Alexandra Kollontai 19500000 Die Stimme Lenins

Alexandra Kollontai: Die Stimme Lenins

[Unter der Überschrift „Die Stimme Lenins" wurde ein Teil der Manuskripte Alexandra Kollontais aus dem Zyklus ihrer Erinnerungen an Lenin 1963 in der Zeitschrift „Oktjabr" (Oktober) veröffentlicht. Das vollständige Manuskript enthält auch Schilderungen aus der Zeit der ersten Kriegstage, in der die Autorin in Deutschland weilte. Da die „Auszüge aus dem Tagebuch von 1914", in denen auf die gleichen Fragen ausführlicher eingegangen wird, in diesen Sammelband aufgenommen wurden, erfolgt die vorliegende Veröffentlichung auf der Grundlage des etwas gekürzten Manuskripts. Nach „Ich habe viele Leben gelebt“. Berlin 1980, S. 209-212]

Mit Liebknechts Hilfe war es mir gelungen, von Deutschland nach Stockholm zu gelangen. Ich glaubte immer noch, dass man die II. Internationale gegen das weltweite Gemetzel aktivieren könnte, doch wie unsere Politik beschaffen sein und worauf sie sich gründen müsste, das wussten weder ich noch die anderen. Wir irrten umher wie in einem Wald.

Zu jener Zeit, da die II. Internationale völlig aus der Fassung geraten und zerrüttet war, da die bürgerlichen kapitalistischen Parteien die Klasseneinheit lobpreisten und ihren Siegesjubel anstimmten, ertönte weithin vernehmbar die Stimme Lenins. Allein gegen die ganze Welt, enthüllte er mit seiner schonungslosen Analyse das wahre Wesen des imperialistischen Krieges und zeigte – was noch wichtiger war – klar und deutlich die Wege und Methoden zur Umwandlung dieses Krieges in einen Bürgerkrieg und eine sozialistische Revolution. Wer den Frieden wolle, der müsse dem Opportunismus den Krieg erklären und mit dem Kompromisslertum, mit der eigenen Bourgeoisie brechen.

Aus der Schweiz war die Nummer des Zentralorgans, des „Sozial-Demokrat"1, mit Lenins Direktive zum Krieg und zu unseren Aufgaben nach Stockholm gelangt. Dies war einer der bedeutsamsten Augenblicke in meinem Leben. Der Artikel Lenins riss die Wand ein, gegen die ich immer von neuem angerannt war. Mir schien, als sei ich aus einem tiefen, dunklen Brunnenschacht wieder ans Tageslicht gelangt und habe meinen weiteren Weg erblickt. Er lag klar und deutlich vor mir.

Ich begriff, dass Lenin die ganze Menschheit überragte und mit seinem außergewöhnlichen Denkvermögen das zu erkennen vermochte, was uns allen verborgen blieb. Ich erkannte seine moralische und geistige Kühnheit, für die es keine Schranken oder Grenzen gab. Je tiefer die Opportunisten, Kautsky und dessen engste Gefolgsleute, herabsanken, desto überragender wurde die Gestalt jenes kühnen Mannes, der in diesem ganzen blutigen Chaos einen konkreten Weg wies.

Im Oktober 1914 schrieb ich meinen ersten Brief an Wladimir Iljitsch.2 Als Antwort überbrachte mir ein russischer Genosse die Weisung, sofort an die Arbeit zu gehen und mit den Sozialisten in Skandinavien in Verbindung zu treten, die helfen würden, die von Lenin konzipierte Politik des weiteren Kampfes der Arbeiterklasse zu verwirklichen. Seit dieser Zeit bin ich unter Lenins Führung tätig gewesen.

Zugleich war mir und jenen Genossen die Aufgabe übertragen worden, in Skandinavien eine ständige Verbindung zwischen Lenin und dem in Russland befindlichen Büro des Zentralkomitees herzustellen. Diese Verbindung kam zustande und funktionierte bis zu dem Augenblick, da die konservative schwedische Regierung Hammarskjöld beschloss, die „bolschewistische Zentrale" zu liquidieren. Ich wurde verhaftet, in Kungsholmen ins Gefängnis gebracht und aus Schweden ausgewiesen.3

Mit Hilfe norwegischer Freunde gelang es mir, mich in Norwegen in der Ortschaft Holmenkollen bei Oslo (Kristiania) niederzulassen. Aus dem kleinen roten Backsteinhaus über dem Fjord flogen meine Anfragen sowie die bei mir bestellten Broschüren und Artikel zu Wladimir Iljitsch. In diesem Häuschen öffnete ich die an mich gerichteten und an meine Freunde adressierten Briefe Wladimir Iljitschs.4 Und in dem kleinen roten Haus auf dem Holmenkollen arbeiteten wir auch die Resolution der norwegischen Linken aus, die die Zimmerwalder Linke unterstützte und Wladimir Iljitschs Billigung fand.5

Wenn ich in jenen Jahren an Wladimir Iljitsch dachte, stellte ich ihn mir nicht einfach als Menschen, sondern als die Verkörperung einer kosmischen Elementarkraft vor, die die jahrtausendealten sozialökonomischen Schichten der Menschheit umbrach. Der Plan für die grundlegende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse und für den Neuaufbau der Gesellschaft reifte und nahm Gestalt an.

Es gab nicht nur den imperialistischen Krieg, sondern dank Lenins Wirken begannen sich auch die ersten Risse in der sozialen Struktur der Gesellschaft zu zeigen. Die II. Internationale war in die Brüche gegangen, doch schon sammelten sich um Lenin neue, frische Kräfte. Als mich Wladimir Iljitsch in den Jahren 1915 und 1916 beauftragte, die bessere, revolutionär eingestellte sozialistische Jugend von der Zweiten Internationale, die sich mit Schmutz besudelt hatte, loszulösen und sie um die Zimmerwalder Linke zu scharen, erwies sich diese Aufgabe als viel leichter, als ich angenommen hatte.

1 „Sozial-Demokrat" – illegale Zeitung, Zentralorgan der SDAPR, wurde von Februar 1908 bis Januar 1917 herausgegeben. Nach Nr. 32, erschienen am 15. (28.) Dezember 1913, war die Herausgabe des „Sozial-Demokrat" vorübergehend unterbrochen. Am 1. November 1914 erschien die fällige Nummer 33. Als Leitartikel in dieser Zeitung wurde Lenins Artikel „Der Krieg und die russische Sozialdemokratie", das Manifest des Zentralkomitees der SDAPR(B), abgedruckt. Um diesen Artikel geht es auch in Alexandra Kollontais Erinnerungen.

2 Der Briefwechsel zwischen Wladimir Iljitsch Lenin und Alexandra Kollontai begann gleich in den ersten Kriegsmonaten. Die ersten erhalten gebliebenen Briefe Alexandra Kollontais an Lenin stammen von Oktober und November 1914 (siehe IML, ZPA, Moskau, F. 2). Wladimir Iljitsch war sehr zufrieden, dass Alexandra Kollontai die Ansichten der Bolschewiki teilte. Am 27. Oktober 1914 schrieb er: „Es freut mich von Herzen, wenn Genossin Kollontai auf unserem Standpunkt steht."

3 Ende November 1914 wies die schwedische Regierung Alexandra Kollontai „für immer" aus Schweden aus. Anlass dazu war ihre Teilnahme an einer von den linken Kreisen der schwedischen Sozialdemokratie organisierten Kampagne zur Entlarvung des imperialistischen Charakters des Krieges. Am 28. November 1914 erklärte Alexandra Kollontai in einem Brief an Lenin die Gründe für ihre Ausweisung aus Schweden so: „Formal wurden meine Verhaftung und Ausweisung durch den Aufsatz ,Über den Krieg und unsere Aufgaben' bewirkt, der in einer antimilitaristischen schwedischen Zeitschrift der ,Jungen' abgedruckt wurde. Der wahre Anlass aber war wohl meine Rede zum gleichen Thema auf einer geschlossenen schwedischen Parteiversammlung. Zumindest habe ich Montag gesprochen und wurde schon Freitag verhaftet und durch die Gefängnisse geschleppt (Stockholm, Malmö), danach mit Polizeieskorte nach Kopenhagen abgeschoben." (IML, ZPA, Moskau, F. 2.)

4 Der Briefwechsel zwischen Wladimir Iljitsch Lenin und Alexandra Kollontai ist ersichtlich aus Lenins Werken (Briefe, Bd. IV), in denen etwa 20 an Alexandra Kollontai gerichtete Briefe veröffentlicht sind, und aus den Archivmaterialien im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus Moskau, wo über 30 an W. I. Lenin und N. K. Krupskaja gerichtete Briefe von Alexandra Kollontai aufbewahrt werden.

5 Im Rahmen der Vorbereitung der Zimmerwalder Konferenz bat Lenin Alexandra Kollontai, die Linkskräfte der Skandinavier, der Schweden und Norweger, an den Standpunkt der Bolschewiki heranzuführen. Auf Lenins Bitte übersetzte Alexandra Michailowna den Entwurf der für die Konferenz vorbereiteten Deklaration ins Norwegische und Schwedische, organisierte eine Diskussion zu diesem Entwurf auf einer Beratung der norwegischen Genossen und erreichte, dass diese dem Leninschen Entwurf grundsätzlich zustimmten. Der Erklärung der norwegischen Linken schlossen sich später auch die schwedischen linken Sozialdemokraten an. Lenin schrieb aus diesem Anlass: „Wir haben uns über die Erklärung der Norweger und Ihre Bemühungen bei den Schweden sehr gefreut." (W.I.Lenin: An A. M. Kollontai. In: Briefe, Bd. IV, S. 113.) Die Erklärung der Norweger, die Alexandra Kollontai Lenin zusandte, wird im Zentralen Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus Moskau aufbewahrt.

Kommentare