischen Ausdruck den zivilen Mannesmut solcher Leute zu würdigen und zu charakterisieren, wie es z. B. die Mitarbeiter von „Nasche Slowo sind, wenn sie von „Herrn“ Hyndman im Tone der Verachtung schreiben, vom „Genossen“ Kautsky aber mit der Miene der Verehrung (oder der knechtischen Ergebenheit?) sprechen – oder auch schweigen. Kann man denn ein solches Verhalten mit der Achtung vor dem Sozialismus und überhaupt vor den eigenen Überzeugungen in Einklang bringen? Wenn man von der Verlogenheit und der Schädlichkeit des Hyndmanschen Chauvinismus überzeugt ist, muss man da nicht gegen den einflussreicheren und gefährlicheren Verfechter derartiger Ansichten, nämlich gegen Kautsky, erst recht Kritik und Angriff richten?

Die Ansichten von Guesde hat in der letzten Zeit wohl am eingehendsten der Guesdist Charles Dumas in seiner kleinen Broschüre: „Der Friede, den wir wünschen“4, zum Ausdruck gebracht. Dieser „Kabinett-Chef von Jules Guesde“, wie er sich auf dem Titelblatt der Broschüre unterzeichnet, „zitiert“ selbstverständlich frühere in patriotischem Sinne gehaltene Erklärungen von Sozialisten (wie auch der deutsche Sozialchauvinist David in seiner letzten Broschüre über die Vaterlandsverteidigung ähnliche Erklärungen zitiert), das Baseler Manifest aber zitiert er nicht! Auch Plechanow schweigt von diesem Manifest, während er mit ungewöhnlich selbstzufriedener Miene chauvinistische Trivialitäten auftischt. Kautsky macht es wie Plechanow: er zitiert wohl das Baseler Manifest, aber unter Auslassung aller revolutionären Stellen (d. h. seines ganzen wesentlichen Inhalts!) – wahrscheinlich unter dem Vorwände des Zensurverbots … Die Polizei- und Militärbehörden haben mit ihrem Zensurverbot, von Klassenkampf und Revolution zu sprechen, den Verrätern am Sozialismus sehr „gelegene“ Hilfe gebracht!

Aber vielleicht stellt das Baseler Manifest irgendeinen nichtssagenden Aufruf dar, ohne jeden präzisen, ohne jeden geschichtlichen und taktischen Inhalt, der sich unbedingt auf den jetzigen konkreten Krieg bezöge?

Ganz im Gegenteil. In der Baseler Resolution ist weniger leere Deklamation und mehr konkreter Inhalt als in anderen Resolutionen enthalten. Die Baseler Resolution spricht gerade von dem Krieg, der dann begann, gerade von den imperialistischen Konflikten, die 1914/15 ausbrachen. Der Konflikt zwischen Österreich und Serbien um den Balkan, der Konflikt zwischen Österreich und Italien um Albanien usw., zwischen England und Deutschland um die Märkte und Kolonien überhaupt, zwischen Russland und der Türkei usw. um Armenien und Konstantinopel – das ist es, wovon die Baseler Resolution in Voraussicht eben des gegenwärtigen Kriegs spricht. Gerade im Hinblick auf den gegenwärtigen Krieg zwischen „den europäischen Großmächten“ sagt die Baseler Resolution, dass dieser Krieg auch nicht „durch den geringsten Vorwand eines Volksinteresses gerechtfertigt werden“ kann!

Und wenn jetzt Plechanow und Kautsky – wir nehmen die beiden typischsten, die beiden uns nächsten Sozialisten von Autorität, von denen der eine russisch schreibt, der andere von den Liquidatoren ins Russische übersetzt wird –, wenn sie jetzt (unter Beistand von Axelrod) allerlei „volkstümliche“ (oder richtiger, auf das einfältige Volk berechnete, aus der bürgerlichen Boulevardpresse übernommene) „Rechtfertigungen" für den Krieg suchen, wenn sie mit gelehrter Miene und mit einem Vorrat von gefälschten Zitaten aus Marx sich auf „Beispiele“ berufen, auf die Kriege von 1813 und 1870 (so Plechanow) oder auf die von 1854-1871, 1876/77, 1897 (so Kautsky), – dann können wahrlich nur Leute ohne einen Schatten von sozialistischer Überzeugung, ohne eine Spur von sozialistischem Gewissen solche Argumente „ernst“ nehmen und sie nicht als unerhörten Jesuitismus, als Heuchelei und als Prostituierung des Sozialismus bezeichnen! Mag die deutsche Parteileitung (der „Vorstand“) über die neue Zeitschrift von Mehring und Rosa Luxemburg („Die Internationale) wegen ihrer richtigen Würdigung Kautskys den Bann verhängen, mögen Vandervelde, Plechanow, Hyndman und Co. mit Hilfe der Polizei der „Triple-Entente“ ihre Gegner ebenso behandeln, – wir werden mit dem einfachen Wiederabdruck des Baseler Manifests antworten, das ihn an den Tag bringt: diesen Abfall der Führer, für den es kein anderes Wort gibt als – Verrat.

Die Baseler Resolution spricht nicht von einem nationalen und nicht von einem Volkskrieg, für die es in Europa Beispiele gab, die für die Epoche von 1789-1871 sogar typisch sind, sie spricht nicht von einem revolutionären Krieg, den die Sozialdemokraten niemals abgelehnt haben, sondern vom gegenwärtigen Krieg, auf Basis des „kapitalistischen Imperialismus“ und der „dynastischen Interessen“, auf Basis der „Eroberungspolitik“ beider kriegführenden Mächtegruppen, der österreichisch-deutschen ebenso wie der englisch-französisch-russischen. Es ist direkter Betrug an den Arbeitern, wenn Plechanow, Kautsky und Co. sich die Profitmacher-Lüge zu eigen machen, mit der die Bourgeoisie aller Länder diesen imperialistischen, kolonialen, räuberischen Krieg aus allen Kräften als Volks- und Verteidigungskrieg (für wen es auch sei) darzustellen bestrebt ist, und wenn sie auf dem Feld historischer Beispiele von nicht-imperialistischen Kriegen Rechtfertigung für diesen Krieg zusammenklauben.

Das Problem des imperialistischen, räuberischen, antiproletarischen Charakters dieses Kriegs ist aus dem Stadium rein theoretischer Behandlung längst herausgetreten. Nicht nur, dass der Imperialismus theoretisch bereits in allen seinen Hauptzügen gewürdigt worden ist als Kampf der untergehenden, altersschwachen und verfaulten Bourgeoisie um die Aufteilung der Welt und um die Versklavung der „kleinen“ Nationen; nicht nur, dass diese Argumente in der ganzen unübersehbaren Zeitungsliteratur der Sozialisten aller Länder tausendmal wiederholt worden sind, nicht nur, dass z. B. der Vertreter einer uns „verbündeten“ Nation, der Franzose Delaisi, in seiner Broschüre „Der kommende Krieg“ (im Jahre 1911)5 den räuberischen Charakter des gegenwärtigen Kriegs auch im Hinblick auf die französische Bourgeoisie populär dargestellt hat, – das ist noch nicht alles. Die Vertreter der proletarischen Parteien aller Länder haben es in Basel einstimmig und formell als ihre unerschütterliche Überzeugung ausgesprochen, dass ein Krieg von ausdrücklich imperialistischem Charakter herannahe, und sie haben daraus taktische Schlussfolgerungen gezogen. Darum sind übrigens auch alle Berufungen auf ungenügende Behandlung des Unterschieds zwischen nationaler und internationaler Taktik (man vergleiche das letzte Interview Axelrods in Nr. 87 und 90 von „Nasche Slowo) usw. usf. ohne weiteres als Sophismen zurückzuweisen. Das ist ein Sophismus. Eines nämlich ist die allseitige wissenschaftliche Erforschung des Imperialismus: eine solche Untersuchung beginnt eben erst und sie ist ihrem Wesen nach endlos, wie die Wissenschaft überhaupt endlos ist. Etwas anderes aber sind die Grundlagen der sozialistischen Taktik gegen den kapitalistischen Imperialismus, dargelegt in Millionen von Exemplaren sozialdemokratischer Zeitungen und in den Beschlüssen der Internationale. Die sozialistischen Parteien sind keine Diskussionsklubs, sondern Organisationen des kämpfenden Proletariats, und wenn eine Anzahl Bataillone zum Feinde übergegangen ist, so muss man sie als Verräter bezeichnen und brandmarken und darf sich nicht „fangen“ lassen durch jene heuchlerischen Reden: dass den Imperialismus eben „nicht jeder gleichartig“ begreife, dass Leute, wie Kautsky, der Chauvinist, und Cunow, der Chauvinist, darüber ganze Bände zu schreiben vermöchten, dass die Frage „nicht genügend behandelt“ sei usw. usw. Der Kapitalismus wird in allen Erscheinungen seiner Raubnatur und in allen kleinsten Verzweigungen seiner historischen Entwicklung und seiner nationalen Besonderheiten niemals bis zu Ende erforscht werden; über Details werden die Gelehrten (und die Pedanten ganz besonders) nie aufhören zu streiten. „Aus diesem Grunde“ auf den sozialistischen Kampf gegen den Kapitalismus, auf die Befehdung der in diesem Kampf abtrünnig Gewordenen Verzicht leisten zu wollen, wäre lächerlich, – was sonst aber wird uns von Kautsky, Cunow, Axelrod usw. in Vorschlag gebracht?

Niemand hat doch auch nur den Versuch gemacht, heute, nach Ausbruch des Kriegs, die Baseler Resolution zu analysieren und ihre Unrichtigkeit zu erweisen.

II

Vielleicht aber ist es so, dass die aufrichtigen Sozialisten für die Baseler Resolution eintraten in der Annahme, der Krieg werde eine revolutionäre Situation schaffen, die Ereignisse hätten dann aber ihren Standpunkt widerlegt und die Revolution hätte sich als unmöglich erwiesen?

Mit einem Sophismus von eben dieser Art versucht Cunow (in seiner Broschüre „Partei-Zusammenbruch?“6 und in einer Reihe von Artikeln) sein Überlaufen ins Lager der Bourgeoisie zu rechtfertigen, und in Form von Andeutungen treffen wir ähnliche „Argumente“ fast bei allen Sozialchauvinisten, Kautsky an der Spitze. Die Hoffnungen auf die Revolution hätten sich als Illusion erwiesen, und Illusionen zu verteidigen sei nicht Sache des Marxisten: so argumentiert Cunow, und zwar spricht dieser Struvist dabei mit keinem einzigen Wort von einer „Illusion“ bei allen Unterzeichnern des Baseler Manifests, ist vielmehr als hoch edle Natur bestrebt, der äußersten Linken, in Gestalt eines Pannekoek und Radek, die Sache in die Schuhe zu schieben!

Betrachten wir nun seinem Wesen nach dieses Argument, wonach die Verfasser des Baseler Manifests das Kommen der Revolution ehrlich vorausgesetzt hätten, dann aber durch die Ereignisse widerlegt worden seien. Das Baseler Manifest sagt: 1. dass der Krieg eine ökonomische und politische Krise schaffen wird; 2. dass die Arbeiter ihre Teilnahme am Kriege als ein Verbrechen empfinden werden, als „ein Verbrechen, aufeinander zu schießen, zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien oder zu höherer Ehre diplomatischer Geheim Verträge“, dass der Krieg die „Entrüstung und Empörung“ der Arbeiterklasse hervorrufen muss; 3. dass die Sozialisten diese Krise und diesen Seelenzustand der Arbeiter „zur Aufrüttelung des Volkes und zur Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft“ auszunutzen verpflichtet sind; 4. dass die „Regierungen“ – samt und sonders, ohne Ausnahme – „nicht ohne Gefahren für sie selbst“ den Krieg entfesseln können; 5. dass die Regierungen „die proletarische Revolution fürchten“; 6. dass die Regierungen „sich erinnern mögen“ an die Pariser Kommune (d. h. an den Bürgerkrieg), an die Revolution des Jahres 1905 in Russland usw. All das sind vollkommen klare Gedankengänge; sie enthalten keine Garantie für ein tatsächliches Ausbrechen der Revolution; der Nachdruck liegt in ihnen auf der ganzen Charakteristik der Tatsachen und Tendenzen. Wer in Hinsicht auf Gedankengänge und Darlegungen solcher Art sagt, der erwartete Ausbruch der Revolution habe sich als Illusion erwiesen, der macht in seiner Stellungnahme zur Revolution keine marxistische, sondern eine struvistische und polizeilich-renegatenhafte Figur.

Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel, dass die Revolution unmöglich ist ohne revolutionäre Situation, wobei allerdings nicht jede revolutionäre Situation zur Revolution führt. Welches sind, allgemein gesprochen, die Anzeichen einer revolutionären Situation? Wir machen uns sicherlich keines Irrtums schuldig, wenn wir auf folgende drei Hauptmerkmale hinweisen: 1. Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; diese oder jene Krise der „Spitzen“, Krise der Politik der herrschenden Klasse, dadurch Erzeugung eines Risses, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen durchbricht. Für den Ausbruch einer Revolution genügt es gewöhnlich nicht, dass „die Unterschichten nicht mehr den Willen haben“, sondern es ist auch noch erforderlich, dass „die Oberschichten nicht mehr die Fähigkeit haben“, es in der alten Weise weiter zu treiben. 2. Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das gewohnte Maß hinaus. 3. Beträchtliche – aus den angeführten Ursachen sich herleitende – Steigerung der Aktivität der Massen, die sich in einer „friedlichen“ Epoche wohl ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten aber durch die Gesamtheit der Krisen Verhältnisse, ebenso aber auch durch die „Spitzen“ selbst zu selbständigem historischen Auftreten angetrieben werden.

Ohne diese objektiven Veränderungen, die nicht nur vom Willen einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch vom Willen einzelner Klassen unabhängig sind, ist eine Revolution – der allgemeinen Regel nach – unmöglich. Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen heißt eben revolutionäre Situation. Eine solche revolutionäre Situation lag in Russland 1905 vor, sie lag in allen Revolutionsepochen in Westeuropa vor; sie lag aber ebenso auch in Deutschland in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor und in Russland in den Jahren 1859-1861 und 1879/80, obwohl es in allen Fällen eine Revolution nicht gab. Warum? Weil nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution entsteht, sondern nur aus einer Situation, in der zu den oben auf gezählten objektiven Wandlungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich: die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierungsgewalt zu zerschmettern (oder zu erschüttern), – sie, die niemals, selbst in der Epoche der Krisen nicht, „fällt“, wenn man sie nicht „fallen lässt“.

Dies sind die marxistischen Anschauungen von der Revolution, wie sie von allen Marxisten zu vielen, vielen Malen entwickelt und als unbestritten anerkannt und wie sie gerade für uns Russen durch die Erfahrung des Jahres 1905 besonders anschaulich bestätigt worden sind. Es fragt sich: was war in dieser Beziehung im Baseler Manifest im Jahre 1912 vorausgesetzt und was ist in den Jahren 1914/15 eingetreten?

Vorausgesetzt wurde eine revolutionäre Situation, kurz zusammengefasst in dem Ausdruck: „wirtschaftliche und politische Krise“. Ist sie gekommen? Unstreitig, ja. Der Sozialchauvinist Lensch (der zur Verteidigung des Chauvinismus offener, aufrichtiger, ehrlicher auftritt als die Heuchler Cunow, Kautsky, Plechanow und Co.) drückte sich sogar folgendermaßen aus: „Es ist eine Revolution, was wir erleben“ (S. 6 seiner Broschüre: „Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg“, Berlin 1915)7. Die politische Krise ist da: keine einzige der Regierungen ist des morgigen Tags sicher, keine einzige ist frei von der Gefahr eines finanziellen Bankrotts, eines Verlustes von Territorien, einer Verjagung aus ihrem Lande (wie man aus Belgien die Regierung verjagt hat). Alle Regierungen leben auf einem Vulkan, sie alle appellieren selber an die Selbsttätigkeit und an den Heroismus der Massen. Das politische Regime Europas ist vollkommen erschüttert, und sicherlich wird niemand leugnen wollen, dass wir in eine Epoche der größten politischen Erschütterungen eingetreten sind (und immer tiefer noch in sie hineinkommen – ich schreibe dies am Tage der Kriegserklärung Italiens). Wenn Kautsky zwei Monate nach der Kriegserklärung (am 2. Oktober 1914, in der „Neuen Zeit“) schrieb: „nie ist eine Regierung so stark, nie die Parteien so schwach, wie beim Ausbruch eines Krieges“, so ist das ein Muster Kautskyscher Geschichtsfälschung zugunsten der Südekums und der übrigen Opportunisten. Nie ist eine Regierung so sehr angewiesen auf die Zustimmung aller Parteien der herrschenden Klassen und auf die „friedliche“ Unterwerfung der unterdrückten Klassen unter diese Klassenherrschaft, als während des Kriegs. Dies zum ersten; zum zweiten aber: wenn „beim Ausbruch eines Krieges“, und zwar besonders in einem Lande, das einen raschen Sieg erwartet, die Regierung allmächtig scheint, so hat niemand jemals und irgendwo in der Welt die Erwartung einer revolutionären Situation ausschließlich mit dem Moment des „Ausbruchs eines Krieges“ verknüpft oder gar das „Scheinbare“ mit dem Wirklichen identifiziert.

Dass der europäische Krieg unvergleichlich viel schwerer sein wird als alle anderen Kriege, das haben alle gewusst, gesehen und zugestanden. Die Erfahrung des Kriegs bestätigt das immer mehr. Der Krieg breitet sich aus. Die politischen Grundfesten Europas geraten immer stärker ins Wanken. Die Leiden der Massen sind fürchterlich, und die Bemühungen der Regierungen, der Bourgeoisie und der Opportunisten, diese Leiden zu verschweigen, erleiden immer häufiger Schiffbruch. Die Kriegsprofite bestimmter Kapitalistengruppen sind von unerhörter, skandalöser Höhe. Die Verschärfung der Gegensätze ist ungeheuer. Die dumpfe Empörung der Massen, der unklare Wunsch der rückständigen und unaufgeklärten Schichten nach einem anständigen („demokratischen“) Frieden, das beginnende Murren in den „Tiefen“ der Massen – alles das ist Tatsache. Je mehr sich aber der Krieg in die Länge zieht und verschärft, desto stärker entwickeln die Regierungen selbst – und sie müssen dies tun – die Aktivität der Massen, indem sie diese zu übernormaler Kräfteanspannung und Selbstaufopferung aufrufen. Durch die Erfahrung des Kriegs, wie durch die Erfahrung jeder Krise in der Geschichte, jedes großen Unglücks und jedes Umschwungs im Leben der Menschen werden die einen abgestumpft und gebrochen, dafür aber werden die anderen aufgeklärt und gestählt, und zwar hat sich in der Geschichte der ganzen Welt im Großen und Ganzen die Zahl und die Stärke der letzteren, mit Ausnahme einzelner Fälle von Verfall und Ruin des einen oder des anderen Staatswesens, noch immer als größer erwiesen als die der ersteren.

Der Friedensschluss kann alle diese Leiden und alle diese Verschärfungen der Widersprüche nicht nur nicht „mit einem Schlage“ aus der Welt schaffen, sondern er wird umgekehrt diese Leiden den am weitesten zurückgebliebenen Massen der Bevölkerung in vielen Beziehungen noch empfindlicher und ganz besonders anschaulich zu spüren geben.

Mit einem Wort, in den meisten vorgeschrittenen Ländern und Großmächten Europas ist eine revolutionäre Situation tatsächlich vorhanden. In dieser Hinsicht hat sich vollkommen bewahrheitet, was das Baseler Manifest voraussah. Diese Wahrheit leugnen, ob direkt oder indirekt, oder sie verschweigen, wie dies Cunow, Plechanow, Kautsky und Co. tun, heißt die größte Unwahrheit sagen, heißt die Arbeiterklasse betrügen und der Bourgeoisie dienstbar sein. Im Sozialdemokrat (Nr. 34, 40 und 41)8 haben wir Angaben gemacht, in denen gezeigt wird, wie gerade solche Leute, die vor der Revolution Angst haben: spießbürgerliche Christenpfaffen, Generalstäbe, Millionär-Zeitungen, sich gezwungen sehen, Anzeichen einer revolutionären Situation in Europa zu konstatieren.

Wird diese Situation lange anhalten, und wie weit wird sie sich noch zuspitzen? Wird sie zur Revolution führen? Das wissen wir nicht, und das kann auch niemand wissen. Das wird nur die Erfahrung, also die Entwicklung der revolutionären Stimmungen und das Übergehen der vorgeschrittensten Klasse, des Proletariats, zu revolutionären Aktionen zeigen. Da kann weder von irgendwelchen „Illusionen“ überhaupt noch von ihrer Widerlegung die Rede sein, denn kein einziger Sozialist hat jemals oder irgendwo die Garantie übernommen, dass gerade der gegenwärtige Krieg (und nicht erst der nächste), dass gerade die heutige revolutionäre Situation (und nicht erst die von morgen) die Revolution erzeugen wird. Hier handelt es sich um die unbestrittenste und grundlegendste Pflicht aller Sozialisten: um die Pflicht, den Massen das Vorhandensein der revolutionären Situation klarzumachen, ihre Breite und Tiefe ins Licht zu setzen, das revolutionäre Bewusstsein und die revolutionäre Entschlossenheit des Proletariats zu wecken, ihm zu helfen, dass es zu revolutionären Aktionen übergehe und der revolutionären Situation entsprechende Organisationen für die Tätigkeit in dieser Richtung ins Leben rufe.

Kein einflussreicher und verantwortlicher Sozialist wagte jemals Zweifel darin zu setzen, dass dies eben die Pflicht der sozialistischen Parteien ist, und das Baseler Manifest, das nicht den geringsten „Illusionen“ Verbreitung oder Nahrung gibt, spricht gerade von dieser Pflicht der Sozialisten: das Volk anzutreiben und „aufzurütteln“ (nicht es mit Chauvinismus einzuschläfern, wie das Plechanow, Axelrod, Kautsky tun), die Krise „auszunutzen“ „zur Beschleunigung“ des Zusammenbruchs des Kapitalismus, sich leiten zu lassen von den Beispielen der Kommune und des Oktober-Dezember 1905. Die Nichterfüllung dieser ihrer Pflicht durch die gegenwärtigen Parteien ist eben ihr Verrat, ihr politischer Tod, ihre Lossagung von ihrer Rolle, ihr Übergang auf die Seite der Bourgeoisie.

III

Wie aber konnte es geschehen, dass die namhaftesten Vertreter und Führer der II. Internationale den Sozialismus verrieten? Bei dieser Frage werden wir uns weiter unten ausführlich aufhalten, nachdem wir zunächst die Versuche, diesen Verrat „theoretisch“ zu rechtfertigen, analysiert haben werden. Versuchen wir, die Haupttheorien des Sozialchauvinismus zu charakterisieren, als deren Vertreter Plechanow (er wiederholt vorwiegend die Argumente der englisch-französischen Chauvinisten, Hyndmans und seiner neuen Anhänger) und Kautsky gelten können (dieser führt weit „raffiniertere“ Argumente ins Feld, die den Anschein unvergleichlich größerer theoretischer Solidität erwecken).

Von allen Theorien die primitivste ist wohl die vom Kriegs-„Anstifter“. Man hat uns überfallen, wir verteidigen uns; die Interessen des Proletariats erfordern, dass den Störenfrieden des europäischen Friedens Einhalt geboten wird. Es ist die alte Leier, so wohl bekannt aus all den Regierungserklärungen und aus all den Deklamationen der bürgerlichen und der gelben Presse der ganzen Welt. Selbst eine so abgedroschene Plattheit weiß Plechanow mit der bei diesem Schriftsteller nicht zu umgehenden jesuitischen Berufung auf „die Dialektik“ aufzuputzen: in Anbetracht der konkreten Situation, der man Rechnung tragen müsse, habe man vor allem den Anstifter des Kriegs festzustellen und mit ihm abzurechnen, alle übrigen Fragen aber habe man aufzuschieben bis zum Eintreten einer anderen Situation (siehe Plechanows Broschüre: „Über den Krieg“, Paris 1914, und Axelrods Wiederholung der dort gegebenen Argumente im Golos Nr. 86 und 87). In der edlen Kunst der Ersetzung der Dialektik durch die Sophistik hat Plechanow den Rekord geschlagen. Der Sophist greift einen der „Beweise“ heraus, und schon Hegel erklärte mit Recht, dass man entschieden für alles auf der Welt „Beweise“ finden könne. Die Dialektik verlangt allseitige Untersuchung der betreffenden gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung und Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte, auf die Entwicklung der Produktivkräfte und auf den Klassenkampf. Plechanow greift aus der deutschen sozialdemokratischen Presse ein Zitat heraus: die Deutschen selber hätten vor dem Kriege Österreich und Deutschland als die Anstifter betrachtet – und damit basta. Dass die russischen Sozialisten die Eroberungspläne des Zarismus in Bezug auf Galizien, Armenien usw. viele Male enthüllt haben, das verschweigt Plechanow. Er macht nicht den geringsten Versuch, die ökonomische und diplomatische Geschichte, sei es auch nur der letzten drei Jahrzehnte, zu berühren; diese Geschichte beweist aber unwiderlegbar, dass gerade die Besitzergreifung von Kolonien, der Raub fremder Länder und die Verdrängung und Ruinierung des erfolgreichen Konkurrenten in der Politik der beiden nun kriegführenden Mächtegruppen die Hauptsache darstellen.A

In ihrer Anwendung auf die Kriege hat die von Plechanow so schamlos zu Nutz und Frommen der Bourgeoisie entstellte Dialektik zur grundlegenden These den Satz, dass „der Krieg einfach eine Fortsetzung der Politik mit anderen (nämlich gewaltsamen) Mitteln“ ist. So lautet die Formulierung von ClausewitzB, einem der großen Schriftsteller in Fragen der Kriegsgeschichte, dessen Ideen von Hegel befruchtet worden waren. Und das war auch stets der Standpunkt von Marx und Engels, die jeden Krieg als die Fortsetzung der Politik der betreffenden interessierten Mächte – und der verschiedenen Klassen innerhalb dieser Mächte – im betreffenden Zeitraum auf fassten.

Der grobe Chauvinismus Plechanows steht vollkommen auf derselben theoretischen Basis wie der raffiniertere, der versöhnlich-süßliche Chauvinismus Kautskys, wenn dieser letztere den Übergang der Sozialisten aller Länder auf die Seite „ihrer“ Kapitalisten mit folgender Betrachtung sanktioniert:

Alle haben das Recht und die Pflicht, ihr Vaterland zu verteidigen; der wahre Internationalismus besteht in der Zuerkennung dieses Rechts für die Sozialisten aller Nationen, darunter auch derer, die mit meiner Nation Krieg führen … (vgl. Neue Zeit vom 2. Oktober 1914 und andere Schriften desselben Verfassers).

Diese einzig dastehende Betrachtung ist eine so unendlich vulgäre Verhöhnung des Sozialismus, dass die beste Antwort darauf die wäre: eine Medaille mit den Figuren Wilhelms II. und Nikolaus’ II. auf der einen, und Plechanows und Kautskys auf der anderen Seite zu bestellen. Als der wahre Internationalismus soll also die Rechtfertigung dessen gelten, dass im Namen der „Vaterlandsverteidigung“ die französischen Arbeiter auf die deutschen schießen und die deutschen auf die französischen!

Aber wenn wir uns die theoretischen Voraussetzungen der Betrachtungen Kautskys näher besehen, so finden wir eben die Ansicht, die rund achtzig Jahre früher von Clausewitz verhöhnt worden ist: mit Kriegsausbruch hört der historisch vorbereitete politische Verkehr zwischen den Völkern und den Klassen auf und es tritt eine gänzlich andere Situation ein! – „einfach“ Angreifer und Verteidiger, „einfach“ Abwehr der „Feinde des Vaterlands“! Die Unterdrückung einer ganzen Reihe von Nationen, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Erdkugel ausmachen, durch die imperialistischen Großmächte, die Konkurrenz unter der Bourgeoisie dieser Länder um die Teilung der Beute, das Bestreben des Kapitals, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und zu unterdrücken, – all das ist auf einmal aus dem Gesichtsfeld Plechanows und Kautskys verschwunden, obwohl gerade diese so geartete „Politik“ vor dem Krieg ganze Jahrzehnte hindurch von ihnen selber immer geschildert worden war.

Verlogene Verweise auf Marx und Engels stellen dabei den „Trumpf“ dieser beiden Häuptlinge des Sozialchauvinismus dar: Plechanow erinnert an den nationalen Krieg Preußens im Jahre 1813 und Deutschlands im Jahre 1870; Kautsky weist mit hochgelehrter Miene nach, dass Marx die Frage zu entscheiden gehabt habe, auf wessen Seite (d. h. auf Seiten welcher Bourgeoisie) in den Kriegen von 1854/55, 1859, 1870/71 der Sieg am ehesten zu wünschen war, und dass die Marxisten in den Kriegen von 1876/77 und 1897 das gleiche getan hätten. Es ist zu allen Zeiten die Methode aller Sophisten gewesen: Beispiele zu wählen, die sich ausdrücklich auf prinzipiell ganz unterschiedene Fälle beziehen. Die früheren Kriege, auf die wir verwiesen werden, waren die „Fortsetzung der Politik“ von vieljährigen nationalen Bewegungen der Bourgeoisie, von Bewegungen gegen ein auswärtiges, fremdnationales Joch und gegen den Absolutismus (den türkischen und den russischen). Eine andere Frage als die, ob dem Erfolg der einen oder dem der anderen Bourgeoisie der Vorzug zu geben sei, konnte es damals auch gar nicht geben; zu Kriegen von solchem Charakter durften die Marxisten die Völker von vornherein aufrufen, und dies unter Schürung des Nationalhasses, – so, wie Marx 1848 und später zum Krieg mit Russland aufgerufen und wie Engels 1859 den Nationalhass der Deutschen gegen ihre Unterdrücker, gegen Napoleon III. und den russischen Zarismus, geschürt hat.C

Die „Fortsetzung der Politik“ des Kampfes gegen Feudalismus und Absolutismus, der Politik der sich emanzipierenden Bourgeoisie, zu vergleichen mit der „Fortsetzung der Politik“ der altersschwachen, das heißt imperialistischen Bourgeoisie, das heißt einer Bourgeoisie, die die ganze Welt ausgeplündert hat, einer reaktionären Bourgeoisie, die im Bunde mit den Feudalen das Proletariat unterdrückt hält, – derartige Dinge vergleichen heißt Pfund und Elle miteinander vergleichen. Das ist, als wollte man solche „Vertreter der Bourgeoisie“, wie Robespierre, Garibaldi, Scheljabow, mit „Vertretern der Bourgeoisie“ vom Schlage der Millerand, Salandra, Gutschkow vergleichen. Man kann nicht Marxist sein, ohne die tiefste Verehrung für die großen bürgerlichen Revolutionäre zu empfinden, die das weltgeschichtliche Recht hatten, im Namen der bürgerlichen „Vaterländer“ zu sprechen, – der „Vaterländer“, durch die Millionen und Abermillionen von Mitgliedern neuer Nationen zum zivilisierten Dasein erhoben worden sind im Kampfe gegen den Feudalismus. Und man kann nicht Marxist sein, ohne Verachtung zu hegen vor der Sophistik eines Plechanow und eines Kautsky, die es „Verteidigung des Vaterlands“ nennen, wenn vor ihren Augen die deutschen Imperialisten Belgien erdrosseln bzw. wenn die Imperialisten Englands, Frankreichs, Russlands und Italiens über die Ausräubung Österreichs und der Türkei ihre Abmachungen treffen.

Noch eine andere „marxistische“ Theorie des Sozialchauvinismus: Der Sozialismus beruht auf der raschen Entwicklung des Kapitalismus; der Sieg meines Landes wird die Entwicklung des Kapitalismus und folglich auch die Verwirklichung des Sozialismus in diesem Lande beschleunigen; die Niederlage meines Landes wird seine ökonomische Entwicklung und folglich auch die Verwirklichung des Sozialismus aufhalten. Eine solche struvistische Theorie wird bei uns in Russland von Plechanow, bei den Deutschen von Lensch und andern entwickelt. Kautsky polemisiert gegen diese grobschlächtige Theorie, gegen Lensch, der sie offen vertritt, gegen Cunow, der in verhüllter Form für sie eintritt, aber Kautsky polemisiert hier nur, um auf Basis einer feiner, jesuitischer gefassten chauvinistischen Theorie die Versöhnung der Sozialchauvinisten aller Länder zu erreichen.

Wir brauchen uns bei der Untersuchung dieser grobschlächtigen Theorie nicht lange aufzuhalten. Die „Kritischen Bemerkungen“ Struves erschienen im Jahre 18949, und in diesen zwanzig Jahren haben die russischen Sozialdemokraten die „Manier“ der gebildeten russischen Bourgeois, ihre Ansichten und Wünsche unter dem Deckmantel eines von allem revolutionären Geist gesäuberten „Marxismus“ vorzutragen, zur Genüge kennen gelernt. Der Struvismus ist nicht nur eine russische, er ist vielmehr, wie die jüngsten Ereignisse besonders anschaulich zeigen, eine internationale Erscheinung, er repräsentiert das Bestreben der Theoretiker der Bourgeoisie, den Marxismus „durch Milde“ zu töten, ihn in der Umarmung zu ersticken vermittelst vorgeblicher Anerkennung „aller“ „wahrhaft wissenschaftlichen“ Seiten und Elemente des Marxismus außer seiner „agitatorischen“, „demagogischen“, „blanquistisch-utopistischen“ Seite. Mit andern Worten: vom Marxismus nimm alles, was annehmbar für die liberale Bourgeoisie, selbst den Kampf um Reformen, selbst den Klassenkampf (ohne Diktatur des Proletariats), selbst die „allgemeine“ Anerkennung der „sozialistischen Ideale“ und der Ersetzung des Kapitalismus durch ein „neues Regime“, – „nur“ die lebendige Seele des Marxismus, nur seinen revolutionären Geist sollst du verwerfen.

Der Marxismus ist die Theorie der Befreiungsbewegung des Proletariats. Darum versteht es sich, dass die bewussten Arbeiter auf den Prozess der Ersetzung des Marxismus durch den Struvismus größte Aufmerksamkeit zu lenken haben. Die Triebkräfte dieses Prozesses sind zahlreich und mannigfaltig. Wir vermerken nur die drei hauptsächlichsten: 1. Die Entwicklung der Wissenschaft liefert immer mehr Material, das die Richtigkeit der Marxschen Lehre beweist. Daher empfiehlt es sich, dass man ihn hinterrücks bekämpft, also nicht offen gegen die Grundlagen des Marxismus auftritt, sondern ihn quasi anerkennt, ihn durch Sophismen seines Inhalts beraubt und so den Marxismus in ein für die Bourgeoisie unschädliches „Heiligenbild“ verwandelt. 2. Die Entwicklung des Opportunismus in den sozialdemokratischen Parteien fördert eine derartige „Umarbeitung“ des Marxismus, indem sie ihn für die Zwecke der Rechtfertigung von allen möglichen Konzessionen an den Opportunismus zurechtmacht. 3. Die Periode des Imperialismus ist die Aufteilung der Welt unter die „großen“ privilegierten Nationen, von denen alle übrigen Nationen unterdrückt werden. Brocken von der Beute aus diesen Privilegien und aus dieser Unterdrückung fallen zweifellos bestimmten Schichten des Kleinbürgertums und der Aristokratie, ebenso aber auch der Bürokratie der Arbeiterklasse zu. Diese Schichten, die eine verschwindende Minderheit des Proletariats und der werktätigen Massen ausmachen, neigen zum „Struvismus“, denn er liefert ihnen die Rechtfertigung für ihren Pakt mit der „eigenen“ nationalen Bourgeoisie gegen die unterdrückten Massen aller Nationen. Davon werden wir noch weiter unten, im Zusammenhang mit den Ursachen des Zusammenbruchs der Internationale zu reden haben.

IV

Die raffinierteste Theorie des Sozialchauvinismus, diejenige, die am geschicktesten Wissenschaftlichkeit und Internationalität vorzutäuschen versteht, ist die von Kautsky aufgestellte Theorie des „Ultra-Imperialismus“10. Hier die deutlichste, genaueste und neueste Darstellung dieser Theorie durch ihren Autor selbst:

Der Rückgang der schutzzöllnerischen Bewegung in England, die Herabsetzung der Zölle in Amerika, die Bestrebungen nach Abrüstung, der rasche Rückgang des Kapitalexports aus Frankreich und Deutschland in den letzten Jahren vor dem Kriege, endlich die zunehmende internationale Verfilzung der verschiedenen Klüngel des Finanzkapitals veranlassten mich, zu erwägen, ob es nicht möglich sei, dass die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte. Eine solche neue Phase des Kapitalismus ist jedenfalls denkbar. Ob auch realisierbar, das zu entscheiden fehlen noch die genügenden Voraussetzungen.“ („Neue Zeit“ Nr. 5 vom 30. April 1915, S. 144).

„… Entscheidend kann dafür Verlauf und Ausgang des jetzigen Krieges werden. Er kann die schwachen Keime des Ultra-Imperialismus völlig zertreten, indem er den nationalen Hass auch der Finanzkapitalisten aufs Höchste steigert, das Wettrüsten weiter treibt, einen zweiten Weltkrieg unvermeidlich macht. Dann wird die Prognose, die ich in meinem ,Weg zur Macht' formulierte, sich in furchtbarem Maße verwirklichen, wird die Verschärfung der Klassengegensätze, aber auch die moralische Abwirtschaftung11 des Kapitalismus rapid zunehmen…“

(Es muss vermerkt werden, dass Kautsky unter diesem gekünstelten Wort ganz einfach die „Feindschaft“ gegen den Kapitalismus von Seiten der „Zwischenschichten zwischen Proletariat und Finanzkapital“, nämlich der „Intellektuellen, der Kleinbürger, selbst der kleinen Kapitalisten“ versteht.)

.. Aber der Krieg kann auch anders enden. Er kann in einer Weise ausgehen, die die schwachen Keime des Ultra-Imperialismus erstarken lässt.“ „Seine Lehren“ (wohlgemerkt!) „können eine Entwicklung beschleunigen, die im Frieden lange hätte warten lassen. Kommt es dahin, zu einer Verständigung der Nationen, zur Abrüstung, zu dauerndem Frieden, dann könnte die schlimmsten Ursachen, die vor dem Kriege in steigendem Maße zu moralischer Abwirtschaftung des Kapitalismus führten, verschwinden. Natürlich würde die neue Phase des Kapitalismus bald neue Missstände mit sich bringen, vielleicht noch schlimmere als die überwundenen … Aber vorübergehend könnte … der Ultra-Imperialismus eine Ära neuer Hoffnungen und Erwartungen innerhalb des Kapitalismus bringen“ (ebenda S. 145).

Auf welche Weise ergibt sich aus dieser „Theorie“ eine Rechtfertigung des Sozialchauvinismus?

Auf eine – für einen „Theoretiker“ – recht sonderbare Weise, nämlich folgendermaßen:

Die linken Sozialdemokraten in Deutschland behaupten, der Imperialismus und die durch ihn hervorgerufenen Kriege seien kein Zufall, sondern das notwendige Produkt des Kapitalismus, der zur Herrschaft des Finanzkapitals geführt habe. Darum sei der Übergang zum revolutionären Massenkampf notwendig, denn die Epoche der verhältnismäßig friedlichen Entwicklung sei vorbei. Die „rechten“ Sozialdemokraten erklären brutal: Ist der Imperialismus einmal „notwendig“, so müssen auch wir Imperialisten sein. Kautsky als Mann des „Zentrums“ will beides in Einklang bringen:

Die äußerste Linke“ – schreibt er in seiner Broschüre: „Nationalstaat, Imperialistischer Staat und Staatenbund“ (Nürnberg 191512) will dem Imperialismus den Sozialismus entgegensetzen, das heißt, nicht bloß seine Propagierung, die wir seit einem halben Jahrhundert allen Formen der kapitalistischen Herrschaft entgegensetzen, sondern seine sofortige Durchführung. Das sieht sehr radikal aus, ist aber nur geeignet, jeden, der nicht an die sofortige praktische Durchsetzung des Sozialismus glaubt, in das Lager des Imperialismus zu treiben.“ (S. 17, Sperrungen von uns.)

Wenn hier Kautsky von der sofortigen Durchsetzung des Sozialismus spricht, so ist das, was er damit „durchsetzt“, nur ein Zerrbild; er macht sich dabei den Umstand zunutze, dass in Deutschland, zumal unter der Militärzensur, von revolutionären Aktionen nicht geredet werden darf. Kautsky weiß sehr gut, dass die Linke von der Partei die sofortige Propagierung und Vorbereitung von revolutionären Aktionen fordert, keineswegs aber die „sofortige praktische Durchsetzung des Sozialismus“.

Aus der Notwendigkeit des Imperialismus folgert die Linke die Notwendigkeit revolutionärer Aktionen. Die „Theorie des Ultra-Imperialismus“ dient Kautsky zur Rechtfertigung der Opportunisten, dient ihm dazu, die Sache in einem Lichte erscheinen zu lassen, als ob sie keineswegs auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen seien, sondern nur einfach an den sofortigen Sozialismus „nicht glauben“, in der Erwartung, dass uns „vielleicht“ eine neue „Ära“ der Abrüstung und des dauernden Friedens bevorstehe. Diese „Theorie“ läuft darauf und nur darauf hinaus, dass Kautsky mit der Hoffnung auf eine neue Friedensära des Kapitalismus für den Anschluss der Opportunisten und der offiziellen sozialdemokratischen Parteien an die Bourgeoisie und für ihre Absage an die revolutionäre (d. h. proletarische) Taktik während der gegenwärtigen stürmischen Ära eine Rechtfertigung gibt, allen feierlichen Erklärungen der Baseler Resolution zum Trotz!

Man beachte, dass Kautsky dabei nicht nur nicht sagt: die neue Phase ist die Folge dieser oder jener Verhältnisse und Bedingungen und muss aus ihnen entstehen, sondern dass er im Gegenteil direkt erklärt: ich kann noch nicht einmal entscheiden, ob die neue Phase „realisierbar“ ist. Und in der Tat, man betrachte einmal die auf eine neue Ära hin laufenden „Tendenzen“, auf die Kautsky verwies. Es frappiert, dass der Verfasser die „Bestrebung nach Abrüstung“ zu den ökonomischen Tatsachen zählt! Das besagt: man versteckt sich vor den unbestreitbaren Tatsachen, die sich mit der Theorie von der Abstumpfung der Gegensätze ganz und gar nicht in Einklang bringen lassen, hinter harmlosem Spießbürgergeschwätz und Phantasterei. Kautskys „Ultra-Imperialismus“ – dieses Wort drückt, nebenbei bemerkt, gar nicht das aus, was der Verfasser sagen will – besagt ungeheure Abstumpfung der Gegensätze des Kapitalismus. „Rückgang der schutzzöllnerischen Bewegung in England und Amerika“ – sagt man uns. Wo bleibt denn hier auch nur die geringste Tendenz zu einer neuen Ära? Der aufs Höchste gesteigerte Protektionismus Amerikas wurde gemildert, aber der Protektionismus ist geblieben, ebenso wie auch die Privilegien, die Vorzugstarife der englischen Kolonien zugunsten Englands geblieben sind. Erinnern wir uns, worauf die Ablösung der vorhergehenden „friedlichen“ Epoche des Kapitalismus durch die moderne imperialistische Epoche beruht: auf den zwei Tatsachen, dass die freie Konkurrenz monopolistischen Kapitalistenverbänden Platz gemacht hat und dass die ganze Erdkugel aufgeteilt ist. Es ist klar, dass beide Fakta (und Faktoren) wirkliche Weltbedeutung haben: Freihandel und friedliche Konkurrenz waren möglich und notwendig, solange das Kapital unbehindert seine Kolonien ausdehnen und in Afrika usw. noch unbesetzte Gebiete sich aneignen konnte, wobei die Konzentration des Kapitals noch schwach war und monopolistische Unternehmungen, d. h. Unternehmungen von so großem Umfang, dass sie die ganze Sphäre des betreffenden Produktionszweigs zu beherrschen vermögen, noch nicht existierten. Aufkommen und Wachstum solcher monopolistischen Unternehmungen (dieser Prozess ist in England oder in Amerika doch wohl kaum zum Stillstand gekommen? Kautsky selber wird wohl kaum bestreiten wollen, dass der Krieg ihn beschleunigt und verschärft hat) macht die frühere freie Konkurrenz unmöglich, entzieht ihr den Boden unter den Füßen, die Aufteilung des Erdballs aber erzwingt den Übergang von der friedlichen Expansion zum bewaffneten Kampf um die Neuaufteilung der Kolonien und Einflusssphären. Es wäre auch lächerlich, zu denken, dass die Abschwächung der Schutzzollbewegung in zwei Ländern da irgend etwas ändern könnte.

Weiter: Rückgang des Kapitalexports seit einigen Jahren in zwei Ländern. Diese zwei Länder, Frankreich und Deutschland, hatten, laut der Statistik z. B. von Harms, im Jahre 1912 je zirka 35 Milliarden Mark (gegen 17 Milliarden Rubel) im Auslande, England allein aber zweimal so viel.D Die Zunahme des Kapitalexports war unter dem Kapitalismus nie gleichmäßig und konnte es auch nicht sein. Dass die Akkumulation des Kapitals nachgelassen oder dass die Kapazität des inneren Marktes, z. B. auf Grund beträchtlicher Besserung der Lage der Massen, sich ernstlich geändert hätte, – davon könnte Kautsky nicht einmal ein gestammeltes Wörtchen vorbringen. Unter solchen Umständen ist es ganz unmöglich, aus der Abnahme des Kapitalexports zweier Länder seit etlichen Jahren das Eintreten einer neuen Ära abzuleiten.

Zunehmende internationale Verfilzung der verschiedenen Klüngel des Finanzkapitals“. Das ist die einzige, wirklich allgemeine und unzweifelhafte Tendenz – nicht in wenigen Jahren, nicht in zwei Ländern, sondern in der ganzen Welt, im gesamten Kapitalismus. Aber warum muss daraus das Bestreben nach Abrüstung folgen und nicht vielmehr nach Rüstungen, wie es bisher der Fall war? Greifen wir aus der Zahl der Weltbedeutung besitzenden „Kanonen-Firmen“ (und überhaupt Gegenstände des Kriegsbedarfs produzierenden Firmen) eine beliebige heraus, z. B. Armstrong. Vor kurzem brachte die englische Zeitschrift „The Economist“ (vom 1. Mai 1915) die Angabe, dass sich die Gewinne dieser Firma von 606.000 Pfund Sterling (rund 6 Millionen Rubel) im Jahre 1905/06 auf 856.000 im Jahre 1913 und auf 940000 (d. h. 9 Millionen Rubel) im Jahre 1914 erhöhten. Die Verfilzung des Finanzkapitals ist hier sehr stark und immer noch in Zunahme begriffen: deutsche Kapitalisten fungieren bei den Geschäften der englischen Firma als „Teilhaber“; englische Firmen bauen Unterseeboote für Österreich usw. Das international verfilzte Kapital macht mit Rüstungen und Kriegen ausgezeichnete Geschäfte. Aus der Vereinigung und Verfilzung der verschiedenen nationalen Kapitale zu einem einheitlichen internationalen Ganzen eine ökonomische Tendenz zur Abrüstung herleiten wollen, heißt einfach läppische Spießbürgerwünsche nach Abstumpfung der Klassengegensätze an die Stelle ihrer tatsächlichen Verschärfung setzen.

V

Von den „Lehren“ des Kriegs spricht Kautsky in vollkommen philisterhaftem Geist, er stellt diese Lehren als ein moralisches Entsetzen vor den Leiden des Kriegs dar. Hier z. B. seine Betrachtung in der Broschüre „Nationalstaat usw.“:

Dass solche Schichten bestehen, die das dringendste Interesse am Weltfrieden und an der Abrüstung haben, ist nicht zu bezweifeln und bedarf keines Beweises. Kleinbürger und Kleinbauern, ja selbst viele Kapitalisten und Intellektuelle haben kein Interesse am Imperialismus, das stärker wäre, als die Schädigungen, die sie durch Krieg und Wettrüsten erleiden“ (S. 21).

Das ist im Februar 1915 geschrieben! Die Tatsachen sprechen von einem epidemieartigen Überlaufen aller besitzenden Klassen, einschließlich des Kleinbürgertums und der „Intellektuellen“, zu den Imperialisten, – aber Kautsky weiß, wie jener „Mann im Futteral, mit der Miene ungewöhnlicher Selbstzufriedenheit die Tatsachen mit süßlichen Worten abzufertigen. Er beurteilt die Interessen des Kleinbürgertums nicht nach seinem Verhalten, sondern nach den Äußerungen einiger Kleinbürger, obwohl diese Äußerungen auf Schritt und Tritt durch ihre Taten widerlegt werden. Das ist genau so, als wollten wir die „Interessen“ der Bourgeoisie überhaupt nicht nach ihren Taten beurteilen, sondern nach dem von Nächstenliebe triefenden Gerede der bürgerlichen Pfaffen, die die höchsten und heiligsten Schwüre darauf leisten, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung von den Idealen des Christentums durchdrungen sei. Kautsky verwendet den Marxismus in einer Weise, dass jeder Inhalt dabei zum Teufel geht und nur noch das Wörtchen „Interesse“ in einer übernatürlichen, spiritualistischen Bedeutung übrig bleibt, denn gemeint ist damit nicht eine ökonomische Realität, sondern ein unschuldiges Begehren nach Gemeinwohl.

Der Marxismus beurteilt die „Interessen“ auf Grund der Klassengegensätze und des Klassenkampfes, wie sich beides in den Tatsachen des Alltagslebens millionenfach äußert. Das Kleinbürgertum träumt und schwätzt von einer Abstumpfung der Gegensätze, es führt die aus ihrer Verschärfung sich ergebenden „schädlichen Folgen“ als seine „Argumente“ ins Feld. Imperialismus bedeutet Unterordnung aller Schichten der besitzenden Klassen unter das Finanzkapital und Aufteilung der Welt unter fünf bis sechs „Großmächte“, von denen die meisten jetzt am Kriege beteiligt sind. Aufteilung der Welt durch die Großmächte bedeutet, dass alle ihre besitzenden Schichten interessiert sind an diesem Kolonialbesitz, an den Einflusssphären, an der Unterjochung fremder Nationen, an den mehr oder minder einträglichen Pöstchen und Privilegien, die mit der Zugehörigkeit zu einer „Großmacht“ und zu einer unterdrückenden Nation verknüpft sind.E

Die alte Existenzweise, das Leben in den verhältnismäßig ruhigen, friedlichen Kulturverhältnissen eines sich gleichmäßig entwickelnden und sich allmählich auf neue Länder ausdehnenden Kapitalismus ist nicht mehr möglich, denn es hat eine Epoche von anderem Charakter begonnen. Das Finanzkapital ist im Begriff, das betreffende Land aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen, und wird diesen Verdrängungsprozess zu Ende führen, es wird dieses Land seiner Kolonien und seiner Einfluss-Sphären berauben (wie dies Deutschland zu machen droht, indem es in den Krieg gegen England eingetreten ist), es wird die kleine Bourgeoisie ihrer „Großmachts“-Privilegien und Extra-Einnahmen berauben. Das ist ein durch den Krieg ans Licht gebrachtes Faktum. Das ist es, wozu jene Verschärfung der Gegensätze – sie war von allen, auch von Kautsky in seiner Schrift: „Der Weg zur Macht“, längst konstatiert – in der Tat bereits geführt hat.

Und nun, da der bewaffnete Kampf um die Großmachtvorrechte Tatsache geworden ist, macht sich Kautsky daran, die Kapitalisten und das Kleinbürgertum zu überreden: der Krieg sei doch ein gar entsetzlich Ding, die Abrüstung aber eine gute Sache, – genau in der gleichen Weise und genau mit denselben Resultaten, wie der christliche Pfaffe von der Kanzel herab den Kapitalisten zureden will, die Nächstenliebe sei ein Gebot Gottes, ein Drang der Seele und das moralische Gesetz der Zivilisation.

Was Kautsky als ökonomische Tendenzen zum „Ultra-Imperialismus“ bezeichnet, ist in der Tat nichts anderes als ein echt kleinbürgerlicher Versuch, die Finanzkapitalisten zur Unterlassung des Bösen zu überreden.

Kapitalexport? Aber das Kapital wird mehr nach den unabhängigen Ländern, z. B. nach den Vereinigten Staaten von Amerika exportiert, als nach den Kolonien. Besitzergreifung von Kolonien? Aber sie sind bereits alle besetzt und fast alle erstreben ihre Befreiung.

Indien kann aufhören, englischer Besitz zu sein. Es wird nie als geschlossenes Reich einer anderen Fremdherrschaft zufallen.“ (S. 49 der zitierten Schrift.13) „Jedes Streben eines kapitalistischen Industriestaates, ein Kolonialreich zu erwerben, das ausreichte, ihn für den Bezug seiner Rohstoffe vom Ausland unabhängig zu machen, müsste alle anderen kapitalistischen Staaten gegen ihn vereinen, müsste ihn in endlose, erschöpfende Kriege verwickeln, ohne ihn seinem Ziel näher zu bringen. Diese Politik wäre der sicherste Weg, das ganze wirtschaftliche Leben des Staates zum Bankrott zu bringen.“ (S. 72 u. 73.)

Heißt das etwa nicht die Finanzkapitalisten in Philistermanier zum Verzicht auf den Imperialismus überreden wollen? Die Kapitalisten mit dem Bankrott schrecken, – das ist genau dasselbe, als wollte man Börsenleuten vom Börsenspiel abraten, weil „viele dabei ihr Vermögen einbüßen“. Ein Bankrott des konkurrierenden Kapitalisten und der konkurrierenden Nation ist für das Kapital nur gewinnbringend, da er noch stärkere Kapitalkonzentration bewirkt; je erbitterter und „enger“ daher die ökonomische Konkurrenz, d. h. die Anstrengungen, den Konkurrenten ökonomisch zum Bankrott zu treiben, desto stärker auch das Bestreben der Kapitalisten, dies militärisch zu ergänzen, d. h. den Konkurrenzgegner auch militärisch zum Bankrott zu bringen. Je geringer die Zahl der noch verbliebenen Länder, in die sich Kapital so gewinnbringend exportieren lässt, wie in Kolonien und abhängige Länder vom Schlage der Türkei – denn in diesen Fällen streicht der Finanzkapitalist dreifachen Gewinn ein, verglichen mit dem Kapitalexport in ein freies, selbständiges und zivilisiertes Land, wie die Vereinigten Staaten von Amerika es sind –, um so erbitterter wird der Kampf um die Unterwerfung und Aufteilung der Türkei, Chinas usw. Das sagt die ökonomische Theorie von der Epoche des Finanzkapitals und des Imperialismus. Das sagen die Tatsachen. Aber Kautsky verwandelt alles in die vulgäre Spießer-„Moral“: es lohnt doch nicht, sich besonders zu ereifern oder gar um die Aufteilung der Türkei oder um die Besitzergreifung von Indien zu kämpfen, denn „es wird ohnehin nicht für lange sein“, und überhaupt wäre es besser, den Kapitalismus auf friedliche Weise zu entwickeln … Selbstverständlich wäre es noch besser, durch Erhöhung der Arbeitslöhne den Kapitalismus zu entwickeln und die Märkte zu erweitern: das ist durchaus „denkbar“, und den Finanzkapitalisten in diesem Geiste ins Gewissen zu reden, wäre das passendste Thema für eine Pfaffenpredigt… Der gute Kautsky hat die deutschen Finanzmänner beinahe restlos überredet und davon überzeugt, dass es sich nicht lohne, mit England wegen der Kolonien Krieg zu führen, denn diese Kolonien würden sich ohnehin sehr bald befreien …!

Englands Export und Import nach und aus Ägypten wuchs in der Zeit von 1872-1912 langsamer als der gesamte Export und Import Englands. Der „Marxist“ Kautsky zieht daraus die Moral:

Wir haben keine Ursache, anzunehmen, dass er (der Handel mit Ägypten) ohne die militärische Besetzung Ägyptens durch das bloße Gewicht der ökonomischen Faktoren weniger gewachsen wäre“ (S. 72). Die „Ausdehnungsbestrebungen des Kapitals“ können „am besten nicht durch die gewalttätigen Methoden des Imperialismus, sondern durch die friedliche Demokratie gefördert werden.“ (S. 70.)

Was für eine bemerkenswert ernsthafte, wissenschaftliche, „marxistische“ Analyse! Kautsky hat diese unvernünftige Geschichte glänzend „verbessert“, er hat „nachgewiesen“, dass die Engländer es überhaupt nicht nötig hatten, den Franzosen Ägypten zu entreißen, und dass es sich für die deutschen Finanzmänner ganz entschieden nicht lohnte, Kriege anzufangen und zusammen mit anderen Unternehmungen einen türkischen Feldzug zu organisieren, um die Engländer aus Ägypten hinauszuwerfen! All das ist ein Missverständnis und sonst nichts, – die Engländer haben nur noch nicht eingesehen, dass man „am besten“ auf die Vergewaltigung Ägyptens verzichtet und (im Interesse der Erweiterung des Kapitalexportes – nach Kautsky!) zur „friedlichen Demokratie“ übergeht…

Natürlich war es eine Illusion der bürgerlichen Freihändler, wenn sie glaubten, der Freihandel räume die ökonomischen Gegensätze aus der Welt, die der Kapitalismus hervorbringt. Das vermag er ebenso wenig, wie die Demokratie. Aber wir haben alle ein Interesse daran, dass diese Gegensätze in Formen ausgefochten werden, die den arbeitenden Massen die geringsten Opfer und Leiden auferlegen …“ (S. 73.)

Erbarm dich, Allmächtiger! Gott, sei uns gnädig! Was ist ein Philister? pflegte Lassalle zu fragen, und er antwortete mit dem bekannten Ausspruch des Dichters: ein „leerer Darm, voll Furcht und Hoffen, dass Gott erbarm'!”.

Kautsky hat es fertig gebracht, den Marxismus unerhört zu prostituieren und sich selbst in einen wahren Pfaffen zu verwandeln. Der Pfaffe überredet die Kapitalisten, dass sie zur friedlichen Demokratie übergehen sollten, – und er nennt das Dialektik: wenn es zuerst Freihandel gab, dann Monopole und Imperialismus, warum sollte dann nicht der „Ultra-Imperialismus“ kommen und nach ihm wieder der Freihandel? Der Pfaffe tröstet die unterdrückten Massen, indem er ihnen die Segnungen dieses „Ultra-Imperialismus“ ausmalt, obgleich dieser Pfaffe nicht einmal sagen kann, ob ein solcher „realisierbar“ sei! Mit Recht hat Feuerbach denjenigen, die die Religion mit dem Argument verteidigen, dass sie den Menschen Trost spende, die reaktionäre Bedeutung des Tröstens vorgehalten: wer den Sklaven tröstet, statt ihn zur Rebellion gegen die Sklaverei aufzurütteln, der unterstützt die Sklavenhalter.14

Alle unterdrückenden Klassen ohne Ausnahme bedürfen zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft zweier sozialer Funktionen: der des Henkers und der des Pfaffen. Der Henker soll den Protest und die Empörung der Unterdrückten ersticken, der Pfaffe soll ihnen Perspektiven auf Milderung der Leiden und Opfer bei Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft ausmalen (das ist besonders bequem zu machen, wenn es ohne Schwören auf die „Realisierbarkeit“ solcher Perspektiven abgeht) und sie eben dadurch mit dieser Herrschaft aussöhnen, sie von revolutionären Taten abhalten, ihre revolutionäre Geisteshaltung untergraben, ihre revolutionäre Entschlossenheit zerschlagen. Kautsky hat den Marxismus in die widerwärtigste und stumpfsinnigste konterrevolutionäre Theorie, in das dreckigste Pfaffentum verwandelt.

Im Jahre 1909 konstatiert er in seiner Broschüre: „Der Weg zur Macht“ als eine – von niemandem widerlegte, von niemandem widerlegbare – Tatsache die Verschärfung der Gegensätze des Kapitalismus, das Herannahen einer Epoche von Kriegen und Revolutionen, einer neuen „revolutionären Periode“. Es kann keine „vorzeitige“ Revolution geben, erklärt er und nennt es „direkten Verrat an unserer Sache“, wollte man beim Aufstand nicht mit der Möglichkeit des Sieges rechnen, wenn auch vor dem Kampfe die Möglichkeit einer Niederlage nicht geleugnet werden könne.

Da kam der Krieg. Die Gegensätze spitzten sich noch weiter zu. Die Leiden der Massen nahmen gigantische Ausmaße an. Der Krieg zieht sich in die Länge, und sein Schauplatz dehnt sich immer mehr aus. Kautsky schreibt eine Broschüre nach der andern, ergebenst fügt er sich den Anweisungen des Zensors, bringt keine Angaben über die Ausräuberung ganzer Territorien und über die Kriegsgräuel, über die skandalösen Profite der Kriegslieferanten, über die Teuerung, über die „Militärsklaverei“ der mobilisierten Arbeiter, dafür aber tröstet und tröstet er das Proletariat, – er tröstet es mit dem Beispiel der Kriege in jenem Zeitalter, da die Bourgeoisie noch eine revolutionäre oder progressive Rolle spielte, da „Marx selber“ den Sieg dieser oder jener Bourgeoisie wünschte, tröstet das Proletariat mit Reihen und Kolonnen von Ziffern, die „die Möglichkeit“ eines Kapitalismus ohne Kolonien und ohne Räuberei, ohne Kriege und ohne Rüstungen –, die alle Vorzüge der „friedlichen Demokratie“ beweisen sollen. Es gebricht Kautsky an Mut, die Verschärfung des Massenelends und den tatsächlichen, vor unseren Augen sich vollziehenden Eintritt einer revolutionären Situation (davon darf nicht gesprochen werden! die Zensur erlaubt es nicht…) rundweg zu leugnen, und so macht er denn den Lakaien der Bourgeoisie und der Opportunisten, indem er die „Perspektive“ (für ihre „Realisierbarkeit“ allerdings will er nicht haften) auf solche Formen des Kampfes in der neuen Phase an die Wand malt, die „geringere Opfer und Leiden“ auferlegen… Franz Mehring und Rosa Luxemburg haben vollkommen recht, wenn sie diesen Kautsky ein „Mädchen für alle“ nennen.

Im August 1905 war die revolutionäre Situation in Russland eine Tatsache. Der Zar hatte die Bulyginsche Duma versprochen, um den aufgeregten Massen einen „Trost“ zu geben. Das Bulyginsche Regime der Gesetze-Beratung kann man als „Ultra-Absolutismus“ bezeichnen, sofern man einen Verzicht der Finanzkapitalisten auf Rüstungen und eine von ihnen zu treffende gegenseitige Vereinbarung über „dauernden Frieden“ als „Ultra-Imperialismus“ bezeichnen kann. Unterstellen wir für eine Minute, dass morgen hundert von den größten Finanziers der Welt, in Hunderten von Riesenunternehmungen miteinander „verfilzt“, den Völkern das Versprechen geben, dass sie für Abrüstung nach dem Kriege eintreten (wir machen für einen Moment diese Annahme, um die politischen Schlussfolgerungen aus Kautskys närrischer Theorie in Augenschein zu nehmen). Selbst dann wäre es direkter Verrat am Proletariat, wollte man ihm von revolutionären Aktionen abraten, ohne die alle Versprechungen, alle guten Perspektiven bloße Chimäre sind.

Der Krieg hat der Kapitalistenklasse nicht allein Riesenprofite und glänzende Aussichten auf neue Raubzüge (Türkei, China usw.), auf neue Milliarden-Aufträge und auf neue Anleihen zu erhöhtem Zinsfuß gebracht. Das ist nicht alles. Er hat der Kapitalistenklasse noch größere politische Vorteile gebracht, indem er das Proletariat spaltete und korrumpierte. Kautsky fördert diese Korruption, er sanktioniert diese internationale Spaltung der kämpfenden Proletarier im Namen der Einheit mit den Opportunisten der „eigenen“ Nation, mit den Südekums! Und es finden sich Leute, die nicht begreifen, dass die Parole: Einheit der alten Parteien nichts anderes als die „Einheit“ des nationalen Proletariats mit seiner nationalen Bourgeoisie und die Spaltung des Proletariats der verschiedenen Nationen bedeutet…

VI

Die vorhergehenden Zeilen waren bereits geschrieben, als Nr. 9 der „Neuen Zeit“ vom 28. Mai mit Kautskys abschließender Betrachtung über den „Zusammenbruch der alten Sozialdemokratie“ (§ 7 seiner Erwiderung an Cunow) erschien. Alle alten Sophismen zur Verteidigung des Sozialchauvinismus und einen neuen Sophismus dazu zieht Kautsky hier zusammen und zieht selbst das Fazit, und zwar folgendermaßen:

Es ist einfach nicht wahr, dass der Krieg ein rein imperialistischer ist, dass die Alternative bei seinem Ausbruch die war: Imperialismus oder Sozialismus, und dass die sozialistischen Parteien und proletarischen Massen Deutschlands, Frankreichs, vielfach auch Englands sich ohne Besinnen auf bloßes Geheiß einer Handvoll Parlamentarier dem Imperialismus in die Arme gestürzt, den Sozialismus verraten und so den beispiellosesten Zusammenbruch aller Zeiten herbeigeführt hätten.“ (S. 274.)

Ein neuer Sophismus und eine neue Täuschung der Arbeiter; der Krieg sei gar kein „rein“ imperialistischer!

In der Frage nach dem Charakter und der Bedeutung des jetzigen Kriegs macht Kautsky auffallende Schwankungen durch, wobei die exakten und formellen Erklärungen des Baseler Kongresses und des Chemnitzer Parteitags von besagtem Parteiführer ebenso vorsichtig umgangen werden, wie der Dieb den Platz seines letzten Diebstahls umgeht. In der Broschüre über den „Nationalstaat“ usw., geschrieben im Februar 1915, hatte Kautsky versichert, dass der Krieg „dennoch in letzter Linie ein imperialistischer“ sei (S. 64). Jetzt wird die neue Einschränkung gemacht: kein rein imperialistischer Krieg – aber was für einer denn noch?

Wie sich herausstellt, ist er außerdem noch ein nationaler Krieg! Auf dieses himmelschreiende Ding kam Kautsky mit Hilfe folgender „Plechanowschen“ Auch-Dialektik:

Der jetzige Krieg ist ein Kind nicht bloß des Imperialismus, sondern auch der russischen Revolution.“

Er, Kautsky, habe schon im Jahre 1904 prophezeit, dass die russische Revolution den Panslawismus in neuer Form wiederbeleben müsste, dass

ein demokratisches Russland den Drang der Slawen Österreichs und der Türkei nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit … von neuem gewaltig aufflammen lassen“ müsse. „Da wird auch die polnische Frage wieder akut werden… Österreich wird dann gesprengt, denn mit dem Zusammenbruch des Zarismus zerfällt der eiserne Reifen, der heute noch die auseinanderstrebenden Elemente zusammenhält“ (dies letztere Zitat führt Kautsky heute selbst aus einem seiner Aufsätze aus dem Jahre 1904 an)15 … „Die russische Revolution … hat den nationalen Bestrebungen des Orients einen mächtigen Anstoß verliehen, … zu den europäischen Problemen asiatische hinzugefügt. Sie alle melden sich während des jetzigen Krieges ungestüm zum Wort, und sie werden vielfach entscheidend für die Stimmung der Volksmassen, auch der proletarischen, während in den herrschenden Klassen die imperialistischen Tendenzen überwiegen.“ (S. 273; Sperrungen von uns.)

Nochmals ein Musterbild der Prostituierung des Marxismus! Weil „ein demokratisches Russland“ den Freiheitsdrang der Völker im Osten Europas aufflammen lassen müsste (das ist unbestreitbar), darum ist der jetzige Krieg, der keine einzige Nation befreit, aber bei jedem beliebigen Ausgang viele Nationen versklavt, kein „rein“ imperialistischer Krieg. Weil der „Zusammenbruch des Zarismus“ für Österreich infolge des undemokratischen Charakters seines nationalen Aufbaus den Zerfall bedeuten würde, darum hat der vorübergehend erstarkte konterrevolutionäre Zarismus, der Österreich zum Objekt des Raubes macht und den Nationen Österreichs noch größere Unterdrückung verheißt, dem „jetzigen Krieg“ nicht rein imperialistischen, sondern in gewissem Maße nationalen Charakter verliehen. Weil „die herrschenden Klassen“ stumpfsinnigen Spießern und eingeschüchterten Bauern die Märchen von den nationalen Zielen des imperialistischen Kriegs vorlügen, darum hat ein Mann der Wissenschaft, eine Autorität des „Marxismus“, ein Vertreter der II. Internationale, das Recht, die Massen mit diesem Lug und Trug zu versöhnen, mit Hilfe der „Formel“: bei den herrschenden Klassen sind die imperialistischen Tendenzen, bei „dem Volke“ und bei den proletarischen Massen aber die „nationalen“ Bestrebungen.

Die Dialektik verwandelt sich in die gemeinste, niederträchtigste Sophistik!

Das nationale Element im jetzigen Kriege ist nur durch den Krieg Serbiens gegen Österreich vertreten (was unter anderem auch in der Resolution der Berner Konferenz unserer Partei vermerkt ist). Nur in Serbien, unter den Serben haben wir es mit einer seit vielen Jahren bestehenden und „nationale Massen“ von Millionenzahl umfassenden nationalen Emanzipationsbewegung zu tun, deren „Fortsetzung“ sich im Krieg Serbiens gegen Österreich darstellt. Wäre dieser Krieg isoliert, d. h. wäre er nicht mit dem gesamten europäischen Krieg, mit den Profit- und Raubzwecken Englands, Russlands usw. verknüpft, so wären alle Sozialisten verpflichtet, der serbischen Bourgeoisie Erfolg zu wünschen, – das ist die allein richtige und die absolut notwendige Schlussfolgerung aus dem nationalen Moment im jetzigen Kriege. Aber der Sophist Kautsky, der jetzt im Dienste der österreichischen Bourgeoisie, des Klerus und der Generalität steht, zieht diese Schlussfolgerung gerade nicht!

Weiter. Die Marxsche Dialektik, die das letzte Wort der evolutionären Wissenschaftsmethode darstellt, verbietet gerade die isolierte, d. h. die einseitige, verzerrte und verdrehte Betrachtung des Gegenstandes. Das nationale Moment des serbisch-österreichischen Kriegs hat im gesamteuropäischen Kriege keinerlei ernsthafte Bedeutung und kann sie auch nicht haben. Siegt Deutschland, so wird es Belgien, einen weiteren Teil von Polen, vielleicht einen Teil von Frankreich usw. erdrosseln. Siegt Russland, so wird es Galizien, einen weiteren Teil von Polen, Armenien usw. erdrosseln. Endet der Krieg mit einem „Remis“, so bleibt die alte nationale Unterdrückung. Für Serbien, d. h. für etwa einen hundertsten Teil der am jetzigen Krieg Beteiligten, erscheint der Krieg als „Fortsetzung der Politik“ der bürgerlichen Freiheitsbewegung. Für neunundneunzig Hundertteile ist der Krieg eine Fortsetzung der imperialistischen Politik, d. h. der Politik einer alt gewordenen Bourgeoisie, die wohl zur Schändung, nicht aber zur Befreiung von Nationen imstande ist. Die Triple-Entente verkauft mit ihrer „Befreiung“ Serbiens die Interessen der serbischen Freiheit an den italienischen Imperialismus als Gegengabe für die Hilfeleistung bei der Plünderung Österreichs.

All das ist allgemein bekannt, und all das wird von Kautsky um der Rechtfertigung der Opportunisten willen schamlos entstellt. „Reine“ Erscheinungen gibt es weder in der Natur noch in der Gesellschaft und kann es auch nicht geben, – das lehrt gerade die Marxsche Dialektik, und zwar zeigt sie uns, dass der Begriff der Reinheit selber eine gewisse Beschränktheit und Einseitigkeit der menschlichen Erkenntnis ist, die den Gegenstand nicht in seiner ganzen Kompliziertheit bis zu Ende erfasst. In der Welt gibt es keinen „reinen“ Kapitalismus und kann es keinen geben, stets sind Beimischungen bald von feudalen, bald von kleinbürgerlichen Verhältnissen oder von sonst etwas da. Wenn man daher vom nicht „rein“ imperialistischen Charakter des Kriegs spricht, wo es sich um die unerhörte Täuschung der „Volksmassen“ durch die Imperialisten handelt, die bewusst ihre nackten Raubzwecke unter „nationaler“ Phraseologie zu verbergen suchen, – so zeigt man damit, dass man grenzenlos stumpfsinniger Pedant oder Rabulist und Betrüger ist. Es handelt sich ja im Grunde gerade darum, dass Kautsky den imperialistischen Volksbetrug unterstützt, wenn er sagt, dass für „die Volksmassen, auch die proletarischen“, die nationalen Probleme entscheidend waren, „während in den herrschenden Klassen die imperialistischen Tendenzen überwiegen“ (S. 273), und wenn er dies „bekräftigt“ durch einen quasi-dialektischen Hinweis auf die „unendlich mannigfaltige Wirklichkeit“ (S. 274). Unstreitig, die Wirklichkeit ist unendlich mannigfaltig, das ist eine heilige Wahrheit! Aber ebenso unstreitig ist, dass es in dieser unendlichen Mannigfaltigkeit zwei entscheidende Grundströmungen gibt: objektiver Inhalt des Kriegs ist die „Fortsetzung der Politik“ des Imperialismus, d.h. der Plünderung fremder Nationen durch die alt gewordene Bourgeoisie der „Großmächte“ (und durch die Regierungen dieser Bourgeoisie), während die vorherrschende „subjektive“ Ideologie in den „nationalen“ Phrasen besteht, die zur Täuschung der Massen verbreitet werden.

Kautskys alten Sophismus, den er nun wieder aufwärmt, dass nämlich die „Linken“ die Sache so darstellten, als ob „bei Kriegsausbruch“ die Alternative geheißen hätte: Imperialismus oder Sozialismus, – haben wir bereits untersucht. Das ist eine schamlose Unterstellung, denn Kautsky weiß sehr wohl, dass die von der Linken gestellte Alternative eine andere war: Anschluss der Partei an den imperialistischen Raubzug und Betrug, oder Propagierung und Vorbereitung revolutionärer Aktionen. Kautsky weiß auch, dass allein die Zensur ihn davor bewahrt, dass durch die deutsche „Linke“ das alberne Märchen entlarvt wird, das er aus Liebedienerei für die Südekums in Umlauf setzt.

Was aber weiter das Verhältnis zwischen den „proletarischen Massen“ und der „Handvoll Parlamentarier“ betrifft, so führt hier Kautsky eines der abgedroschensten Argumente ins Feld:

Sehen wir von den Deutschen ab, um nicht pro domo zu plädieren, aber wer könnte im Ernst behaupten wollen, Männer wie Vaillant und Guesde, Hyndman und Plechanow seien über Nacht zu Imperialisten geworden und hätten den Sozialismus preisgegeben? Und wollen wir absehen von den Parlamentariern und ,Instanzen' …“

(Kautsky spielt hier offensichtlich auf Rosa Luxemburgs und Franz Mehrings Zeitschrift „Die Internationale“ an, in der die Politik der Instanzen, d. h. der offiziellen Spitzen der deutschen Sozialdemokratie, ihres Zentralkomitees, des „Vorstands“, ihrer Reichstagsfraktion usw. mit der verdienten Verachtung überschüttet wird.)

… „aber wer darf behaupten, dass für vier Millionen klassenbewusster deutscher Proletarier einzig das Kommando einer Handvoll Parlamentarier genügt, dass sie binnen 24 Stunden rechts schwenken und Front gegen ihre bisherigen Ziele machen? Wäre das richtig, dann zeigte das allerdings einen furchtbaren Zusammenbruch, aber nicht bloß unserer Partei, sondern auch der Masse (gesperrt von Kautsky). Wäre die eine so charakterlose Hammelherde, dann könnten wir uns begraben lassen.“ (S. 274.)

Der politisch und wissenschaftlich höchst autoritative Karl Kautsky hat sich bereits selber begraben durch sein Verhalten und durch die Wahl seiner erbärmlichen Ausflüchte. Wer das nicht versteht oder wenigstens nicht fühlt, der ist für den Sozialismus hoffnungslos verloren, und gerade darum haben Mehring, Rosa Luxemburg und ihre Anhänger in der „Internationale“ den einzig richtigen Ton angeschlagen, wenn sie Kautsky und Konsorten als die verächtlichsten Subjekte behandeln.

Man bedenke nur einmal: Über die Stellungnahme zum Krieg konnte sich einigermaßen frei (d. h. ohne sofort gepackt und in die Kaserne geschleppt zu werden, ohne vor die unmittelbare Gefahr der Erschießung gestellt zu sein) ausschließlich eine „Handvoll Parlamentarier“ äußern (sie hatten das Recht, frei abzustimmen, sie konnten sehr gut mit Nein stimmen – dafür wurde man nicht einmal in Russland geschlagen oder misshandelt, ja nicht einmal verhaftet), ebenso eine Handvoll Beamte, Journalisten usw. Jetzt wälzt Kautsky, edelmütig wie er ist, den Verrat und die Charakterlosigkeit dieser Gesellschaftsschicht auf die Masse ab, – dieser Schicht, über deren Zusammenhang mit der Taktik und Ideologie des Opportunismus derselbe Kautsky im Verlauf so mancher Jahre zu Dutzenden von Malen geschrieben hatte! Die allererste und grundlegende Regel einer wissenschaftlichen Untersuchung überhaupt und der Marxschen Dialektik insbesondere erfordert vom Schriftsteller die Analyse des Zusammenhangs, der zwischen dem gegenwärtigen Kampfe der Richtungen im Sozialismus – der einen Richtung, die offen von Verrat spricht und darüber Alarm schlägt, der anderen, die nichts von Verrat sieht – und dem vor dem Krieg ganze Jahrzehnte lang geführten Kampfe besteht. Kautsky tut dazu nicht einmal den Mund auf, er ist nicht gewillt, auch nur das Thema der Richtungen und der Strömungen aufzuwerfen. Bisher gab es wohl Strömungen, jetzt gibt es keine mehr! Jetzt existieren nur noch die klingenden Namen der „Autoritäten“, womit Lakaienseelen stets aufzutrumpfen pflegen. Es ist besonders bequem, sich dabei einer auf den anderen zu berufen und in aller Freundschaft über die begangenen „kleinen Sünden“ den Schleier zu werfen, nach der Regel: eine Hand wäscht die andere. Nun, was soll das für ein Opportunismus sein – rief L. Martow in seinem Vortrag in Bern aus (siehe Nr. 36 des „Sozialdemokrat“) – wo doch Guesde, Plechanow und Kautsky…! Man sollte mit dem Vorwurf des Opportunismus Männern wie Guesde gegenüber vorsichtiger sein – schrieb Axelrod („Golos“ Nr. 86 und 87). Ich will nicht für mich selbst plädieren – stimmt Kautsky in Berlin ein –, aber … Vaillant und Guesde, Hyndman und Plechanow! Der Kuckuck preist den Gockelhahn, dieweil der Gockelhahn den Kuckuck preist.16

In seinem Lakaieneifer geht Kautsky gar so weit, dass er selbst vor Hyndman seine Verbeugung macht: er stellt ihn so dar, als wäre er erst gestern unter die Imperialisten gegangen. Aber in derselben „Neuen Zeit“ und in Dutzenden von sozialdemokratischen Zeitungen auf dem ganzen Erdball ist über Hyndmans Imperialismus viele Jahre lang geschrieben worden! Hätte sich Kautsky gewissenhaft für die politische Biographie der von ihm genannten Personen interessiert, so hätte ihm die Frage in den Sinn kommen müssen: gab es in dieser Biographie nicht Charakterzüge und Ereignisse, durch die nicht „an einem Tage“, wohl aber in einem Dutzend von Jahren das Überlaufen zum Imperialismus vorbereitet worden war; war nicht Vaillant ein Gefangener der Jaurèsisten und Plechanow im Banne der Menschewiki und Liquidatoren gewesen? Hatte nicht vor aller Augen die Richtung Guesdes in der guesdistischen Zeitschrift „Le Socialisme“ – diesem Muster von Leblosigkeit, Talentlosigkeit und Unfähigkeit zu selbständiger Stellungnahme auch nur in einer einzigen wichtigen Frage – allmählich ihren Geist aufgegeben? Hatte nicht Kautsky (das sei für die hinzugefügt, die auch ihn, und zwar mit vollem Recht, mit den Hyndman und Plechanow in eine Reihe stellen) in der Millerandismus-Frage, zu Beginn der Auseinandersetzungen mit der Bernsteiniade usw., Charakterlosigkeit offenbart?

Aber auch nicht der leiseste Schatten von Interesse für die wissenschaftliche Untersuchung der Biographie dieser betreffenden Führer ist hier zu spüren. Nicht einmal der Versuch, zu analysieren, ob sich diese Führer heute mit Hilfe eigener Argumente verteidigen oder ob sie nur die Argumente der Opportunisten und der Bourgeois wiederholen. Haben die Taten dieser Führer ernsthafte politische Bedeutung erlangt, weil sie ganz besonderen Einfluss genießen, oder aber, weil sie sich einer fremden, tatsächlich „einflussreichen“, von den militärischen Instanzen unterstützten Richtung, nämlich der bürgerlichen, angeschlossen haben? Kautsky denkt nicht einmal daran, diese Frage zu untersuchen; er ist nur bemüht, den Massen Sand in die Augen zu streuen, sie mit dem Klang autoritativer Namen zu betäuben, sie an der klaren Stellung der Streitfrage und an deren allseitiger Analyse zu hindern.F

„… Eine Masse von vier Millionen auf Kommando einer Handvoll Parlamentarier rechts geschwenkt …“

Kein Wort davon ist wahr. Die deutsche Parteiorganisation hatte nicht vier, sondern eine halbe Million17 Mitglieder, und dabei brachte den einheitlichen Willen dieser Massenorganisation (wie auch jeder anderen Organisation) einzig und allein ihre politische Zentrale zum Ausdruck, jene „Handvoll“, die den Sozialismus verriet. Diese Handvoll wurde befragt, wurde zum Abstimmen aufgefordert, sie konnte stimmen, konnte Artikel schreiben usw. Die Massen aber wurden nicht ein einziges Mal befragt. Und nicht nur, dass sie nicht stimmen durften, man jagte sie auseinander, man hetzte sie, „auf Kommando“ zwar nicht einer Handvoll Parlamentarier, wohl aber der Militärbehörden. Die Heeresorganisation war auf dem Plan, in ihr gab es keinen Verrat der Führer, sie rief die „Masse“ einzeln auf, sie stellte das Ultimatum: Einrücken (das raten dir deine Führer!) oder Erschießung. Die Masse hatte keine Möglichkeit zu organisiertem Handeln, denn ihre schon vorher geschaffene Organisation, die in einer „Handvoll“ von Legiens, Kautskys und Scheidemanns verkörperte Organisation, hatte die Masse verraten; zur Schaffung einer neuen Organisation aber bedarf es einer gewissen Zeit, bedarf es des Entschlusses, die alte, morsche, überlebte Organisation beiseite zu werfen.

Kautsky versucht, seine Gegner, die Linken, zu schlagen, indem er ihnen den folgenden Unsinn zuschreibt: sie hätten die Frage so gestellt, als müssten „die Massen“ „als Antwort“ auf den Krieg „in vierundzwanzig Stunden“ Revolution machen und gegen den Imperialismus den „Sozialismus“ einführen, und als bekunde jede andere Handlungsweise „der Massen“ „Charakterlosigkeit und Verrat“. Aber das ist der purste Unsinn, wie ihn bisher nur Verfasser von dummen Bourgeois- und Polizeitraktätchen zum „Erledigen“ der Revolutionäre ins Feld geführt hatten, – und jetzt will Kautsky damit Staat machen. Kautskys linke Gegner wissen sehr gut, dass man die Revolution nicht „machen“ kann, dass Revolutionen aus den objektiv (unabhängig vom Willen der Parteien und Klassen) herangereiften Krisen und Umwälzungen der Geschichte hervorwachsen, dass die Massen ohne Organisation eines einheitlichen Willens beraubt sind, dass der Kampf gegen die mächtige, terroristische, militärische Organisation der zentralisierten Staaten eine schwere und langwierige Sache ist. Die Massen konnten bei dem Verrat ihrer Führer im kritischen Augenblick nichts tun; die „Handvoll“ dieser Führer aber hatte voll und ganz die Möglichkeit und die Pflicht, gegen die Kredite zu stimmen, gegen den „Burgfrieden“ und gegen die Rechtfertigung des Kriegs aufzutreten, sich für die Niederlage der eigenen Regierungen zu erklären, einen internationalen Apparat für die Propaganda der Verbrüderung in den Schützengräben einzurichten, die Herausgabe illegaler LiteraturG zu organisieren, in der die Notwendigkeit des Übergangs zu revolutionären Aktionen gepredigt worden wäre usw.

Kautsky weiß sehr gut, dass es gerade solche oder vielmehr ähnliche Aktionen sind, was die „Linken“ in Deutschland im Auge haben, dass sie aber unter der Militärzensur nicht die Möglichkeit haben, offen und geradeswegs darüber zu sprechen. In seinem Verlangen, die Opportunisten um jeden Preis zu verteidigen, versteigt sich Kautsky zu der geradezu beispiellosen Gemeinheit, hinter dem Rücken der Militärzensoren verschanzt, der Linken den offenkundigsten Unsinn zuzuschreiben, in der Gewissheit, dass die Zensoren ihn vor Entlarvung beschützen werden.

VII

Die ernste wissenschaftliche und politische Frage, die Kautsky mit Bewusstsein, mit allen möglichen Tricks zu umgehen sucht, wodurch er den Opportunisten das größte Vergnügen bereitet, diese Frage lautet: wie konnte es geschehen, dass die angesehensten Repräsentanten der II. Internationale den Sozialismus verrieten?

Diese Frage dürfen wir natürlich nicht im Sinne der persönlichen Biographie dieser oder jener Autoritäten stellen. Ihre künftigen Biographen werden die Sache auch von dieser Seite zu betrachten haben, aber die sozialistische Bewegung ist daran heute gar nicht interessiert, wohl aber ist sie es an der Untersuchung des historischen Ursprungs, der Bedingungen, der Bedeutung und der Kraft der sozialchauvinistischen Richtung. 1. Woher kommt der Sozialchauvinismus? 2. Was hat ihm Kraft verliehen? 3. Wie muss er bekämpft werden? Nur eine solche Stellung der Frage ist ernsthaft, während die Abwälzung der Sache auf „Personen“ in der Praxis eine einfache Ausflucht, einen Sophistenkunstgriff bedeutet.

Will man die erste Frage beantworten, so hat man zu untersuchen: erstens, ob der ideell-politische Inhalt des Sozialchauvinismus nicht mit irgendeiner früheren Richtung innerhalb des Sozialismus in Zusammenhang steht; zweitens, in welchem Verhältnis – unter dem Gesichtswinkel der faktischen politischen Scheidungen betrachtet – die jetzige Scheidung der Sozialisten in Gegner und Verfechter des Sozialchauvinismus zu den früheren, historisch vorhergegangenen Scheidungen steht.

Unter Sozialchauvinismus verstehen wir die Anerkennung der Idee der Vaterlandsverteidigung im jetzigen imperialistischen Kriege, die Rechtfertigung des Bündnisses der Sozialisten mit der Bourgeoisie und den Regierungen der „eigenen“ Länder in diesem Kriege, den Verzicht auf die Propagierung und Unterstützung proletarisch-revolutionärer Aktionen gegen die „eigene“ Bourgeoisie usw. Es ist vollkommen ersichtlich, dass der grundlegende ideell-politische Inhalt des Sozialchauvinismus sich mit den Grundlagen des Opportunismus restlos deckt. Das ist ein und dieselbe Richtung. Der Opportunismus ergibt eben in den Verhältnissen des Kriegs von 1914/15 den Sozialchauvinismus. Das Wesentliche am Opportunismus ist der Gedanke der Zusammenarbeit der Klassen. Der Krieg entwickelt diese Idee bis zu Ende, indem er zu deren gewöhnlichen Faktoren und Triebkräften eine ganze Reihe von außerordentlichen Faktoren hinzufügt und die zersplitterten Einwohnermassen durch besondere Drohungen und Gewaltanwendung zur Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zwingt: dieser Umstand lässt den Anhang des Opportunismus natürlich anschwellen und gibt so auch vollkommen die Erklärung für das Überlaufen vieler Radikaler von gestern in dieses Lager.

Der Opportunismus bedeutet die Opferung der grundlegenden Interessen der Massen zugunsten der vorübergehenden Interessen einer verschwindenden Minderheit von Arbeitern oder, anders gesagt, das Bündnis eines Teils der Arbeiterschaft mit der Bourgeoisie gegen die Masse des Proletariats. Der Krieg gibt diesem Bündnis besonders anschaulichen und zwingenden Charakter. Der Opportunismus entstand im Laufe von Jahrzehnten kraft der Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus, in der die verhältnismäßig friedliche und kulturelle Existenz einer privilegierten Arbeiterschicht sie „verbürgerlichte“, ihr von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals gewisse Brocken zukommen ließ und sie vom Elend, von den Leiden und revolutionären Stimmungen der ausgebeuteten und verarmten Massen isolierte. Der imperialistische Krieg ist die gerade Fortsetzung und Vollendung dieser Lage der Dinge, denn er ist der Krieg um die Privilegien der Großmacht-Nationen, um die Neuaufteilung der Kolonien unter ihnen, um ihre Herrschaft über die anderen Nationen. Verteidigung und Festigung ihrer privilegierten Lage als „Oberschicht“ des Kleinbürgertums oder der Aristokratie (und Bürokratie) der Arbeiterklasse – dies ist die natürliche Fortsetzung der kleinbürgerlich-opportunistischen Hoffnungen und der entsprechenden Taktik während des Kriegs, dies ist die ökonomische Grundlage des Sozialimperialismus unserer Tage.H Und natürlich, die Macht der Gewohnheit, die Routine einer verhältnismäßig „friedlichen“ Evolution, die nationalen Vorurteile, die Furcht vor einschneidenden Umwälzungen und der Unglaube an solche Umwälzungen – alle diese Dinge fungierten als ebenso viele weitere Umstände, die den Opportunismus ebenso wie die heuchlerische und feige – angeblich nur vorübergehende, angeblich nur durch besondere Gründe und Rücksichten veranlasste – Versöhnung mit ihm verstärkten. Der Krieg hat für den in Jahrzehnten herangezüchteten Opportunismus einen Gestaltwechsel gebracht, hat den Opportunismus auf eine höhere Stufe gehoben, die Zahl und die Mannigfaltigkeit seiner Nuancen gesteigert, die Reihen seiner Anhänger vermehrt, ihre Argumentation um einen Haufen von neuen Sophismen bereichert, dem Hauptstrom des Opportunismus sozusagen eine Menge Wasserläufe und Rinnsale zugeführt, – der Hauptstrom aber ist nicht verschwunden. Im Gegenteil.

Der Sozialchauvinismus ist der Opportunismus, der einen solchen Grad der Reife erreicht hat, dass die weitere Existenz dieser bürgerlichen Eiterbeule innerhalb der sozialistischen Parteien zur Unmöglichkeit geworden ist.

Leute, die den ganz engen und unzertrennlichen Zusammenhang des Sozialchauvinismus mit dem Opportunismus nicht sehen wollen, greifen einzelne Geschehnisse und „Fälle“ heraus: dieser oder jener Opportunist sei doch Internationalist – dieser oder jener Radikale Chauvinist geworden. Aber ein derartiges Argument ist doch einfach unernst, wenn es sich um die Entwicklung von Richtungen handelt. Erstens ist die ökonomische Grundlage für den Chauvinismus und für den Opportunismus in der Arbeiterbewegung eine und dieselbe: Bündnis der zahlenmäßig geringen Oberschichten des Proletariats und des Kleinbürgertums, für die von den Privilegien „ihres“ nationalen Kapitals gewisse Brocken abfallen, gegen die Masse der Proletarier, die Masse der Werktätigen und Unterdrückten überhaupt. Zweitens ist der ideell-politische Inhalt beider Richtungen ein und derselbe. Drittens: die der Epoche der II. Internationale (1889-1914) eigentümliche Scheidung der Sozialisten in eine opportunistische und in eine revolutionäre Richtung entspricht im Großen und Ganzen der neuen Scheidung in Chauvinisten und Internationalisten.

Damit man sich von der Richtigkeit dieses letzten Satzes überzeugen kann, sei an die Regel erinnert, dass die Gesellschaftswissenschaft (wie die Wissenschaft überhaupt) es mit Massenerscheinungen und nicht mit Einzelfällen zu tun hat. Man nehme zehn europäische Länder: Deutschland, England, Russland, Italien, Holland, Schweden, Bulgarien, die Schweiz, Frankreich und Belgien. In den acht erstgenannten Ländern entspricht die neue Gruppierung der Sozialisten (nach der Stellung zum Internationalismus) durchaus der alten (nach der Stellung zum Opportunismus) : in Deutschland ist die Hochburg des Opportunismus, die Zeitschrift „Sozialistische Monatshefte, zur Hochburg des Chauvinismus geworden. Die Ideen des Internationalismus werden von der äußersten Linken hochgehalten. In England sind rund drei Siebentel der British Socialist Party Internationalisten (laut der letzten Berechnung sind 66 Stimmen für die internationale Resolution und 84 gegen sie abgegeben worden), im Block der Opportunisten aber (Labour Party + Fabier + Independent Labour Party) machen die Internationalisten weniger als ein Siebentel aus.I In Russland ist der Haupttrupp der Opportunisten, bei der repräsentiert in dem Liquidatorenblatt „Nascha Sarja, zum Haupttrupp der Chauvinisten geworden. Plechanow und Alexinski machen wohl mehr Lärm, aber wir wissen, und sei es nur aus der Erfahrung des Jahrfünfts 1910-1914, dass sie unfähig sind, unter den Massen in Russland systematische Propaganda zu treiben. Der Kerntrupp der Internationalisten in Russland wird gebildet durch den „Prawdismus“ und die Russische Sozialdemokratische Arbeiter-Fraktion als Vertreterin der fortgeschrittenen Arbeiter, die im Januar 1912 die Neubegründung der Partei vollzogen haben.

In Italien ist die rein opportunistische Partei der Bissolati und Co. chauvinistisch geworden. Der Internationalismus wird durch die Arbeiterpartei vertreten. Die Massen der Arbeiter stehen hinter dieser Partei; die Opportunisten, Parlamentarier und Kleinbürger sind für den Chauvinismus. In Italien hatte man monatelang die Möglichkeit freier Entscheidung für das eine oder für das andere, und diese Entscheidung wurde nicht zufällig getroffen, sondern entsprechend dem Unterschied zwischen der Klassenlage des gewöhnlichen Arbeiters und der der kleinbürgerlichen Schichten.

In Holland macht die opportunistische Partei Troelstras ihren Frieden mit dem Chauvinismus überhaupt (man darf sich nicht dadurch irreführen lassen, dass in Holland die kleinen wie die großen Bourgeois von besonderem Hass gegen Deutschland beseelt sind, gegen das Land, das sie zu „verschlingen“ am ehesten imstande ist). Konsequente, aufrichtige, glühende, überzeugte Internationalisten stellte die marxistische Partei mit Gorter und Pannekoek an der Spitze. In Schweden ist der opportunistische Führer Branting empört darüber, dass man die deutschen Sozialisten des Verrats bezichtigt, der Führer der Linken aber, Höglund, erklärt, es gebe unter seinen Anhängern Leute, die die Dinge gerade so auffassen (siehe „Sozialdemokrat“ Nr. 3618). In Bulgarien halten die Gegner des Opportunismus, die „Engherzigen, in ihrem Blatt „Nowo Wreme“ den deutschen Sozialdemokraten schwarz auf weiß vor, dass sie „Schweinereien machen“. In der Schweiz sind die Anhänger des Opportunisten Greulich geneigt, die deutschen Sozialdemokraten zu entschuldigen (siehe ihr Organ, das Züricher „Volksrecht), während die Anhänger des weit radikaleren R. Grimm die Berner Tagwacht zu einem Organ der deutschen Linken gemacht haben. Eine Ausnahme bilden nur zwei von den zehn Ländern: Frankreich und Belgien, wobei es aber auch hier eigentlich nicht an Internationalisten fehlt, diese vielmehr nur (zum Teil aus durchaus begreiflichen Gründen) außerordentlich schwach und niedergedrückt sind; vergessen wir nicht, dass Vaillant selber in der „Humanité eingestand, von seinen Lesern Briefe internationalistischer Richtung erhalten zu haben, von denen er aber keinen einzigen vollständig abdruckte!

Im Großen und Ganzen muss man, wenn man die Strömungen und Richtungen nimmt, anerkennen, dass gerade der opportunistische Flügel des europäischen Sozialismus den Sozialismus verraten hat und zum Chauvinismus übergegangen ist. Woher kam seine Kraft, seine scheinbare Allmacht in den offiziellen Parteien? Kautsky, der sich sehr gut darauf versteht, historische Fragen zu stellen, besonders wenn es sich um das alte Rom oder ähnliche, dem lebendigen Leben nicht allzu nahe stehende Materien handelt, – dieser Kautsky verstellt sich jetzt, da die Sache ihn selber angeht, und tut so, als ob er all das nicht begreife. Aber die Sache ist sonnenklar. Die ungeheure Kraft der Opportunisten und Chauvinisten erwuchs ihnen aus ihrem Bündnis mit der Bourgeoisie, den Regierungen und Generalstäben. Bei uns in Russland vergisst man das sehr oft und betrachtet die Dinge so, als ob die Opportunisten ein Teil der sozialistischen Parteien seien, als ob es stets zwei extreme Flügel in diesen Parteien gegeben habe und geben werde, als ob es sich lediglich um das Vermeiden der „Extreme“ handle usw., wie man’s in allen Moralpredigten der Philister lesen kann.

In Wirklichkeit aber schließt die formale Zugehörigkeit der Opportunisten zu den Arbeiterparteien keineswegs aus, dass sie sich – objektiv – als die politischen Bataillone der Bourgeoisie, als die Schrittmacher ihres Einflusses, als ihre Agenten in der Arbeiterbewegung darstellen. Als der Mann mit Herostratenruhm, der Opportunist Südekum, diese soziale Wahrheit, diese Klassenwahrheit anschaulich vor demonstrierte, da waren viele gute Leute bass erstaunt. Die französischen Sozialisten und Plechanow fingen an, auf Südekum mit dem Finger zu weisen, – obwohl Vandervelde, Sembat und Plechanow bloß einmal in den Spiegel zu schauen brauchten, um genau solch einen Südekum mit ein klein wenig veränderter nationaler Physiognomie zu erblicken. Die deutschen ZK-Leute (der „Vorstand“), die den Kautsky loben und die von Kautsky gelobt werden, gaben eiligst die vorsichtige, bescheidene und höfliche Erklärung (ohne Nennung Südekums), dass sie mit der Linie Südekums „nicht einverstanden“ seien.

Das ist lächerlich, denn in der praktischen Politik der deutschen sozialdemokratischen Partei war es in der Tat Südekum, der sich im entscheidenden Moment allein stärker erwies als hundert Haases und Kautskys (so wie die russische Zeitung „Nascha Sarja“ ganz allein stärker ist als alle – den Bruch mit ihr fürchtenden – Richtungen des Brüsseler Blocks).

Warum? Ja, eben aus dem Grunde, weil hinter Südekums Rücken die Bourgeoisie, die Regierung und der Generalstab einer Großmacht stehen. Die Politik Südekums unterstützen sie auf tausenderlei Art, aber der Politik seiner Gegner suchen sie mit allen Mitteln, einschließlich Gefängnis und Erschießung, Schranken zu setzen. Südekums Stimme wird von der bürgerlichen Presse in Millionen von Zeitungsexemplaren (ebenso wie die Stimme Vanderveldes, Sembats und Plechanows) weitergegeben, aber seine Gegner können in der legalen Presse nicht zu Gehör kommen, weil es auf der Welt so etwas wie eine Militärzensur gibt!

Jeder gibt zu, dass der Opportunismus nichts Zufälliges, dass er keine Sünde, keine Unterlassung, kein Verrat einzelner Personen ist, sondern das soziale Produkt einer ganzen historischen Epoche. Aber nicht jeder macht sich ernstere Gedanken über die ganze Bedeutung dieser Wahrheit. Der Opportunismus wurde durch den Legalismus gezüchtet. Die Arbeiterparteien der Epoche von 1889-1914 mussten die bürgerliche Legalität ausnützen. Als die Krise hereinbrach, musste man zur illegalen Arbeit übergehen (ein solcher Übergang ist aber nur möglich mit dem größten Aufwand an Energie und Entschlossenheit, verbunden mit einer ganzen Reihe von Kriegslisten). Um diesen Übergang zu verhindern, genügt ein Südekum ganz allein, weil, historisch-philosophisch gesprochen, hinter ihm die ganze „alte Welt“ steht, – weil, praktisch-politisch gesprochen, er, dieser Südekum, noch stets der Bourgeoisie sämtliche Kriegspläne ihres Klassenfeindes verraten hat und dies auch fernerhin tun wird.

Es ist Tatsache, dass die ganze deutsche sozialdemokratische Partei (und dasselbe gilt auch von den Franzosen usw.) nur das tut, was Südekum angenehm ist oder von Südekum geduldet werden kann. Etwas anderes darf legal nicht gemacht werden. Alles, was in der deutschen sozialdemokratischen Partei an ehrlicher, wirklich sozialistischer Arbeit geleistet wird, geschieht im Gegensatz zu ihren Instanzen, unter Umgehung ihrer Parteizentrale und ihres Zentralorgans, geschieht unter Verletzung der organisatorischen Disziplin, geschieht fraktionell im Namen anonymer neuer Zentren einer neuen Partei, wie z. B. der Aufruf der deutschen „Linken“ in der „Berner Tagwacht“ vom 31. Mai 1915 anonym ist. Faktisch wächst, erstarkt, organisiert sich eine neue Partei, eine wirkliche Arbeiterpartei, eine wirklich revolutionär-sozialdemokratische Partei, nicht die alte, morsche, national-liberale Partei der Legien, Südekum, Kautsky, Haase, Scheidemann und Co.J

Der Opportunist Monitor schwatzte darum in den konservativen „Preußischen Jahrbüchern unabsichtlich eine so tiefe historische Wahrheit aus, als er sagte, es würde für die Opportunisten (lies: für die Bourgeoisie) schädlich sein, wenn die jetzige Sozialdemokratie eine Rechtsschwenkung machte, – weil sich dann die Arbeiter von ihr abwenden würden. Die Opportunisten (und die Bourgeoisie) brauchen gerade diese jetzige Partei mit ihrer Vereinigung des rechten und des linken Flügels und mit ihrer offiziellen Vertretung durch Kautsky, der alles in der Welt mit glatten und „ganz marxistischen“ Phrasen zu versöhnen weiß. In Worten: Sozialismus und revolutionärer Geist – für das Volk, für die Masse, für die Arbeiter; in der Tat: Südekumerei, d. h. Vereinigung mit der Bourgeoisie im Moment jeder ernsten Krise. Wir sagen: jeder Krise, denn nicht allein im Kriegsfall, sondern auch bei jedem ernsten politischen Streik wird das „feudale“ Deutschland genau so wie das „freiheitlich-parlamentarische“ England oder Frankreich sofort unter diesem oder jenem Titel den Kriegszustand verhängen. Daran kann kein Mensch zweifeln, der über gesunden Menschenverstand verfügt und voll bei Sinnen ist.

Daraus folgt die Antwort auf die oben gestellte Frage: wie muss der Sozialchauvinismus bekämpft werden? Der Sozialchauvinismus ist der Opportunismus, der in der langen Periode eines verhältnismäßig „friedlichen“ Kapitalismus so reif und so frech geworden ist, ideell-politisch so feste Gestalt angenommen und sich so eng mit der Bourgeoisie und den Regierungen verbunden hat, dass man sich mit dem Vorhandensein einer solchen Richtung innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterparteien nicht abfinden darf. Kann man sich mit dünnen und schwachen Sohlen noch abfinden, wenn man auf den zivilisierten Trottoirs einer kleinen Provinzstadt zu gehen hat, so kann man bei einer Gebirgstour ohne dicke, mit Nägeln beschlagene Sohlen nicht auskommen. Der Sozialismus hat in Europa das verhältnismäßig friedliche und von engen nationalen Schranken begrenzte Stadium bereits hinter sich gelassen. Mit dem Krieg 1914/15 ist er in das Stadium der revolutionären Aktionen eingetreten, und die Stunde des vollständigen Bruchs mit dem Opportunismus, seiner Austreibung aus den Arbeiterparteien ist unbedingt gekommen.

Es versteht sich: aus dieser Feststellung der Aufgaben, vor die der Sozialismus in der neuen Epoche seiner Weltentwicklung gestellt wird, ergibt sich noch nicht unmittelbar, mit welcher bestimmten Geschwindigkeit und in welchen bestimmten Formen der Prozess der Loslösung revolutionär-sozialdemokratischer Arbeiterparteien von den kleinbürgerlich-opportunistischen Parteien in den verschiedenen Ländern vor sich gehen wird. Aber es folgt daraus die Notwendigkeit, sich der Unvermeidlichkeit einer solchen Loslösung klar bewusst zu werden und eben unter diesem Gesichtswinkel der ganzen Politik der Arbeiterparteien die Richtung zu weisen. Der Krieg 1914/15 bedeutet einen so gewaltigen Umschwung in der Geschichte, dass das Verhalten gegenüber dem Opportunismus nicht das alte bleiben kann. Man kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist; man kann aus dem Bewusstsein der Arbeiter, aus der Erfahrung der Bourgeoisie, aus den politischen Errungenschaften unserer Epoche überhaupt die Tatsache nicht wegstreichen, dass die Opportunisten im Moment der Krise sich als der Kern jener Elemente innerhalb der Arbeiterparteien erwiesen haben, die auf die Seite der Bourgeoisie übergelaufen sind. Der Opportunismus befand sich – vom gesamteuropäischen Standpunkte betrachtet – vor dem Kriege sozusagen im Zustand des Jünglingsalters. Mit dem Krieg wurde er endgültig zum Manne, und man kann ihn nicht wieder „unschuldig“ und jugendlich machen. Es hat sich eine ganze Gesellschaftsschicht von Parlamentariern, Journalisten, Beamten der Arbeiterbewegung, von privilegierten Angestellten und von einigen Schichtungen des Proletariats herangebildet, und diese Schicht ist mit ihrer nationalen Bourgeoisie verwachsen, wird von dieser Bourgeoisie vollkommen richtig eingeschätzt und „gefügig“ gemacht. Man kann weder kehrtmachen noch dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen, – man kann und muss furchtlos vorwärtsschreiten, von den vorbereitenden, legalen, im Opportunismus befangenen Organisationen der Arbeiterklasse vorwärts zu revolutionären Organisationen, die es verstehen, sich nicht auf die Gesetzlichkeit zu beschränken, und die fähig sind, sich vor opportunistischem Verrat zu sichern, zu den Organisationen eines Proletariats, das in den „Kampf um die Macht“, in den Kampf für den Sturz der Bourgeoisie eintritt.

Daraus wird unter anderem ersichtlich, wie unrichtig die Leute die Sache betrachten, die ihr eigenes Bewusstsein und das der Arbeiter mit der Frage verdunkeln, wie man sich zu so hervorragenden Autoritäten der II. Internationale, wie Guesde, Plechanow, Kautsky usw., zu stellen habe. In Wirklichkeit ist das gar keine Frage: wenn diese Personen die neuen Aufgaben nicht begreifen, so werden sie sich abseits stellen müssen, oder sie werden die Gefangenen der Opportunisten bleiben, wie sie es heute sind. Wenn sich diese Personen aus dieser „Gefangenschaft“ befreien, so werden ihrer Rückkehr in das Lager der Revolutionäre politische Hindernisse kaum in den Weg gelegt werden. Auf jeden Fall wäre es eine widersinnige Auffassung der Dinge, wollte man den Kampf der Richtungen und die Aufeinanderfolge der Etappen der Arbeiterbewegung durch die Rolle von Einzelpersonen ersetzt wissen.

VIII

Die Existenz von legalen Massenorganisationen der Arbeiterklasse stellt wohl das wichtigste spezifische Kennzeichen der sozialistischen Parteien in der Epoche der II. Internationale dar. In der deutschen Partei waren sie am stärksten, und hier bewirkte der Krieg 1914/15 den schärfsten Umschwung, stellte er die Frage in der akutesten Form. Es ist klar, dass der Übergang zu revolutionären Aktionen die Auflösung der legalen Organisationen durch die Polizei bedeuten musste, und die alte Partei, von Legien bis Kautsky einschließlich, brachte die revolutionären Ziele des Proletariats der Aufrechterhaltung der bestehenden legalen Organisationen zum Opfer. Wie sehr man dies auch leugnen mag, die Tatsache besteht. Für das Linsengericht der durch die bestehenden Polizeigesetze genehmigten Organisationen verkaufte man das proletarische Recht auf Revolution.

Man nehme die Broschüre von Carl Legien, dem Führer der sozialdemokratischen deutschen Gewerkschaften: „Warum müssen die Gewerkschaftsfunktionäre sich mehr am inneren Parteileben beteiligen?“ (Berlin 1915). Das ist ein Referat, das der Verfasser am 27. Januar 1915 in einer Versammlung von Gewerkschaftsfunktionären hielt. Legien verlas in seinem Referat ein auch in seiner Broschüre wiedergegebenes höchst interessantes Dokument, das sonst von der Militärzensur nie durchgelassen worden wäre. Dieses Dokument, das sogenannte „Referenten-Material des Kreises Niederbarnim“, stellt die Auffassungen der linken deutschen Sozialdemokraten, ihren Protest gegen die Partei dar. Die revolutionären Sozialdemokraten, heißt es in diesem Dokument, haben einen Faktor nicht voraussehen können und nicht vorausgesehen, nämlich:

Die Einsetzung der ganzen organisierten Macht der deutschen sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften für die kriegführende Regierung, die Aufwendung dieser Macht zum Zwecke der Dämpfung der revolutionären Energie der Massen“ (S. 34 der Legienschen Broschüre).

Das ist unbedingt wahr. Wahr ist auch die folgende Behauptung desselben Schriftstücks:

Mit der Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktion am 4. August war entschieden, dass eine andere Auffassung, auch wenn sie tief in den Massen wurzelte, sich nur durchsetzen konnte nicht unter Führung der erprobten Partei, sondern nur gegen den Willen der Parteiinstanzen, unter Überwindung des Widerstandes der Partei und der Gewerkschaften“ (ebenda).

Das ist absolut richtig.

Hätte die sozialdemokratische Fraktion am 4. August ihre Pflicht getan, dann wäre die äußere Form der Organisation wahrscheinlich vernichtet worden, aber der Geist wäre geblieben, jener Geist, der die Partei während des Sozialistengesetzes beseelte und sie alle Schwierigkeiten überwinden ließ“ (ebenda).

In Legiens Broschüre heißt es, dass die Kumpanei von „Führern“, die er zur Entgegennahme seines Referats um sich versammelt hatte, Leute, die sich Leiter und Beamte der Gewerkschaften nennen, in Lachen ausbrach, als sie das hörte. Ihnen kam der Gedanke lächerlich vor, dass man im Moment der Krise illegale revolutionäre Organisationen (wie unter dem Sozialistengesetz) schaffen kann und schaffen muss. Legien aber, als getreuer Kettenhund der Bourgeoisie, warf sich in die Brust und rief:

Der Satz enthält einen klaren anarchistischen Gedanken: Sprengung der Organisation, um die Entscheidung der Massen herbeizuführen. Das ist anarchistisch gedacht, darüber gibt es für mich keinen Zweifel.“

Sehr richtig!“ riefen im Chor (ebenda S. 37) die Lakaien der Bourgeoisie, die sich Führer von sozialdemokratischen Organisationen der Arbeiterklasse nennen.

Ein lehrreiches Bild. Die Leute sind durch die bürgerliche Legalität dermaßen korrumpiert und stumpfsinnig gemacht, dass sie den bloßen Gedanken an die Notwendigkeit anderer, illegaler Organisationen zur Leitung des revolutionären Kampfes nicht einmal begreifen können. Die Leute sind soweit gesunken, dass sie sich einbilden, als stellten legale, von Polizeignaden existierende Verbände die Grenze dar, die nicht überschritten werden dürfe, – als sei die Aufrechterhaltung solcher Verbände als führender Verbände in der Zeit der Krise überhaupt denkbar! Da habt ihr die lebendige Dialektik des Opportunismus: das einfache Anwachsen der legalen Verbände, die einfache Gewohnheit stumpfsinniger, doch gewissenhafter Philister, sich auf die Führung ihrer Kontorbücher zu beschränken, führte dahin, dass im Moment der Krise diese gewissenhaften Spießbürger sich als Verräter erwiesen, bestrebt, die revolutionäre Energie der Massen zu dämpfen. Und das ist kein Zufall. Die Notwendigkeit gebietet, zur revolutionären Organisation überzugehen, das erfordert die veränderte historische Situation, das verlangt die Epoche der revolutionären Aktionen des Proletariats, – aber möglich ist dieser Übergang nur über die Köpfe der alten Führer, dieser Verderber der revolutionären Energie, hinweg, nur über den Kopf der alten Partei hinweg, nur vermittelst der Zerstörung dieser alten Partei.

Aber die konterrevolutionären Spießbürger zetern natürlich: „Anarchismus!“ – wie der Opportunist Ed. David zeterte, als er Karl Liebknecht des „Anarchismus“ bezichtigte. Ehrliche Sozialisten sind in Deutschland offenbar nur jene Führer geblieben, die von den Opportunisten als Anarchisten beschimpft werden …

Nehmen wir die moderne Armee. Sie ist eines von den guten Vorbildern der Organisation. Und gut ist diese Organisation nur deshalb, weil sie elastisch ist und zugleich Millionen von Menschen einen einheitlichen Willen zu verleihen versteht. Heute noch sitzen diese Millionen bei sich zu Hause, an verschiedenen Ecken und Enden des Landes. Morgen kommt der Mobilmachungsbefehl – und schon haben sie sich an den ihnen bezeichneten Punkten gesammelt. Heute liegen sie in den Schützengräben, liegen da mitunter monatelang. Morgen gehen sie in anderer Formation zum Sturm vor. Heute verrichten sie Wunder, vor Kugel und Schrapnell sich deckend. Morgen verrichten sie Wunder im offenen Kampf. Heute legen ihre Vortrupps Minen unter der Erde, morgen stoßen sie nach den Weisungen der Flieger kilometerweit über der Erde vor. Ja, dies heißt Organisation, wenn im Namen eines bestimmten Ziels, beseelt von einem bestimmten Willen, Millionen von Menschen die Form ihres Verkehrs und ihres Tuns ändern, Ort und Methoden ihrer Tätigkeit ändern, Waffen und Werkzeuge ändern – entsprechend den veränderten Umständen und Erfordernissen des Kampfes.

Dasselbe gilt auch für den Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Heute fehlt die revolutionäre Situation, fehlen die Bedingungen für eine Gärung in den Massen, für die Steigerung ihrer Aktivität; heute wird dir ein Wahlzettel in die Hand gedrückt, – nimm ihn, begreife, dass du dich organisieren musst, um mit dem Wahlzettel deine Feinde zu schlagen, nicht aber, um Leuten, die sich aus Furcht vor dem Gefängnis an ihren Sessel festklammern, im Parlament ein warmes Plätzchen zu verschaffen. Wird dir morgen der Wahlzettel genommen, eine Flinte und ein ausgezeichnetes, nach den letzten Errungenschaften der Maschinentechnik konstruiertes Schnellfeuergeschütz in die Hand gegeben, – so nimm diese Mordwerkzeuge und Zerstörungsmittel, höre nicht auf die sentimentalen Heulfritzen, die sich vor dem Kriege fürchten; es gibt noch allzu viel auf der Welt, was zur Befreiung der Arbeiterklasse mit Feuer und Schwert ausgerottet werden muss, und wenn in den Massen Erbitterung und Verzweiflung wachsen, wenn die revolutionäre Situation da ist, so mache dich bereit, neue Organisationen zu schaffen und die so nützlichen Mordwerkzeuge und Zerstörungsmittel gegen deine Regierung und gegen deine Bourgeoisie in Gang zu setzen.

Gewiss, das ist nicht leicht. Das wird schwierige vorbereitende Aktionen erfordern. Das wird schwere Opfer erfordern. Das ist eine neue Art der Organisation und des Kampfes, die gleichfalls erlernt werden muss, die Wissenschaft aber lässt sich nicht ohne Fehler und Niederlagen erlangen. Diese Form des Klassenkampfes verhält sich zur Beteiligung an den Wahlen, wie der Sturmangriff sich zu Manövern, Märschen oder zum Liegen in den Schützengräben verhält. Diese Kampfesweise steht in der Geschichte sehr selten auf der Tagesordnung, dafür aber erstrecken sich ihre Folgen und ihre Bedeutung auf Jahrzehnte. Die Tage, an denen man solche Kampfmethoden auf die Tagesordnung setzen kann und muss, kommen manchen zwanzig Jahren anderer historischer Epochen gleich.

Man stelle einmal K. Kautsky neben C. Legien:

Solange die Partei klein war“ – schreibt Kautsky –, „wirkte jeder Protest gegen den Krieg propagandistisch als mutige Tat … Als solche hat die bewundernswürdige Haltung der … russischen und serbischen Genossen allgemeine Anerkennung gefunden. Je stärker eine Partei wird, desto mehr mischen sich in den Begründungen ihrer Beschlüsse die propagandistischen Rücksichten mit Erwägungen der praktischen Folgen, desto schwieriger wird es, den Motiven beider Art in gleichem Maße gerecht zu werden, und doch dürfen die einen ebenso wenig vernachlässigt werden, wie die andern. Darum treten, je stärker wir sind, desto leichter Differenzen unter uns bei jeder neuen, komplizierten Situation auf.“ („Die Internationalität und der Krieg“, S. 30.)

Die Kautskyschen Betrachtungen unterscheiden sich von den Legienschen nur durch ihre Heuchelei und Feigheit. Im Wesentlichen unterstützt und entschuldigt Kautsky nur die niederträchtige Absage der Legiene an das revolutionäre Handeln, aber er tut dies hinterrücks, er macht keinerlei bestimmte Äußerung, will die Sache mit Hilfe von Andeutungen abtun, beschränkt sich auf höfliche Verbeugungen, und zwar gleichzeitig in der Richtung auf Legien wie in der anderen, auf die Russen und ihre revolutionäre Haltung hin. Ein solches Verhalten gegenüber Revolutionären waren wir Russen bisher nur von Seiten der Liberalen gewohnt: die Liberalen sind stets bereit, den „Mut“ der Revolutionäre anzuerkennen, aber dabei werden sie ihre erzopportunistische Taktik um keinen Preis jemals aufgeben. Revolutionäre, die Selbstachtung besitzen, werden von Kautsky einen „Ausdruck der Anerkennung“ nicht akzeptieren, eine solche Art der Fragestellung vielmehr mit Empörung zurückweisen. Lag eine revolutionäre Situation nicht vor, war die Propagierung revolutionärer Aktionen nicht unbedingte Notwendigkeit, so war die Haltung der Russen und Serben nicht richtig, war ihre Taktik falsch. Möchten doch solche ritterliche Kämpen, wie Legien und Kautsky, wenigstens den Mut ihrer Überzeugung haben, möchten sie das doch offen aussprechen.

Ist es aber so, dass die Taktik der russischen und serbischen Sozialisten „Anerkennung“ verdient, dann ist es unzulässig, dann ist es verbrecherisch, für die entgegengesetzte Taktik der „starken“ Parteien, der deutschen, französischen usw., eine Rechtfertigung zu suchen. Durch den absichtlich unklaren Ausdruck „praktische Folgen“ verschleierte Kautsky die ganz einfache Wahrheit, dass die großen und starken Parteien vor der drohenden Auflösung ihrer Organisationen, Beschlagnahme ihrer Kassen, Verhaftung ihrer Führer durch die Regierung in Schrecken geraten waren. Das bedeutet nichts anderes, als dass Kautsky mit der Vorhaltung der unangenehmen „praktischen Folgen“ der revolutionären Taktik den Verrat am Sozialismus zu rechtfertigen sucht. Heißt das nicht Prostituierung des Marxismus?

Man hätte uns verhaftet“, soll in einer Arbeiterversammlung in Berlin einer von den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Kriegskreditbewilligern vom 4. August erklärt haben. Die Arbeiter aber riefen ihm zur Antwort: „Na, und wenn schon!“

Gab es kein anderes Signal, um auf die Arbeitermassen in Deutschland und in Frankreich den revolutionären Geist und das Bewusstsein, dass die Vorbereitung revolutionärer Aktionen jetzt notwendig ist, überspringen zu lassen, so hätte die Verhaftung eines Abgeordneten wegen einer mutigen Rede eine nützliche Rolle gespielt als Mahnruf und Appell zur Vereinigung der Proletarier verschiedener Länder zu gemeinsamer revolutionärer Arbeit. Eine solche Vereinigung ist nicht leicht: um so nachdrücklicher aber gebot die Pflicht gerade den an der Spitze stehenden, die ganze Politik übersehenden Abgeordneten, die Initiative zu ergreifen.

Nicht allein im Kriege, vielmehr bei jeder Zuspitzung der politischen Lage, von revolutionären Massenaktionen jedweder Art gar nicht zu reden, wird die Regierung, selbst die des freiesten bürgerlichen Landes, stets und unbedingt mit Auflösung der legalen Organisationen, mit Beschlagnahme der Kassen, mit Verhaftung der Führer und anderen „praktischen Folgen“ gleicher Art drohen. Was soll man also tun? Soll man aus diesem Grunde die Opportunisten entschuldigen, wie das Kautsky macht? Das hieße aber, die Verwandlung der sozialdemokratischen Parteien in national-liberale Arbeiterparteien sanktionieren.

Für den Sozialisten kann es nur eine Schlussfolgerung geben: der reine Legalismus, der Nichts-als-Legalismus der „europäischen“ Parteien hat sich überlebt und sich kraft der Entwicklung des Kapitalismus im vorimperialistischen Stadium in die Grundlage einer bürgerlichen Arbeiterpolitik verkehrt. Er muss ergänzt werden durch Schaffung einer illegalen Basis, einer illegalen Organisation, durch illegale sozialdemokratische Arbeit, wobei keine einzige legale Position aufgegeben werden darf. Wie das aber gemacht werden soll, – das wird die Erfahrung zeigen, wofern nur der Wille da ist, diesen Weg zu beschreiten, wofern nur die Notwendigkeit dessen klar zu Bewusstsein gekommen ist. Die revolutionären Sozialdemokraten Russlands haben in den Jahren 1912-1914 gezeigt, dass diese Aufgabe zu lösen ist. Der Arbeiterdeputierte Muranow, der vor Gericht von allen die beste Haltung bewies und vom Zarismus nach Sibirien verschickt wurde19, zeigte sehr anschaulich, dass es außer dem ministeriellen Parlamentarismus (von Henderson, Sembat und Vandervelde bis zu Südekum und Scheidemann, die gleichfalls ganz und gar „regierungsfähig“ sind, – nur dass man sie nicht weiter als bis ins Vorzimmer lässt!) noch einen anderen, einen illegalen und revolutionären Parlamentarismus gibt. Mögen die Kossowski und Potressow von dem „europäischen“ Lakaien-Parlamentarismus noch so sehr entzückt sein oder sich mit ihm abfinden, – wir werden nicht müde werden, den Arbeitern einzuhämmern, dass ein Legalismus dieser Art, eine derartige Sozialdemokratie, wie die durch Legien, Kautsky und Scheidemann vertretene, nichts als Verachtung verdient.

IX

Ziehen wir das Fazit.

Der Zusammenbruch der II. Internationale fand in dem himmelschreienden Verrat, den die Mehrheit der offiziellen sozialdemokratischen Parteien Europas an ihrer Überzeugung und an ihren feierlichen Stuttgarter und Baseler Resolutionen übte, seinen sinnfälligsten Ausdruck. Doch dieser Zusammenbruch, der den vollen Sieg des Opportunismus, die Verwandlung der sozialdemokratischen Parteien in national-liberale Arbeiterparteien bedeutet, ist nur Resultat der ganzen geschichtlichen Epoche der II. Internationale, des Ausgangs des 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts. Die objektiven Verhältnisse dieser Epoche – die die Epoche des Übergangs vom Abschluss der bürgerlichen und nationalen Revolutionen in Westeuropa zum Beginn der sozialistischen Revolutionen ist – erzeugten und nährten den Opportunismus. In einem Teil der Länder Europas ist zu dieser Zeit in der proletarischen und sozialistischen Bewegung eine Spaltung zu beobachten, die im Großen und Ganzen eben auf der Linie des Opportunismus vor sich geht (so in England, Italien, Holland, Bulgarien, Russland); im anderen Teil der europäischen Länder ein langwieriger und hartnäckiger Kampf der Richtungen auf derselben Linie (Deutschland, Frankreich, Belgien, Schweden, Schweiz). Die durch den Krieg verursachte große Krise riss alle Hüllen herunter, fegte alles Konventionelle hinweg, ließ das längst reif gewordene Geschwür aufbrechen und zeigte den Opportunismus in seiner wahren Rolle, als Bundesgenossen der Bourgeoisie. Die restlose, organisatorische Ausscheidung dieses Elements aus den Arbeiterparteien wurde notwendig. In der imperialistischen Epoche geht es nicht an, dass in ein und derselben Partei neben der Vorhut des revolutionären Proletariats noch eine halb-kleinbürgerliche Aristokratie der Arbeiterklasse existiert, die sich Brocken von den der „Großmacht“-Stellung „ihrer“ Nation entspringenden Privilegien zugute kommen lässt. Die alte Theorie vom Opportunismus als einer „legitimen Nuance“ der einheitlichen, allem „Extremen“ fremden Partei wurde nun zur schlimmsten Irreführung der Arbeiter und zum größten Hindernis für die Arbeiterbewegung. Der offene Opportunismus, der die Arbeitermassen sofort abstößt, ist lange nicht so gefährlich und so schädlich, wie diese Theorie der goldenen Mitte, die mit marxistischen Worten die opportunistische Praxis rechtfertigen und mit einer Reihe von Sophismen das Unzeitgemäße der revolutionären Aktionen usw. nachweisen will. Der hervorragendste Vertreter dieser Theorie und zugleich auch die hervorragendste Autorität der II. Internationale, Kautsky, offenbarte sich als erstklassiger Heuchler und als Virtuose in der Prostituierung des Marxismus. In der deutschen Millionenpartei gibt es keinen einzigen ehrlichen, klassenbewussten und revolutionären Sozialdemokraten, der dieser „Autorität“, die von den Südekums und Scheidemännern glühend verteidigt wird, nicht mit Empörung den Rücken kehren würde.

Nachdem sich wohl gegen neun Zehntel der alten Führerschicht zur Bourgeoisie geschlagen hatten, waren die proletarischen Massen, wie sich zeigte, zersplittert und hilflos gegenüber den Exzessen des Chauvinismus, gegenüber dem Druck des Kriegszustandes und der Militärzensur. Aber die objektive revolutionäre Situation, die durch den Krieg hervorgerufen worden ist und sich nun immer mehr in die Breite und in die Tiefe entwickelt, muss unvermeidlich revolutionäre Stimmungen erzeugen, die besten und bewusstesten Proletarier stählen und aufklären. In der Stimmung der Massen wird ein rascher Umschwung nicht nur möglich, sondern immer wahrscheinlicher, – ein Umschwung, wie jener, der Anfang 1905 in Russland mit der „Gaponiade“ eintrat, als aus rückständigen proletarischen Schichten in wenigen Monaten, zuweilen in wenigen Wochen eine Millionenarmee erstand, die der revolutionären Avantgarde des Proletariats Gefolgschaft leistete. Man kann nicht wissen, ob sich eine mächtige revolutionäre Bewegung bald nach diesem Kriege, im Verlauf dieses Kriegs usw. entfalten wird, auf jeden Fall aber verdient nur die Tätigkeit in dieser Richtung den Namen einer sozialdemokratischen Tätigkeit.

Die Losung, die diese Arbeit verallgemeinern und leiten, die die Vereinigung und den Zusammenschluss all derer fördern soll, die den revolutionären Kampf des Proletariats gegen die eigene Regierung und gegen die eigene Bourgeoisie zu unterstützen bereit sind, – ist die Losung des Bürgerkriegs.

In Russland war die völlige Loslösung der revolutionär-sozialdemokratischen proletarischen Elemente von den kleinbürgerlich-opportunistischen vorbereitet durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung. Den ärgsten Dienst erweisen dieser Loslösung jene Leute, die von dieser Geschichte nichts wissen wollen, die mit ihren Deklamationen gegen das „Fraktionswesen“ sich selbst der Möglichkeit berauben, den wirklichen Entstehungsprozess der proletarischen Partei in Russland zu begreifen, – dieser Partei, die in langjährigem Kampfe mit den verschiedensten Arten des Opportunismus sich formierte. Von allen an dem gegenwärtigen Krieg beteiligten „Großmächten“ ist Russland die einzige, die in jüngster Zeit eine Revolution durchgemacht hat: der bürgerliche Inhalt dieser Revolution musste in Anbetracht der entscheidenden Rolle des Proletariats zwischen den bürgerlichen und proletarischen Richtungen in der Arbeiterbewegung die Spaltung herbeiführen. Im Verlauf der ganzen etwa zwanzigjährigen Periode (1894-1914)20, während der die russische Sozialdemokratie als eine mit der proletarischen Massenbewegung verknüpfte Organisation (und nicht nur als Geistesrichtung, wie in den Jahren 1883-1894) bestand, ging der Kampf der proletarisch-revolutionären und der kleinbürgerlich-opportunistischen Strömungen vor sich. Der „Ökonomismus“ der Epoche von 1894-1902 war unzweifelhaft eine Strömung von der Art der letzteren. Eine ganze Reihe von Argumenten und Charakterzügen seiner Ideologie – die „struvistische“ Entstellung des Marxismus, die Berufung auf die „Masse“ zur Rechtfertigung des Opportunismus usw. – erinnern auffallend an den heutigen vulgarisierten Marxismus der Kautsky, Cunow, Plechanow usw. Es wäre eine sehr dankbare Aufgabe, die jetzige Generation der Sozialdemokratie an die alten Blätter „Rabotschaja Mysl“ und „Rabotscheje Djelo“ als Parallele zum heutigen Kautsky zu erinnern.

Der „Menschewismus der darauffolgenden Periode (1903 bis 1908) war der unmittelbare, und zwar nicht nur geistige, sondern auch organisatorische Nachfolger des „Ökonomismus“. Während der russischen Revolution verfolgte er eine Taktik, die objektiv Abhängigkeit des Proletariats von der liberalen Bourgeoisie bedeutete und kleinbürgerliche opportunistische Tendenzen zum Ausdruck brachte. Als in der dann folgenden Periode (1908-1914) aus dem Hauptstrom der menschewistischen Richtung das Liquidatorentum hervorging, – da wurde die Klassenbedeutung dieser Richtung so sehr offensichtlich, dass die besten Vertreter des Menschewismus die ganze Zeit hindurch gegen die Politik der Gruppe „Nascha Sarja protestierten. Diese Gruppe aber – die einzige, die in den letzten fünf bis sechs Jahren in den Massen systematisch gegen die revolutionär-marxistische Partei der Arbeiterklasse gearbeitet hatte – offenbarte sich im Kriege 1914/15 als sozialchauvinistisch! Und dies in einem Lande, in dem der Absolutismus noch am Leben, die bürgerliche Revolution noch lange nicht abgeschlossen ist, wo 43 Prozent der Bevölkerung eine aus „fremdstämmigen“ Völkern bestehende Mehrheit unterdrückt halten. Der „europäische“ Typus der Entwicklung, bei dem bestimmte Schichten der Kleinbourgeoisie, insbesondere die Intellektuellen, und eine zahlenmäßig verschwindend geringe Arbeiteraristokratie die Privilegien der „Großmacht“-Stellung „ihrer“ Nation „genießen“ können, musste auch in Russland zur Geltung kommen.

Auf die „internationalistische“, d. h. wirklich revolutionäre und konsequent revolutionäre Taktik ist die Arbeiterklasse und ist die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands vorbereitet durch ihre ganze Geschichte.

PS. Dieser Artikel war bereits gesetzt, als in den Zeitungen das „Manifest“ von Kautsky, Haase und Bernstein erschien, die gemerkt haben, dass die Massen nach links schwenken, und nun bereit sind, mit den Linken „Frieden zu machen“, – natürlich um den Preis der Aufrechterhaltung des „Friedens“ mit den Südekums. Wahrhaftig – Mädchen für alle!

1 Der Artikel „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ wurde im Jahre 1915 in den beiden ersten Nummern der Zeitschrift „Kommunist" abgedruckt. Lenin hatte schon 1914 im Manifest des ZK und 1915 in den Resolutionen der Berner Konferenz gezeigt, dass der Krieg im Zusammenhang mit der Umwandlung des Opportunismus in den Sozialchauvinismus, der sich innerhalb der sozialistischen Parteien des Westens und Russlands vollzog – wobei unsere bolschewistische Partei die einzige Ausnahme bildete – sowie im Zusammenhang mit der Verwandlung dieser Parteien in Streitwaffen für die imperialistischen Interessen der Bourgeoisie „der eigenen Vaterländer“ den vollen Sieg des Opportunismus restlos aufgedeckt hat. [Aus Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 43]

2 Nr. 8 des Informazionnyj Listok („Informationsblatt“) der Auslandsorganisation des „Bund“ kam im Mai 1915 heraus. Lenin spricht von W. Kossowskis Artikel „Wie kann die Internationale wiederhergestellt werden?“.

[Aus Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 44:] Der Artikel Kossowskis, von dem hier die Rede ist, trug die Überschrift „Wie kann die Internationale wieder hergestellt werden?" und erschien in Nummer 8 des „Informationsblattes“.

3 Der Chemnitzer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 15. bis 21. September 1912 statt. Die Resolution über den Imperialismus und das Verhalten der Sozialisten zum Krieg wurde am 20. September mit allen gegen 3 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen angenommen. Bei dem Abdruck der Resolution im „Kommunist“ erklärte die Redaktion, sie „unterschreibe keineswegs alle Behauptungen der Resolution (z. B. über Abrüstung)“ und bringe die Resolution „nur als Dokument“.

[Aus Ausgewählte Werke, Band 5, FN S. 162 f.:] Die Baseler Resolution bespricht Lenin im Folgenden, wobei er ihren Hauptinhalt wiedergibt. Der Inhalt der Chemnitzer Resolution wird in der Anmerkung angeführt. Den Wortlaut der Baseler Resolution s. Sämtl. Werke, Bd. XVIII, S. 475. D. Red.

4 Die Broschüre von Ch. Dumas: „La paix que nous voulons“ („Der Frieden, den wir wollen“), erschien in Paris 1915.

5 Die Broschüre von Fr. Delaisi: „La guerre qui vient“ („Der kommende Krieg“), erschien 1911 in Paris im Verlag von Gustave Hervé „La Guerre Sociale“ („Der soziale Krieg“).

6 Die Broschüre H. Cunows „Parteizusammenbruch? („Ein offenes Wort zum inneren Parteistreit“), erschien 1915 in Berlin im Verlag „Vorwärts“.

7 Die Broschüre von Lensch: „Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg“, erschien 1915 in Berlin im Verlag „Vorwärts“.

8 Lenin hat hier seine Artikel „Eine deutsche Stimme über den Krieg“ und „Die bürgerlichen Philanthropen und die revolutionäre Sozialdemokratie“ im Auge, die in den von ihm angeführten Nummern des „Sozialdemokrat“ vom Jahre 1915 abgedruckt waren. Lenin führt in diesen Artikeln u. a. Auszüge aus bürgerlichen Zeitungen und Zeitschriften an, in denen von der Möglichkeit von Revolutionen im Gefolge des Krieges gesprochen wird. So hieß es z. B. in einer englischen bürgerlichen Zeitschrift am 13. Februar 1915: „Die Aussichten, die der Krieg eröffnet, sind die Aussichten auf blutige Revolutionen, verschärfte Kriege zwischen Kapital und Arbeit oder zwischen den Volksmassen und den herrschenden Klassen des europäischen Festlandes“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 53]

A Höchst lehrreich ist das Buch des englischen Pazifisten Brailsford, der nicht weit davon entfernt ist, sogar den Sozialisten zu spielen: „The War of Steel and Gold“ (London 1914; das Buch trägt das Datum: März 1914 [H. N. Brailsford, Mitglied der englischen Independent Labour Party, gab ein Buch: „The War of Steel and Gold“ („Der Krieg von Stahl und Gold“), 1914 in London heraus.]). Der Verfasser ist sich vollkommen bewusst, dass die nationalen Fragen im Allgemeinen hintan stehen, bereits gelöst sind (S. 35), dass es darum jetzt nicht geht, dass „die typische Frage der modernen Diplomatie“ (S. 36) die Bagdadbahn, die Schienenlieferung für diese Bahn, die Bergwerke in Marokko usw. darstellen. Als einen der „lehrreichsten Zwischenfälle in der neuesten Geschichte der europäischen Diplomatie“ betrachtet der Verfasser mit Recht den Kampf der französischen Patrioten und der englischen Imperialisten gegen die Versuche Caillaux' (in den Jahren 1911 und 1913), mit Deutschland zum Frieden zu kommen auf der Basis einer Vereinbarung über die Verteilung der kolonialen Einfluss-Sphären und über die Zulassung der deutschen Papiere zur Pariser Börse. Die englische und französische Bourgeoisie hintertrieb eine solche Vereinbarung (S. 38-40). Das Ziel des Imperialismus ist der Kapitalexport nach den schwächeren Ländern (S. 74). Der Profit aus solchem Kapital betrug in England 90-100 Millionen Pfund Sterling im Jahre 1899 (Giffen), 140 Millionen im Jahre 1909 (Paish); Lloyd George aber – fügen wir von uns aus hinzu – schätzte ihn in einer vor kurzem gehaltenen Rede auf 200 Millionen Pfund Sterling, also auf fast 2 Milliarden Rubel. – Schmutzige Machenschaften und Bestechungen des türkischen Adels, die Pöstchen für die Söhnchen in Indien und Ägypten, – darum handelt es sich (S. 85-87). Nur eine verschwindend geringe Minderheit gewinnt aus Rüstungen und Kriegen, hinter ihr stehen aber die Finanziers und die Gesellschaft, hinter den Friedensanhängern dagegen nur die zersplitterte Bevölkerung (S. 93). Der Pazifist, der heute von Frieden und Abrüstung spricht, wird sich morgen als Mitglied einer Partei erweisen, die ganz von den Kriegslieferanten abhängt (S. 161). Erweist sich die Triple-Entente als die stärkere, so wird sie Marokko nehmen und Persien aufteilen, – ist dies beim Dreibund der Fall, so wird er Tripolis nehmen, sich in Bosnien festsetzen, sich die Türkei unterwerfen (S. 167). London und Paris gaben im März 1906 Milliarden an Russland, halfen damit dem Zarismus bei der Unterdrückung der Freiheitsbewegung (S. 225-228); England hilft Russland gegenwärtig bei der Erdrosselung Persiens (S. 229). Russland hat den Balkankrieg entfacht (S. 230). – All das ist nicht neu, nicht wahr? Das ist alles allgemein bekannt und tausendmal gesagt worden in den sozialdemokratischen Zeitungen der ganzen Welt? Am Vorabend des Kriegs sieht ein englischer Bourgeois diese Dinge vollkommen klar. Aber als was für ein abgeschmackter Unsinn, als was für eine unerträgliche Heuchelei, als was für eine süßliche Lüge erweisen sich angesichts dieser einfachen und allgemein bekannten Tatsachen die Plechanowschen und Potressowschen Theorien von der Schuld Deutschlands und die Kautskysche von den „Perspektiven“ der Abrüstung und des Dauerfriedens unter dem Kapitalismus!

B Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“. Werke, Berlin 1834, Bd. I, S. 28; vgl. Bd. III, S. 139 u. 140: „Man weiß freilich, dass der Krieg nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen wird; aber gewöhnlich denkt man sich die Sache so, dass mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen sei. Wir behaupten dagegen: der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel“

C Übrigens bezeichnet es Herr Gardenin in der „Schisn“ als „revolutionären Chauvinismus“, aber immerhin als Chauvinismus, wenn Marx im Jahre 1848 für den revolutionären Krieg gegen jene Völker Europas eintrat, die sich in der Tat als konterrevolutionär erwiesen hatten, nämlich: gegen „die Slawen und insbesondere die Russen“. [Es handelt sich um den Artikel von J. Gardenin (Tschernow): „Bajonett-Sozialisten“, vom 31. März 1915.] Ein solcher Vorwurf gegen Marx beweist nur ein überflüssiges Mal den Opportunismus (oder – richtiger: auch – den absoluten Unernst) dieses „linken“ Sozialrevolutionärs. Wir Marxisten sind stets für den revolutionären Krieg gegen konterrevolutionäre Völker eingetreten und tun das auch heute noch. Wenn z. B. der Sozialismus in Amerika oder in Europa im Jahre 1920 siegen sollte und, nehmen wir einmal an, Japan samt China dann – sei es auch zunächst nur auf diplomatischem Wege – ihre Bismarcks gegen uns in Bewegung setzen würden, so würden wir für einen revolutionären Angriffskrieg gegen sie eintreten. Das erscheint Ihnen sonderbar, Herr Gardenin? Sie sind nun einmal ein Revolutionär vom Schlage eines Ropschin.

9 Über dieses Buch und über den „Struvismus“ siehe den Artikel „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und die Anmerkungen hierzu in Bd. I der vorl. Ausgabe. D. Red. [Ausgewählte Werke Band 5, S. 178, FN]

10 Hierüber siehe auch die Kapitel VII u. IX, in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ im vorliegenden Band. D. Red.[Ausgewählte Werke Band 5, S. 179, FN]

11 Wie fast überall bringt Lenin auch hier das Zitat in russischer Übersetzung; an der angemerkten Stelle macht er in Klammern eine kleine Bemerkung, in der er das deutsche Wort „Abwirtschaftung“ buchstäblich und dann auch dem Sinne nach – als „Zusammenbruch“ – ins Russische übersetzt. Die Red.

12 Kautskys Broschüre „Nationalstaat, Imperialistischer Staat und Staatenbund“ erschien in Nürnberg 1915 und wurde auch ins Russische übersetzt.

D Vgl. Bernhard Harms, „Probleme der Weltwirtschaft“, Jena 1912. – George Paish, „Great Britains Capital Investments in Colonies“ usw. im „Journal of the Royal Statistical Society“, Vol. LXXV, 1910/11, p. 167. – Lloyd George schätzte in einer Anfang 1915 gehaltenen Rede die englischen Kapitalanlagen im Auslande auf 4 Milliarden Pfund Sterling, d. h. rund 80 Milliarden Mark.

E E. Schultze gibt an, dass im Jahre 1915 die Summe der Wertpapiere in der ganzen Welt, einschließlich der Staats- und Kommunalanleihen, der Hypotheken, der Aktien von Handels- und Industriegesellschaften usw., auf 782 Milliarden Francs geschätzt wurde. Von dieser Summe entfielen auf England 130 Milliarden Francs, auf die Vereinigten Staaten von Amerika 115, auf Frankreich 100 und auf Deutschland 75, also auf diese vier Großmächte zusammen 420 Milliarden Francs, d. h. mehr als die Hälfte der Gesamtsumme. Danach kann man beurteilen, wie groß die Vorteile und Privilegien der hochentwickelten Großmacht-Nationen sind, die die übrigen Völker überflügelt haben, sie unterdrücken und ausplündern. (Dr. Emil Schultze, „Das französische Kapital in Russland“, im „Finanz-Archiv“, Berlin 1915, Jahrgang 32, S. 127). Die „Vaterlandsverteidigung“ der Großmacht-Nationen ist die Verteidigung des Rechts auf die Beute aus der Plünderung fremder Nationen, in Russland ist bekanntlich der kapitalistische Imperialismus schwächer, um so stärker aber der militärisch-feudale.

13 „Nationalstaat, Imperialistischer Staat und Staatenbund.“ Die Red. [Sämtliche Werke, Band 18, S. 337, FN, und Ausgewählte Werke, Band 5, S. 186, FN]

15 In der Klammer Zusatz von Lenin. Die Red.

16 Nach einer in Russland sehr bekannten Fabel von Krylow (1768-1844). Die Red. [Sämtliche Werke, Band 18, S. 348, FN und Ausgewählte Werke, Band 5, S. 196, FN]

F Kautskys Verweis auf Vaillant und Guesde, Hyndman und Plechanow ist noch in einer anderen Hinsicht charakteristisch. Die offenherzigen Imperialisten, wie Lensch und Haenisch (von den Opportunisten ganz zu schweigen), berufen sich gerade auf Hyndman und Plechanow zur Rechtfertigung ihrer eigenen Politik. Und sie haben recht, sich auf sie zu berufen; was sie sagen, ist die Wahrheit, in der Hinsicht nämlich, dass es sich in der Tat um ein und dieselbe Politik handelt. Kautsky aber spricht mit Verachtung von Lensch und Haenisch, diesen Radikalen, die zum Imperialismus abgeschwenkt seien. Kautsky dankt Gott dafür, dass er nicht sei wie diese Missetäter, dass er mit ihnen nicht eines Sinnes sei, dass er ein wirklicher Revolutionär geblieben sei. – Scherz beiseite! Aber in Wirklichkeit ist Kautskys Standpunkt genau derselbe. Der heuchlerische Chauvinist Kautsky mit seinen süßlichen Phrasen ist viel widerwärtiger als die ziemlich einfältigen Chauvinisten David und Heine, Lensch und Haenisch.

17 In den „Ausgewählten Werken“: „eine Million“

G Nebenbei sei bemerkt: für diesen Zweck war es durchaus nicht unbedingte Notwendigkeit, als Antwort auf das Verbot jeder Äußerung über Klassenhass und Klassenkampf sämtliche sozialdemokratischen Blätter einzustellen. Mit der Bedingung, solche Äußerungen zu unterlassen, sich einverstanden zu erklären, wie dies der Vorwärts gemacht hat, war eine Gemeinheit und eine Feigheit. Der „Vorwärts“ ist politisch tot, seitdem er das gemacht hat. L. Martow hatte recht, als er dies aussprach. Wohl aber hätte man die legalen Zeitungen am Leben erhalten können, wenn man erklärte, dass sie keine Parteiblätter und keine sozialdemokratischen Blätter seien, sondern einfach Organe, die den technischen Bedürfnissen eines Teils der Arbeiterschaft zu dienen hätten, d. h. unpolitische Zeitungen. Eine illegale sozialdemokratische Literatur mit Stellungnahme zum Krieg und eine legale Arbeiterpresse ohne solche Stellungnahme, eine Presse, die nicht die Unwahrheit sagt, aber auch die Wahrheit nicht ausspricht – warum hätte das unmöglich sein sollen?

H Einige Beispiele für die hohe Meinung, die die Imperialisten und Bourgeois von der Bedeutung der „Großmacht“-Privilegien und nationalen Vorrechte für die Spaltung der Arbeiter und für ihre Losreißung vom Sozialismus hegen. Der englische Imperialist Lucas in seinem Werk: „Greater Rome and Greater Britain“ (Oxford 1912) negiert die Gleichberechtigung der Farbigen im heutigen Britischen Reich (S. 96 u. 97) und bemerkt: „Wenn in unserem Reich weiße Arbeiter neben Farbigen arbeiten …, so tun sie dies nicht als Gleichgestellte, sondern der weiße Arbeiter ist viel eher Aufseher des farbigen als sein Kamerad“ (S. 103). [Das Buch von C. P. Lucas: „Greater Rome and Greater Britain“, erschien 1912 in Oxford.] – Erwin Belger, gewesener Sekretär des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, lobt in seiner Schrift: „Die Sozialdemokratie nach dem Kriege“ (1915) das Verhalten der Sozialdemokraten und erklärt, sie müssten eine „reine Arbeiterpartei“ (S. 43), eine „nationale“, „deutsche Arbeiterpartei“ werden (S. 45), ohne „internationale, utopistische“, „revolutionäre“ Ideen (S. 44). [Die Broschüre von Erwin Belger: „Die Sozialdemokratie nach dem Kriege“, erschien 1915 in Berlin.] – Der deutsche Imperialist Sartorius von Waltershausen tadelt in seinem Werk über „Kapitalanlage im Auslande“ (1907) die deutschen Sozialdemokraten, weil sie von einer „Förderung des nationalen Gesamtwohles“ – das in der Eroberung von Kolonien bestehe – nichts wissen wollen (S. 438), und belobt die englischen Arbeiter für ihren „Realismus“, z. B. für ihren Kampf gegen die Einwanderung. [Das Buch von A. Sartorius von Waltershausen: „Das volkswirtschaftliche System der Kapitalanlage im Ausland“, erschien 1907 in Berlin.] – Der deutsche Diplomat Ruedorffer hebt in seinem Buche, „Grundzüge der Weltpolitik“, die allgemein bekannte Tatsache hervor, dass die Internationalisierung des Kapitals den verschärften Kampf der nationalen Kapitale um Macht, Einfluss und „Aktienmajorität“ (S. 161) keineswegs ausschaltet, und betont, dass auch die Arbeiter in diesen verschärften Kampf hineingezogen werden (S. 175). Das Buch ist vom Oktober 1913 datiert, und der Verfasser spricht mit aller Deutlichkeit von dem „Kapitalinteresse“ (S. 157) als der Ursache der modernen Kriege; er sagt, dass die Frage der „nationalen Tendenz“ zum „Mittelpunkt“ des Sozialismus werde (S. 176), dass die Regierungen von den internationalen Manifestationen der Sozialdemokratie, die ja immer nationaler werde (S. 103, 110, 176), nichts zu besorgen hätten (S. 177). Der internationale Sozialismus habe gesiegt, wenn es ihm gelinge, die Arbeiter innerlich ganz aus dem Gefüge der Nationalität zu lösen, denn mit den Mitteln der reinen Gewalt für sich allein sei nichts auszurichten – er werde aber die Niederlage erleiden, wenn die inneren Bande der Nation die Oberhand behielten (S. 173 u. 174). [Das Buch von Ruedorffer: „Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart“, erschien 1913 in Stuttgart und Berlin.]

I Man vergleicht gewöhnlich allein die Independent Labour Party mit der British Socialist Party. Das ist falsch. Man soll nicht die organisatorischen Formen, sondern das Wesen der Sache betrachten. Man nehme die Tageszeitungen: es waren ihrer zwei – die eine (Daily Herald) British Socialist Party, die andere (Daily Citizen) beim Block der Opportunisten. Die Tageszeitungen bringen die tatsächliche Arbeit der Propaganda, Agitation und Organisation zum Ausdruck.

18 Lenin hat hier die Rede Höglunds auf dem Parteitag der schwedischen Sozialdemokratie am 10./23. November 1914 im Auge.

J Außerordentlich charakteristisch sind die Vorgänge vor der historischen Abstimmung am 4. August. Die offizielle Partei warf den Schleier amtlicher Heuchelei darüber: die Mehrheit habe beschlossen, und alle hätten wie ein Mann mit Ja gestimmt. Aber Ströbel hat in der „Internationale“ die Heuchelei entlarvt und die Wahrheit berichtet. In der sozialdemokratischen Fraktion gab es zwei Gruppen, die mit einem fertigen Ultimatum, also mit einem fraktionellen, d. h. die Spaltung bedeutenden Beschluss gekommen waren. Die eine Gruppe, die der Opportunisten, zirka 30 Mann stark, hatte auf jeden Fall für die Kredite zu stimmen beschlossen; die andere, die Linke, zirka 15 Mann stark, hatte – etwas weniger entschieden – dagegen zu stimmen beschlossen. Als das „Zentrum“ oder der „Sumpf“, der keine bestimmte Position hatte, mit den Opportunisten stimmte, da sahen sich die Linken aufs Haupt geschlagen … und fügten sich! Die „Einheit“ der deutschen Sozialdemokratie ist von Anfang bis zu Ende Heuchelei, faktisch verdeckt sie nur die unvermeidliche Unterwerfung unter jedes Ultimatum der Opportunisten.

19 Die Rede ist hier von der bolschewistischen Dumafraktion. D. Red. [Ausgewählte Werke, Band 5, S.216, FN]

20 Diese Periode wird In den Bänden I – IV der vorlieg. Ausgabe behandelt. Siehe besonders: über den „Ökonomismus“, über „Rabotschaja Mysl“ und „Rabotscheje Djelo“, Bd. II, Abt. 1; über den Menschewismus Bd. IV, Abt. 1. u. 2. D. Red. [Ausgewählte Werke, Band 5, S. 219, FN]

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