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1. Sowjetkongress

Der erste Allrussische Rätekongress trat am 3./16. Juni 1917 in Petrograd zusammen. Insgesamt waren 790 Delegierte anwesend, größtenteils Menschewiki, ein kleinerer Teil gehörte den Sozialrevolutionären an. Nur 103 Delegierte, das sind 13 Prozent der Gesamtzahl aller Delegierten, waren Bolschewiki. Die Tagung des Kongresses verlief ganz unter Führung der Menschewiki (Zereteli, Dan) und der Sozialrevolutionäre. Der Kongress sprach sich für die Teilnahme der Sozialisten an der bürgerlichen Provisorischen Regierung, für die „Vaterlandsverteidigung", für die „Freiheitsanleihe" und für die Unterstützung der von der Entente geforderten Offensive an der Front aus. Der Kongress verbot die bolschewistische Demonstration am 10./23. Juni in Petrograd, aber die Demonstration, die der Kongress selbst für den 18. Juni/1. Juli festgesetzt hatte, gedacht als Vertrauenskundgebung für die Provisorische Regierung, verlief vollständig unter bolschewistischen Losungen. Der Kongress hat ein Zentral-Exekutivkomitee, bestehend aus Menschewiki und Sozialrevolutionären gewählt, das bis zum zweiten Rätekongress bestand. Das zweimalige Auftreten Lenins auf dem Kongress fand bei der kompromisslerischen Mehrheit der Delegierten natürlich keinen Anklang. Die erste Rede hielt Lenin am 4./17. Juni in der Diskussion über das Referat von Dan: „Die Provisorische Regierung und die revolutionäre Demokratie". Die Redezeit war durch die Geschäftsordnung beschränkt: Lenins Rede wurde wiederholt von unfreundlichen Zurufen der Mehrheit und dem Beifall der Minderheit unterbrochen. Diese Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung wird hier nach dem Stenogramm gedruckt, das Lenin persönlich korrigiert hatte. Die zweite Rede (über den Krieg) wurde am 9./22. Juni gehalten und ist hier nach dem Text der „Prawda" wiedergegeben. Es ist möglich , dass der Text der „Prawda" seinerzeit von Lenin ebenfalls durchgesehen wurde. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.2, Anm. 35]

Der I. Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte wurde in Petrograd am 3./16. Juni 1917 eröffnet und dauerte ungefähr drei Wochen. Es nahmen an ihm 1090 Delegierte teil, davon 820 mit beschließender Stimme. Bolschewiki gab es auf dem Kongress insgesamt 105. Die gewaltige Mehrheit (ungefähr 520 Stimmberechtigte) war auf der Seite der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre und trat auf dem Kongress in Einheitsfront gegen die Bolschewiki auf. Der ganze Kongress stand im Zeichen 1. der Unterstützung des Koalitionskabinetts der Provisorischen Regierung und ihrer bürgerlichen Innen- und Außenpolitik, 2. der Verlängerung des Krieges und der Offensive an den Fronten, 3. des Kampfes gegen den Bolschewismus, der zu dieser Zeit schon die unzweifelhafte Mehrheit des Petrograder Proletariats und einen bedeutenden Teil der Petrograder Garnison auf seiner Seite hatte. Mit gewaltiger Mehrheit hieß der Kongress den Eintritt der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre als Vertreter der Räte in das Koalitionskabinett gut, er billigte ihre Politik ebenso wie die Offensive an der Front, die von der Regierung mit ihrer Unterstützung unternommen wurde; mit derselben Mehrheit wandte sich der Kongress gegen die Bolschewiki und das hinter ihnen stehende Petrograder Proletariat; er verbot die von der bolschewistischen Partei auf den 10./23. Juni festgesetzte Demonstration. Das Petrograder Proletariat und ein bedeutender Teil der Garnison beantworteten dieses Verbot in der Weise, dass sie die von dem Kongress selbst auf den 18. Juni/1. Juli festgesetzte Demonstration in eine Kundgebung gegen die Bourgeoisie und ihre Helfershelfer, gegen die Provisorische Regierung, gegen den Krieg und die Offensive an der Front und für die bolschewistischen Losungen verwandelten. Dadurch, dass die bolschewistische Partei, die auf dem Kongress in einer unbedeutenden Minderheit war, die Kundgebung des Kongresses in eine bolschewistische verwandelte, zeigte sie, dass sie und nur sie der wirkliche Führer der revolutionären Massen war, die sich von dem vertrauensseligen Verhalten zur bürgerlichen Staatsmacht und zu den kleinbürgerlichen Parteien freimachten.

Die bolschewistische Fraktion trat auf dem Rätekongress als fest geschlossenes Ganzes auf. Ihre Redner brandmarkten einer nach dem anderen die Politik der in den Räten ausschlaggebenden Parteien und ihrer Führer und entwickelten vor den Massen, über die Köpfe der Kongressmehrheit hinweg, die in den Resolutionen der Konferenz der Partei vom April/Mai 1917 festgelegte Leninsche politische Plattform. Während des ganzen Kongresses leitete Lenin unmittelbar die Tätigkeit der Fraktion. Selbst hielt er auf dem Kongress zwei Reden, und zwar zu den beiden Hauptfragen: dem Verhältnis zur Provisorischen Regierung und dem Krieg. Die erste Rede hielt er am 4./17. Juni in der Debatte zu dem Referat des Menschewiks Th. Dan „Die Provisorische Regierung und die revolutionäre Demokratie“. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre bezeichneten sich als Vertreter der „revolutionären Demokratie“ und trumpften ständig damit auf. Lenin wies darauf hin, dass man die revolutionäre Demokratie von der reformistischen Demokratie bei der kapitalistischen Regierung unterscheiden müsse und dass gerade die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die Vertreter einer solchen reformistischen Demokratie sind. Sie verwandelten die Räte aus Organen des revolutionären Kampfes und der revolutionären Staatsmacht in Organe zur Unterstützung der Bourgeoisie, in Organe zur Verteidigung der Politik der bürgerlichen Regierung vor den Massen und gegen die Massen. Lenin sagte: „Von zwei Dingen eins: entweder eine gewöhnliche bürgerliche Regierung – und dann braucht man die Räte der Arbeiter, Bauern und Soldaten nicht, dann werden sie entweder von den Generalen, den konterrevolutionären Generalen, die das Heer in Händen halten, ohne Rücksicht auf die Rednerkünste des Ministers Kerenski auseinandergejagt werden, oder sie werden eines ruhmlosen Todes sterben. Einen anderen Weg gibt es für diese Institutionen nicht, die nur existieren können, wenn sie nicht rückwärtsgehen, nicht stehenbleiben, sondern vorwärts marschieren“ Dieser Weg vorwärts aber, sagte Lenin, ist der Weg zur Macht. „Die Sowjets können nicht so weiterleben, wie bisher“ – sagte Lenin -. „Eine Körperschaft solcher Art bedeutet vielmehr den Übergang zu jener Republik, die eine feste Macht schaffen wird, ohne Polizei, ohne stehendes Heer, und zwar nicht in Worten, sondern in der Tat, jene Macht, wie sie in Westeuropa noch nicht existieren kann, die Macht, ohne die es keinen Sieg der russischen Revolution im Sinne eines Sieges über die Gutsherren, im Sinne eines Sieges über den Imperialismus geben kann“.

Die Führer der damaligen Räte zollten sich selbst dafür Lob, dass sie während der Krise vom 20. April/3. und 21. April/4. Mai, als die Macht „wie eine überreife Frucht ihnen in den Schoß fiel“, sie nicht in die Hand der Räte genommen hatten, und erklärten, dass sie auch künftig keine andere Politik zu betreiben gedenken. Lenin aber rief die Massen gerade dazu auf, die Macht in die Hände der Räte zu legen. Der Menschewik Zereteli erklärte, in Russland gebe es keine Partei, die die ganze Macht in die Hand nehmen möchte, und die sagen würde: „Gebt uns die Macht in die Hand!“ Lenin sagte daraufhin: „Doch! Keine Partei kann darauf verzichten, und auch unsere Partei verzichtet nicht darauf: sie ist jeden Augenblick bereit, die ganze Macht zu übernehmen“. Diese Worte Lenins, die von der bolschewistischen Fraktion mit Beifall aufgenommen wurden, riefen bei der sozialrevolutionär-menschewistischen Mehrheit des Kongresses ironische Zurufe und Gelächter hervor. Man hatte zu früh gelacht: schon zwei Wochen später zeigte die Demonstration vom 18. Juni/1. Juli, dass die Bolschewiki bereits an der Spitze der revolutionären Arbeitermassen auf dem Wege zur Ergreifung der Macht waren. Als Lenin den Menschewiki und den Sozialrevolutionären diese Erklärung über die Bereitschaft der Bolschewiki, die ganze Macht in die Hand zu nehmen, ins Gesicht schleuderte, zeigte er aber auch, dass die bolschewistische Partei das Aktionsprogramm einer wirklich revolutionären Staatsmacht unter den Verhältnissen der gegebenen Revolution besaß. „Unsere Konferenz vom 29. April hat dieses Programm gegeben“, sagte er unter Hinweis auf die Resolutionen der Allrussischen Parteikonferenz vom April/Mai 1917, und in seiner weiteren Rede gab er, wie er sich ausdrückte, „dem Bürger Minister für Post- und Telegrafenwesen (Zereteli) eine gemeinverständliche Erläuterung“ dieses Programms.

In der hier abgedruckten Rede „Über den Krieg“, die Lenin am 9./22. Juni hielt, entwickelte er das gleiche Programm gegenüber dem Krieg, wobei er mit aller Kraft seiner Argumente gegen den Krieg, gegen die imperialistische Politik der Provisorischen Regierung, gegen die sozialrevolutionär-menschewistischen Führer der Räte losging, die „die Außenpolitik der russischen Revolution vollständig gemeinsam mit den Kapitalisten“ führen. Diese Rede beleuchtet am vollständigsten von allen mündlichen und schriftlichen Äußerungen Lenins im Jahre 1917 die Frage des Verhältnisses zum Kriege.

In dem gleich zu Beginn der Rede angeführten Manifest des Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrats vom 15./28. März 1917 „An die Völker der ganzen Welt“, das menschewistisch-sozialrevolutionär war und – wie dies Lenin weiter in seiner Rode dartut – den Standpunkt der „revolutionären Vaterlandsverteidigung“, des Schutzes der Interessen der „eigenen“, „russischen Kapitalisten und Bankiers“ unter dem Deckmantel „unserer eigenen Freiheit von jeglichen reaktionären Anschlägen sowohl von innen als auch von außen“ zum Ausdruck bringt, hieß es u. a.: „… Indem wir uns an alle durch den schrecklichen Krieg der Vernichtung und dem Ruin preisgegebenen Völker wenden, erklären wir, dass die Zeit gekommen ist, gegen die Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder einen entschiedenen Kampf zu beginnen. Es ist an der Zeit, dass die Völker die Entscheidung der Frage über Krieg und Frieden in ihre eigenen Hände nehmen. Im Bewusstsein ihrer revolutionären Kraft erklärt die Demokratie Russlands, dass sie mit allen Mitteln der Eroberungspolitik ihrer herrschenden Klassen entgegenwirken wird, und fordert die Völker Europas auf zu gemeinsamen entschiedenen Aktionen zugunsten des Friedens … Wir wenden uns an unsere Brüder, die Proletarier der österreichisch-deutschen Koalition, und in erster Linie an das deutsche Proletariat. Von den ersten Tagen des Krieges an redete man euch ein, dass, wenn ihr die Waffen gegen das absolutistische Russland erhebt, ihr damit die europäische Kultur gegen den asiatischen Despotismus verteidigt. Viele von euch sahen darin eine Rechtfertigung für die Unterstützung des Krieges. Heute fehlt auch diese Rechtfertigung: das demokratische Russland kann keine Gefahr für Freiheit und Zivilisation sein … Wir werden standhaft unsere eigene Freiheit gegen alle reaktionären Anschläge verteidigen, mögen sie von innen oder von außen kommen. Die russische Revolution wird vor den Bajonetten der Eroberer nicht zurückweichen und wird nicht gestatten, dass sie durch eine auswärtige militärische Gewalt erstickt wird. Aber wir rufen euch auf: Schüttelt ab das Joch eurer autokratischen Ordnung, ebenso wie das russische Volk die zarische Autokratie abgeschüttelt hat; weigert euch, als Werkzeug der Eroberung und der Vergewaltigung in den Händen der Könige, der Junker und der Bankiers zu dienen – und mit geschlossenen, vereinten Kräften werden wir dem schrecklichen Gemetzel, das die Menschheit schändet und die großen Tage der Geburt der russischen Freiheit verdüstert, ein Ende bereiten …“ [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 45]

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