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Julitage 1917

Julitage 1917: bewaffnete Demonstrationen am 16./17. Juli 1917 in Petrograd in Russland, um den damals von Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrschten Sowjet zu zwingen, die Macht zu übernehmen. Die Bewegung wurde blutig unterdrückt und als Putschversuch verleumdet, was sich bis in die heutigen Schulbücher fortsetzt.

Die „Julitage" waren durch den ganzen Verlauf der russischen Revolution vorbereitet worden. Seit der zweiten Hälfte des Juni 1917 war die Unzufriedenheit der Massen mit der reaktionären Politik der Provisorischen Regierung im steten Ansteigen begriffen. Zur Demonstration am 18./30. Juni [sic!] erschienen die Massen mit den Losungen: „Nieder mit den zehn Kapitalisten-Ministern", „alle Macht den Räten". Der Misserfolg der von Kerenski unternommenen Offensive am 18./30. Juni [sic!] und die Opfer, die den Verbündeten zuliebe gebracht wurden, wirkten ebenfalls revolutionierend auf die Massen. Die Petrograder Regimenter befanden sich in Aufregung, weil die Regierung sich entgegen dem am 27. Februar/12. März mit dem Exekutivkomitee des Petrograder Rates abgeschlossenen Vertrag mit der Absicht trug, sie an die Front zu schicken, um die Hauptstadt von den der Revolution treu ergebenen Truppen zu räumen. Die konterrevolutionären Generale drohten, die Hauptstadt den Deutschen auszuliefern. Der bereits begonnenen Bewegung gab der Rücktritt der Kadetten-Minister einen weiteren Antrieb.

[...] der Verlauf der Ereignisse [war] folgender: am 3./16. Juli rebellierte als eines der ersten das Maschinengewehr-Regiment, dessen Delegierte in der Stadtkonferenz der Bolschewiki erschienen und mitteilten, dass das Regiment an alle Truppenteile Delegierte entsandt habe, um sie zum Aufstand aufzurufen; sie baten um die Unterstützung der Bolschewiki. Die Konferenz antwortete ablehnend, weil sie die Bewegung für verfrüht hielt. Das um 10 Uhr abends zu einer Sitzung einberufene Zentralkomitee gab mit Rücksicht auf die Stimmung der Massen die Losung einer friedlichen Demonstration heraus. Die Arbeitersektion des Petrograder Rates trat mit zwei Dritteln der Stimmen für die Aktion ein und wählte als Leitung ein provisorisches Komitee aus 15 Mitgliedern. Lenin war am 3./16. Juli nicht in Petrograd, und er konnte, nachdem er die Nachrichten über die Ereignisse erhalten hatte, erst am nächsten Tag in die Stadt zurückkehren. Am 4./17. Juli nahmen über eine halbe Million Arbeiter und Soldaten an der Bewegung teil. In der Stadt herrschte mustergültige Ordnung. Institutionen wurden nicht besetzt, und nirgends wandten die Massen Gewalt an. An der Ecke des Newski-Prospekts und der Sadowaja wurde auf die Demonstranten geschossen, worauf die Arbeiter und Soldaten das Feuer erwiderten. Das Zentralexekutivkomitee der Räte, das sich in Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre befand, lehnte die Forderung, die Staatsgewalt in die eigene Hand zu nehmen, ab. Die Bewegung geriet in eine Sackgasse. Ein Teil der Soldaten kehrte in die Kasernen zurück, ein anderer Teil blieb auf der Straße. Am 5./18. Juli wurden von der Spionage-Abteilung der Regierung fabrizierte „Dokumente" veröffentlicht, die die Unterschriften Alexinskis und Pankratows trugen und den Zweck hatten, die Massen zu demoralisieren: in ihnen wurde behauptet, Lenin handle im Auftrag des deutschen Generalstabs. Am Abend trafen die von Kerenski von der Front herangezogenen konterrevolutionären Truppenteile und die Junker aus der Umgegend von Petrograd ein; sie besetzten die Stadt, die Brücken und gingen dann zu Verhaftungen, Haussuchungen und Pogromen über. Die Bewegung wurde unterdrückt. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 21, Anm. 3] 

Der äußere Verlauf der Juliereignisse war der folgende: Am 2./15. Juli erklärten die Kadetten ihren Austritt aus der Provisorischen Regierung. Der Anlass zu diesem Austritt waren Meinungsverschiedenheiten mit Kerenski und anderen sozialistischen Ministern wegen der ukrainischen Frage; die Kadetten waren gegen jede, auch die bescheidenste Autonomie für die Ukraine und forderten die Vertagung der ukrainischen Frage bis zur Konstituierenden Versammlung. Aber das war nur ein Vorwand. In Wirklichkeit war der Austritt der Kadetten aus der Regierung nur ein Manöver, wobei sie darauf spekulierten, erstens, dass auf die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre die ganze Verantwortung für die Misserfolge der Offensive an der Front fallen wird, und zweitens, dass diese Parteien, wenn sie allein, ohne Unterstützung durch die Bourgeoisie an der Macht bleiben und dabei immer mehr das Vertrauen der im ganzen Lande sich radikalisierenden Arbeiter- und Soldatenmassen (und folglich auch der Bauernmassen) verlieren, selbst wieder an die Kadettenpartei herantreten und auf beliebige Bedingungen eingehen werden, die die Bourgeoisie stellen wird. Die Arbeiter- und Soldatenmassen erblickten in dem Austritt der Kadetten aus der Regierung den günstigen Augenblick, um die immer noch von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären in der Gestalt des Zentralexekutivkomitees geführten Räte durch ihren Druck zu zwingen, die Macht in die Hand zu nehmen. Darauf waren auch die am 3./16. Juli spontan auftretenden bewaffneten Demonstrationen gerichtet. In erster Linie erhob sich das Maschinengewehrregiment, dessen Delegierte im Hause der Kschessinskaja erschienen, in welchem eine Stadtkonferenz der Bolschewiki tagte, und mitteilten, das Regiment habe an alle Truppenteile Delegierte entsendet, um sie zu einer Kundgebung aufzurufen. Sie forderten die Unterstützung durch die Bolschewiki. Die Konferenz antwortete ablehnend, da sie die Bewegung für verfrüht hielt. Am Abend erschienen vor dem Hause zwei Regimenter, die auf ihren Fahnen die Losung trugen: „Alle Macht den Räten!“ Etwas später zog eine Arbeiterdemonstration mit denselben Losungen gegen die Koalition in die Stadt. Das bolschewistische ZK, das an diesem Abend zusammentrat, gab mit Rücksicht auf die Stimmung der Massen die Losung einer friedlichen Demonstration aus. Die Arbeitersektion des Petrograder Rates sprach sich mit Zweidrittelmehrheit für eine Kundgebung aus und wählte ein provisorisches Komitee von 15 Mitgliedern zur Leitung der Kundgebung. Diese fand am 4./17. Juli statt; es nahmen an ihr mehr als eine halbe Million Arbeiter und Soldaten teil. Die Züge marschierten zum Taurischen Palais, dem Sitz des Zentralexekutivkomitees. Aus Kronstadt kamen Matrosen. Die Peter-Paul-Festung war auf der Seite der Demonstranten. In der Stadt herrschte musterhafte Ordnung. Die Massen besetzten keine Institutionen und enthielten sich überhaupt des Gewaltaktes. Trotzdem wurde an der Kreuzung des Newski-Prospekts und der Sadowaja auf die Demonstranten geschossen. Die demonstrierenden Arbeiter erwiderten das Feuer. Auf die Aufforderung der Massen, die Macht in die Hand zu nehmen, antwortete das in den Händen der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre befindliche Zentralexekutivkomitee ablehnend. Die Bewegung geriet in eine Sackgasse. Ein Teil der Soldaten kehrte in die Kasernen zurück, ein Teil verblieb auf der Straße. Am 5./18. Juli veröffentlichten der ehemalige Abgeordnete der 2. Reichsduma, der schmutzige Verleumder und Anhänger der Plechanow-Gruppe „Jedinstwo“ („Einheit“) Alexinski und der ehemalige Schlüsselburghäftling Pankratow in der kleinen Boulevardzeitung „Schiwoje Slowo“ von der Politischen Polizei mit Zustimmung der Regierung angefertigte verleumderische „Dokumente“, die den Zweck verfolgten, die Massen zu demoralisieren. In diesen „Dokumenten“ wurde behauptet, Lenin sei ein deutscher Spion und im Auftrage des deutschen Generalstabes bemüht, das Vertrauen des russischen Volkes zur Provisorischen Regierung zu untergraben. Am Abend kamen die von Kerenski von der Front abberufenen konterrevolutionären Truppen und die Junker (so nannte man in Russland die Schüler der Offiziersschulen, der Kadettenschulen) aus der Umgebung nach Petrograd, besetzten die Stadt, zogen die Brücken hoch und nahmen Verhaftungen, Haussuchungen und Pogrome vor. Die Bewegung wurde unterdrückt. Am 5./18. Juli demolierte eine Gruppe von Junkern die Redaktion der „Prawda“, und am folgenden Tage wurde auch die bolschewistische Druckerei zerstört, zu deren Ankauf die Arbeiter das Geld gesammelt hatten. Am 6./19. Juli wurde das Palais der Kschessinskaja besetzt und Haftbefehl gegen Lenin, Sinowjew, Kamenew, die Kollontai und eine Reihe anderer Bolschewiki erlassen. Gegen die Bolschewiki wurde eine Hetze entfaltet, man beschuldigte sie des „bewaffneten Aufstandes“, des „Aufruhrs“ u. a. m. Am 7./20. Juli ordnete die Provisorische Regierung die Entwaffnung und Umformierung aller Truppenteile an, die an dem „Aufruhr“ des 3./16.-5./18. Juli teilgenommen hatten. Zugleich wurde an eine planmäßige Entwaffnung der Werke und Fabriken geschritten, wobei alle des Bolschewismus Verdächtigen herausgegriffen wurden. Bald darauf wurde an der Front die Todesstrafe wieder eingeführt. Das alles wurde von der sozialrevolutionär-menschewistischen Regierung mit voller Zustimmung des Zentralexekutivkomitees der Räte durchgeführt.

An der Spitze der Regierung selbst stand, nach dem Ausscheiden der Kadetten und dann auch des Ministerpräsidenten Lwow, Kerenski. Das Zentralexekutivkomitee der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte erklärte gemeinsam mit dem Exekutivkomitee des Allrussischen Bauerndeputiertenrats die Regierung, die sich eine Zeitlang nur aus Vertretern der kleinbürgerlichen Parteien (der Menschewiki, Sozialrevolutionäre und Volkssozialisten) zusammensetzte und gewissenhaft die konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie verwirklichte, zur „Regierung der Rettung der Revolution“.

Die Bourgeoisie führte übrigens ihren Plan durch. Am 12./25. Juli sprach sie durch das noch bestehende „Provisorische Komitee der Reichsduma“ der „Regierung der Rettung“ das Misstrauen aus. Eine Reihe anderer konterrevolutionärer Organisationen der Bourgeoisie tat dasselbe. Die Regierung demissionierte, und die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre führten Verhandlungen mit den Kadetten und unmittelbar mit den Handels- und Industriekreisen über die Bildung einer neuen Koalitionsregierung. Die Kadetten stellten die Bedingung der vollständigen Unabhängigkeit der Regierung und ihrer Minister von den Räten. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre stimmten zu. Die neue, von den Räten unabhängige und ganz und gar von der Bourgeoisie abhängige Regierung der bürgerlichen Konterrevolution wurde am 24. Juli/6. August unter dem Vorsitz von Kerenski aus den Sozialrevolutionären, den Menschewiki, den Kadetten und den Vertretern der „Zensus-Bourgeoisie gebildet. Sie setzte die Politik der „Rettung“ der Revolution fort.

Die Juliereignisse waren ein Wendepunkt auf dem Wege der Revolution vom Februar zum Oktober. Das Wesen dieser Wendung bestand darin, dass alle Möglichkeiten einer friedlichen Entwicklung der Revolution im Großen und Ganzen erschöpft waren. Die Julikundgebung der Arbeiter und Soldaten war, so sagte Lenin, „der letzte Versuch, die Räte durch eine Kundgebung zur Übernahme der Macht zu bewegen“. Die sozialrevolutionär-menschewistischen Führer in den Räten und in der Provisorischen Regierung beantworteten zusammen mit der konterrevolutionären Bourgeoisie diesen Versuch mit Schüssen und übergaben dann tatsächlich die Macht der Militärclique. Schon am 10./23. Juli, fünf Tage nach der Julikundgebung, schrieb Lenin in einem damals nicht veröffentlichten Artikel „Die politische Lage“: „Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.“ „Tatsächlich ist die eigentliche Staatsmacht in Russland jetzt eine Militärdiktatur“ – schrieb er. Das bedeutete aber, dass es keine Doppelherrschaft der Bourgeoisie und der Räte mehr gab, dass die Periode der konterrevolutionären Diktatur der Bourgeoisie begonnen hatte, die die bewaffnete Offensive gegen das Proletariat ergriffen hatte. Für die proletarische Partei konnte es in dieser Situation, angesichts ihres zunehmenden Einflusses unter den Arbeiter- und Soldaten- (und somit auch den Bauern-) Massen und ausgehend von dem von ihr vorgezeichneten Weg zur proletarischen Revolution nur die eine Konsequenz geben: die Vorbereitung einer neuen gewaltsamen Revolution. Anderseits stellte Lenin fest: „Die Führer der Räte und der Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, mit Zereteli und Tschernow an der Spitze, haben die Sache der Revolution endgültig verraten, indem sie sie m die Hände der Konterrevolutionäre überlieferten und sich und ihre Parteien sowie die Räte in ein Feigenblatt der Konterrevolution verwandelten.“ Die in ein solches „Feigenblatt“ verwandelten Räte hörten auf, eine Kraft zu sein, die sich auf die bewaffnete Arbeiter- und Soldatenmasse stützte. Die proletarische Partei konnte nicht auf dem Standpunkt des Überganges der Macht an diese Räte stehen, und solange die Räte nicht revolutionäre Räte wurden, die von dieser Partei geführt wurden, konnte die Losung „Alle Macht den Räten!“ schon nicht mehr die Losung des Überganges von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution sein. Davon und von der Tatsache des Überganges der eigentlichen Staatsmacht an eine Militärdiktatur ausgehend, schrieb Lenin bereits am 10./23. Juli in demselben Artikel: „Jetzt ist diese Losung bereits falsch, denn sie lässt diesen erfolgten Übergang und den vollständigen tatsächlichen Verrat der Sozialrevolutionäre und Menschewiki an der Revolution außer Acht.“ [...] Durch die objektive Lage, wie sie sich nach den Julitagen herausgebildet hatte, wurde die Frage gestellt: „entweder Sieg der Militärdiktatur mit allen seinen Folgen, oder der Sieg des entscheidenden Kampfes der Arbeiter … “ (Lenin, a. a. O.). Zu diesem „entscheidenden Kampfe“, zu dieser „neuen Revolution“ forderte denn auch Lenin jetzt die Partei und die Arbeiterklasse und nach ihr vor allem die Masse der Dorfarmut auf. Alle seine Artikel nach den Julitagen waren in diesem Sinne gehalten. Dieser Übergang von der Taktik und den Losungen der „friedlichen Entwicklung der Revolution“ zur Taktik und zu den Losungen einer neuen gewaltsamen Revolution wurde auch in dem vorliegenden Artikel „Zu den Losungen und in dem nächsten Artikel „Über Verfassungsillusionen“ begründet.

Diese Artikel wurden zur Grundlage der Beschlüsse des 6. Parteitages der bolschewistischen Partei, der vom 28. Juli/8. August bis zum 3./16. August 1917 in Petrograd tagte und die Taktik vorzeichnete, die auf die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, auf die Eroberung der Macht durch das revolutionäre Proletariat mit Waffengewalt gerichtet war. Der ganze folgende Verlauf der Ereignisse bis zur Oktoberrevolution bestätigte vollständig die in diesen Artikeln entwickelten Gedanken Lenins.

Der hier angeführte General Cavaignac war Kriegsminister der provisorischen Regierung der französischen Republik nach der Februarrevolution von 1848. Im Juni dieses Jahres warf er, mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet, den Aufstand der Pariser Arbeiter in der brutalsten Weise nieder. Wenn Lenin hier von der „Militärbande“, von den „Cavaignacs“ spricht, so meint er die konterrevolutionäre Militärclique mit den Generälen Kornilow, Kaledin, Alexejew und anderen an der Spitze, die, gedeckt und unterstützt durch Kerenski, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, am 3./16.-5./18. Juli die Arbeiter- und Soldatenmassen auseinandertrieben, die tatsächliche Macht in ihren Händen konzentrierten und einen konterrevolutionären Umsturz zur Wiederherstellung der Monarchie vorbereiteten. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 53]

Julitage – die Tage vom 3./16. bis zum 5./18. Juli 1917, als die Arbeiter- und Soldatenmassen Petrograds anlässlich des vorübergehenden Austritts der Kadetten aus der Koalitionsregierung unter der Losung „Alle Macht dem Räten“ auftraten und vom Zentralexekutivkomitee die Übernahme der Macht forderten. Nach den Julitagen brach eine Periode einer ausgesprochen konterrevolutionären Diktatur der Bourgeoisie an, die vom der Militärclique, gedeckt durch die Kerenski-Regierung und die Führer der Räte und der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki mit Zereteli und Tschernow an der Spitze, ausgeübt wurde. (Die Beurteilung der Juliereignisse und der sich daraus ergebenden politischen Lage durch Lenin siehe im Artikel „Zu den Losungen“. Vergl. auch Anm. 53 zum Band VI und Anm. 129 zu Bd. VII). [Ausgewählte Werke, Band 8]

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