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Der Kampf um Transparenz und Propagandafreiheit in Brest-Litowsk

Der Kampf um Transparenz und Propagandafreiheit nahm in der ersten und zweiten Phase der Friedensverhandlungen einen extrem großen Platz ein. Für die von der ganzen Welt abgeschnittene Sowjetrepublik sollte die Friedenskonferenz als Plattform dienen, und diente zum Teil dazu, von der aus die Prinzipien der russischen Revolution dem Wissen und Verständnis der breiten Massen aller Länder näher gebracht werden konnten. Bereits zu Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen forderte die Sowjetdelegation den freien Zutgang revolutionärer Literatur nach Deutschland und durch Deutschland in andere kriegführende Länder. Die deutschen Delegierten entzogen sich einer direkten Antwort, und beriefen auf fehlende Befugnisse, erklärten aber, dass die deutsche Regierung ihrer Meinung nach bereit wäre, Literatur nach England, Italien und Frankreich zu liefern, aber entschieden gegen ihre Verbreitung in Deutschland sei. Soweit wir wissen, gab es dazu keine Zustimmung der deutschen Regierung, was übrigens die Verbreitung der revolutionären Literatur unter den deutschen Soldaten nicht verhinderte. Der Hauptzweck der Delegation bestand jedoch darin, sicherzustellen, dass die ganze Welt ausreichend über die Ereignisse auf der Friedenskonferenz informiert wäre. Selbst in jener verkürzten Form, in der die Reden der Sowjetdelegation die breiten Massen erreichten, waren sie ein höchst revolutionärer Faktor. Schon beim ersten Treffen der Friedenskonferenz am 9./22. Dezember 1917 gelang es der Sowjetdelegation, Zustimmung zu ihrem Vorschlag zu erhalten, „dass alle Sitzungen öffentlich sind, dass detaillierte Protokolle geführt werden und jede Partei das Protokoll der Treffen vollständig veröffentlichen darf.“ Es versteht sich von selbst, dass dieses Recht auf vollständige Veröffentlichung nur von der Sowjetregierung angewandt wurde; In der Presse des Vierbundes wurden alle Reden der Sowjetdelegation entweder unvollständig oder gar voreingenommen zitiert, wie aus einer Reihe von mündlichen und schriftlichen Erklärungen des Genossen Trotzki hervorgeht, die in diesem Abschnitt wiedergegeben sind. Im Vorgriff auf all diese Möglichkeiten bestand die Sowjetdelegation von Beginn der Gespräche an entschlossen darauf, den Ort der Verhandlungen aus der von der ganzen Welt isolierten Brester Festung in ein neutrales Land zu verlegen. Die Sowjetregierung war besonders entschlossen, darauf nach der Pause am 28. Dezember zu bestehen, als die deutschen imperialistischen Forderungen endlich geklärt wurden. Am 1. Januar erklärte die gemeinsame Sitzung des ZEK, des Petrograder Sowjets, und des allgemeinen Armeekongresses zur Demobilisierung der Armee in ihrer Resolution, dass sie darauf „besteht […], dass die Friedensverhandlungen künftig in einem neutralen Land geführt werden, und beauftragt den Rat der Volkskommissare, alle Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass dies geschieht." Gleichzeitig wandte sich A. Joffe am 2. Januar an die Delegationen des Vierbundes mit einer Erklärung, die unter anderem feststellte: „Die Regierung der Russischen Republik hält es für dringend geboten, dass die weiteren Friedensverhandlungen auf neutralen Boden verlegt werden und schlägt ihrerseits die Stadt Stockholm vor." Der Vorschlag der Sowjetdelegation machte in Deutschland eine Sensation. In seiner Rede vor dem Hauptausschuss des Reichstags am 4. Januar sagte der Reichskanzler Hertling, die Sowjetregierung wolle die Verhandlungen erneut an einen anderen Ort verlegen, was jedoch sowohl aus technischen Gründen abgelehnt werde als auch weil eine solche Verlegung diplomatische „Machinationen von Seiten der Entente-Länder“ ermögliche und dass Kühlmann mit einer entschiedenen Ablehnung betraut werde. Ein großer Lärm wurde von der rechten Presse darum gemacht. Die „Vossische Zeitung" und eine Reihe anderer Zeitungen sahen in dem Vorschlag der Sowjetdelegation englische Intrigen. Die Presse der Militärpartei beschuldigte Kühlmann und Hertling, weich und nachgiebig zu sein. Die „Tägliche Rundschau" schrieb, die Nachgiebigkeit der deutschen Diplomatie habe ermutigend auf „diplomatische Bürschchen vom Newa-Ufer" gewirkt. Die „Deutsche Tageszeitung" protestierte gegen die „Zumutung" Russlands und argumentierte, dass ihr Vorschlag eine Intrige sei. Neben den Ententemächten seien auch die deutsche Sozialdemokratie und die britische Labour Party beteiligt.

Am 3. Januar ging eine Antwort ein, die besagte, dass die Verlegung der Verhandlungen entschieden abgelehnt werde.

Am selben Tag sandte die Sowjetdelegation ein Telegramm mit folgendem Inhalt:

An die Herren Delegationspräsidenten der vier verbündeten Mächte.

Die Verlegung der Verhandlungen auf ein neutrales Terrain entspricht dem Verhandlungsstadium. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Ihre Delegationen bereits an dem alten Ort angekommen sind, reist die russische Delegation geleitet vom Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, L. D. Trotzki, morgen nach Brest, voll und ganz zuversichtlich, dass ein Abkommen über eine Verlegung der Verhandlungen auf neutralen Boden keine Schwierigkeiten bereiten wird.

Russische Friedensdelegation.“

Indessen herrschte in den österreichisch-deutschen Kreisen große Besorgnis und Niedergeschlagenheit, dass die Bolschewiki die Verhandlungen unterbrechen könnten. In seinen Memoiren berichtet Czernin von der Freude, die alle überkam, nachdem er einen Bericht über die Abreise der Sowjetdelegation erhalten hatte:

Am Abend nach dem Essen", schrieb er am 4. Januar, „kam eine Depesche aus Petersburg, welche die Ankunft der Delegation inklusive des Ministers des Äußern Trotzki bekanntgab. Es war unterhaltend zu sehen, in welchen Jubel die ganzen Deutschen ausbrachen, und erst die plötzlich und so stürmisch hervorbrechende Heiterkeit bewies, wie stark der Druck, die Russen könnten nicht kommen, doch auf ihnen gelastet hatte.“ [Ottokar Czernin, Im Weltkriege, Berlin und Wien 1919, S. 315]

Bei ihrer Ankunft in Brest wurde der Sowjetdelegation ein Ultimatum gestellt. In seiner Eröffnungsrede am 9. Januar sagte Kühlmann:

Ich … möchte … jetzt schon abschließend die Entscheidung der Vierbundmächte, die nicht aufgehoben werden kann, verkünden, dass sie die hier begonnenen Verhandlungen nicht an anderer Stelle fortsetzen können."

Czernin sagte, dies sei 1) aus technischen Gründen und 2) aus Angst vor den Machinationen der Entente-Länder, die angeblich durch die Verlegung der Verhandlungen auf ein neutrales Land für sie erleichtert worden wären.

In den später veröffentlichten Memoiren von Czernin finden wir eine „etwas" andere, und wir müssen annehmen, korrektere Erklärung für die Gründe, warum sie ablehnten, den Verhandlungsort zu ändern. Im Eintrag vom 9. Januar lesen wir:

Die Verlegung der Konferenz nach Stockholm wäre unser Ende gewesen, denn es wäre ganz ausgeschlossen, die Bolschewiken aller Länder von dort fernzuhalten, und das, was wir Brest-Litowsk seit Anfang an mit aller Kraft zu verhindern suchen, dass uns die Zügel entwunden werden und diese Elemente die Führung übernehmen, wäre unvermeidlich eingetreten.“ [a.a.O., S. 318 f.]

Dies ist der wahre Grund, warum die Delegierten des Vierbundes, die damals sehr daran interessiert waren, die Verhandlungen fortzuführen und eine Unterbrechung sehr zu fürchten hatten, dennoch in dieser Frage nicht nachgeben konnten.

Auf der anderen Seite wäre es für die Sowjetdelegation unvorteilhaft gewesen, sie deswegen platzen zu lassen; sie konnte also nur dem Ultimatum gehorchen, was in der Rede des Genossen Trotzki am 10. Januar gesagt wurde. Trotz all dieser Hindernisse und der Abgeschiedenheit von der Außenwelt erreichten die Reden der sowjetischen Delegierten ohnehin die große Masse und waren nicht der letzte Grund für die Welle von Streiks und Straßendemonstrationen, die im Januar 1918 durch die Städte Deutschlands, Österreich-Ungarns und Polens fegte. [Trotzki, Sotschinenija, 17.1]

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